Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Olivetta Gentilin Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Mit 9 Abbildungen V& R unipress © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8470-0644-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Gleichstellungsbeauftragten des Fachbereichs 2, TU Darmstadt. Zugl.: Darmstadt, Techn. Univ., Diss., 2016 D 17 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Tailpiece, or The Bathos«, William Hogarth, 1764. Etching and engraving. Rosenwald Collection 1944.5.122. Courtesy National Gallery of Art, Washington. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbestÐndigem Papier. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 9 13 16 23 27 1. Untersuchung und Verwendung von Metaphernbegriffen 1.1 Vorüberlegungen zum Begriff der Metapher . . . . . 1.2 Sprachtheoretische Grundlagen: John R. Searle . . . . 1.3 Methoden der Metaphernanalyse . . . . . . . . . . . 1.3.1 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Lakoff und Johnson . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 John Rogers Searle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 32 37 41 42 47 53 . . . . . . . . . . . . 57 62 67 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabenbeschreibung und Zielsetzung . . . . . . . . . Wissenschaftlicher Ansatz und Forschungsgrundlagen . Historische Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsbegriff in der Büchner-Forschung . . . . . . Aufbau und Kapitelübersicht . . . . . . . . . . . . . . . 2. Darstellung der Krankheit im Erzählfragment Lenz . . . . . . 2.1 Metaphorik der Kompositionsstruktur . . . . . . . . . . . 2.1.1 Betrachtung der Kompositionsstruktur im Lenz . . . 2.1.2 Betrachtung der Kompositionsstruktur des Lenz aus argumentativer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Einteilung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Metaphorische Ausdrucksweise: Klassifikation . . . . . . . 2.2.1 Krankheitsbilder im Zielbereich der Metapher . . . . 2.2.2 Krankheitsbilder im Herkunftsbereich der Metapher 2.2.3 Markierte Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Metaphorische Ausdrucksweise: Interpretation . . . . . . . 2.4 Interpretation von irrealen Vergleichssätzen . . . . . . . . © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 80 90 92 112 117 127 136 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 6 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 144 147 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 153 166 169 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 173 179 186 187 193 197 4. Zusammenhänge zwischen Metapher, Kommunikationsmustern und Krankheitsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kommunikation und psychische Störung im Erzählfragment Lenz 4.1.1 Vor der Abreise Oberlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Nach der Reise Oberlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kommunikation und psychische Störung im Drama Woyzeck . . . 4.2.1 Woyzeck – Andres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Woyzeck – Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Woyzeck – Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Woyzeck – Doktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 206 207 211 216 217 223 226 228 232 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 245 247 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 3. Darstellung der Krankheit im Drama Woyzeck . . . . . . . 3.1 Der Mordfall und das Gutachten . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Entwicklung der Frage der Zurechnungsfähigkeit 3.1.2 Beschreibungen von Krankheitsphänomenen im Clarus-Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Die Übertragung des Falles . . . . . . . . . . . . 3.2 Überlieferungszustand des Dramas . . . . . . . . . . . 3.3 Synopse der vier Handschriften . . . . . . . . . . . . . 3.4 Interpretation der Fassungen aus Sicht der Struktur der Krankheitsmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Handschrift 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Handschrift 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Handschrift 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Handschrift 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5 Strukturelle Beobachtungen . . . . . . . . . . . . 3.5 Metaphorische Ausdrucksweise . . . . . . . . . . . . . © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Danksagung Mein besonderer Dank gilt zunächst meinen Betreuern, Herrn Prof. Peter Erwin Kofler an der Universit/ degli Studi zu Verona und Herrn Prof. Dr. Ulrich Joost an der Technischen Universität Darmstadt, die meine Arbeit auf dem Gebiet der Germanistik und Literaturwissenschaft professionell und warmherzig begleitet haben. Die inspirierenden Gespräche mit ihnen und ihre kompetenten Anregungen haben maßgeblich zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen. Hierbei gilt mein besonderer Dank an den zwischenzeitlich leider verstorbenen Herrn Prof. Walter Busch für die ersten anregenden Diskussionen und die Konturierung des Themas dieser Arbeit. An der Universität Darmstadt möchte ich mich außerdem bei den Dozenten und Mitdoktoranden sowie allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Instituts für Sprach- und Literaturwissenschaft für die konstruktive Zusammenarbeit in diesen vier Jahren herzlich bedanken. Ich möchte mich außerdem bei Frau Dr. Vanessa Geuen bedanken, die mir in den ersten Phasen des Forschungsprojektes mit ihren fundierten Kenntnissen und klugen Diskussionsbeiträgen eine wertvolle Hilfe war. Für die kompetente und geduldige Revisionsarbeit der Dissertation habe ich Frau D8sir8e Müller von ganzem Herzen zu danken. Ferner möchte ich meiner lieben Freundin, Frau Melinda Snitil, für die Ermutigungen und den anregenden Gedankenaustausch besonders herzlich danken. Mein Dank gilt außerdem meiner teuren Freundin, Frau Jessica Bagnoli, die ebenfalls bei der Korrektur meiner Arbeit mitgeholfen hat. In Marburg möchte ich insbesondere Prof. Dr. Burghard Dedner danken, der mir die Türe der Forschungsstelle Georg Büchner geöffnet hat und Frau EvaMaria Vering für die Einladung zu den Veranstaltungen der Georg-BüchnerGesellschaft, an denen ich die Möglichkeit zur Teilnahme an anregenden und wertvollen Diskussionen hatte. Allerherzlichst möchte ich auch noch Frau Silvia Röpke-Dönges danken, die meine ersten Kontakte an der TU Darmstadt ermöglicht hat. Ebenso gilt mein aufrichtiger Dank Frau Heidi Hildebrandt und Herrn Paul Kriesemer, in deren © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 8 Danksagung herrlicher Wohnung ich so freundlich aufgenommen wurde und die mich ständig ermuntert und unterstützt haben. Insbesondere meinem Mann möchte ich an dieser Stelle nochmals für all seine Liebe und Unterstützung innigst danken. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Einleitung Aufgabenbeschreibung und Zielsetzung Was der Wahnsinn über sich selbst sagt, ist für das Denken und die Poesie am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das, was der Traum in der Unordnung seiner Bilder ebenfalls ausspricht: eine Wahrheit über den Menschen, die sehr archaisch und sehr nahe, sehr schweigend und sehr bedrohlich ist; eine Wahrheit unterhalb jeder Wahrheit, der Entstehung der Subjektivität äußerst benachbart und auf der Ebene der Dinge sehr verbreitet.1 Die vorliegende Dissertation untersucht das Verhältnis von Geisteskrankheit und Schreiben in Georg Büchners Lenz und Woyzeck. Konkret wird die Untersuchung folgenden zentralen Fragestellungen nachgehen: Wie literarisiert bzw. versprachlicht Büchner Geisteskrankheit? Welche sprachlichen und rhetorischen Mittel werden zur Darstellung dieses Phänomens eingesetzt? Um diese Leitfragen zu beantworten, konzentriert sich die Beobachtung insbesondere auf die Krankheitsbilder, die die Erzählung Lenz sowie das Dramenfragment Woyzeck durchziehen. Der durchgängige Gebrauch von Krankheitsmetaphorik im Lenz und im Woyzeck ist auffällig. Im Brief vom 10. Juni 1836 hebt der Freund und Verleger Karl Gutzkow hervor, dass Medizin und Dichtung in Büchners Schreibweise miteinander verbunden sind: Sie scheinen die Arzeneykunst verlassen zu wollen, womit Sie, wie ich höre, Ihrem Vater keine Freude machen. Seyen Sie nicht ungerecht gegen dies Studium; denn diesem scheinen Sie mir Ihre hauptsächliche Force zu verdanken, ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht’ ich sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.2 1 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1973, 544. 2 Georg Büchner : Briefwechsel, hg. v. Burghard Dedner / Tilman Fischer / Gerald Funk. Marburger Ausgabe, 2 Bde., Bd. 10.1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, 95. Im Folgenden mit der Sigle B belegt. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 10 Einleitung Gutzkow betrachtet die poetische Kraft und den scharfen Blick des Wissenschaftlers bzw. des Anatomen Büchner als besondere Merkmale seines Prosastils. Die Vermengung von Literatur und Medizin kann beispielsweise an der Schilderung der Halluzinationen der Protagonisten in der Erzählung und im Drama exemplifiziert werden. Büchner beschreibt mit Präzision und Wissen die Symptomatik der Krankheit, die sich in seinen Figuren manifestiert. Dabei verfährt er metaphorisch, d. h. er greift auf unterschiedliche Sachverhalte zurück, um die Krankheit zu beschreiben, während er gleichzeitig Krankheitsbilder verwendet, um Aspekte des menschlichen Lebens zu veranschaulichen. Er überträgt Ausdrücke aus verschiedenen Bereichen, insbesondere der Medizin, der Wissenschaft wie auch der Religion in den literarischen Text. Dadurch gelingt es ihm, einen neuen Begriff der Geisteskrankheit zu veranschaulichen, der sich zwar vom medizinischen Diskurs abhebt, aber gleichzeitig kontroverse Aspekte der damaligen Medizin reflektiert. Die Untersuchung fokussiert sich auf Lenz und Woyzeck, weil die darin eingesetzten Krankheitsbilder mit den wichtigsten Diskussionen der Medizin und der Justiz in der Übergangszeit zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden können. Symptome und Manifestationen der Krankheit zeigen sowohl in der Erzählung als auch im Drama mehrere Analogien zu den Beschreibungen der Seelenstörungen in den medizinisch-psychiatrischen Abhandlungen der Zeit Büchners. Ein Beispiel dafür liefern die von Lenz offenbarten Krankheitssymptome in der Eingangspassage der Erzählung, die in Kapitel 2.2 dieser Arbeit illustriert werden sollen. Sowohl in der Erzählung als auch im Drama lassen sich Büchners wissenschaftliche Kompetenzen und sein Wissen über die kulturelle, gesellschaftliche und politische Situation seiner Zeit aufzeigen. Zunächst sei hier kurz auf die biografischen Aspekte hingewiesen, welche von der Erfahrung des Schriftstellers mit Geistes- und Gemütskrankheiten und von seiner Kenntnis der zeitgenössischen Medizin zeugen. Der Großvater mütterlicherseits, Georg Reuß, war Verwaltungsdirektor am Philipps-Hospital in Hofheim, in dem psychisch Kranke die größte Patientengruppe stellten.3 Sein Vater, Dr. Ernst Büchner, stammte aus einer alten Wundarztfamilie und war zunächst als Assistenzarzt im Hofheimer Hospital und als Kreischirurg in Darmstadt tätig. Er wurde dann zum Mitglied des Medizinalkollegs der obersten Gesundheitsbehörde des Darmstädter Großherzogtums und zuletzt zum Obermedizinalrat ernannt.4 Er publizierte u. a. in der Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Zwei 3 Vgl. Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart: M& P Verlag 1991, 86. 4 Vgl. Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz: »Nachwort«, in: Ernst Büchner: Versuchter Selbstmord durch Verschlucken von Stecknadeln, hg. v. Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz. Berlin: Insel Verlag 2013, 119–130, hier 121f. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Aufgabenbeschreibung und Zielsetzung 11 Exemplare des darin erschienenen Aufsatzes über die Selbstmordversuche einer psychisch kranken Patientin schickte er seinem Sohn, der nach der Promotion eine Karriere als Privatdozent für vergleichende Anatomie an der Universität Zürich einschlug.5 Georg Büchner selbst hatte sich auf Wunsch seines Vaters zuerst in Straßburg und dann an der Gießener Universität für das Fach Medizin eingeschrieben.6 Krankheit erfuhr er auch am eigenen Leib, wissenschaftlich belegt sind zwei Erkrankungen. Im ersten Fall wurde er nach den Worten des lebenslangen Freundes Wilhelm Schulz von einer »Unpäßlichkeit«7 befallen, als er 1832 bei dem Pfarrer Johann Jakob Jaegl8 in Straßburg wohnte. Im wohlbekannten Fatalismusbrief an die Braut, mit der noch unsicheren Datierung Januar 1834, erinnert Büchner sich an die akute Phase seiner Krankheit und an die Straßburger Zeit: »Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der Arm der Geliebten« (B: 31). Das zweite Mal litt er an einer Hirnhautentzündung und wurde deshalb gezwungen, seine Studien in Gießen zu unterbrechen, um sich in Darmstadt von seiner Krankheit zu erholen (vgl. B: 29). Der Krankheitskomplex gilt als entscheidender Faktor in Georg Büchners Biografie, beeinflusste aber auch seine Werke maßgeblich. »Pathologisches nimmt in Büchners Werk einen breiten Raum ein«,8 so Georg Reuchlein in seiner Abhandlung über die Entwicklung der Wahnsinnsthematik in der Literatur. Anhand der Beobachtung und Analyse der metaphorischen Ausdrücke, die 5 Vgl. Ernst Büchner : »Versuchter Selbstmord durch Verschlucken von Stecknadeln«, in: Zeitschrift für Staatsarzneikunde, hg. v. Adolph Henke, Bd. 6, 3. Jahrgang. Erlangen: J. J. Palm und Ernst Enke 1823, 305–348. Vgl. dazu auch den Brief vom 18. Dezember 1836 von Ernst Büchner an seinen Sohn: »Auch findest Du in der Kiste unter anderem 2 Exemplare meiner Nadelgeschichte, die mir beim Packen als altes Papier in die Hände fielen. Vielleicht kannst Du Deinen Schülern gelegentlich eine Erzählung davon machen.« B: 113. 6 Dort besuchte er u. a. Vorlesungen bei dem Philosophieprofessor Joseph Hillebrand sowie Vorlesungen in der Anatomie bei den Professoren Wilbrand und Wernekinck. Vgl. Manfred Wenzel: »Georg Büchner als Medizinstudent an der Gießener Universität«, in: Ulrike Enke (Hg.): Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen: Institutionen, Akteure und Ereignisse von der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 169–177, hier 172. 7 Wilhelm Schulz: »Nekrolog«, in: Walter Grab: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein i. Ts.: Athenäum 1985, 139–142, hier 139. 8 Georg Reuchlein: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. Zur Entwicklung der Wahnsinnthematik in der deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink Verlag 1986, 373. Inwieweit die »Darstellung psychischer Erkrankungen« ein dominierendes Thema in Büchners dichterischem Werk sei, erläutert Burgard Dedner im Artikel: »Georg Büchner: Lenz. Textgestaltung, Entstehung und Überlieferung«, in: Literaturkrititk.de, zitiert nach der Online-Ausgabe vom 13. 10. 2013: http://www.litera turkritik.de/public/artikel.php?art_id=938& ausgabe=25 [Zugriff 26. 10. 2015]. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 12 Einleitung zur Darstellung von Krankheit dienen, sollen folgende Haupthypothesen verifiziert werden: – Die psychische Krankheit bei Büchner ist ein aus zunehmenden Normierungszwängen entstandenes gesellschaftliches Konstrukt. – Die psychische Krankheit stellt bei Büchner eine Reaktion gegen dieses aus sozialen, psychologischen, religiösen, wissenschaftlichen und politischen Normen geborene Konstrukt dar. Diese Hypothesen sollen anhand weitergehender Analyse geprüft werden. Krankheit und Leiden sind endogene Faktoren menschlicher Existenz. Dies äußert sich auch in Büchners Werken, wenn z. B. Prinzessin Lena in der dritten Szene des zweiten Aktes der Komödie Leonce und Lena (1836) einen Gedanken äußert, der dies untermauert: »Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke, ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, blos weil sie sind.«9 Büchners Figuren befinden sich in psychologisch prekären Grenzsituationen, deren Ursachen im Dunkeln bleiben oder nur angedeutet werden. Der Autor beobachtet ihre pathologischen Reaktionen und untersucht sowohl die soziologische als auch die psychophysiologische Ebene der sich manifestierenden Symptome, wobei er keine präzise Definition der Krankheit vorstellt, sondern diese in Relation zu unterschiedlichen Umständen bringt. Die Resistenz seiner Hauptfiguren, sich den moralischen Maßstäben und den Verhaltensstandards der Gesellschaft anzupassen, führt zu Kommunikationsstörungen und folglich zur Verschlechterung und Unheilbarkeit ihrer Krankheit. Durch das Scheitern von Lenz’ Integrationsversuchen werden moralische und kulturelle Normsysteme in Frage gestellt, die sich damit als nicht funktionierend erweisen. Inwieweit die Ansprüche eines normierenden gesellschaftlichen Systems die Entwicklung des einzelnen Individuums bedingen, wird auch im Woyzeck thematisiert: »Determination des menschlichen Verhaltens durch die Affekte, Selbsterhaltung und Existenzbedrohung bezeichnen die Kernfragen des Stücks«.10 Büchner erfährt die Unbeweglichkeit der Gesellschaft seiner Zeit und deren Unvermögen, sich zu ändern, deshalb beurteilt er in einem Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836 kritisch »die abgelebte moderne Gesellschaft« (B: 93). Sowohl Lenz als auch Woyzeck versuchen, sich auf unterschiedliche Weise mit den rigiden Schemata einer vorbestimmten Lebensordnung, denen 9 Georg Büchner : Leonce und Lena, hg. v. Burghard Dedner / Arndt Beise / Eva-Maria Vering. Marburger Ausgabe, Bd. 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 145. Im Folgenden mit der Sigle LL belegt. 10 Günter Oesterle: »Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ›voie physiologique‹ in Georg Büchners ›Woyzeck‹«, in: Georg Büchner Jahrbuch, 3 (1983), hg. v. Hubert Gersch, / Thomas Michael Mayer / Dems.. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1984, 200–239, hier 200. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Wissenschaftlicher Ansatz und Forschungsgrundlagen 13 sie unterliegen, auseinanderzusetzen. Sie scheitern aber letztendlich daran, weil die individuell-subjektive Sphäre nicht mit der sozialen kommunizieren kann. Wenn es um gegenseitiges Verstehen geht, unterscheidet Büchner dann nicht mehr zwischen normalen, integrierten Menschen und Wahnsinnigen. Kein Mensch kann sein Gegenüber komplett verstehen. In der ersten Szene des Dramas Danton’s Tod (1835) äußert sich Danton seiner Frau gegenüber : »Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.«11 Büchners Hauptfiguren opponieren denjenigen, die beanspruchen, Kenntnis über die menschliche Natur zu besitzen und das Verhalten des anderen nach den eigenen Vorstellungen zu normieren. Die Frage nach der Krankheitsdarstellung im Lenz und im Woyzeck verfolgt diese Arbeit in einem interdisziplinären Ansatz, insbesondere durch die Analyse der metaphorischen Ausdrücke und unter Berücksichtigung medizinisch-historischer Fakten. Dieser Ansatz wird weiter unten genauer erläutert. Wissenschaftlicher Ansatz und Forschungsgrundlagen Dass Krankheitsmetaphern in Büchners Lenz und Woyzeck sehr häufig vorkommen, wurde bereits angedeutet. Das Ziel des ersten Kapitels der vorliegenden Untersuchung ist es, eine theoretische Grundlage aufzubauen, auf der sich die Analyse der metaphorischen Ausdrücke stützen kann. Dazu werden korrespondierende Ausführungen von Aristoteles, John Rogers Searle, George Lakoff / Mark Johnson und Paul Watzlawick in Betracht gezogen. Es gibt in der Forschung keine einheitliche wissenschaftliche Theorie der Metapher. Jede in Frage kommende Theorie kann letztendlich nur einige Aspekte der Büchner’schen Metaphorik erklären. Dies liegt einerseits an der Besonderheit des Begriffs ›Metapher‹. Es besteht keine genaue Grenze zwischen metaphorischer und nicht-metaphorischer Äußerung und das hängt damit zusammen, dass es keine ›nicht intentionale Äußerung‹ gibt, d. h. keine perspektivenfreie Äußerung. Ob eine Äußerung als metaphorisch empfunden wird, hängt von der Betrachtungsweise ab. In seinen Veröffentlichungen »Literal Meaning« (1978) und »The Background of Meaning« (1980) illustriert Searle, dass es keine »wörtliche« oder »metaphorische« Bedeutung gibt, sondern nur eine Äußerung, die relativ zu einem Kontext ist.12 Die Schwierigkeit, eine exhaustive theoretische 11 Georg Büchner: Danton’s Tod, hg. v. Burghard Dedner / Thomas Michael Mayer. Marburger Ausgabe, 4 Bde., Bd. 3.2. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2000, 4. Im Folgenden mit der Sigle D belegt. 12 Vgl. John R. Searle: »The Background of meaning«, in: Speech Act Theory and Pragmatics, © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 14 Einleitung Basis zur Erläuterung der Metaphorik aufzubauen, liegt ferner an Büchners Entwicklung der Gedankenexperimente, die einmal fixierte Ideen immer wieder umwerten und nur in dieser ständigen Umwertung einen Bestand sehen. Metapher ist bei Büchner nicht Schmuck, sondern Gedankenexperiment. Unter der Betrachtungsweise der Krankheitsmetapher erweist sich Büchners literarischer Text als der Ort, an dem komplexe Krankheitsbegriffe der zeitgenössischen Medizin in transformierter Form und in bildhafter Sprache dargestellt werden. Dabei veranschaulicht der Autor verschiedene Denkweisen über die Geisteskrankheit und versucht, die Auswirkungen dieser Gedankenexperimente in seinen Texten nachzuvollziehen. Als Beispiel seien hier die Ernährungsexperimente im Woyzeck genannt, die im Auge des Doktors der Weg zu wissenschaftlichen Entdeckungen sind. Diese tragen aber gleichzeitig zur physischen und geistigen Zerrüttung der Hauptfigur bei. Diesbezüglich kommentiert Udo Roth: »Die Versuche des Doktors in Büchners Woyzeck stellen also eine dramaturgische Bearbeitung realer Experimente und wissenschaftlicher Fragenstellungen dar.«13 Büchners Texte können dennoch nicht als wissenschaftliche Fallstudien betrachtet werden, weil sie keine Antworten auf wissenschaftliche Fragen liefern, sondern lediglich als eine Bearbeitung des Falles und deren alternativ-kritische Sichtweise aufzufassen sind. Um eine adäquate Analyse durchführen zu können, sollen operationale Theorien hinzugezogen werden, die der Strukturierung der Textinterpretation dienlich sein können. Da sich Betrachtungsaspekte aber nicht formal isolieren lassen, bilden auch sie keine festen Schemata, anhand derer man einen hochkomplexen literarischen Text exhaustiv analysieren und zu wissenschaftlich bedeutenden Aspekten gelangen könnte. Daher sind die ausgewählten Theorien als Ausgangspunkt der Interpretation anzusehen, welche die Beobachtung leiten sollen. Die Bewertung und die Interpretation der Beobachtung ist die literaturwissenschaftliche Aufgabe. Searles Ausführungen begründen den methodischen Ansatz dieser Arbeit. Auf Aristoteles stützt sich die Betrachtungsweise dieser Arbeit. In der Poetik (2008) spricht Aristoteles vom herrschenden Gebrauch (kyrios) eines Ausdrucks und den Abweichungen vom herrschenden Gebrauch. Die Metapher ist ein Wort, das »fremdartig«, d. h. ungewohnt, verwendet wird.14 Die gewohnte und ungewohnte Verwendung von Ausdrücken zur Darstellung der Krankheit sowie hg. v. Dems. / Ferenc Kiefer / Manfred Bierwisch. Dordrecht: D. Reidel Publishing Company 1980, 221–232, hier 221. 13 Udo Roth: »Georg Büchners ›Woyzeck‹ als medizinhistorisches Dokument«, in: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995-1999), hg. v. Burghard Dedner / Thomas Michael Mayer. Tübingen: Niemeyer 2000, 503–519, hier 519. 14 Aristoteles: Poetik, übers. v. Arbogast Schmitt, in: Ders: Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 5. Berlin: Akademie Verlag 2008, 212, 1458a, 31. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Wissenschaftlicher Ansatz und Forschungsgrundlagen 15 ihre Frequenz in unterschiedlichen Bereichen kann in Büchners Texten analytisch beobachtet werden. Die Theorie der konzeptuellen Metapher von Lakoff und Johnson liefert die Terminologie und die Kriterien für eine Klassifizierung der metaphorischen Ausdrücke. Konzeptuelle Metaphern sind Metaphern, die mit unserem alltäglichen Konzeptsystem (ordinary conceptual system15) verbunden sind und deshalb unsere Handlungen, unser Verstehen und Agieren strukturieren. In unserer alltäglichen Sprache werden sie durch konventionelle Metaphern verbalisiert, die wir regelmäßig gebrauchen, ohne uns dessen bewusst zu sein.16 Jedes Mal, wenn wir eine Äußerung wie z. B. »Nun schießen Sie los!« tätigen, konzeptualisieren wir eine Argumentation durch die Erfahrung des Kampfes und definieren sie mit dem entsprechenden Fachvokabular.17 Terminologisch wird der zu definierende Sachverhalt, in diesem Fall die Tätigkeit des Argumentierens, als »Zieldomäne« bezeichnet, während die »Quelldomäne« die Erfahrungsbereiche bezeichnet, auf die man zugreift, um eine Sache oder einen Vorgang zu verstehen und zu benennen.18 Welche Sachverhalte mit welchem Vokabular beschrieben werden, liefert ein Kriterium für die Klassifizierung und Interpretation der Metapher. Büchner verwendet in seinen Werken unterschiedliche Mittel der Krankheitsdarstellung. Auffällig sind der Einsatz von Symptomen und die Verwendung medizinischer Bezeichnungen. Dabei lassen sich sowohl verbale Übertragungen aus dem medizinischen Bereich als auch der Transfer medizinisch beschriebener Kommunikationsmuster ins Drama und in die Erzählung beobachten. Beide Arten der Metapher erzeugen sowohl auf der Ausdrucksebene als auch auf der Strukturebene der Werke neue Darstellungsmittel und Betrachtungsperspektiven. Büchner zeigt seine Figuren bei der Interaktion in verschiedenen Situationen. Lenz kommuniziert z. B. mit dem Pfarrer Oberlin. Woyzeck tritt je nach Szene mit verschiedenen Personen in einen Dialog. Zur Analyse der Kommunikationsmuster liefert Paul Watzlawick in seinem Buch Pragmatics of Human Communication (1967) ein gutes Instrument. Watzlawick erläutert an verschiedenen Beispielen Dialogmuster von paradoxer und gestörter Kommunikation. Er beobachtet verschiedene Verhaltensarten in zwischenmenschlichen Kommunikationsabläufen und analysiert die Wirkung der 15 George Lakoff / Mark Johnson: Metaphors we live by (1980). Chicago: The University of Chicago Press 2003, 3. 16 Vgl. Lakoff / Johnson: Metaphors we live by, 5. 17 Vgl. George Lakoff / Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. (1997). 7. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2011, 12f. 18 Vgl. George Lakoff / Elisabeth Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht (2008). 2. aktualisierte Aufl. Heidelberg: Carl Auer 2009, 27. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 16 Einleitung Kommunikation auf die subjektive Entwicklung des Beziehungspartners.19 Er ermittelt und veranschaulicht unterschiedliche Kommunikationsmuster, die als Folie für die Analyse der Gespräche in den Werken Lenz und Woyzeck Anwendung finden. Betrachtet man die Werke Büchners unter den beschriebenen Aspekten, so zeigt sich, dass Büchner gestörte Kommunikationsmuster auf die Interaktion der Figuren überträgt. Ein Teil dieser Arbeit befasst sich daher mit der Analyse der Beziehung zwischen den Kranken und ihrer jeweiligen Umwelt, insbesondere in den Fällen, in denen Störungen in der Kommunikation ersichtlich sind. Auf der beschriebenen theoretischen Basis können sich Erkenntnisse über folgende Aspekte der Krankheitsmetaphorik ergeben: – Bereiche, aus denen Bilder zur Schilderung der Krankheit entnommen werden – Sachverhalte, die durch Krankheitsbilder beschrieben werden – Umwidmung metaphorischer Ausdrücke der Krankheit zur Beschreibung von wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen – gestörte Kommunikationsmuster, die sich im Verhalten und in der Interaktion der kranken Figuren widerspiegeln. Historische Grundlage Da die in Büchners Texten wiederkehrenden Krankheitsbilder auf den wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit zurückführen, erscheint es hier sinnvoll, einen Überblick zu den vorherrschenden Ansichten über die Geisteskrankheit und die bedeutenden Umwandlungen der Medizinwissenschaft in der Jahrhundertwende zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert zu liefern. Von der Nosologie zur Anatomie Foucault bezeichnet die Zeit um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert als »eine jener Perioden, die eine entscheidende chronologische Schwelle bedeuten«, insbesondere die zwischen der klassischen und der modernen Ära der Menschen.20 Georg Büchner befindet sich gerade an dieser entscheidenden Schwelle, in der sich der Blick des Arztes von der klassifizierenden Medizin oder der »Medizin der Symptome«, wie Foucault sie nennt, zum anatomisch-klini19 Vgl. Paul Watzlawick / Janet H. Beavin / Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen Störungen Paradoxien (1969), 12. unveränderte Aufl. Bern: Hans Huber 2011, 13. 20 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Frankfurt a. M.: Fischer 1988, 206. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Historische Grundlage 17 schen Blick entwickelt. Foucault identifiziert die Wende vom klinischen zum anatomisch-klinischen Blick mit Bichats Anatomie g8n8rale (1801): Die Medizin der Symptome tritt langsam vor der Medizin der Organe, des Krankheitsherdes und der Krankheitsursachen zurück, vor einer Klinik, die ganz an der pathologischen Anatomie orientiert ist. Dies ist das Zeitalter Bichats.21 Die Beobachtung der Krankheit, d. h. deren Symptome miteinander zu verbinden und zu interpretieren, reicht allein nicht aus, um eine Diagnose zu erstellen. Erst das Sezieren der Organe ermöglicht neue Erkenntnisse über die Krankheit und eröffnet neue Wege der Betrachtung. Der Blick des Anatomen ist ein vertikaler Blick, indem er in die Tiefe geht, vom Sichtbaren ins Verborgene, und er legt die Läsionen und Degenerationen der Organe offen.22 Die Leichenöffnung bringt ans Licht, was für die klinische Methode unsichtbar geblieben ist, sie ermöglicht, den Krankheitszustand an den Organen zu verifizieren. Um die organischen Veränderungen zu erforschen und diese auf die Symptome der Krankheit zu beziehen, wird eine neue wissenschaftliche Methode eingesetzt, die von Klaus Dörner wie folgt beschrieben wird: Im Gegensatz zu Descartes hat die Wissenschaft nicht mit einer Definition, sondern mit der »Faktensammlung« zu beginnen, hat die Vorstellungen von einem Faktum auf ihre Elemente zu zerlegen und sie nach der Erfahrung wieder zusammenzusetzen. Dies ist die analytische oder historische Methode oder die Genealogie der Vorstellungen.23 Die »analytische oder historische Methode« wird nicht nur zur Arbeitsmethode der Naturwissenschaften, sondern auch der Psychologie und der Psychiatrie.24 Am Anfang des 19. Jahrhunderts vollzieht sich der Übergang der Psychiatrie von einer diskursiven Praxis zu ihrer Epistemologisierung. Das Wissen einer diskursiven Praxis durchläuft nach Foucaults Archäologie verschiedene Transformationen, bevor sich daraus eine formalisierte Wissenschaft herausbilden kann. Die erste Transformationsphase nennt er »Epistemologisierung«. Von einem Paradigmenwechsel in der Psychiatrie kann Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht die Rede sein, sondern davon, dass Gegenstände und Aussagen innerhalb der Disziplin strukturiert und systematisiert sowie Begriffe und Strategien formalisiert werden.25 Das nachstehende Zitat von Franz Amelung in den Bei21 Foucault: Die Geburt der Klinik, 136. 22 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, 149. 23 Klaus Dörner : Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie (1969). Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1984, 118. 24 Vgl. Dörner: Bürger und Irre, 118. 25 Vgl. dazu: »so hat die Psychopathologie als Diskurs mit wissenschaftlichem Anspruch am Anfang des 19. Jahrhunderts mit Pinel, Heinroth und Esquirol eine diskursive Praxis epistemologisiert, die lange vor ihr existierte und die schon lange ihre Autonomie und ihr Regelsystem erlangt hatte.« Michel Foucault: Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 18 Einleitung trägen zur Lehre von den Geisteskrankheiten (1832) zeugt von der Bedeutung der anatomischen Studien und der Beobachtung der Kranken für die Entwicklung einer fortschrittlichen und selbständigen Psychiatrie: Aber nicht sowohl die Anthropologie und Physiologie, sondern noch eine andere Quelle, welche Gaubius zu erwähnen vergessen, vermag hier zur Forderung der Wahrheit grosse Aufschlüsse zu geben und grössere vielleicht, als die Physiologie selbst; ich meine die Erfahrungen, welche uns die Beobachtung des kranken Menschen darbietet und die Resultate, welche wir aus den Ergebnissen der pathologischen Anatomie zu ziehen berechtigt sind.26 An der Verbreitung dieser Methoden wirkte die zunehmende Einweisung von psychisch Kranken in die Irrenanstalten mit. Foucault identifiziert in der Geschichte des Wahnsinns zwei Wendepunkte: die Gründung des Pariser Hipital g8n8ral im Jahr 1657 und die Befreiung der »Irren« in BicÞtre durch die Kettenabnahme 1794.27 Das erste Datum lässt Foucault mit dem Beginn der Internierungszeit koinzidieren, die er als »große Gefangenschaft« bezeichnet. Psychisch Kranke werden zusammen mit Armen und Verbrechern von der Gesellschaft abgesondert und in die Zuchthäuser eingeliefert.28 Seit 1794 führte eine humanitäre Reformbewegung, die von den Vertretern der französischen Psychiatrie wie z. B. von Philippe Pinel und später noch von seinem Schüler Jean P. D. Esquirol veranlasst wurde, zur Entlassung der psychisch Kranken aus den Zuchthäusern und zu deren medizinischer Betreuung in Psychiatrien.29 Den Ärzten boten sich nun unterschiedliche Gelegenheiten zur Untersuchung der Kranken. Konsequenterweise änderte sich dadurch auch ihre Betrachtungsweise: Die in den Kliniken internierten Patienten konnten von den Ärzten ständig beobachtet werden. Die medizinischen Abhandlungen der Zeit bezeugen, wie das Verhalten der Kranken und die körperlichen Manifestationen der Krankheit tagebuchartig registriert wurden. Um nur einige Beispiele zu liefern, sei hier auf Heinroths Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung (1818) sowie auf die Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten (1832) von Franz Amelung und Friedrich Bird Bezug genommen. Heinroths Lehrbuch liefert eine Art Protokoll für die Beobachtung und gliedert die psychischen Störungen in unterschiedliche Krankheitsformen ein: 26 27 28 29 Köppen, in: Ders.: Die Hauptwerke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Quarto 2008, 471–699, hier 674. Franz Amelung: »Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten«, in: Ders. / Friedrich Bird (Hg.): Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten, 2 Bde., Bd. 1. Darmstadt / Leipzig: Carl Wilhelm Leske 1832, 110–290, hier 111. Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 14. Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, 14. Vgl. Dörner: Bürger und Irre, 137. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Historische Grundlage 19 Der Arzt beobachtet, oder hat zu beobachten, die Erscheinungen des erkrankten Lebens, theils der sich offenbarenden Kraft nach, welche die des gestörten Lebens ist, […] theils der Form nach, welche eben die äußere bestimmte Erscheinungsweise des verletzten Lebensverhältnisses ist.30 Zum besseren Verständnis der damaligen Terminologie über die Geisteskrankheit soll hier präziser auf Heinroths Klassifikation eingegangen werden, so wie er sie im zweiten Teil seines Lehrbuchs der Störungen, in den Kapiteln 1–4 des zweiten Abschnitts über die Formenlehre darstellt. Heinroth unterscheidet bei den Seelenstörungen drei Ordnungen. Aus jeder Ordnung entstehen drei Gattungen. Zur ersten Ordnung gehören die Gattungen »Wahnsinn«, »Verrücktheit« und »Tollheit«. Die zweite Ordnung umfasst »Melancholie«, »Blödsinn« und »Willenlosigkeit«. Formen der dritten Ordnung sind gemischte Gemütsstörungen, die in »wahnsinnige Melancholie«, »Verwirrtheit« und »Scheue« eingeteilt sind. Heinroth schließt aber nicht die Möglichkeit aus, dass die Seelenstörungen nicht nur einzeln, sondern auch zusammen erscheinen können, wobei er die Beispiele der Manie gepaart mit der Melancholie oder der Manie gepaart mit Melancholie und Blödsinn anführt.31 Krankengeschichten bilden den Bestandteil der Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten von Amelung und Bird. Die Autoren notieren die biografischen Angaben der Patienten, ihre Vorgeschichte, einschließlich Informationen über die Familie und berufliche Tätigkeit. Außerdem werden äußere Manifestationen des Verhaltens, psychische und physische Symptome mehrmals täglich aufgezeichnet, wie die folgende Beschreibung eines an periodischem Wahnsinn leidenden Patienten bezeugt: »Den 1. April. Sehr unruhig und verrückt; Puls voll, kräftig, 80; liess sich von mir besänftigen. Abends: sehr wild, nicht zu regieren; Puls 100, voll kräftig, Carotis wie immer.«32 Die Forschung kann noch nicht präzise belegen, was Büchner während seiner Studien von der zeitgenössischen psychiatrischen Fachliteratur wirklich gelesen hat. Man kann nur Vermutungen anstellen. Dabei helfen die spärlichen Hinweise in den Briefen, die biografischen Elemente, u. a. die Tätigkeit seines Vaters als Mediziner und Gutachter, und nicht zuletzt die intertextuellen Bezüge in seinen Texten.33 Die Herausgeber der historisch-kritischen Marburger Ausgabe des Gesamtwerks vermuten, Büchner habe Kenntnisse von den Schriften des Hal30 Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, 2 Bde., Bd. 1. Leipzig: Vogel 1818, 51. 31 Vgl. Heinroth: Lehrbuch der Störungen, Bd. 1, 253–258. 32 Friedrich Bird: »Die Lehre von der psychischen Bedeutung der Organe«, in: Beiträge zur Lehre von den Geisteskrankheiten, Bd. 1, 1–109, hier 83. 33 Vgl. Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und ästhetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Büchners »Lenz« (1994). Wiesbaden: Springer Verlag 2013, 42. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 20 Einleitung lenser Mediziners Johann Christian Reil gehabt, auf den die Bezeichnung »Psychiatrie« zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist.34 Im Versöhnungsbrief vom 18. Dezember 1836 benachrichtigte Ernst Büchner seinen Sohn über die Zusendung der gewünschten Bände von Frorieps Notizen aus dem Gebiete der Natur und Heilkunde, dem damaligen Fachorgan für Biologie und Medizin, und über die Zusendung von zwei Exemplaren seines Gutachtens »Versuchter Selbstmord durch Verschlucken von Stecknadeln« (vgl. B: 113). In seinen Gutachten bezieht sich Büchners Vater häufig auf medizinische Fachliteratur. In der »Beobachtung einer glücklich abgelaufenen Selbst-Entmannung« erwähnt er z. B. Christoph Wilhelm Hufelands Journal der Heilkunde.35 Es ist wenigstens anzunehmen, dass Büchner den Anatomen Bichat durch Johannes Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen (1834) kannte, welches zu den Quellen von Büchners naturwissenschaftlicher Promotionsschrift M8moire sur le systeme nerveux du barbeau (1836) zählt.36 In dem Handbuch bezieht sich Müller immer wieder auf die allgemeine Anatomie Bichats und stellt deren Inhalt über alle Lehrbücher der allgemeinen Pathologie.37 Den Arzt und Professor für Psychiatrie Johann Christian August Heinroth könnte Büchner u. a. vom gerichtlichen Gutachten des Stadtphysikus Johann C. A. Clarus über den Fall Woyzeck her gekannt haben. Heinroth unterstützte die von Clarus gestellte Diagnose und wird von letzterem im Gutachten selbst zitiert.38 Überschneidungen mit den Ausführungen von Amelung und Bird in den Texten Büchners untersucht Caroline Seling-Dietz in ihrem Aufsatz »Büchners ›Lenz‹ als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹« (2000).39 34 Vgl. dazu: Georg Büchner : Lenz, hg. v. Burghard Dedner / Hubert Gersch. Marburger Ausgabe, Bd. 5. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, 209. Im Folgenden mit der Sigle L belegt. Dass »›Psychiatrie‹ eine Schöpfung von Johann Christian Reil« ist, behauptet Jean Starobinski, in: Ders: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Berlin: August Verlag 2011, Anm. 16, 120. 35 Vgl. Ernst Büchner : »Beobachtung einer glücklich abgelaufenen Selbst-Entmannung«, in: Ders.: Versuchter Selbstmord, hg. v. Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz, 68–80, hier 80. 36 Vgl. dazu die Quellen zu den Naturwissenschaftlichen Schriften, in: Georg Büchner : Naturwissenschaftliche Schriften, hg. v. Burghard Dedner / Aurelia Lenn8, unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering und Manfred Wenzel. Marburger Ausgabe, Bd. 8. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 310. 37 Vgl. Johannes Müller : Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bde., Bd. 1. Koblenz: Hölscher 1834, 740. 38 Vgl. Johann Christian August Clarus: »Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen von Hrn. Dr. Johann Christian August Clarus, K. Sächsischem Hofr. zu Leipzig«, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, hg. v. Adolph Henke, 4. Ergänzungsheft. Erlangen: J. J. Palm und Ernst Enke 1825, 1–97, hier 11. Im Folgenden mit der Sigle Cl belegt. 39 Carolin Seling-Dietz: »Büchners ›Lenz‹ als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹«, in: Georg Büchner Jahrbuch 9, 188–236, hier 235f. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Historische Grundlage 21 Vorherrschende Konzepte der Geisteskrankheit zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert Die Entwicklung der Psychiatrie als selbstständige Disziplin und der Einsatz analytischer, wissenschaftlicher Methoden führen zu neuen Auffassungen über die psychische Krankheit. Mit den unterschiedlichen Theorien, die zur Zeit Büchners vorherrschten, setzt sich Amelung in den Beiträgen zur Lehre von den Geisteskrankheiten kritisch auseinander. Er unterscheidet zwei Hauptansichten: Erstens: Man ist der Meinung, die psychischen Krankheiten seyen in jedem Falle als unmittelbare Affectionen oder Krankheiten der Seele, als eines vom Körper verschiedenen und eigenthümlichen Wesens anzusehen; die dabei bemerkbaren körperlichen Anomalien träten hierbei nur als Folge der Seelenkrankheit auf, sie seyen demnach immer nur als deuteropathische Erscheinungen anzusehen, mithin unwesentlich. Das Wesen dieser Krankheiten liege in den abnormen psychischen Ercheinungen [sic!] und in diesen auch ihre Quelle. Diese Quelle sey nichts anderes, als Verläugnung der Vernunft und Moralität, mithin die Sünde.40 Als Anhänger dieser psychiatrischen Richtung erwähnt Amelung in erster Linie Heinroth und u. a. J. F. Ehrhard, Langermann, Hoffbauer, Haindorff, Steffens, Windischmann, Gassner, Benecke.41 Die zweite Hauptansicht unterscheidet sich von der ersten hinsichtlich der Suche nach den Gründen und Ursachen der Geisteskrankheit: Die zweite Hauptansicht ist diejenige, welche die Geisteskrankheiten oder die sogenannten Seelenstörungen lediglich als Reflexe organischer oder körperlicher Anomalien betrachtet, wobei das Wesen der Seele selbst an und für sich unversehrt bleibe. Ihr Hauptaxiom ist: nur der Körper, nicht die Seele kann erkranken […].42 Diese Ansicht gliedert Amelung wiederum in zwei verschiedene Richtungen. Einige Mediziner, wie z. B. Georget, Bird und Friedreich, suchen die Ursache der psychischen Störungen im Gehirn. Andere hingegen ziehen außer dem Gehirn auch weitere Organe in Betracht, darunter sind Nasse, Grohmann und Jacobi zu nennen.43 Amelung bekennt sich zu den Vertretern der zweiten Hauptansicht, indem er das Gehirn als das Organ betrachtet, aus dem die psychischen Krankheiten entstehen können, und kritisiert Heinroths Ansicht daher heftig: 40 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 114. 41 Vgl. Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 115. 42 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 117. 43 Vgl. Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 118f. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 22 Einleitung Alle Seelenstörungen wurzeln demnach im Laster, oder in der Verläugnung der Tugend. Die ganze Klasse jener Unglücklichen, welche den Verstand verloren haben, und welche mit Recht auf unser Mitleid, auf unser ganzes Erbarmen Anspruch machen, ist nichts, als eine Schaar lasterhafter und verworfener Menschen, nichts als der Abschaum der Gesellschaft. Welche Folgerungen!44 Amelung ist der Meinung, dass Heinroth den Begriff der Krankheit mit dem des moralischen Fehlers verwechsle. Er widerlegt Heinroths Auffassung, indem er die Konsequenzen aufzeigt, die diese Begriffe im Hinblick auf die Zurechnungsfähigkeit bedeuten. Heinroth zufolge ließe sich die Grenze zwischen Kranken und Verbrechern nur schwer ziehen. Um diese Grenze genauer zu bestimmen, greift er auf den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit zurück. Amelung hingegen lehnt den Rückgriff auf diese Begriffe ab, weil sie nicht definierbar seien: Er sagt, der blos lasterhafte Mensch ist noch frei, so lange er einsieht, dass er lasterhaft ist, dass er (in moralischem Sinne) auf Irrwege gerathen ist. […] Wir fürchten sehr er wird nicht weiter kommen. Denn am Ende werden sich die Beweise um einen Cirkelschluss drehen und etwa folgendermaassen lauten: Dieser Mensch ist zurechnungsfähig, weil er frei ist; und warum ist er frei? Weil er nicht frei ist – und umgekehrt.45 Zur Untermauerung seiner Argumentation liefert Amelung mehrere Beispiele, die gegen Heinroths Theorie sprechen, so wie das eines Mannes, der vom Pferd fällt und sich den Schädel bricht. Wenn der Mann infolge der Verletzung verrückt wird, fragt sich Amelung: »Wer trägt hier die Schuld?«46 Amelung ist nicht der einzige Mediziner, der Heinroths Auffassung anzweifelt. Hier sei auch auf J. C. A. Grohmann verwiesen, der Seelenstörungen sowie alle somatischen Krankheiten als Abnormitäten der Natur betrachtet. Daher könne der Mensch der Seelenstörungen nicht beschuldigt werden. Vielmehr sei in einem solchen Fall die Bestrafung aufzuheben.47 Die Unterschiede zwischen den Hauptansichten über die Geisteskrankheit gipfeln in der Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern. Amelung verwendet die Definitionen ›Psychiker‹ und ›Somatiker‹ nicht, stattdessen bezeichnet er erst im weiteren Verlauf seiner Abhandlung die zwei von ihm illus44 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 120f. 45 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 122f. 46 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 126. 47 Vgl. Wilhelm Joseph Anton Werber : »Umriß von der wahren Natur des Menschen. Ein biologischer Versuch«, in: Annalen für die gesamte Heilkunde. Unter der Redaction der Mitglieder der Grossherzoglich Badischen Sanitäts-Commission, 3. Jahrgang, 2. Heft. Karlsruhe: Ch. Fr. Müller’sche Hofbuchhandlung 1828, 71–82, hier 76. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Krankheitsbegriff in der Büchner-Forschung 23 trierten Hauptansichten als »rein psychisch« und »somatisch«.48 Klaus Dörner definiert diese Kontroverse als »eine vereinfachende Polarisierung der Psychiatrie-Geschichtsschreibung zur Bezeichnung der Periode etwa von 1805 bis 1845«.49 Verkürzt dargestellt ist die Frage, ob es sich um eine psychische oder somatische Krankheit handelt, eher eine Frage nach den Faktoren, welche die Entstehung der Krankheit beeinflussen. Sowohl die Psychiker als auch die Somatiker erforschen die Beziehung zwischen Körper und Seele. Der Unterschied zwischen ihnen besteht laut Dörner darin, »dass von den einen die Pathogenese des Irrenseins als psychische, von den anderen als somatische behauptet wird.«50 Die Somatiker hätten sich aber darum verdient gemacht, »die Wissenschaft von ontologischen und theologischen Voraussetzungen« und die »Irren von religiöser Schuld« zu befreien.51 Krankheitsbegriff in der Büchner-Forschung In der Forschung werden sowohl die Fähigkeit Büchners, sich kritisch mit den Veränderungen seiner Zeit auseinanderzusetzen, als auch die Verklammerung von Dichtung und medizinischer Wissenschaft in seinen Texten mehrfach betont. Carolin Seling-Dietz argumentiert, dass sowohl Lenz als auch Woyzeck »eingebettet sind in zu Büchners Zeit hochaktuelle psychiatrische Debatten«,52 wobei sich die Autorin auf die Kontroverse zwischen Psychikern und Somatikern und auf die darauffolgenden Implikationen der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bezieht, die in dieser Einleitung bereits illustriert wurden. Georg Reuchlein lenkt ebenso die Aufmerksamkeit der Forschung auf Büchners Historizität und exemplifiziert diese am Lenz-Text: Vereinnahmt man Büchner für die Moderne, verliert man den Blick für das historische Umfeld, in das sein Schaffen trotz allem eingebettet ist und vor dem es sich erst in seiner Eigenart abheben läßt. Ich möchte daher versuchen, anstelle der »Modernität« die »Historizität« von Büchners Werk aufzuzeigen. […] Dabei sollen die Verflechtungen von Büchners Text mit dem medizinischen und psychopathologischen Denken seiner Zeit ebenso skizziert werden wie die besondere Stellung, die das Lenz-Projekt im Kontext der literarischen Beschäftigung mit psychischer Krankheit um 1800 einnimmt.53 48 49 50 51 52 53 Amelung: Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, 134. Dörner: Bürger und Irre, 266. Dörner: Bürger und Irre, 276. Vgl. Dörner: Bürger und Irre, 276. Seling-Dietz: Büchners ›Lenz‹ als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹, 236. Georg Reuchlein: »›…als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm‹. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität: Eine Archäologie der Darstellung seelischen Leidens im © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck 24 Einleitung Ariane Martin unterstreicht die Bedeutung des Pathologischen in der Erzählung Lenz und bezeichnet sie als »literarische Pathographie«.54 Im Hinblick auf das Pathologische in der Erzählung stellt sich die Forschung die Frage nach der Diagnose der Krankheit. Für die Psychiatrie des 20. Jahrhunderts galt die Erzählung als »eine frühe Schizophreniestudie«.55 Der italienische Psychiater Eugenio Borgna untersucht die Verbindung zwischen Schizophrenie und literarischer Darstellung unter dem Aspekt der Übertragung: Die Novelle Georg Büchners, dem wir emblematische Texte des modernen Theaters wie etwa »Woyzeck« und »Danton’s Tod« verdanken, etabliert sich als Epiphanie einer psychotischen Metamorphose der Existenz: sie überträgt sich heimlich auf die Schizophrenie in ihrer klinischen Form, aber ohne von der letzteren verdrängt oder annulliert zu werden.56 Die in den letzten Jahrzehnten intensivierte Forschung zum Lenz tendiert eher dazu, diesen Text in die medizinischen und psychiatrischen Debatten der Zeit Büchners einzubetten. In seinem Aufsatz »Schizophrenie oder Melancholie? Zur problematischen Differentialdiagnostik in Georg Büchners ›Lenz‹« (1998) vertritt Harald Schmidt die Auffassung, dass Lenz weder als »geniale literarische Antizipation«57 der Schizophrenie noch als simpler Nachvollzug der Melancholie betrachtet werden kann, sondern als eine Literarisierung des dem Autor überlieferten psychopathischen Materials.58 In dieselbe Richtung geht die Bezeichnung des Lenz-Texts »als Rekonstruktion eines Falls religiöser Melancholie« durch Carolin Seling-Dietz.59 Yvonne Fauser dagegen bezieht Lenzens Krankheit auf die moderne Definition der »bipolaren Störung« und analysiert die Erscheinungen der bipolaren Störung und deren Varianten in den Beschreibungen des 19. Jahrhunderts: 54 55 56 57 58 59 Lenz«, in: Barbara Neymeyr (Hg.): Georg Büchner. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, 172–195, hier 173. Hervorhebungen im Original. Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart: Reclam 2007, 210f. Gerhard Irle: »Lenz, eine frühe Schizophrenie Studie«, in: Ders. (Hg.): Der psychiatrische Roman. Stuttgart: Hyppochrates 1965, 73–83, hier 73. Übersetzung der Verfasserin. Der italienische Originaltext lautet: »La novella di Georg Büchner, al quale si devono testi emblematici del teatro moderno come ›Woyzeck‹ e La morte di ›Danton‹, si costituisce come l’epifania di una metamorfosi psicotica dell’esistenza: sovrapponendosi misteriosamente alla schizofrenia come forma clinica; ma senza lasciarsi schiacciare, o annullare, da questa.« Eugenio Borgna: Come se finisse il mondo. Il senso dell’esperienza schizofrenica, Milano: Feltrinelli 2002, 78. Harald Schmidt: »Schizophrenie oder Melancholie? Zur problematischen Differentialdiagnostik in Georg Büchners ›Lenz‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, hg. v. Werner Besch / Norbert Oellers / Ursula Peters, Bd. 117. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, 516–542, hier 516. Vgl. Harald Schmidt: Schizophrenie oder Melancholie?, 518. Seling-Dietz: Büchners ›Lenz‹ als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹, 188. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442 Olivetta Gentilin: Krankheitsbild als rhetorisches Element in Georg Büchners Lenz und Woyzeck Krankheitsbegriff in der Büchner-Forschung 25 Vor Mitte des 19. Jahrhunderts kannte die Medizin weder die schwere Form der bipolaren Störung noch ihre leichtere Variante Zyklothymie im engeren Sinne. Sie kannte allenfalls zufällige Verbindungen von Melancholie und Manie. So beobachtete man Anfälle von Wahnsinn, d. h. Manie, bei Melancholikern und ein melancholisches Stadium bei Manischen.60 Wolfram Schmitt grenzt die moderne Diagnose vom damaligen Krankheitsbegriff ab: Die Melancholie der fiktionalen Gestalt Lenz entspricht ungefähr der heutigen Diagnose einer Depression mit psychotischen Symptomen, der Wahnsinn eher einer akuten wahnhaften Psychose. Melancholie und Wahnsinn sind nach der psychiatrischen Lehre zu Büchners Zeit, die er offensichtlich gut kannte, lediglich Phasen einer einzigen Psychose, der sog. Einheitspsychose, die die Stadien Melancholie, Manie, Wahnsinn bis zu Verrücktheit und Blödsinn umfasst. In der modernen Psychiatrie wird Lenzens Krankheit, wie es bei Büchner erscheint, meist als Schizophrenie gesehen.61 Lenz und Woyzeck werden in der Forschung häufig parallel betrachtet. Die These, dass die Texte ähnliche Merkmale aufweisen, wird von Gerhard Peter Knapp vertreten. Er verwendet die Bezeichnung »Tragödie« für den Woyzeck und betrachtet beide Werke als »Psychogramme«: Auch Lenz ist ein Komplementärtext zur Tragödie: als Psychogramme menschlichen Leidensdrucks und sozialer Ausgrenzung entspringen beide der Parteinahme ihres Autors für die Opfer von Dekonstruktionsprozessen, in denen ein komplexes Zusammenspiel endogener und externer Faktoren die menschliche Existenz zerbricht.62 Das Novellenfragment Lenz wird von Georg Reuchlein in seinem Aufsatz »›…als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm‹. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität: Eine Archäologie der Darstellung seelischen Leidens im ›Lenz‹« (1996) ebenfalls als »Psychogramm«63 bezeichnet. 60 Yvonne Fauser : »Die Vorwegnahme der medizinischen Erkenntnis von manisch-depressiven Störungen in der Literatur – dargestellt an Büchners ›Lenz‹ und ›Leonce und Lena‹«, in: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-2008), hg. von Burghard Dedner / Matthias Gröbel / EvaMaria Vering. Tübingen: Niemeyer 2008, 63–80, hier 64. 61 Wolfram Schmitt: »Georg Büchners ›Lenz‹ – Verzweiflung und Psychose«, in: Hermes A. Kick / Günter Dietz (Hg.): Verzweiflung als kreative Herausforderung. Psychopathologie, Psychotherapie und künstlerische Lösungsgestalt in Literatur, Musik und Film. Berlin: LIT Verlag 2008, 115–127, hier 115. 62 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner (1977), 3. vollständig überarbeitete Aufl. Stuttgart: Metzler 2000, 178. Zu der Komplementarität beider Texte siehe auch Walter Hinderer : »Wenn man im Hinblick auf Büchners Erzählung die Diskrepanz von der darin behaupteten ästhetischen Auffassung und der Ausführung konstatierte, so könnte man zumindest ›Woyzeck‹ als die praktische Anwendung der ästhetischen Thesen von Büchners ›Lenz‹ interpretieren.« Ders.: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München: Winkler Verlag 1977, 65f. 63 Reuchlein: »…als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm«. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität, 174. © 2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847106449 – ISBN E-Book: 9783847006442