Anke Kaloudis Sokratische Gespräche im

Werbung
144
Anhang
Anke Kaloudis
1
Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
Mit Jugendlichen zu kommunizieren ist
für Erwachsene ein abenteuerliches Unterfangen. Die Sprachcodes der Peers
gleichen fremdartigen Verständigungsspielen, deren Sinn sich einem erst mit
einer gewissen Verzögerung erschließt.
Nicht selten endet man in der Sprachlosigkeit. Ohne Worte. Auf der anderen
Seite wirken erwachsene Sprachmuster
in der Welt der Jugendlichen ebenso
befremdlich. »Was willst du?« »Was redest Du?« Fragende Blicke. »Ich verstehe
nicht, was Du meinst.« Zurück bleibt Unverständnis bei den Jugendlichen.
Was sich hier im Alltäglichen zeigt,
gilt für den Bereich der Religion und
Theologie in verstärktem Maß, besonders dann, wenn erwachsene Lehrkräfte
in der Schule Jugendlichen gegenüber
stehen, die mit Religion »gar nichts am
Hut haben« aber im Fach Religion unterrichtet werden müssen. In religiösen Angelegenheiten eine gemeinsame Sprache
zu finden, scheint mühsam.
Das Reden über Religion, den eigenen Glauben und die christlichen Inhalte
und das religiöse Reden, das Bekenntnis
zu Gott, das Beten, die Frömmigkeit und
der Glauben – beides scheint in der Welt
der Jugendlichen immer weniger beheimatet zu sein. Wenn die Religionslehrkraft beginnt von Rechtfertigung und
Gottes Gnade zu reden, wenn der Begriff des Reiches Gottes und der Eschatologie die Unterrichtsstunden »füllt«,
wenn in Schulgottesdiensten gemeinsam
gebetet und gesungen werden soll, dann
zeigt sich ebendieser »Graben« zwischen
Welt und Sprache der Jugendlichen und
Welt und Sprache der Religionslehrer
und Religionslehrerinnen. Wie kann vor
diesem Hintergrund Kommunikation im
Religionsunterricht gelingen? Wie können Unterrichtsgespräche gestaltet und
strukturiert werden?
Im Kontext einer Theologie mit Jugendlichen2 soll hier ein Schwerpunkt
darauf gelegt werden, wie mit Jugendlichen im Religionsunterricht Gespräche
geführt werden können. Dabei wird in
der Sokratik eine für den Religionsunterricht adäquate Methode vorgestellt,
1 Die folgenden Aussagen orientieren sich an
meinen Ausführungen in meiner Dissertationsschrift: Anke Kaloudis, »Auf der Grenze« –
Religionsdidaktik in religionsphilosophischer
Perspektive, Unterrichtspraktische Überlegungen zur Anthropologie in der gymnasialen Oberstufe mit Paul Tillich, Kassel 2012,
257–290.
2 Vgl. hier Friedrich Schweitzers Rede von einer
Theologie für, mit und der Kinder bzw. Jugendlichen, in: Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung, Wie religiöses
Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh
2011, 9–18 und Thomas Schlag / Friedrich
Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie,
Jugendtheologie als Herausforderung und
didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn
2011, 60, sowie Thomas Schlag / Friedrich
Schweitzer u.a., Jugendtheologie, Grundlagen
– Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 9ff.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 144
8/15/2013 12:06:52 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
die im Sinne von Schweitzers Rede
der Elementarisierung eine elementare
Lernform darstellt.3 Gegenüber anderen
Veröffentlichungen zur Jugendtheologie wie etwa Petra Freudenberger-Lötz’
»Theologische Gespräche mit Jugendlichen«, in denen unterschiedliche Methodenbeispiele reflektiert werden, legen die
folgenden Ausführungen den Fokus auf
den Aspekt der Gesprächsführung.4 Es
wird zentral herausgearbeitet werden,
wie theologische Gespräche mit Hilfe
der Sokratik strukturiert geführt werden
können.
Das mag einen erst einmal verwundern, wird doch die Sokratik gemeinhin
mit der Philosophie in Verbindung gebracht. Sokratische Gesprächsführung
wird im Kontext der Schule im Ethikoder Philosophieunterricht praktiziert.
Und in der Lehrerausbildung findet sie
sich in ebendiesen Fächerkonstellationen. Im Religionsunterricht führt sie
dagegen eher ein Schattendasein. Wie
es trotzdem funktionieren und welche
Anregungen der Religionsunterricht von
dem Sokratischen Gespräch in sich aufnehmen kann, das versuchen die folgenden Ausführungen zu verdeutlichen.
Sokrates im Gespräch5
Wer in Platons Schriften stöbert, begegnet einem Sokrates, der auf der Agora
in Athen Menschen und Leute aufsucht
und sie über Alltagsfragen in Gespräche
verwickelt. Die platonischen Dialoge, die
der Nachwelt die Person des Sokrates
bewahrt und überliefert haben, zeigen
einen Meister der Gesprächsführung,
der bei genauem Hinsehen allerdings
in didaktischer und bildungstheoreti-
145
scher Hinsicht gar nicht so meisterhaft
vorgeht. Von der Eigenständigkeit des
Lernenden im Bildungsprozess, wie ihn
schon die klassischen Bildungstheoretiker wie Wolfgang Klafki betont haben,
ist in den Gesprächen nichts zu spüren,
geschweige denn von den eigenen Konstruktionsleistungen des Schülers und
der Schülerin, wie sie der pädagogische
Konstruktivismus von Horst Siebert für
den allgemeindidaktischen Bereich oder
Hans Mendl für die Religionspädagogik
3 Vgl. hier Friedrich Schweitzer, Elementarisierung und Kompetenz. Wie Schülerinnen und
Schüler von »gutem Religionsunterricht« profitieren, Neukirchen-Vluyn 2008, 29f.
4 Vgl. hier: Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen, Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München,
Stuttgart 2012, 83ff. Petra Freudenberger-Lötz
stellt unterschiedliche Methoden dar, mit Jugendlichen über theologische Fragen ins Gespräch zu kommen: z.B. das Schreibgespräch;
die Fünf-Schritt-Lesemethode; das PlacematVerfahren, die strukturierte theologische
Kontroverse usw.
5Für die folgenden Ausführungen sind wesentlich: Klaus Draken, Sokrates als moderner
Lehrer, Eine sokratisch reflektierte Methodik
und ein methodisch reflektierter Sokrates für
den Philosophie- und Ethikunterricht, in:
Dieter Krohn / Barbara Neißer / Nora Walter
(Hg.), Sokratisches Philosophieren. Schriftenreihe der Philosophisch-Politischen Akademie und der Gesellschaft für Sokratisches
Philosophieren, Band XIII, Berlin 2011. Gisela
Raupach-Strey, Grundregeln des Sokratischen
Gesprächs, in: Sokratisches Philosophieren.
Schriftenreihe der Philosophisch-Politischen
Akademie, Band IV, Frankfurt a.M. 1997,
145–162. Sowie Gisela Raupach-Strey, Das
Paradigma der Sokratischen Methode in der
Tradition von Leonhard Nelson (1882–1927)
und Gustav Heckmann (1898–1996), in: Sokratisches Philosophieren. Schriftenreihe der
Philosophisch-Politischen Akademie, Band
VI, Frankfurt a.M. 1999, 36–68. Und Volker
Steenblock, Sokrates & Co. Ein Treffen mit
den Denkern der Antike, Darmstadt 2005.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 145
8/15/2013 12:06:53 PM
146
Anhang
in der jüngsten Vergangenheit betonen6.
Vielmehr erweist sich Sokrates im Gespräch als dominanter Gesprächsführer,
der die Fäden klar in der Hand hat und
genau weiß, wohin er seinen Gesprächspartner lenken will. In nicht wenigen
Dialogen versichert das Gegenüber von
Sokrates im Anschluss an dessen geschwungene Fragetechniken dem Meister der Gesprächsführung, wie Recht er
doch hat. Von eigenen Gedanken, Einfällen und Ideen, die Sokrates aus der
Bahn werfen könnten, findet man eigentlich im Munde seiner Zöglinge nichts.
Volker Steenblock kommt deshalb zu
der Ansicht: »Ein Gespräch mit Sokrates
ist also eine – bis heute – vieldiskutierte
und schwierige Angelegenheit. Man hat
den Eindruck karikiert, den viele platonischen Dialoge auf uns machen: Unter
starker Führung eines Lehrenden wird
ein ›Opfer‹ dazu gebracht, falsche Lösungen zu produzieren, die dann von Sokrates Stück für Stück destruiert werden.
Der Lernende muss erkennen, dass er die
Denkaufgaben mit den Bildungsmitteln,
die er zunächst nur mobilisieren kann,
nicht zu bewältigen vermag. Die Regie
des Lehrenden ist übermächtig, der Lernende verbleibt in der Rolle dessen, der
den jeweils erreichten Stand mit ›Ja‹ und
›Amen‹ bestätigen muss. In einem zweiten, ›anamnetischen‹ Akt gibt der Lehrende nach der Destruktion aller ›naturwüchsigen‹ Antworten des Delinquenten
dann gezielte Fragen so vor, dass er aus
dem Lernenden die (diesem nach einer
Perspektive jedenfalls Platons in letzter
Instanz aus der Präexistenz der Seele
bekannte, jedoch verschüttete) objektive
Lösung sozusagen ›herausholt‹ [...].«7
Auch wenn die pädagogische Leistung des historischen Sokrates durchaus
kritisch befragt werden darf, so hat sich
doch in seinem Gefolge vor allen Dingen
durch den Göttinger Philosophieprofessor Leonard Nelsen und seiner Schule im
letzten Jahrhundert das Sokratische Gespräch in der Universität und auch in der
Schule als Methode des Philosophierens
etabliert.8 Es ist nicht zuletzt die Hebammenkunst des antiken Philosophen, die
ihm den Ruhm eingebracht hat. Sokrates’ Gesprächsführung steht dafür, dass
jeder Mensch dazu in der Lage ist, durch
gewisse Anreize von außen, das in einem
selbst schlummernde Wissen zu heben.
Dieser Vorgang rückt dann wiederum –
6 Vgl. hier Hans Mendl, Konstruktivismus, pädagogischer Konstruktivismus, konstruktivistische Religionspädagogik. Eine Einführung, in:
Hans Mendl (Hg.), Konstruktivistische Religionspädagogik. Ein Arbeitsbuch. Religionsdidaktik konkret, Band 1, Münster 2005, 1–27.
7 Volker Steenblock (wie Anm. 5), 47.
8 Vgl. hier Anke Kaloudis (wie Anm. 1), 267. Kaloudis hält fest: »Die sokratische Gesprächsmethode wurde zur Anregung für die Bildung
und den Unterricht. Der Göttinger Philosophieprofessor Leonard Nelson verhalf ihr zum
Durchbruch. Er gründete 1922 die Philosophisch-Politische Akademie mit dem Ziel die
Breitenwirkung der philosophischen Bildung
im Sinne der Sokratik voranzutreiben. 1946,
nach dem Zweiten Weltkrieg, reaktivierte sein
ehemaliger Schüler Gustav Heckmann den
Bildungsbetrieb und führte die sokratische
Gesprächsmethode in Niedersachsen in die
Ausbildung der Lehrer ein. Dessen Schüler,
Detlef Horster, wiederum pflanzte den Gedanken in die Volkshochschulen und gründete gemeinsam mit anderen Schülern und
Schülerinnen Heckmanns die Gesellschaft
für sokratisches Philosophieren. Sie ist heute
gemeinsam mit der Philosophisch-Politischen
Akademie Nelsons verantwortlich für eine
Reihe von Publikationen zur Sokratik und Sokrates. Der Philosophiedidaktiker Ekkehard
Martens etablierte die sokratische Gesprächsmethodik endgültig im Bereich des Schulunterrichtes.«
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 146
8/15/2013 12:06:53 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
ganz im Gegensatz zum Auftritt des dominanten Gesprächsleiters Sokrates – den
Gesprächspartner in den Mittelpunkt des
Geschehens. Denn nur in ihm schlummert ein Wissen, das auch nur durch ihn
hindurch ans Tageslicht gefördert werden
kann. In eigentümlicher Weise wird hier
der Subjektgedanke im Bildungsprozess
wieder eingeholt.
Merkmale des Sokratischen
Gespräches
Eine der wohl wichtigsten Veröffentlichungen zu Sokrates und der auf ihn
zurückgehenden Sokratischen Gesprächsmethode in der Gegenwart geht
auf die Philosophin Gisela RaupachStrey zurück.9 Sie definiert ein Sokratisches Gespräch folgendermaßen: »Ein
Sokratisches Gespräch ist eine von der
Erfahrung ausgehende, personenbezogene und argumentierende Suche einer
Gesprächsgemeinschaft nach der Erkenntnis der Wahrheit über ein philosophisches Problem mit der Absicht, diese
Wahrheitserkenntnis schließlich in einem
konsensfähigen Urteil zu fassen.«10 Als
Merkmale eines Sokratischen Gespräches in der Tradition von Leonhard Nelson führt Raupach-Strey u.a. folgende
Kriterien an11:
– Jeder kann sich am Gespräch beteiligen, unabhängig von Bildungsstand,
Herkommen, sozialer Zugehörigkeit.
Die Gesprächsteilnehmer befinden
sich bildlich gesprochen auf der Agora, dem Marktplatz.
– Die zu verhandelnden Themen werden der Lebenswelt der Akteure
entnommen. Dadurch entsteht automatisch Interesse am Dialog und eine
147
eindeutige »Anforderungssituation«.
Es gilt Dinge zu klären, mit denen
man immer schon beschäftigt ist. An
dieser Stelle wird der Erfahrungsbezug der Diskussionsbeiträge offensichtlich.
– Es gibt im Gespräch keinen Dogmatismus. Beiträge sind nicht automatisch richtig oder falsch, weil sie
richtig oder falsch zu sein haben. »Sokratisches Philosophieren ist nicht auf
eine Lehre bezogen, weder als Sachautorität und somit Berufungsinstanz
noch als anzustrebendes Erkenntnisziel. In diesem Sinn ist das Sokratische
Philosophieren weder dogmatisch
noch doktrinal.«12 Antworten stehen
nicht schon von vornherein fest. Der
Gesprächsleiter hat folgerichtig die
Aufgabe, sich mit seiner Meinung
zurückzuhalten, um den Verlauf des
Diskurses nicht zu beeinflussen. Er
fungiert in der Rolle des Moderators.
– Es gibt in der Sokratik keinen Dogmatismus, weil jeder herausgefordert
wird, vernünftig zu argumentieren
und zu urteilen. Der Vernunft jedes einzelnen Gesprächsteilnehmers
wird höchste Priorität zugebilligt.
9 Klaus Draken erläutert in seiner kürzlich erschienenen Dissertation »Sokrates als moderner Lehrer« (wie Anm. 5): »Jede neuere Arbeit
zur Sokratik muss neben Rückgriffen auf den
platonischen Sokrates vor allem auf die Arbeit
von Gisela Raupach-Strey zurückgreifen, die
in ihrer umfangreichen Dissertation ›Sokratische Didaktik‹ im Jahr 2002 das der Tradition
von Leonard Nelson und Gustav Heckmann
als lebendiger Gesprächspraxis zugrunde liegende Sokratesbild ausgeführt und didaktisch
weiterentwickelt hat.« (Klaus Draken [wie
Anm. 5], 53).
10 Gisela Raupach-Strey (wie Anm. 5), 42.
11 Vgl. ebd., 43–68.
12 Ebd., 47.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 147
8/15/2013 12:06:53 PM
148
Anhang
Vernünftiges Urteilen schließt einen
unreflektierten Dogmatismus aus.
–Sokrates selbst hat sich mit einer
Hebamme verglichen, die dem geistigen Kind auf die Welt verhilft.13 Im
Sokratischen Gespräch geht es ganz
grundlegend erst einmal darum, das
in einem selbst schlummernde Erfahrungswissen in das Gespräch
einzubringen. Das erleichtert die
Teilnahme am Dialog, weil sich die
Gesprächsteilnehmer nicht unbedingt im Vorfeld Wissen angelesen
haben müssen.
– Die Erfahrungsurteile, die in das Gespräch eingebracht werden, werden
auf ihre theoretische Grundierung
hin überprüft. Gedanken werden
von der konkreten Erfahrung aus ins
Allgemeine abstrahiert. D.h.: aus den
Gesprächsbeiträgen werden abstrakte
Aussagen herausdestilliert. Was steckt
dahinter? Worum geht es eigentlich?
Leonhard Nelson nannte diesen Vorgang »regressive Abstraktion«. »Von
den Erfahrungs-Urteilen, die sich
zum untersuchten Beispiel einstellen,
ausgehend, wird Schritt für Schritt
zurückgegangen auf die zugrundeliegenden Voraussetzungen, so daß man
allmählich abstraktere Aussagen von
allgemeinerer Bedeutung gewinnt.«14
– Das Sokratische Gespräch zielt auf
einen Konsens bei der Wahrheitsfindung, bei der das bessere Argument
zählt. Die Überzeugungskraft der Argumente lässt einen Konsens wachsen. Solange es noch Einwände im
Gesprächsverlauf gibt, sind Zweifel
hinsichtlich der zu suchenden Antwort anzumelden. Der Konsens dient
als Regulativ einer subjektiven Beliebigkeit.
– Sokratisches Philosophieren vollzieht
sich in einer Gemeinschaft und ist intersubjektiv. Im Fokus steht nicht der
über sich selbst räsonierende Eremit,
sondern der je einzelne Mensch als
ein Gemeinschaftswesen, der im Austausch mit Anderen lernt.
Der Ablauf eines Sokratischen
Gespräches15
Hat Gisela Raupach-Strey unmissverständlich klar gemacht, woran ein Sokratisches Gespräch gemessen werden
muss, so lassen sich nach Klaus Draken
Stufen eines Gesprächsverlaufes rekonstruieren. Nach Draken, der selbst ausgebildeter sokratischer Gesprächsleiter
und sowohl im Schulunterricht als auch
in der Ausbildung von Lehramtskandidaten und -kandidatinnen tätig ist, kann
ein Sokratisches Gespräch in sechs Etappen erfolgen:
– Themenstellung: Das Gespräch wird
mit einer Frage eröffnet, die Interesse
wecken und an den Erfahrungsschatz
der Beteiligten anknüpfen soll.16 Sie
muss so formuliert sein, dass die Gesprächsteilnehmer sie anhand ihres
»Alltagswissens« bearbeiten können.
13 Vgl. ebd., 53.
14 Ebd., 55.
15 Vgl. hier Klaus Draken (wie Anm. 5), 32–51.
16Klaus Draken formuliert z.B.: Dürfen wir
streiten? Oder: Brauchen wir Ideale? Vgl. hier
Klaus Draken, Das Sokratische Gespräch im
Unterricht. Bericht aus dem Arbeitskreis von
Mechthild Goldstein und Klaus Draken, in:
Fachverband Philosophie NRW (Hg.), Philosophieunterricht in Nordrhein-Westfalen. Neue
Arbeitsformen im Philosophieunterricht (Beiträge und Informationen Nr. 36, Selbstverlag,
Kevelaer 2001), 15f.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 148
8/15/2013 12:06:53 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
– Beispielsuche: In Phase zwei erfolgt die
Suche nach einem geeigneten Beispiel, das die angesprochene Frage gut
veranschaulicht. Die Gesprächsteilnehmer nennen Themen, Ereignisse,
Fälle aus ihrem Alltag, von denen sie
meinen, dass mit ihrer Hilfe die Frage
gut bearbeitet werden kann. Aus der
Fülle von »Fällen« wird einer gewählt,
der daraufhin von der entsprechenden Person noch einmal ausführlich
vorgestellt wird. Das Beispiel kann
schriftlich auf Flipchart oder Tafel
festgehalten werden.
– Beispielanalyse: Darauf folgt die Analyse des Beispiels durch Befragung
und Einbringen von Ideen und Gedanken zur Klärung. Ziel ist es, Fragen im Hinblick auf das Beispiel und
die übergeordnete Themenstellung
zu formulieren. Der Wahrheit soll ein
Stück näher gekommen werden. Was
veranschaulicht das Beispiel im Hinblick auf die Ausgangsfragestellung?
Nimmt das Beispiel alle Facetten des
Problems in den Blick?
– Diskursive Suche wahrer Aussagen: Im
vierten Schritt geht es darum, Antworten auf die Ausgangsfrage zu
finden. Hinter den eingebrachten
Äußerungen werden verallgemeinerbare Sätze und Prinzipien gesucht.
Leonhard Nelson hat diesen Vorgang
»regressive Abstraktion« genannt.17 Es
bezeichnet das Suchen und Finden
von abstrakten Wahrheiten, indem
Schritt für Schritt hinter den von den
Teilnehmern eingebrachten Äußerungen Allgemeingültiges benannt wird.
Am Ende dieses Prozesses steht ein
von der Gesprächsgemeinschaft getragener Konsens als Antwort auf die
Ausgangsfrage.
149
– Gesprächsabschluss: Klaus Draken hebt
am Ende eines Gesprächsganges
die Notwendigkeit hervor, dass im
konkreten Setting auch immer ein
Gesprächsabschluss fest eingeplant
werden sollte: »Man muss ein Ende
aus zeitlichen Gründen im laufenden Prozess finden. Hierzu hat sich
bewährt, die gefundenen Konsense
noch einmal abschießend in den Blick
zu nehmen und in ihrem Gehalt zu
würdigen.«18
– Zwischenphasen als Metagespräche: Während des Gesprächsprozesses und
auch am Ende erfolgt die Phase der
Metakognition. Die Gesprächsteilnehmer haben die Möglichkeit den
gemeinsamen Diskurs zu reflektieren,
ihr Gesprächsverhalten »unter die
Lupe zu nehmen«, die Übertragbarkeit der Methode in andere Kontexte
zu überprüfen usw.
Klaus Draken selbst räumt ein, dass die
Übertragung des sokratischen Paradigmas aus dem Bereich der Erwachsenenbildung in den Schulunterricht nicht
ohne Brüche geht. Der Kontext der
Schule, das Verhaftetsein der Schüler
und Schülerinnen und der Lehrkraft
in ihren jeweiligen Rollen, der 45 Minuten Takt einer Stunde, das abzuarbeitende Pflichtprogramm durch den
Lehrplan – all das macht es nicht leicht,
dem Ideal des Sokratischen Gespräches
nahe zu kommen: einem auf zwischen
Lernenden und Lehrkraft auf gleicher
Augenhöhe stattfindenden Dialog, der
17 Vgl. die oben ausgeführten Merkmale eines
Sokratischen Gespräches nach Gisela Raupach-Strey.
18 Klaus Draken (wie Anm. 5), 38.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 149
8/15/2013 12:06:53 PM
150
Anhang
unvoreingenommen und undogmatisch
das Erfahrungswissen der Protagonisten in einen konstruktiven Diskurs zu
überführen vermag, um der Wahrheit
argumentativ ein Stück näher zu kommen.19 Gleichwohl kann er in abgemilderter Form und ohne die Ansprüche
zu hoch zu schrauben, eine sinnvolle
Möglichkeit darstellen, mit Schülern
und Schülerinnen ein professionelles
Gesprächsverhalten einzuüben.
Die Übertragung der Sokratik
in den Religionsunterricht
Im Eingang wurde schon auf die Fraglichkeit des Unterfangens hingewiesen,
die Sokratik in den Religionsunterricht
zu transferieren. Geht das überhaupt
und kann man das guten Gewissens tun,
bedenkt man die von Raupach-Strey formulierten Merkmale eines Sokratischen
Gespräches, hier vor allen Dingen der
Gedanke, dass erstens kein Dogmatismus zählt und zweitens das Sokratische
Gespräch streng argumentativ vorgeht.
Im Folgenden werden beide Gedanken
ins Visier der Untersuchung genommen,
um zu überlegen, wie den Argumenten
begegnet werden könnte.
(a) Die Frage nach dem Dogmatismus: Religionsunterricht wird in Deutschland in
der Regel konfessionell verantwortet und
unterrichtet, sieht man z.B. von Berlin,
Bremen oder Brandenburg ab.20 D.h. der
zu erteilende Unterricht und auch die
Lehrkräfte sind angehalten, sich inhaltlich im Rahmen der jeweiligen Konfession zu bewegen. Fraglich ist also hier,
ob der Unterricht genügend Freiräume
bietet, dass auch erlaubt sein darf, was im
konfessionellen Sinn nicht erlaubt sein
kann. Denn im Sokratischen Gespräch
geht es ja um »Wahrheitsfindung«. Und
die macht an keiner vorgegebenen institutionell-inhaltlichen Grenze Halt.
Deutlich wird das Problem, wenn
man gegenüber dem herkömmlichen Religionsunterricht ein Modell denkt, das
eher religionsphilosophisch ausgerichtet
ist.21 Ein religionsphilosophisch pointierter Unterricht bringt eine hermeneutische Grunddifferenz ins Spiel. Mit den
Worten des Philosophen Herbert Schnädelbach gesprochen: »Die Religionsphilosophie [...] setzt nicht wie die Theologie den Glauben voraus, und sie versucht
auch nicht, ihn erst zu begründen, sondern sie wechselt von der Perspektive des
am Religiösen Teilnehmenden zu der des
neutralen Beobachters [...].«22 Ähnlich
argumentiert der in Innsbruck lehrende
Philosoph Winfried Löffler: »Religionsphilosophie sollte von ihren Begründungen und Geltungsansprüchen her aber
logisch unabhängig von bestimmten religiösen Überzeugungen sein. Was als Prämisse in religionsphilosophische Überlegungen eingeht, sollte idealer Weise für
19 Vgl. hier auch die Begriffsbestimmung eines
Sokratischen Gespräches durch Gisela Raupach-Strey im Vorfeld sowie Klaus Draken
(wie Anm. 5), 43.
20 Einen Überblick über die unterschiedlichen
Modelle von Religionsunterricht liefert Birgit
Hoppe, Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Geschichtlicher Kontext, Organisationsformen, Zukunftsperspektiven, Saarbrücken 2008, 42–78.
21 Vgl. hier Anke Kaloudis (wie Anm. 1).
22 Herbert Schnädelbach, Mit oder ohne Gott.
Religion im Streit der Meinungen, in: Herbert
Schnädelbach, / Heiner Hastedt / Geert Keil
(Hg.), Was können wir wissen, was sollen wir
tun? Zwölf philosophische Antworten, Hamburg 22011, 230.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 150
8/15/2013 12:06:53 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
Menschen beliebiger weltanschaulicher
Prägung akzeptabel sein, unabhängig
insbesondere von der Anerkennung bestimmter religiöser Schriften, Traditionen, Äußerungen von Autoritäten etc. als
Erkenntnisquelle. Es darf also nicht nur
aus diesen Erkenntnisquellen begründbar sein. So etwa dürfen Aussagen der
Bibel, des Koran etc. nicht unbesehen als
Begründung religionsphilosophischer
Behauptungen herangezogen werden.«23
Und weiter hält Löffler fest: »Einen Sonderfall stellt die Theologie dar, die das
Glaubensverständnis bestimmter Religionen darzustellen versucht; sie ist also
eine normative Wissenschaft und einer
bestimmten Religion verpflichtet. Religionsphilosophie [...] soll dagegen logisch
unabhängig von der Glaubenszustimmung zu einer bestimmten Religion vorgehen.«24
Bedenkt man diese Voten aus dem
Bereich der Philosophie, so wird deutlich, dass ein an der Religionsphilosophie orientierter Religionsunterricht sich
schneller und leichter an die Sokratik anschmiegen könnte, als ein an der jeweiligen Theologie der Konfessionen gebundenes Lernen, das sich im normativen
Sinn der eigenen Tradition verpflichtet
weiß. Trotzdem kann meines Erachtens
vor dem Hintergrund – gerade der protestantischen Tradition – die Tragfähigkeit der Sokratik, zumindest im evangelischen Religionsunterricht, herausgestellt
werden.
Auf der einen Seite ist an das historische Erbe des Protestantismus zu erinnern und auf Luthers Leistung, den
Menschen in seinem Glauben von äußeren Zwängen befreit und ihn stattdessen
an sein eigenes Gewissen gebunden zu
haben, zu verweisen. Der Theologe Paul
151
Tillich redet in diesem Zusammenhang
vom »protestantischen Prinzip«: »Das
protestantische Prinzip ist der Wächter
gegen die Versuche des Endlichen und
Bedingten, sowohl im Denken als auch
im Handeln, sich zur Würde des Unbedingten zu erheben. Es ist das prophetische Gericht über religiösen Stolz,
kirchliche Arroganz und die diesseitige
Selbstgenügsamkeit mit ihren zerstörerischen Konsequenzen.«25 »Protestantismus ist, wo in der Vollmacht des neuen
Seins die menschliche Grenzsituation
in ihrem Nein und Ja verkündigt wird.
[...] Das kann in der organisierten Kirche sein, aber es muß nicht in ihr sein
[...]. Das protestantische Prinzip kann
verkündigt werden von Bewegungen,
die weder kirchlich noch profan sind,
sondern beiden Sphären angehören, von
Gruppen und Individuen, die mit oder
ohne christliche und protestantische
Symbole die wahre menschliche Situation ausdrücken angesichts des Letzten
und Unbedingten. Tun sie dies besser
und mit größerer Autorität als die offiziellen Kirchen, dann repräsentieren sie
und nicht die Kirchen den Protestantismus der Gegenwart.«26 Soweit Paul Tillich. Deutlich wird hier: Der Protestantismus ist ein Wächter seiner selbst. Ihm
ist ein selbstkritisches Moment inhärent.
Protestantismus meint, sich selbst und
der eigenen christlichen Tradition und
23 Winfried Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006, 34.
24 Winfried Löffler (wie Anm. 23), 43.
25 Paul Tillich, Protestantisches Prinzip und proletarische Situation, in: Gesammelte Werke
Band VII, Stuttgart 1962, 86.
26 Paul Tillich, Die protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart, in: Auf
der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962, 126.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 151
8/15/2013 12:06:53 PM
152
Anhang
Konfession immer kritisch gegenüber zu
sein.
Mit der Fähigkeit zur Selbstkritik des
Protestantismus gelingt dann der Brückenschlag zur Sokratik. Ein sokratischer
Diskurs in der Schule mit Schülern und
Schülerinnen weiß sich im selbstkritischen Sinn der Wahrheitssuche verpflichtet. Ziel des Religionsunterrichtes
kann es demnach nicht sein, den Jugendlichen den konfessionell-geprägten Glauben beizubringen und ihnen »einzutrichtern«, sondern Schüler und Schülerinnen
sollen in die Lage versetzt werden, im
religiösen Sinn nach der Wahrheit zu
fragen und einen eigenen begründeten
Standpunkt zu theologischen und konfessionellen Themen einzunehmen.
Zu beachten ist dabei allerdings, dass
es – so formuliert Petra FreudenbergerLötz – in ihrer »Jugendtheologie« im Religionsunterricht »Glaubensfragen« und
»Wissensfragen« gibt, zwischen denen es
zu unterscheiden gilt.27 »Wissensfragen«
zielen auf den Erwerb von Lerngegenständen, die im eigentlichen Sinn nicht
verhandelbar sind. Sie können mit »Ja«
und »Nein« oder »falsch« und »richtig«
beantwortet werden. Die Frage nach den
Prinzipien der Textkritik und der exegetischen Arbeit z.B. sind unter diese
Kategorie zu subsumieren. Anders verhält es sich mit den »Glaubensfragen«.
Hier ist die eigene Meinung des Schülers
und der Schülerin gemeint. Sie sollen
sich einen Standpunkt erarbeiten. Petra
Freudenberger-Lötz stellt unterschiedliche Fragen und Diskussionsprozesse aus
ihrer Kasseler Forschungswerkstatt vor:
»Glauben Sie an Gott?«; »Wie würde Jesus heute auftreten?«, »Hat Jesus Wunder
vollbracht?«.28 Recht verstanden würden
also im sokratisch geführten Dialog keine
»Wissensfragen« behandelt, sondern eher
»Glaubensfragen«. »Braucht der Mensch
Religion?« oder »Kommt ein Schwerverbrecher in den Himmel?« oder »War
Jesus eigentlich ein gläubiger Mensch?«
– Fragen in dieser Richtung erwarten
keine eindeutige Antwort, sondern eine
diskursive Auseinandersetzung, an deren
Ende sich der Lernende sein »Urteil« gebildet haben soll.
(b) Die Frage nach der argumentativen Strenge: Was hat der Glaube mit der Vernunft
zu tun? Will man den Religionsunterricht auf seine Sokratik-Tauglichkeit
überprüfen, muss man sich diese Frage
stellen. Gisela Raupach-Strey hat als ein
wesentliches Merkmal des sokratischen
Paradigmas die Argumentationsfähigkeit der Gesprächsteilnehmer herausgestellt. Damit soll unterbunden werden,
dass ein Dialog auf der Ebene des bloßen
»Meinens« stehen bleibt. Nur das bessere
Argument erzielt den Erkenntnisgewinn
und den Fortschritt im Diskurs. Kann
das in gleicher Weise für Gespräche im
Religionsunterricht geltend gemacht
werden?
Die Frage macht zweierlei deutlich
bzw. weist auf zwei Dinge hin: Tatsächlich
kann es erstens im sokratisch geführten
Dialog nicht um ein Gespräch nach dem
Motto gehen: »Ich glaube, dass ...«. Und:
»Aber ich glaube nicht, dass ...«. Eingefordert werden muss bei Fragen wie den
oben genannten – »Braucht der Mensch
Religion?« oder »Kommt ein Schwerverbrecher in den Himmel?« oder »War
27 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4),
14.
28 Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4), 49ff.
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 152
8/15/2013 12:06:53 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
Jesus eigentlich ein gläubiger Mensch?«
– die Orientierung an vernünftigen Argumenten und eine logische Gedankenführung. Hier geht es also weniger um
den eigenen Glauben, sondern um die
Klärung gewisser, im Bereich der Religion ansässiger und zum Diskurs sich eignender Fragen.
Zweitens muss hier festgehalten werden, dass Glaube und Vernunft eine jahrhundertealte gemeinsame Tradition haben. Sie stehen sich keineswegs feindlich
gegenüber und schließen sich nicht aus,
sondern können einander durchdringen
und befruchten. Herbert Schnädelbach
macht auf die Geschichte von Philosophie und Theologie aufmerksam, auf ihr
Ineinander-Verwobensein: »Es dauerte
bis ins Hochmittelalter, bis Theologie
und Philosophie überhaupt als verschiedene Disziplinen unterscheidbar wurden, während zuvor alles Philosophische,
das durch die Kirchenväter in die scientia christiana [Kursivdruck im Original]
eingewandert war, durchweg theologisch
war. Die selbständig gewordene Philosophie wird freilich im Katholizismus
bis heute als »Magd der Theologie [...]«
oder als propädeutisches Fach im Theologiestudium betrieben, während die
protestantische Tradition immer dazu
tendierte, das theologische möglichst
unabhängig von philosophischen Voraussetzungen zu erhalten [...].«29
Theologie und Philosophie oder
Glaube und Vernunft sind miteinander
kommunizierbar. Das zeigt der Blick in
die Vergangenheit und Gegenwart. Ohne
die Grundlage der Vernunft kommt die
Theologie nicht aus, gilt sie doch als die
Reflexionsform des Glaubens. Oder mit
den Worten von Wilfried Härle gesprochen: »Christliche Theologie dient dem
153
christlichen Glauben, indem sie ihn jeweils in ihrer Zeit zu verstehen versucht
und auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft. Das ist ihr Erkenntnisinteresse.«30
Deshalb kann auch gesagt werden, dass
das von Gisela Raupach-Strey konstatierte Kriterium der Argumentationskraft
im sokratischen Gespräch auch für den
Diskurs im Religionsunterricht anwendbar ist. Theologische Gespräche führen
bedingt den Gebrauch der Vernunft.
Gute Gründe für das Sokratische
Gespräch im Religionsunterricht
Blickt man auf die zusammen getragenen Ausführungen zurück, so lässt sich
trotz der eingangs genannten Bedenken
für die Übertragung der Sokratik in den
Religionsunterricht plädieren. Vor allen
Dingen der Rekurs auf die Situation des
Marktplatzes und der Gedanke der Mäeutik zur Hebung des Erfahrungswissens
in den Lernenden lassen sich gut mit den
gegenwärtigen Bedingungen, denen der
Religionsunterricht unterliegt, verknüpfen.
Die Heterogenität der Schülerschaft
und die unterschiedlichen Modi der Religiosität31 der Lernenden implizieren,
dass nicht jeder Schüler und jede Schülerin in demselben Maß religiös geschult
und aufgeschlossen ist. Der Unterricht
29 Herbert Schnädelbach (wie Anm. 22 ), 230.
30 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin / New York
1995, 10.
31 Freudenberger-Lötz spricht von vier Typen
des Glaubens: »ruhender Glaube«, »reflektierter Glaube«, »kritisch-suchende Haltung«,
»kritisch ablehnende bis indifferente Haltung«
(Petra Freudenberger-Lötz [wie Anm. 4], 36–
42).
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 153
8/15/2013 12:06:53 PM
154
Anhang
benötigt Formen und Methoden, die diesen religiösen Abbruchprozessen konstruktiv begegnen und die Lernenden dort
abholen, wo sie stehen. Durch die Hebung ihres Erfahrungswissens kann das
geleistet werden. Die Beteiligung am Religionsunterricht erfordert kein Credo,
das zu Beginn abgeprüft wird. Jeder und
jede kann sich aufgrund der eigenen Geschichte, Fragen und Haltung einbringen. Auf der anderen Seite lässt sich das
Bild des Marktplatzes sehr gut auf den
Religionsunterricht übertragen: Nicht
selten sitzen Schüler und Schülerinnen
unterschiedlicher Herkunft und Kultur
zusammen. Die Marktplatzsituation ist
die des Unterrichts, die die Lehrkraft zu
bewältigen hat.
Der Gedanke des Anti-Dogmatismus
nimmt die Lernenden in ihrer Eigenständigkeit ernst und lässt sich mit dem
Anliegen der Jugendtheologie32 sehr gut
verbinden. Petra Freudenberger-Lötz
hat unlängst als Ziel der Jugendtheologie
herausgestellt: »Jugendliche erwerben
in theologischen Gesprächen einen eigenen Standpunkt, der sie in Glaubensfragen diskursfähig werden lässt. Diesen
Standpunkt können sie im Wissen, dass
unsere Standpunkte immer vorläufige
Standpunkte im Lebenslauf sind, glaubwürdig und selbstbewusst vertreten.«33
Jugendliche suchen ihre eigene Antwort in Fragen des Glaubens und der
Religion. Das ist als große Chance des
Religionsunterrichtes anzusehen. Denn
die eigenständige Positionierung auf
dem Weg der Wahrheitssuche nimmt
die Schüler und Schülerinnen ernst.
Das geschieht ebenfalls im sokratischen
Dialog. Er kann deshalb als eine Form
des Theologisierens mit Jugendlichen
angesehen werden. Seine Stärke liegt in
seiner klaren Struktur, seiner Offenheit
für eine heterogene Schülerschaft, seinem deutlichen Erfahrungsbezug und
seinem »Ringen« nach Wahrheit – im
religiösen Sinn.
Ein kleiner Ausblick
Der Bereich der Jugendtheologie ist im
Kommen. Das zeigen einschlägige Veröffentlichungen aus den letzten beiden Jahren von Petra Freudenberger-Lötz und
auch Friedrich Schweitzer und Thomas
Schlag.34 Dabei geht es einerseits um theoretische Grundlagendiskussionen und
andererseits wird der Blick in die Praxis
gesucht und beschrieben. Neben dem
Einblick in konkrete Unterrichtssequenzen werden auch in methodischer Hinsicht Türen geöffnet, wie Theologisieren
mit Jugendlichen aussehen kann. Die
hier entfalteten Gedanken möchten sich
in diesen Diskussionsprozess einreihen.
Das sokratische Paradigma als strukturiertes Gespräch, wie es Klaus Draken
32Der Pädagogische Konstruktivismus nach
Hans Mendl ist ebenfalls gut mit der Sokratik
kommunizierbar. Vgl. hier bei Hans Mendl:
»Lernen ist ein aktiver Prozess des lernenden
Subjektes. Wissen kann also nicht einfach von
»außen« nach »innen« transportiert werden,
sondern setzt ein Mindestmaß an geistiger Tätigkeit voraus.« (Hans Mendl [wie Anm. 6], 16).
33 Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4), 13.
34 Verwiesen sei hier auf: Petra FreudenbergerLötz (wie Anm. 4); Petra FreudenbergerLötz / Ulrich Riegel (Hg.), »Mir würde das
auch gefallen, wenn er mir helfen würde«
Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter, Jahrbuch für Kindertheologie / Sonderband, Stuttgart 2011; sowie Thomas Schlag /
Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche
Theologie? (wie Anm. 2); Thomas Schlag /
Friedrich Schweitzer u.a., Jugendtheologie
(wie Anm. 2).
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 154
8/15/2013 12:06:53 PM
Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen
beschreibt, stellt eine Methodenform
da, wie Jugendliche über theologische
Fragen ins Gespräch kommen können.
Dass dabei die Sokratik einen gewissen
Anspruch an Lehrkräfte und Lernende
stellt, ist deutlich geworden. Damit das
hier beschriebene »Experiment« gelingt,
bedarf es einer guten Gesprächsleitung
durch die Lehrkraft als auch der Einübung einer gewissen Gesprächskultur
durch die Schüler und Schülerinnen. Vor
allen Dingen der Prozess der »regressiven Abstraktion«, das Setting einer Gesprächsgemeinschaft, deren Teilnehmer
sich gegenseitig achten und mit Respekt
begegnen, benötigt Zeit und Geduld,
aber auch Experimentierfreude, die letztendlich zum Kompetenzgewinn aller beitragen kann.
155
Die Gesellschaft für Sokratisches
Philosophieren der Philosophisch-Politischen Akademie in Bonn bietet reichhaltiges Material zum Thema und zur
Schulung in der Methodik an. Der Blick
über den Tellerrand hinaus in den Philosophie- oder Ethikunterricht mag anregend wirken und den Blick für einen
selbst schärfen, was zu tun ist, wenn man
sich für den Einsatz der Sokratik im Unterricht entscheidet. Es ist auf alle Fälle
eine lohnende Angelegenheit, »Sokrates
als modernen Lehrer«35 in den Unterricht
einzuladen.
35 Vgl. hier der Titel von Klaus Drakens Dissertation: Sokrates als moderner Lehrer (wie Anm.
5).
aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart
JaBuJu 2 Inhalt Juli 2013.indd 155
8/15/2013 12:06:53 PM
Herunterladen