Moral, Religion und Geschichte Die Untersuchung zum neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. vorgelegt von Jeong Hoon Park aus Seoul WS 2013/14 Erstgutachter: Prof. Dr. Wilhelm Metz Zweitgutachterin: Prof. Dr. Lore Hühn Vorsitzender des Promotionsausschusses der Gemeinsamen Kommission der Philologischen, Philosophischen und Wirtschaftsund Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät: Prof. Dr. Felix Heinzer Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 25.07.2014 INHALTSVERZEICHNIS HINWEISE.............................................................................................................. 6 VORWORT............................................................................................................. 7 EINLEITUNG.......................................................................................................... 9 TEIL I: DIE WISSENSCHAFTLICHKEIT DER PHÄ NOMENOLOGIE DES GEISTES .............................................................................................................. 21 A. Das Grundkonzept der Phänomenologie des Geistes ............................................................................. 22 1. Die früheren Bewertungen der Phänomenologie des Geistes .................................................................. 22 2. Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System ................................... 25 3. Die Deutungsweisen der Phänomenologie des Geistes ........................................................................... 39 B. Die strukturelle Einheitlichkeit der Phänomenologie des Geistes ......................................................... 45 1. Die Problematik im Bezug auf die Strukturierung der Phänomenologie des Geistes ............................. 45 2. Die „Umkehrung des Bewußtseins“ und die „Kraft des Geistes“ ........................................................... 49 C. Der ganze Aufbau der Phänomenologie des Geistes ............................................................................... 61 1. Vorausblick .............................................................................................................................................. 61 2. Ü berblick ................................................................................................................................................. 67 2.1 „Bewußtsein“: die Dialektik des gegenständlichen Bewusstseins ..................................................... 67 2.2 „Selbstbewußtsein“: der erste Wendepunkt des Geistes .................................................................... 68 2.3 „Vernunft“: die Synthesis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein .................................................. 71 2.4 „Geist“: das Ganze des weltlichen Geistes ........................................................................................ 75 2.5 „Religion“: der absolute Geist in Form der Vorstellung .................................................................... 79 2.6 „Das absolute Wissen“: die Tilgung der Zeit ..................................................................................... 87 3. Rückblick................................................................................................................................................. 92 D. Die geschichtsbezogene Betrachtung der Phänomenologie des Geistes ................................................ 96 1. Begriff und Geschichte ............................................................................................................................ 96 2. Die Geschichte des Bewusstseins und die Geschichte des Geistes ....................................................... 103 3. Die „begriffene Geschichte“ ...................................................................................................................110 4. Der selbstbewusste Geist als der neue Geist .......................................................................................... 120 TEIL II: DIE HAUPTMOMENTE FÜ R DIE SITTLICHKEIT IN DER NEUZEITLICHEN WELT: MORAL UND RELIGION .......................................... 123 A. Die Moral: das Moment der Versöhnung im Rahmen des weltlichen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VI. C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ ......................................................... 124 1. Hegels Begriff der Moral ....................................................................................................................... 124 2. Die moralische Vor- und Verstellung...................................................................................................... 131 2.1 Die moralische Vorstellung .............................................................................................................. 131 2.2 Kants Lehre der Postulate der praktischen Vernunft ........................................................................ 135 2.3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung ............................................................................... 138 2.4 Die Schranke der moralischen Vorstellung ...................................................................................... 145 2.5 Der vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung: Verstellung ................................................... 147 3. Das moralische Gewissen ...................................................................................................................... 156 3.1 Das Gewissen als die absolute Selbstgewissheit des moralischen Bewusstseins ............................. 156 3.2 Der Gehalt des moralischen Gewissens ........................................................................................... 163 3.2.1 Die Momente für die Dialektik des Gewissens: das Fürsichsein, das Sein für Anderes und das Anerkanntsein ........................................................................................................................................ 163 3.2.2 Die absolute Selbstgewissheit des aus sich selbst bestimmenden Gewissens ............................... 164 3.2.3 Der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Urteilenden ................................................. 166 3.2.4 Die gegenseitige Anerkennung von Subjekten des Gewissens...................................................... 168 3.2.5 Die dialektische Bewegung des Gewissens ................................................................................... 172 3.2.5.1 Die erste Phase (Einleitung): die schöne Seele .......................................................................... 173 3.2.5.2 Die zweite Phase (Steigerung): das Böse und die Heuchelei ..................................................... 175 3.2.5.3 Die dritte Phase (Höhepunkt): das Eingeständnis versus das harte Herz ................................... 178 3.2.5.4 Die vierte Phase (Umkehr): die Empörung ................................................................................ 179 3.2.5.5 Die letzte Phase (die nochmalige Umkehr und das Finale): die Verzeihung und die Versöhnung ............................................................................................................................................................... 180 B. Die Religion: das Moment der Versöhnung im Rahmen des religiösen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VII. C. Die offenbare Religion“ ............................................................................................. 184 1. Hegels Begriff der Religion ................................................................................................................... 184 2. Der gedankliche Boden für die offenbare Religion ................................................................................ 195 2.1 Die Entäußerung der Substanz ......................................................................................................... 195 2.2 Die Entäußerung des Selbstbewusstseins ......................................................................................... 199 2.3 Die Entstehung der offenbaren Religion .......................................................................................... 204 3. Der Gehalt der offenbaren Religion ....................................................................................................... 209 3.1 Das Selbstbewusstsein des Geistes .................................................................................................. 209 3.2 Die Dialektik des religiösen Geistes und die Entstehung der offenbaren Religion .......................... 211 3.3 Die Offenbarung Gottes ................................................................................................................... 215 3.4 Die Lehre der offenbaren Religion: Gott ist Geist ........................................................................... 227 3.4.1 Die triadische Struktur des christlichen Gottes ............................................................................. 227 3.4.2 Gott im reinen Denken und sein Anderswerden ........................................................................... 229 3.4.3 Die Schöpfung der endlichen Welt ............................................................................................... 231 3.4.4 Geburt, Tod und Auferstehung Christi .......................................................................................... 236 3.4.5 Das Versöhnungsgeschehen des Geistes in der Gemeinde ........................................................... 238 C. Der Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion in der Phänomenologie des Geistes ..... 242 1. Der Ü bergang von der griechischen Sittlichkeit zu dem moralischen Gewissen .................................. 242 2. Die Versöhnung zwischen dem weltlichen und dem religiösen Geist ................................................... 249 TEIL III: DIE SITTLICHKEIT IM VERGLEICH ZU DEM ENZYKLOPÄ DISCHEN SYSTEM............................................................................................................. 257 A. Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System ....................................................................... 258 1. Geist und Freiheit .................................................................................................................................. 258 2. Die Harmonie von Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System ........................................... 272 2.1 Hegels Kritik an den fehlerhaften Religionsauffassungen ............................................................... 272 2.2 Hegels These über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit dem religiösen Gewissen ................... 278 B. System und Geschichte: die geschichtsbezogene Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes ................. 288 1. Die Geschichte des weltlichen Geistes und die Geschichte des religiösen Geistes ............................... 288 2. Die Bildungsgeschichte des Geistes und die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes .............................. 294 SCHLUSSBETRACHTUNG............................................................................... 299 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................... 306 HINWEISE 1. Zitierweise 1.1 Die Zahl in Klammern hinter zitierten Textpassagen Hegels bezeichnet nacheinander Band und Seite – z. B. „(W7.385)“, „(GW13.154)“, „(V3.273)“ usw. 1.2 Auf andere Literatur wird mit dem Namen des Verfassers und dem Erscheinungsjahr Bezug genommen – z. B. „Rosenkranz (1844), S. 205“ – falls nötig, zusätzlich mit dem Titel und mit der Bandzahl – z. B. „I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werkausgabe, Bd. 11, S. 53-59“. 1.3 Mit Kursivschrift innerhalb von Zitaten – z. B. „der Begriff des Geistes (W3.145)“ – wird die Hervorhebung des Textverfassers (also hier Hegels) bezeichnet. 1.4 In zitierten Textstellen verwende ich eckige Klammern („[…]“), um Auslassungen, Einfügungen usw. kenntlich zu machen. 2. Siglen W: Werke in zwanzig Bänden (Auf der Grundlage der Werke, hg. v. einem Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832-45), hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969-71. GW: Gesammelte Werke, hg. v. der Nordrhein-Westfälischen (1968-95: Rheinisch-Westfälischen) Akademie der Wissenschaften, Hamburg. V: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983-2007. PHG: Phänomenologie des Geistes (W3). Logik: Wissenschaft der Logik (W5-6). Enzyklopädie: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (³1830) (W8-10) [Enzyklopädie (²1827): GW19 / Heidelberger Enzyklopädie (1817): GW13]. Grundlinien oder Rechtsphilosophie: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (W7). Religionsphilosophie: Vorlesungen über die Philosophie der Religion (V3-5). Geschichtsphilosophie: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (W12). Kunstphilosophie: Vorlesungen über die Ästhetik (W13-15). VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2013/14 von der Philosophischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg als Dissertation angenommen. Ich bedanke mich vor allem bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Metz, für seine freundliche Betreuung. Meinen herzlichen Dank möchte ich auch Frau Prof. Dr. Lore Hühn für das Zweitgutachten sagen. Nicht zuletzt danke ich sowohl der koreanischen Regierung („National Institute For International Educationn“) als auch der Stiftung „Kim Hee-Kyung Scholarship Foundation for European Humanities“ für die großzügige finanzielle Unterstützung. Freiburg, Dezember 2014 Jeong Hoon Park EINLEITUNG Den dritten Teil „Sittlichkeit“ in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in seiner Berliner Monografie über die praktische Philosophie, fängt Hegel mit dem folgenden Satz an: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit“ (W7.292); diese Idee bedeutet die wahre Vereinigung von dem Freiheitsbegriff und dessen Verwirklichung.1 Aus diesem Kontext heraus denkt Hegel, dass die Idee der Sittlichkeit auch die „Wahrheit des Freiheitsbegriffes“ (W7.287) ist. Dass ein Gemeinwesen sittlich ist, besagt im Grunde, dass seine normative Machtausübung dem Mitglied nicht als etwas Zwangsläufiges erscheint; das Prinzip der Sittlichkeit bedeutet nämlich die Forderung, dass der Freiheitsanspruch jedes Mitglieds nicht unterdrückt werden soll. Soweit die Freiheit (die den menschlichen Geist konstituiert) 2 insbesondere die „Freiheit des Willens“ (W7.54) impliziert, soll der freie Wille des Menschen als eine universale Existenzweise der Freiheitsidee, etwa als die Gerechtigkeit und das Gute, verwirklicht werden. Im sittlichen Gemeinwesen sieht Hegel die Harmonie zwischen dem Wollen eines Individuums (d. h. dem einzelnen Willen) und dem Ziel seines Gemeinwesens (d. h. dem allgemeinen Willen); die Sittlichkeit macht also das Prinzip des gelungenen Zusammenlebens aus. Die „sittliche Freiheit“ bewahrheitet sich bei Hegel nicht anders als „im Staat“ (W12.38); das heißt: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (W7.398). Der hier angeführte Staat, also der sittliche Staat, setzt den Begriff der „Anerkennung“ bzw. der „Versöhnung“3 voraus. Darüber schreibt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie Folgendes: Die „Idee“ ist bei Hegel nicht einfach als ein Begriff im vorstellenden Gedanken, sondern im Grunde als „die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität“ zu verstehen (W8.367). Dementsprechend schreibt Hegel auch in seinen Grundlinien wie folgt: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande“ (W7.29). 2 Hegel ist davon überzeugt, dass das Wesen des menschlichen Geistes im Grunde die Freiheit ist (W10.25 f.; W12.30). Dieser Begriff der Freiheit ist ihm zufolge durch den menschlichen Willen gekennzeichnet (W7.54 f.). Diese Einsicht in den Zusammenhang des menschlichen Geistes mit seinem freien Willen lässt sich auch in folgenden Sätzen seiner letzten Vorlesung über die Rechtsphilosophie kurz vor seinem Tod (1831) feststellen: „Die Erkenntniß der Gesetze der Freyheit hat ein ganz anderes praktisches Interesse als die Erkenntniß blosser [sic!] Natur-Gesetze […]; die menschliche Freyheit […] stellt sich dem [Natur-]Gesetz gegenüber, und daß es ihm Gesetz sey, dazu gehört die Einstimmung des Willens, seine Anerkennung […]. Dieß ist das Innerste des [m]enschlichen Willens. [… Die] Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, daß der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt.“ Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von D. F. Strauß 1831, in: G. W. F. Hegel. Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 4, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart 1974, S. 924 f. 3 Zu seiner Darstellung der „Anerkennung“ in den Grundlinien vgl. W7, S. 315 f.; 395; 406; 454; 498. Zum Begriff der „Versöhnung“ vgl. W7, S. 290; 511 f. 9 1 Als subjektiver Wille in beschränkten Leidenschaften ist er [= der Wille] abhängig, und seine besonderen Zwecke findet er nur innerhalb dieser Abhängigkeit zu befriedigen. Aber der subjektive Wille hat auch ein substantielles Leben, eine Wirklichkeit, in der er sich im wesentlichen bewegt und das Wesentliche selbst zum Zwecke seines Daseins hat. Dieses Wesentliche ist selbst die Vereinigung des subjektiven und des vernünftigen Willens: es ist das sittliche Ganze - der Staat, welcher die Wirklichkeit ist, worin das Individuum seine Freiheit hat und genießt, aber indem es das Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen ist (W12.55). Der Begriff des sittlichen Staats bedeutet die Forderung, dass sich in diesem sittlichen Ganzen kein einzelnes Mitglied entmachtet fühlen soll. Der sittliche Staat ist in einen umfassenden geschichtlichen Zusammenhang gebracht worden; denn Hegel betrachtet die Weltgeschichte streng genommen als die Geschichte der Staatsbildung.4 Er denkt, dass in jeder Phase der Weltgeschichte die Sittlichkeit auf ihre jeweilige Weise verkörpert wird und dass sie zumindest seit der altgriechischen Zeit 5 das Prinzip der verwirklichten Freiheit darstellt. Der Staat fungiert in der jeweiligen Phase der Weltgeschichte von seinem Mitglied als die höchste Gestalt der wirklichen Geltung, die es zugleich als ein Produkt seines eigenen Vollzugs anerkennt. In diesem Zusammenhang soll der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, Hegels Begriff „Sittlichkeit“, aber vorwiegend anhand der Phänomenologie des Geistes (im Folgenden: PHG), betrachtet werden. Die PHG als sein erstes Hauptwerk ist zugleich sein erstes Werk, bei dem es sich um den Sittlichkeitsbegriff insbesondere unter den Rahmenbedingungen der Geschichtsbezogenheit handelt. 4 6 „Der wahre Geist. Die W10, S. 350; W12, S. 56. Hegelscher Geschichtsphilosophie nach ist die Polissittlichkeit im klassischen Griechentum als der Ausgangspunkt der Sittlichkeit zu verstehen. In der „orientalischen Welt“ erblickt er zwar „die Substantialität des Sittlichen“; er denkt dennoch, dass sich hier keine reale Geltung des einzelnen Willens bewährt, indem er voraussetzt, dass die orientalische Staatsform durch und durch despotisch und theokratisch ist. W12, S. 142 ff. Die Sittlichkeit in der orientalischen Welt ist selbstverständlich eine eigenständige Thematik, aber in der vorliegenden Arbeit wird die Sittlichkeit nur auf der Ebene der europäischen Geschichte behandelt. 6 Auch in Hegels Frühschriften vor der PHG finden sich vielerlei Überlegungen zu der Thematik „Sittlichkeit“. Schon seit der Tübinger Zeit betrachtet er sie als ein Gegenmodell zu der ihm zeitgenössischen rückschrittlichen Situation in Deutschland, wobei er den Blick vor allem auf die altgriechische Sittlichkeit richtet. Zum Beispiel sollte die „Volksreligion“, mit der der junge Hegel auf die Religion des freien Menschen hinauswill, alle Bedürfnisse des Individuums mit den „öffentlichen Staatshandlungen“ harmonisieren. W1, S. 9-103, bes. S. 33. In der frühen Jenaer Zeit wurde die „Idee der absoluten Sittlichkeit“ eingehend behandelt, sogar im Rahmen des eigenständigen „System[s] der Sittlichkeit“. W2, S. 434-530; GW5, S. 277-361. In der mittleren Jenaer Zeit, d. h. in der Zeit der „Jenaer Systementwürfe“, wurde die Sittlichkeit in das System der „Philosophie des Geistes“ eingeordnet. GW6, S. 268-326; GW8, S. 185-287. Die PHG, verfasst in der späten Jenaer Zeit, handelt vornehmlich von der griechischen Sittlichkeit, in deren Darlegungen sich seine bisherigen Gesamtüberlegungen dieser Thematik widerspiegeln. Es ist freilich unübersehbar, dass in den Schriften vor der PHG noch einige umfangreichere Gedankengänge mit Bezug auf das Thema beinhaltet sind. Themen wie die Arbeit, das Eigentum, die Entfremdung und die Anerkennung wurden bes. in den Jenaer Systementwürfen 10 5 Sittlichkeit“, die im ersten Abschnitt des Kapitels „Geist“ eingehend behandelt wird, prägt sich als ein idealisiertes Bild des klassischen Griechentums aus. Der „sittliche Geist“ (W3.338) fungiert als das Prinzip des Zusammenlebens in der antiken Welt, in dem das Individuum seine Freiheit anschaut. Dadurch, dass „das sittliche Volk in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz lebt“ (W3.513), kann es, in seiner Harmonie mit der Idee des Zusammenlebens zufrieden, freiwillig seine Aufgabe erledigen; sein uneingeschränktes Zutrauen zur Substanz resultiert aus seinem Gedanken, dass ihm jene Substanz nicht entfremdet sei; aus diesem Grunde fühlt sich das Individuum glücklich. In seiner Kunstphilosophie stellt Hegel das sittliche Leben in der antiken Welt wie folgt dar: [I]m griechischen sittlichen Leben war das Individuum zwar selbständig und frei in sich, ohne sich jedoch von den vorhandenen allgemeinen Interessen des wirklichen Staates und der affirmativen Immanenz der geistigen Freiheit in der zeitlichen Gegenwart loszulösen. Das Allgemeine der Sittlichkeit und die abstrakte Freiheit der Person [d. h. des Individuums] im Inneren und Äußeren bleibt dem Prinzip des griechischen Lebens gemäß in ungetrübter Harmonie (W14.25 f.). Die altgriechische Sittlichkeit gestaltet sich in der PHG dementsprechend im Kapitel „Religion“ auch als die „Kunstreligion“, die von Hegel als die höchste Kulturform in der altgriechischen Welt bezeichnet wird. Fragen wir danach, welches der wirkliche Geist ist, der in der Kunstreligion das Bewußtsein seines absoluten Wesens hat, so ergibt sich, daß es der sittliche oder wahre Geist ist (W3.512). Die Kunstreligion ist also dem sittlichen Geist zugeordnet. Die griechische religiöse Geistigkeit entwickelt sich in der Kunstform, gleichsam „wie in einem schönen Kunstwerke das Sinnliche das Gepräge und den Ausdruck des Geistigen trägt“ (W12.137). Daraus geht Folgendes hervor: Die griechische Religion ist die Kunst selbst und die griechische Kunst ist die Religion selbst. Die Sittlichkeit in der altgriechischen Welt wird demgemäß von Hegel die „schöne Sittlichkeit“ (W12.138) genannt. Das impliziert, dass in der griechischen Welt nicht bloß die Religion, sondern auch alle andere Gestaltungen – vom menschlichen Individuum bis zu seinem Stadtstaat (πόλις) – jeweils als „Kunstwerk“ gerühmt werden. besprochen. Dazu vgl. Lukács (1967); Siep (1979); Honneth (1992). 11 So bestimmt ist es die schöne Individualität, welche den Mittelpunkt des griechischen Charakters ausmacht [...]. Alle bilden Kunstwerke; wir können sie als ein dreifaches Gebilde fassen: als das subjektive Kunstwerk, d. h. als die Bildung des Menschen selbst; als das objektive Kunstwerk, d. h. als die Gestaltung der Götterwelt; endlich als das politische Kunstwerk, die Weise der Verfassung und der Individuen in ihr (W12.295). Die kulturelle Funktion der altgriechischen Kunstreligion wird insbesondere durch staatlich organisierte Volksfeste in solchem Maße wirksam, dass die Kunst mit verschiedenen Kulturgestalten, etwa Religion, Politik und Moral, im Zusammenhang steht, sodass sich das Polismitglied glücklich fühlt. Der enge Zusammenhang des Privatlebens des griechischen Polisbürgers mit seinen öffentlichen Angelegenheiten im Staat und die politische Funktion der Kunst(-Religion) lassen sich folgendermaßen darstellen: Wie es der griechischen geistigen Kunstgestalt wesentlich war, auch als äußerlich und wirklich zu erscheinen, so hat sich auch die absolute geistige Bestimmung des Menschen zu einer erscheinenden realen Wirklichkeit herausgearbeitet, mit deren Substanz und Allgemeinheit in Einklang zu sein das Individuum die Forderung machte. Dieser höchste Zweck war in Griechenland das Staatsleben, die Staatsbürgerschaft und deren Sittlichkeit (W14.117). Dieser Zusammenhang des sittlichen Geistes mit der Kunstreligion zeigt also auf, warum Hegel in dem klassischen Griechentum „das schöne sittliche Leben“ (W3.326) erblickt.7 7 Die These von der Ü berlegenheit des Griechentums wird vom jungen Hegel hervorgehoben. Hegels Konzept in seiner frühen Zeit ist alles in allem die Vollendung des Programms der Aufklärung durch die Bildung der Menschheit in ihrer Totalität. Das „Ideal einer Volkserziehung“ durch die „neue Mythologie“ oder die „Volksreligion“, durch die „schöne Phantasie“ usw. (W1.9-229; 234-236): Diese Reihe von Entwürfen zeigt uns – trotz seines noch unreifen Gedankens –, dass Hegel schon früh neben der Harmonie von Intelligenz und Empfindung in der menschlichen Seele auch die Vereinigung von dem Freiheitsanspruch des Menschen und dem Zweck des Gemeinwesens erstrebt. Hinsichtlich der Zeitdiagnose des jungen Hegel bzw. seiner philosophischen Grundidee vgl. Lukács (1967). Und zu dem gedanklichen Zusammenhang mit anderen Denkern vgl. Bubner (Hg.) (1973); Bubner (1990); Menze (1990). Die Kritik des jungen Hegel an der „Positivität“ oder besonders an der „Entfremdung“, die auch in der P HG detailliert dargelegt wird, gilt als sein Unternehmen, Menschen vor der fremden Gewalt bzw. vor der ihr folgenden Entmachtung zu bewahren. Dieser Sachverhalt erlaubt uns zu folgern, dass seine Akzentuierung des idealisierten Griechentums intendiert, durch die vollständige Ü berwindung der aus dem neuzeitlichen Dualismus, also dem unverträglichen Gegensatz zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven überhaupt (wie zwischen Glauben und Wissen, zwischen Freiheit und Notwendigkeit etc.), aufgetauchten Aporien die verlorene Einheit wiederherzustellen. Als Musterbeispiele für diese Polarität kann man z. B. das Mentale („res cogitans“) und das Physische („res extensa“) bei Descartes, der einzelne Wille („volonté particulière“) und der allgemeine Wille („volonté générale“) bei Rousseau, die „Moralität“ und die „Legalität“ bei Kant usw. nennen. Die Denkgeschichte im neuzeitlichen Abendland ist in gewissem Sinne die Geschichte der dualistischen 12 Allerdings: Das Prinzip der antiken Sittlichkeit ist kein ewiger Idealtyp, der in der neueren Zeit einfach nur wiederholt werden könnte und sollte; das liegt an der Welt der „vergänglichen oder schnell vorübergehenden Blüte“ (W12.137). Der Grund dafür liegt darin, dass der altgriechische Sittlichkeitsbegriff folgende wesentliche Einschränkung hat: Dieser frühe Begriff der Sittlichkeit gründet auf der bloßen Sitte des sittlichen Volks, das die unvoreingenommene Zuversicht hat. Mit anderen Worten: Dieser Begriff der frühen Sittlichkeit stützt sich noch nicht auf die besonnene Reflexion des Subjekts. „Griechen hatten kein Gewissen“ 8 (W7.296), weil sie die Tiefe der Subjektivität oder des menschlichen Geistes nicht erreichen konnten; „[e]in atheniensischer Bürger tat gleichsam aus Instinkt dasjenige, was ihm zukam“ (W12.57). Dass das Polismitglied keine absolute Selbstgewissheit oder moralische Gesinnung hatte, besagt gerade, dass sein selbständiger Entschluss und die von ihm anerkannte und mit ihm versöhnte gesellschaftliche Konstitution überhaupt noch nicht auf der wahren Ebene basierten. Dieser „Mangel an innerer Subjektivität“ (W14.110) ist gleichbedeutend mit dem Mangel der griechischen Welt überhaupt; diese reflexionslose Gesinnung liegt nur „in der unmittelbaren Sitte und Gewohnheit des Rechten und der Gesetze“, sodass sie „noch nicht zur freien Subjektivität der Sittlichkeit“ gelangt ist (W12.137 f.). In diesem Weltzustand beruht die sittliche Freiheit der Griechen auf dem obigen unreflektierten Zutrauen.9 Aufgrund dessen schreibt Hegel seit seiner Heidelberger Zeit seinen Sittlichkeitsbegriff nicht mehr dem idealisierten Griechentum zu; ab diesem Zeitpunkt wird nämlich die Sittlichkeit nicht mehr im antiken Rahmen thematisiert, sondern es handelt sich nun um einen erneuerten Begriff der „Sittlichkeit“, die als die letztgültige Gestalt des objektiven Geistes in seiner Enzyklopädie10 dargestellt ist. Problemstellung und zugleich die der Versuche, zwei voneinander unabhängige ursprüngliche Prinzipien zu vereinigen. 8 Dazu vgl. auch: „[D]ie Alten wußten nichts vom Gewissen“ (W7.302). 9 Im Zusammenhang mit dieser Thematik ist Hegels Ausdruck der „Tragödie im Sittlichen“ in seinem Jenaer Aufsatz „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts“ zu erwähnen (W2.495). Diese literarische Metapher drückt das „tragische Schicksal“ des sittlichen Volkes aus, durch welches das glückliche Leben und die sittliche Freiheit verloren sind, weil die ehemalige unzertrennliche Einheit des Individuums mit seinem Gemeinwesen schon verschwunden ist (W3.547). Diese Phase wird von Hegel weltgeschichtlich der römischen Welt zugerechnet, in der er die Trennung zwischen dem privat-ökonomischen und dem öffentlichpolitischen Lebensfeld sieht; diese Entzweiung bedingt einerseits die rechtliche Bewahrung des persönlichen Eigentums, aber führt andererseits zu dem „entsittlicht[en]“ Weltzustand, in dem sich eine Spannung zwischen der inneren Gesinnung und der äußerlichen Institution ergibt, sodass die Idee der Sittlichkeit gescheitert ist (W12.349). 10 Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817, ²1827 und ³1830) enthält die drei Hauptteile in sich: die „Logik“, die „Philosophie der Natur“ und die „Philosophie des Geistes“. Sie handelt dabei von dem reinen Logos der Sache, der Naturphänomene, der Beschaffenheit der menschlichen Seele, dem Prinzip des freien Handelns bzw. des Zusammenlebens und von den höchsten geistigen Kulturerben der Menschheit. 13 Von dieser Tatsache ausgehend könnte man behaupten, dass es überflüssig sei, anhand der PHG Hegels Sittlichkeitsbegriff zu erörtern; dieses Urteil beruht auf der Annahme, dass die antike Sittlichkeit in der PHG für den reifen Hegel unhaltbar sei. Daraus ergibt sich eine grundlegende Problematik, wenn man die PHG bewertet; da in diesem Werk die Sittlichkeit explizit nur auf die antike Polis bezogen wird, könnte uns ein Zweifel kommen, „ob die Phänomenologie so etwas wie ein gelungenes Buch, ein ausgereiftes Werk sei“.11 Dieses Faktum, dass an keiner Stelle in der PHG irgendeine explizite Angabe über die neuzeitliche Sittlichkeit gemacht worden ist, liefert uns einen der Gründe dafür, dass Hegels Abgrenzung von der PHG unabdingbar scheint. Es erhebt sich dementsprechend die folgende Frage: Sind weitere Behandlungen der Sittlichkeit anhand der PHG nicht mehr nötig? Auf diese Frage kann man m. E. folgendermaßen antworten: Die vorliegende Dissertation unterscheidet sich von den bisherigen Studien dadurch, dass sie Hegels Sittlichkeitsbegriff anhand der PHG thematisiert. Im Zentrum der Studien hinsichtlich dieses Themas stehen die Darlegungen anhand der Rechtsphilosophie 12 aus Hegels enzyklopädischem System; somit tendieren die bisherigen Untersuchungen im Hinblick auf Hegels Sittlichkeitsbegriff dazu, sich mit Ausführungen der Rechtsphilosophie auseinanderzusetzen. Das Hauptziel dieser Untersuchung liegt hingegen darin, weder auf Hegels konkrete Staatstheorie anhand der Rechtsphilosophie noch auf seine Ausführung der griechischen Sittlichkeit anhand der PHG einzugehen; es handelt sich vielmehr darum, den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff zu ergründen. Was die Sittlichkeit bedeutet, wird in der PHG implizit als „der Begriff des Geistes“ (der besagt: „Ich, das Wir [ist], und Wir, das Ich ist“) ausgedrückt (W3.145); die Wirklichkeit der sittlichen Freiheit besteht für Hegel nämlich in der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten oder in der Versöhnung des einzelnen Bewusstseins mit seinen Anderen bzw. mit dem allgemeinen Bewusstsein. Hegels Darstellung über die Versöhnung der Individualität mit der Allgemeinheit macht den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff Pöggeler (1973) formuliert außerdem: „Hat Hegel es in der Phänomenologie überhaupt vermocht, seine Gedanken in einer gültigen Weise zusammenzufassen, alle Motive seines Denkens sich auswirken zu lassen? Die Weise z. B., wie er die Sittlichkeit als die schöne Sittlichkeit der Griechen nimmt und sie sich dann geschichtlich auflösen läßt, spiegelt durchaus nicht Hegels Bemühen wider, die Sittlichkeit auf dem Boden der Moderne neu zu begründen“. S. 332 f. 12 Mit seinem Hauptwerk hinsichtlich des objektiven Geistes, d. h. den Grundlinien, bezweckt Hegel, seinen Zuhörern einen „Leitfaden“ zu den Vorlesungen über die Rechts- oder Staatsphilosophie zu geben; dieses Werk wurde als „Lehrbuch“ oder „Grundriß“ (W7.11) der philosophischen Rechtswissenschaft konzipiert, damit der Begriff des Rechts nachvollziehbar sein könnte. Die Grundlinien sind aber zugleich detaillierte Ausführungen über den objektiven Geist in seinem enzyklopädischen System; seine praktische Philosophie erhält dementsprechend bereits in seinem System ihren endgültigen Ort. 14 11 nachvollziehbar, welche Darstellung zudem aufzeigt, wie das Prinzip des Gemeinwesens von dem Subjekt aufgenommen wird. Während für Hegel der antiken Sittlichkeit das Moment der subjektiven Reflexion fehlt, liegt das Symptom des epochalen Bewusstseinswandels in der Neuzeit darin, dass „die Menschen wenig mehr durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezogen werden, sondern mit ihrem eigenen Verstande, selbständiger Ü berzeugung und Dafürhalten den Anteil ihrer Tätigkeit einer Sache widmen wollen“ (W12.37). Aus diesem Grunde lässt sich die Freiheit des Subjekts in der Neuzeit folgendermaßen ausdrücken: [D]as Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit [aus]“ (W7.233). Dieses Recht bedeutet zunächst das „Prinzip der Besonderheit“, m. a. W. das Prinzip der umfassenden Säkularisierung (wie „der ewigen Seligkeit des Individuums“), das besagt, dass der Mensch in der neuzeitlichen Welt bemüht ist, „sich befriedigt zu finden“ (W7.233). Das Grundprinzip des neuzeitlichen Denkens ist aber genau genommen durch die absolute „Reflexion in sich“ des Selbstbewusstseins, d. h. durch „die Richtung, nach innen in sich suchen und aus sich zu wissen“, die bis auf Sokrates zurückzuführen ist, gekennzeichnet (W7.259). Dieser wesentliche Charakter des neuzeitlichen Gedankens spiegelt sich für Hegel insbesondere in zwei Faktoren wider: in der Moralität, die auf dem „Recht der subjektiven Freiheit“ oder der Selbst-Gewissheit des neuzeitlichen Subjekts beruht, und in der Religion, die auf der neuzeitlichen Ebene reformiert ist. Die moralische Weltansicht des Subjekts impliziert einen großen Schritt zur Aneignung der menschlichen Freiheit. Die absolute Selbstgewissheit des moralischen Subjekts bildet den Standpunkt des Gewissens im Rahmen der Moral; „das [moralische] Gewissen weiß sich selbst als Denken“ (W7.254), weshalb sich das Subjekt durch sein Denken absolut frei fühlt. Diese Souveränität des menschlichen Denkens bezeichnet sich auch als „der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“ (W7.27); was der Mensch als allgemeingültig anerkennt, das kann als das Gute angesehen werden. Dieser geistige „Eigensinn“ des neuzeitlichen Subjekts lässt sich laut Hegel im Zusammenhang mit der Religion als „das eigentümliche Prinzip des Protestantismus“ (W7.27) erkennen. Dieses Prinzip basiert auf dem religiösen Gewissen des Menschen, aus dem sich die obige „Reflexion in sich“ des 15 neuzeitlichen Subjekts ergibt; die Reformation wird von Hegel als eine der epochalen Errungenschaften in der europäischen Geistesgeschichte gewürdigt, weil sie ihm zufolge das Grundmotiv zu weltgeschichtlichen Umschwüngen in der Neuzeit ist, das Folgendes impliziert: „[D]er Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein (W12.497).13 In dieser Arbeit wird also der Geltungsbereich des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG nicht nur auf den ersten Abschnitt im Kapitel „VI. Der Geist“, d. h. „A. Der wahre Geist. Die Sittlichkeit“, beschränkt. Als die vergangene, aber erste bedeutsame Existenz der Sittlichkeit 14 legt Hegel zunächst die griechische Sittlichkeit anhand der ersten zwei Teilstücke („a. Die Sittliche Welt“ und „b. Die sittliche Handlung“) im Abschnitt „Sittlichkeit“ dar. Im Gegensatz dazu kann man den konkreten Inhalt der neuzeitlichen Sittlichkeit, von der Hegels Rechtsphilosophie handelt, zwar nicht in der PHG finden, aber die vorliegende Arbeit zielt darauf, die Moral und die Religion anhand der PHG im Hinblick auf Hegels Lehre der neuzeitlichen Sittlichkeit darzustellen. In dem letzten Abschnitt des Kapitels „Geist“, also „C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“, lässt sich die Reihe der Bemühungen, sich die subjektive Freiheit anzueignen, erblicken; das abschließende Teilstück in diesem Abschnitt, „c. Das Gewissen“, stellt den Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten dar. Der Entwicklungsgang des Sittlichkeitsbegriffs reicht aber bis zum Kapitel „VII. Die Religion“, in dem man vornehmlich mit dem letzten Abschnitt „C. Die offenbare Religion“ die andere Phase der Versöhnung der Individualität mit der Allgemeinheit ins Auge fassen kann. Jede dieser beiden Phasen hat Hegel zufolge ihre eigene Form der Versöhnung; die Versöhnung im moralischen Geist besteht in der „Form des Fürsichseins“, während die Versöhnung im religiösen Geist in der „Form des Ansichseins“ besteht (W3.441; 579). Die beiden Formen werden auf der letzten Bewusstseinsgestalt in der PHG, d. h. im Kapitel „Das absolute Wissen“, ineinander integriert; das absolute Wissen, das die letzte Stufe des Bildungsprozess Dazu vgl.: „Luther hat diese Autorität [der Kirche] verworfen und an ihre Stelle die Bibel und das Zeugnis des menschlichen Geistes gesetzt. Daß nun die Bibel selbst die Grundlage der christlichen Kirche geworden ist, ist von der größten Wichtigkeit: jeder soll sich nun selbst daraus belehren, jeder sein Gewissen daraus bestimmen können. Dies ist die ungeheure Veränderung im Prinzip“. W12. S. 497 f. „Die neue Zeit“, die bei Hegel sowohl die letzte Periode der germanischen Welt als auch die letzte Periode der Weltgeschichte überhaupt ist, ist von der Reformation ausgegangen. 14 Wenn der reife Hegel die unschuldige Gesinnung der griechischen Sittlichkeit auch nicht mehr als sein Hauptthema betrachtet, so musealisiert er den sittlichen Geist im altgriechischen Rahmen doch mitnichten einfach als eine vergangene Episode; denn der „wahre Geist“ wird weltgeschichtlich einer geschichtlichen Existenz des sittlichen Lebens zugeordnet. Der „wahre Geist“ ist zwar nicht direkt auf der Ebene der Neuzeit haltbar, jedoch gibt er uns einen Anlass zum philosophischen Nachdenken darüber, wie der Sittlichkeitsbegriff auf der Ebene der neueren Welt erneut umzubauen ist, d. i. wie der Kernpunkt der antikgriechischen Sittlichkeit wiederherzustellen ist. Zur Thematik des Zusammenhangs zwischen dem Geist der antiken Sittlichkeit und dem moralischen Prinzip der Neuzeit bzw. dem Geist der neuzeitlichen Sittlichkeit vgl. Amengual (2002); Siep (2012), S. 215 ff. u. 230 f. 16 13 des Bewusstseins zur philosophischen Wissenschaft ist, ergibt sich nämlich aus der erneuerten Versöhnung zwischen jenen beiden Versöhnungsformen. Daran lässt sich der Gedanke der Verschränkung von Moralität (Gewissen) und Religion (Christlichkeit) in der neuzeitlichen Welt ablesen. Diese Interpretation erlaubt es uns, die neuzeitliche Sittlichkeit aus dem enzyklopädischen System noch umfänglicher zu verstehen. Es ist gleichwohl unleugbar, dass es einige grundlegende Probleme gibt, wenn man anhand der PHG den Sittlichkeitsbegriff betrachtet. Deswegen werden bestimmte Problematiken bedacht. Was unsere Thematik angeht, sind die drei folgenden Punkte zu bemerken: 1) Hegels Bewertung der Moralität ist in der PHG ist anders gelagert als sein Urteil über die „Moralität“ in der Enzyklopädie, vor allem, was die Bedeutsamkeit des moralischen Gewissens anbelangt. 2) In der PHG wird das Prinzip der neuzeitlichen Christlichkeit nicht explizit dargestellt; hier kann man Hegels direkte Schilderungen der neuzeitlichen Glaubenserneuerung, aus der sich die Christlichkeit im Umfeld des neuzeitlichen Gedankens ergibt, nicht beobachten. 3) Im Gegensatz zu dem enzyklopädischen System wird das Prinzip des neuzeitlichen Staats in der PHG nicht eigens thematisiert, denn hier wird nur die Polissittlichkeit des klassischen Griechentums dargelegt. Allein dieser Befund hindert nicht an der vorgeschlagenen Betrachtung der PHG in dieser Arbeit. Anhand dieses Werkes kann man den konkreten Inhalt der neuzeitlichen Sittlichkeit zwar nicht betrachten; aber Hegels Darstellungen des moralischen Standpunkts und der christlichen Gottesvorstellung ermöglichen es, seine Lehre des neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriffs in seiner Rechtsphilosophie genauer zu verstehen. Als Grund dafür lässt sich Folgendes anführen: 1) In der PHG beobachtet Hegel den Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von moralischen Subjekten (obgleich dieser Moment nur am Schlusspunkt des Gewissens, d. h. in der Ü bergangsphase zur Religion, auftritt), während er in seiner Rechtsphilosophie, die dem objektiven Geist aus dem enzyklopädischen System entspricht, die Schranke des Gewissens betont; es handelt sich bei dem Abschnitt „Moralität“ in der PHG um Hegels Kritik an dem ihm zeitgenössischen Gedanken, während er in der Enzyklopädie die Schranke des moralischen Standpunkts überhaupt und die Notwendigkeit des Ü bergangs zur Sittlichkeit zu verdeutlichen versucht. Die Darstellung des Gewissens in der PHG besteht darin, den Gegensatz zwischen dem Anspruch auf die subjektive Freiheit und dem Prinzip des gelungenen Zusammenlebens aufzulösen, ohne dass der Standpunkt der subjektiven Selbstgewissheit einfach abhandengekommen ist. 17 2) In der PHG geht Hegel zwar nicht auf das Prinzip der neuzeitlichen Christlichkeit, d. h. des Protestantismus, ein. Aber die christliche Religion, die Hegel in der PHG als die letztendliche Gestalt des religiösen Wissens darstellt, macht den wahren Begriff der Christlichkeit aus. Der Geist des Christentums in der PHG impliziert nicht bloß seine geschichtliche Existenzweise; Hegels Darstellung der Christlichkeit in der PHG betrifft nicht einfach einen bestimmten Charakter des faktischen Glaubensbekenntnisses. Man sollte deshalb Hegels Lehre der neuzeitlichen Christlichkeit beispielsweise nicht als das lutherische Bekenntnis des christlichen Glaubens ansehen; die Christlichkeit, die man der Darstellung in der PHG entnehmen kann, folgt vielmehr aus Hegels philosophischer Einsicht in den wahren Begriff des Christentums. Hegels Begriff der Christlichkeit ist also (obgleich er in der PHG den Protestantismus nicht expliziert) bereits über die neuzeitliche Glaubenserneuerung hinausgegangen. Was Luther als Glauben angesehen hatte, das religiöse Gewissen in der Neuzeit, hat „der weiterhin gereifte Geist“ nun „im Begriffe“ begründet (W7.27); „der neu[e] Geist[]“ (W3.19), der sich aus dem ganzen Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft ergibt, entsteht durch Hegels Betrachtung über die neuzeitliche Denkgeschichte, die von der Reformation bis zur Philosophie des deutschen Idealismus reicht. Hegels Darstellung der christlichen Religion in der PHG ist also nichts anderes als die philosophische Betrachtung über den wahren Begriff der Religion und diese begreifende Betrachtung über die religiöse Wahrheit wird erst auf der letzten Stufe des Bildungsprozess des Bewusstseins in der PHG, d. h. in der Phase der obigen engen Verschränkung von dem moralischen und dem religiösen Geist, möglich. 3) In der Einführung zum dritten Teil „Sittlichkeit“ in seinen Grundlinien (W7.292-305) führt Hegel die Elemente des Sittlichkeitsbegriffs aus: das objektive und das subjektive Moment. Die sittliche Substanz, wie Familie und Staat, fungiert als die Seite des objektiven Sittlichen (wie Gesetze und Institutionen), das für das Subjekt als die Autorität der sittlichen Mächte gilt; aber diese sittliche Normativität bringt das denkende Subjekt zur Einsicht, dass es ein festes Zutrauen zu ihr hat, nicht einfach durch die unbefragte Ü berzeugung eines Individuums, sondern durch die vernünftige Reflexion des Subjekts, die sich aus vernünftigen Ü berlegungen über das Wesen des Geistes ergibt. Die sittliche Subjektivität macht nun die Wirklichkeit der sittlichen Substanzialität aus. Im Gegensatz dazu gibt es eine Schwierigkeit, wenn man den Sittlichkeitsbegriff in der PHG behandelt; denn hier ist nicht der neuzeitliche Staatsbegriff als solcher thematisiert, sondern nur die altgriechische Polissittlichkeit ist dargestellt. Dieser Mangel an einem objektiven Moment scheint zur Folge zu haben, dass der Sittlichkeitsbegriff in der PHG dem Hauptgedanken in der 18 Rechtsphilosophie nicht entsprechen würde; weil in der PHG die Objektivierungsform des Willens, das rechtlich-politisch-staatliche System, nicht explizit dargestellt wird, ist der Zusammenhang zwischen der PHG und der Enzyklopädie, was die Sittlichkeit betrifft, nicht auf den ersten Blick offensichtlich. Es gibt zwar keinen expliziten Punkt in der PHG, in dem man Ausführungen zum objektiven Sittlichen, insbesondere zum (auf der neuzeitlichen Ebene erneuerten) Prinzip des Gemeinwesens, finden kann. Allerdings ist es m. E. sinnvoll, die Sittlichkeit anhand der PHG zu untersuchen; wenn man nämlich den Sittlichkeitsbegriff unter dem geschichtlichen Blickwinkel betrachtet, lässt sich erkennen, dass Hegel auch in der PHG Austragungsorte des sittlichen Prinzips, m. a. W. der interpersonalen Anerkennung darlegt, die man als Hauptmomente für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff auffassen kann. In der PHG wird die Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes dargestellt, sodass diese geschichtliche Gedankenlinie nachvollziehbar ist; in diesem Werk kann man die Genese der behandelten Sache herausfinden. Das Wesen des Geistes (vom Standpunkt der philosophischen Wissenschaft aus) ist erst dadurch erwiesen worden, dass sich (anhand der PHG) aus dem Bildungsgang des Bewusstseins zum wahren Begriff des Wissens ergibt. Indem das philosophische Subjekt die Notwendigkeit dieses Ü bergangs zum wissenschaftlichen Standpunkt erkennt, wird die Wahrheit nicht mehr als bloß denkunabhängige Substanz betrachtet. Von der Warte des Bewusstseins aus muss sich die Wahrheit nicht anders als in ihrem eigenen Entwicklungsverlauf manifestieren. Das momentan irregeführte Bewusstsein kann, weil es aber potenziell wissenschaftsfähig ist, nicht direkt den begreifenden Gedanken erreichen; nur der vollständige Vollzug verschafft dem Subjekt die Möglichkeit, die Dynamik des wissenschaftlichen Systems tiefgründig zu betrachten. Also lässt sich feststellen, dass sich die PHG und Hegels System der philosophischen Wissenschaft gegenseitig garantieren; während das System dem Bewusstsein den Grund für den wissenschaftlichen Standpunkt gibt, wird die substantielle Wahrheit durch den Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG sichergestellt. Um den Sittlichkeitsbegriff in der PHG zu betrachten, wird die vorliegende Arbeit folgendermaßen eingeteilt. In ihrem „Teil I: Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des Geistes“ wird die Vielfalt der allgemeinen Ü berlegungen über die PHG dargestellt. Hier finden sich vor allem ihre geschichtsbezogenen Betrachtungen in Bezug auf deren Konzeption und Aufbau; damit 19 wird man ihres Zusammenhangs mit Hegels Darstellung in seinem enzyklopädischen System ansichtig. Der „Teil II: Die Hauptmomente für die Sittlichkeit in der neuzeitlichen Welt: Moral und Religion“ behandelt Hegels konkrete Darstellungen der Moralität und der Christlichkeit in der PHG. Hier betrachtet er die beiden zwar als Gestalten des Bewusstseins, also als Ü bergangsphasen zum Begriff der philosophischen Wissenschaft; aber das moralische Gewissen und die offenbare Religion werden in dieser Arbeit als geistige Grundlagen für die neuzeitliche Sittlichkeit, insbesondere die sittliche Gesinnung in der neuzeitlichen Welt, aufgefasst, womit die zentrale These dieser Arbeit in Angriff genommen werden kann. Der „Teil III: Die Sittlichkeit im Vergleich zu dem enzyklopädischen System“ zielt darauf ab, den Zusammenhang des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG mit Hegels „Philosophie des Geistes“ aus dem enzyklopädischen System zu herauszustellen. Dadurch soll der Zusammenhang dieser Betrachtung Hegels mit seiner Lehre der neuzeitlichen Sittlichkeit anhand des wissenschaftlichen Systems aufgezeigt werden. 20 TEIL I: Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des Geistes Die Vollstä ndigkeit der Form des nicht realen Bewußtseins wird sich durch die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges selbst ergeben. - Hegel, Phä nomenologie des Geistes 21 A. Das Grundkonzept der Phänomenologie des Geistes 1. Die früheren Bewertungen der Phänomenologie des Geistes In Hegels Phänomenologie des Geistes (PHG), die im Jahr 1807 als sein erstes Meisterwerk erschien, schlagen sich seine Bemühungen um eine eigenständige philosophische Methodik bzw. Systematik nieder; dadurch hat diese Schrift einen eigentümlichen Rang, was Hegels System der philosophischen Wissenschaft betrifft. Aber es ist auch unleugbar, dass seit der Publikation der PHG bis jetzt viele Debatten über das Grundkonzept der PHG noch im Gang sind. Um diese schon lange gefragten, aber – trotz aller seitherigen Anstrengungen – noch unentschlüsselten Diskussionsthemen zu behandeln, geht es zu Beginn um die Rezeptionsgeschichte der PHG. Die PHG wurde in erster Linie von einigen frühen Interpreten als eine unerlässliche Introduktion, um die philosophische Wissenschaft herzuleiten, aufgenommen; damit artikulierte sie sich teils als ein Bericht über die Kavalierstour des menschlichen Geistes, teils als eine genetische Vorstufe zum System der Wissenschaft, zu dem sie jedoch noch nicht herangereift ist.15 Daran zeigen sich zwei entgegengesetzte Annahmen: 1) In der PHG könne man zweifelsohne Hegels ernsthaft-geniale Bestrebungen entdecken, alle Bereiche des menschlichen Wissens abzudecken, sodass die PHG ein originelles und produktives Werk sei,16 und 2) die PHG basiere, trotz ihrer inhaltlichen Genialität, noch nicht auf der wissenschaftlichen Methodik, sodass sie wegen dieser wissenschaftlichen Unvollkommenheit eigentlich nicht dem System entspreche. 17 Diese divergierenden Deutungstendenzen tauchten schon auf, als die sog. Hegelsche Schule in Teile zerfiel, sodass die beiden Stellungen im Grunde miteinander unverträglich waren.18 Dennoch gibt es einen Zu den Ausführungen des Charakters der P HG als der „Entdeckungsreisen“ und der „Propädeutik“ vgl. Pöggeler (1993), S. 172-178. 16 Beispielsweise ist für Strauß die PHG „das A und O der Hegelschen Werke“, davon ausgehend behauptet er, dass man darin „Hegels Genius“ finden könne. D. Fr. Strauß, Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 224. 17 Die Skepsis, ob die PHG die Wissenschaft ist, wird z. B. von Rosenkranzes Aussage der „phänomenologische[n] Krisis des Systems bis 1807“ ausdrücklich indiziert. Rosenkranz (1844), S. 201. Rosenkranz ist der Ansicht, dass Hegels Versuch, die PHG in sein System einzuordnen, misslungen sei, obschon er zumindest seit der mittleren Jenenser Zeit darauf hinziele, seine philosophische Gesamteinsicht in ein System zu bringen. 18 Hegels Philosophie wurde bekanntlich nach seinem Tod von seinen wissenschaftlichen Genossen oder Anhängern, die sich größtenteils zu dem „Verein von Freunden des Verewigten“ vereinigten, und von seinen Schülern – seien sie für Hegel oder gegen ihn – aufmerksam wahrgenommen. In diesem Rezeptionsvorgang kann man die verschiedenen Flügel der Hegelschen Schule, grob gesagt, entweder in eine konservative, eine reformistische und sogar eine revolutionäre Richtung einteilen oder in den „Linkshegelianismus“, den „Rechtshegelianismus“ und die mittlere Position zwischen beiden. Zu der umfangreichen Klassifizierung der 22 15 Faktor, über den sich die beiden Richtungen inhaltlich miteinander in Verbindung bringen lassen; sie beruhen nämlich auf der gemeinsamen Supposition, dass sich die PHG auf jeden Fall nicht als eine Wissenschaft qualifiziere.19 Die meisten Interpretationen der PHG gehen gewissermaßen von einer Annahme aus, auf die sich eine solche Supposition stützt. Als Bespiele dafür kann man Folgendes anführen: Einige Leser sind der Meinung, dass Hegel versucht habe, in der PHG zwei unverträgliche Konzepte, eine Epistemologie (als die theoretische Philosophie) und eine Sozial- bzw. Geschichtsphilosophie (als die praktische Philosophie) miteinander zu verschmelzen. Die Bewertung von Haym, dass die PHG unverwechselbar als ein „Palimpsest“ 20 erwiesen werde, ist überdies eine kaum überbietbare Kennzeichnung für diesen Zusammenhang. Nachdem die PHG als ein „Palimpsest“ etikettiert wurde, zeigt sich diese Bezeichnung als ein wesentlicher Beleg dafür, dass sie ein verunglücktes Buch ist. Seit dieser Beurteilung wird die Deutungsweise, den Hintergrund dieses Misserfolges im Bezug auf das Konzept der PHG zu erklären, immerfort herangezogen. Die PHG hat auf diese Weise vielerlei Interpreten zur Herausbildung ihrer eigenen Gedanken angeregt; sie wurde dennoch nicht als die Wissenschaft selbst, sondern nur als die Schwelle zur wissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Der Begriff wie der „Palimpsest“ ist Hegelschen Schule vgl. z. B. Löwith (1978), S. 65-136. Die „Althegelianer“, die sich um die Bewahrung der Philosophie Hegels bemühen, betonen in der Regel die Abgeschlossenheit des hegelschen Systems; sie interpretieren dementsprechend die PHG als die bloße Vorstufe zur wissenschaftlichen Systematik des reifen Hegel. Als ein Musterfall dafür ist Gabler, der als Hegels Nachfolger 1835 an die Universität Berlin berufen wurde, anzuführen; Gabler (1827) konzipiert die „philosophische Propädeutik“, die er grundsätzlich der hegelschen Phänomenologie entsprechend etablieren will, zwar als den „Weg zur Wissenschaft, welcher [aber] die Wissenschaft noch nicht selbst ist.“ S. 11 f. Im Gegensatz dazu heben die „Junghegelianer“, die die progressive Potenz des dialektischen Denkens in Hegels Philosophie loben, meistens die Eigenständigkeit der PHG hervor, unter der Voraussetzung, dass man Hegels eigenständige Denkmotive, besonders im Rahmen der praktischen Philosophie, mehr in diesem Werk als in anderen entdecken kann. Die Bewertung von K. Marx, dass die PHG die „Geburtsstätte der Hegelschen Philosophie“ sei, ist bezeichnend dafür. Marx u. Engels, Werke Erg.-Bd. 1, S. 571 f. 19 Etwa in der Perspektive wie Gablers kann die PHG wohl für unreif oder sogar für ungelungen gehalten werden, wenn man sie mit den philosophischen Wissenschaften in Hegels Enzyklopädie vergleicht. Nach der Behauptung von einigen Interpreten ist sie trotz ihrer gedanklichen Eigenständigkeit noch einigermaßen mit unorganisierten bzw. willkürlichen Vorstellungen verknüpft. Dazu vgl. das obige Beispiel von Rosenkranz (1844), bes. S. 205; Michelet (1967), S. 616 f. Auch K. Marx kritisiert die PHG, obgleich er ihren inhaltlichen Wert achtet, indem er vorzugsweise aufzeigt, dass Hegels Darstellung ultimativ im „abstrakten“ Denken liege; aus diesem Grunde stellt Marx fest, dass die PHG eine „verborgne [sic!], sich selbst noch unklare und mystizierende“ Schrift sei. Marx u. Engels, a. a. O., S. 572 f. 20 Haym (1857), S. 238. Für ihn spiegelt sich die zur Zeit Hegels überwiegende Tendenz der politischen Restauration auch in seinen Gedanken wider, sodass ein innovatives Motiv in Hegels Philosophie mit einem anderen, also regressiven, Motiv verunstaltet wird. Wie in einem Pergament, von dem der ursprüngliche Text getilgt und das danach von Neuem beschrieben worden ist, komme auch in der PHG neben einem Motiv noch ein anderes zum Tragen: neben der regressiven Transzendentalphilosophie noch die innovative Geschichtsphilosophie. Die PHG sei, so Haym, „eine durch die Geschichte [= die praktische Philosophie] in Verwirrung und Unordnung gebrachte Psychologie und eine durch die Psychologie [= die theoretische Philosophie] in Zerrüttung gebrachte Geschichte“. S. 238-243. Zu der Bewertung der Position Hayms vgl. bes. Pöggeler (1973), S. 336; ders. (1993), S. 184 f. 23 das Signum, das die Tendenz der bisherigen Bewertungen ausdrückt. Diese Ansicht lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die PHG sei ein geniales, aber dennoch misslungenes Werk. 24 2. Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System Was die Stellung der PHG im Gesamtsystem Hegels anbelangt, geht es bis heute um ihr Grundkonzept. Die PHG wird zuerst als die Einleitung in die philosophische Wissenschaft konzipiert. Aber es ist laut Hegel auch unbezweifelbar, dass die PHG selbst, damit sie eine Einführung zum System ist, im Grunde die „Wissenschaftlichkeit“ (W3.14 f.) hat; sein phänomenologisches Programm beruht nämlich auf der Forderung, dass eine Hinführung zum „absolute[n] Begriff“ (W3.591) der Wissenschaft ebenfalls zu dem wissenschaftlichen System selbst gehören soll. Hegels ursprünglicher Konzeption nach ist die PHG nichts anderes als ein Teil des Systems. Das ist freilich nicht so eindeutig fassbar; wegen der Janusköpfigkeit, dass die PHG der Weg zur Wissenschaft und zugleich die Wissenschaft selbst sein soll, kommt wiederum ein Bedenken auf, inwiefern sie als die Wissenschaft zu betrachten ist; wenn die PHG eine Einleitung ins System ist, macht sie nur den Anfang desselben aus, sodass sie nicht alle Bereiche des wissenschaftlichen Systems abdecken könnte. Dieser Zweifel taucht zumal nach der Herausgabe der PHG bereits in Hegels Systemgedanken gradweise auf; nachdem ihre einleitende Funktion von ihm selbst bezweifelt wurde, wird sie entweder aus dem System ausgeschlossen oder als ein bloßer Systemteil eingegliedert. Rekapitulieren wir diese Varianten im Hinblick auf das Systemverhältnis der PHG, wie es sich anhand von Hegels Aussagen darüber ermitteln lässt. Die PHG entsteht aus Hegels Bemühungen darum, die notwendige Herleitung des wissenschaftlichen Standpunkts von dem Bewusstsein überhaupt durch „die Darstellung des erscheinenden Wissens“ (W3.72) zu rechtfertigen. Seitdem sich sein Ideal zur eigenständigen Systemkonzeption entwickelt hatte, wurde eine das System vorbereitende Disziplin bei ihm dringend.21 Hegel betrachtet seine Phänomenologie ursprünglich als die Propädeutik und dieser Entwurf entspricht seiner Jenaer Konzeption. 22 Sein Systemprogramm setzt sich in der PHG, mit Ausdrücken wie „Leiter“ oder „Vorbereitung“ (W3.29; 38) formuliert, vollkommen durch. Aber wenn dieser Punkt außerordentlich pointiert würde, könnte der Akzent bei dem Spezifikum der PHG ausschließlich auf ihrer pädagogischen Funktion liegen. 23 Dementsprechend könnte man 21 Zu Hegels Entwicklung der Systemkonzeption vgl. die philologischen Studien Kimmerles (1967; 1969); Pöggeler (1973), S. 341-345; Fulda (1973), S. 416-422. 22 Dazu vgl. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 59; 96; 99. 23 Als ein Vertreter dieser Position aus der aktuellen Literatur ist Mehring (2004) anzuführen. Er ist der Ansicht, die PHG „entfaltet nicht das System, sondern dient nur seiner Wegbereitung“; er denkt, sie „dient der Vorbereitung des Lesers auf das System“. S. 163 f. 25 sowohl meinen, dass die PHG als die philosophische Propädeutik irgendeine Anweisung zur Wissenschaft dargestellt werde, als auch dass sie, weil auch diese nicht die Wissenschaft selbst ist, ausschließlich mit Unterstützung der – ihr uneigentlichen – wissenschaftlichen Methode dem Bewusstsein bei seinem Sprung zur Wissenschaft behilflich wäre. Diese Deutungsweise der PHG gibt uns den Eindruck, als ob es die folgenden einander entgegenlaufenden Faktoren gäbe: erstens das alltägliche Bewusstsein, zweitens die stringente Wissenschaft und letztens die diese beiden miteinander verbindende, jedoch im Grunde unwissenschaftliche Propädeutik. Dasjenige, „was man zunächst unter einer Anleitung des unwissenschaftlichen Bewußtseins zur Wissenschaft sich vorstellt“ (W3.31), basiert im Allgemeinen auf dieser Annahme. Allein man kann ohne den Zusammenhang zwischen der PHG und dem System nirgends über ihre pädagogische Funktion sprechen; die PHG ist nicht einfach als die Propädeutik aufzufassen, soweit Hegel selbst sie als Wissenschaft konzipiert. Diese Wissenschaftlichkeit gilt dem Bewusstsein als die Form der „allgemeinen Verständlichkeit“ (W3.19). Die verständige Form der Wissenschaft ist der allen dargebotene und für alle gleichgemachte Weg zu ihr, und durch den Verstand zum vernünftigen Wissen zu gelangen, ist die gerechte Forderung des Bewußtseins, das zur Wissenschaft hinzutritt (W3.20). Die Wissenschaft überhaupt soll auch verständlich und deshalb akzessibel sein. Das Bewusstsein ist berechtigt, von ihr zu verlangen, dass sie „exoterisch“ sein soll, nicht „esoterisch“.24 Die PHG ist Hegel zufolge nichts anderes als der Vollzug des Bewusstseins, das allerdings den „Weg“ zur Wissenschaft betritt und das die „Länge“ desselben standhaft erduldet (W3.33). Das Bewusstsein bedarf keines Kanons außerhalb seiner selbst, mit dem es feststellt, ob sein Wissen die Wahrheit ist. Der Grund dafür ist, dass das Bewusstsein selbst (potenziell) wissenschaftsfähig ist. Dass das Bewusstsein kraft seiner eigenen Vollziehung zur Wissenschaft emporgehoben wird, bedeutet nämlich, dass das (momentan) unwissenschaftliche Bewusstsein seine wissenschaftliche Potenz, d. h. den obigen absoluten Begriff der Wissenschaft, realisiert. Die „esoterische“ Wissenschaft ist für Hegel unbegreiflich und unmöglich zu lernen, sodass sie in der Lage ist, ein Eigentum „einiger Einzelner“ zu sein; die „exoterische“ Wissenschaft ist hingegen „begreiflich und fähig, gelernt und das Eigentum aller zu sein.“ W3, S. 20. 26 24 Wenn die PHG auch als Wissenschaft fungiert, muss sie auf einem Grundprinzip des wissenschaftlichen Begriffs basieren. Als ein Systemdenker behauptet Hegel, dass „das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden kann“ (W3.27), weil das Wissen des Bewusstseins laut Hegel nicht einfach als das obige Sein für Anderes gedacht werden kann. „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ (W3.14). Dadurch wird aufgezeigt, dass die Philosophie die als System dargestellte Wissenschaft ist,25 sodass die Wahrheit in dieser Wissenschaftlichkeit besteht. Deshalb kann die Philosophie nur aufgrund der „Darstellung des Systems selbst“ (W3.22) wissenschaftlich sein. Weil dieses System dem Bewusstsein eigen sein soll, ist die dynamische Systematik relevant für die PHG. Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken (W3.22 f.). Das Wahre ist laut Hegel nicht einfach als die denkunabhängige Substanz zu verstehen, sondern an ihm selbst Subjekt. Weder um die für das Subjekt unzugängliche Substanz noch um das (ohne Umgang mit derselben) nur auf sich selbst pochende Subjekt, sondern um die durch das Subjekt aufgefasste Substanz oder um das auf die Ebene der Substanz emporgehobene Subjekt geht es in der Darstellung des Systems. Insofern geschehen alle Stufen der Herausbildung zur Wissenschaft in der PHG im Zusammenhang mit dem System. Was jeden Moment der Darstellung in der PHG in „eine wissenschaftliche Ordnung“ leitet, das nennt Hegel „die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges“ (W3.593; 73). „Durch diese Notwendigkeit ist dieser Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft“ (W3.80). Die phänomenologische Darstellung stützt sich auf diese Notwendigkeit, die die „bestimmte Negation“ 26 impliziert; Hegel zeigt sie als seine 25 Zum Zusammenhang von System und Wahrheit in der PHG vgl. bes. Vos (2004). Bei dem geläufigen Skeptizismus wird der Inhalt des Gegenstandes restlos außer Kraft gesetzt. Diese Methode bringt immer das erkennende Subjekt zum Zustand „der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit“, weil die bisherige Wahrheitsaussage völlig negiert wird, dadurch bleiben, logisch gesagt, nur die „kontradiktorischen Begriffe“ übrig. Bei der geläufigen Art von Negation wird einem Urteil („A ist B“) das andere, welches das erste nur einseitig („A ist nicht B“) verneint, entgegensetzt. Diese „abstrakte“ Negation bedingt nur die kontradiktorischen Inhaltsbestimmungen, aus denen das „reine Nichts“, d. i. die inhaltliche Unbestimmtheit, resultiert, weil Nicht-B in der Tat Alles außer B bedeutet. Im Gegensatz dazu geht der „sich vollbringende Skeptizismus“, auf der wahrhaften dialektischen Bewegung beruhend, davon aus, dass das „Nichts bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert“. Durch diese „bestimmte Negation“ entsteht ein bestimmter Wahrheitsgehalt, ohne dass alle Voraussetzungen abgelehnt werden (z. B. „A ist nicht B, sondern C“). Also: „Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das 27 26 dialektische Methodik auf, durch die er die vollständige Reihenfolge der Bewusstseinsgestalten behandelt. Ü ber die Wissenschaftlichkeit der PHG, in der der Prozess des Ü bergangs des Bewusstseins zum absoluten Begriff des Wissens dargestellt worden ist, schreibt Hegel Folgendes: Der Weg, wodurch der Begriff des Wissens erreicht wird, wird durch sie [= die Bewegung des Wissens-Begriffs] gleichfalls ein notwendiges und vollständiges Werden, so daß diese Vorbereitung aufhört, ein zufälliges Philosophieren zu sein, das sich an diese und jene Gegenstände, Verhältnisse und Gedanken des unvollkommenen Bewußtseins, wie die Zufälligkeit es mit sich bringt, anknüpft oder durch ein hin und her gehendes Räsonnement, Schließen und Folgern aus bestimmten Gedanken das Wahre zu begründen sucht; sondern dieser Weg wird die vollständige Weltlichkeit des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit umfassen (W3.38). Die PHG ist also nicht einfach als die Propädeutik zu verstehen, sondern im Rahmen der wissenschaftlichen Systematik zu denken; sie ist schon die Wissenschaft, die ihre eigentliche Methode in sich trägt. Das Bewusstsein ist potenziell wissenschaftsfähig und die PHG beschreibt durch ihre wissenschaftliche Notwendigkeit den Prozess, den Begriff des Wissens zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel die PHG in Heidelberger Enzyklopädie (1817) als „die wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseins“ (GW13.34), in der das Bewusstsein allmählich an sein geistiges Wesen herankommt; in ihr wird nämlich der Gesamtentwicklungsgang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen System, d. i. die Reihe der gesamten „Weltlichkeit des Bewußtseins“, vollständig geschildert. Also kann man feststellen, dass ihr wissenschaftliches Charakteristikum in der Notwendigkeit und der Vollständigkeit besteht.27 wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes [Nichts] und hat einen Inhalt“. Hegel denkt, dass diese „bestimmte Negation“ die wahrhafte „Methode der Ausführung“ für den Vorgang sei, mit dem sich die Dialektik des Wissens „durch die Notwendigkeit des Fortgangs und Zusammenhangs“ entwickelt. W3, S. 7276 u. 159-163; W8, S. 243 ff. 27 Dazu vgl.: „Die Vollständigkeit der Form des nicht realen Bewußtseins wird sich durch die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges selbst ergeben“ (W3.73). Dazu vgl. auch W. Marx (1981). S. 32 f. Also soll man die in der PHG dargestellte „Vollständigkeit“ mit allem, was ist, meinen. Zu diesem Begriff bei Hegel vgl. z. B. Folgendes: „Vollständigkeit heißt die vollendete Sammlung alles Einzelnen, was in eine Sphäre gehört, und in diesem Sinne kann keine Wissenschaft und Kenntnis vollständig sein. Wenn man nun sagt, die Philosophie oder irgendeine Wissenschaft sei unvollständig, so liegt die Ansicht nahe, daß man warten müsse, bis sie sich ergänzt habe, denn das beste könne noch fehlen. […] Aber ein großer alter Baum verzweigt sich mehr und mehr, ohne deshalb ein neuer Baum zu werden, töricht wäre es jedoch, keinen Baum der neuen Zweige wegen, die kommen könnten, pflanzen zu wollen“ (W7.370). 28 Die PHG ist durch ihre eigentliche Notwendigkeit ins System zu integrieren und zugleich zeigt sie sich als eine Hinführung zur Wissenschaft. Daraus, dass die PHG sowohl die Wissenschaft selbst als auch die Einleitung in das System ist, lässt sich Folgendes folgern: Die PHG ist die wissenschaftliche Einleitung, sodass sie sich an den ersten Teil des wissenschaftlichen Systems einordnet. Aus diesem Grunde betitelte Hegel die PHG als „G. W. Fr. Hegels System der Wissenschaft. Erster Band, Die Phänomenologie des Geistes“ (W3.593). Das ergibt sich aus den mehrmaligen und vielfältigen Versuchen Hegels, in der Jenaer Zeit seine eigene Systematik zu konstituieren. Mit dem Terminus „Phänomenologie“, der in seiner Gegenwart schon weit verbreitet war,28 bezweckt Hegel die Einführung in die Wissenschaft, deren Fundamentaldoktrin anhand der Wissenschaft der Logik als seiner „Metaphysik“ oder „spekulative[n] Philosophie“29 abgehandelt wird. Die PHG erreicht mittels ihrer ganzen Darstellung den absoluten Begriff der Wissenschaft, der in der Logik als deren Anfang vorausgesetzt worden ist (W5.42); die PHG wird dementsprechend als die Voraussetzung für die Logik. Hegels Jenaer Plan, nach dem die „Logik“ initial als die Einleitung in die „Metaphysik“ konzipiert wurde, gestaltete sich durch seine mehrjährigen Versuche30 hindurch auf diese Weise um. Seine Jenenser Konzeption setzte sich eine Weile durch, genauer zumindest bis zum Zeitpunkt, in dem er den ersten Band der Logik, also „Die objektive Logik“ (1812), in Nürnberg veröffentlichte; seinem Gesamtsystem nach geht die PHG (1807), der erste Teil des Systems, dem zweiten Teil desselben voraus, der neben der Logik auch die „Philosophie der Natur“ und die „Philosophie des Geistes“ umfasst. Der erste Teil Das System der Wissenschaft Der zweite Teil Die Einleitung in das System Die spekulative Philosophie Die Realphilosophie Die Phänomenologie des Geistes Die Wissenschaft der Logik Die Natur- und die Geistes-Philosophie Allerdings kann die PHG, die von Hegel primär als das Prolegomenon zur Wissenschaft konzipiert wurde, nun keinen eigenen Platz mehr im enzyklopädischen System einnehmen.31 28 Dazu vgl. bes. Bonsiepen (1988), S. IX-XVI. Dazu vgl. diese Formulierungen Hegels: „die logische Wissenschaft, welche die eigentliche Metaphysik oder reine spekulative Philosophie ausmacht“. W5, S. 16. Vgl. noch W3, S. 39; 47; 55. 30 Zur ausgewogenen Hinführung dazu vgl. Pöggeler (1973), S. 341-345; Bonsiepen (1988). S. XVII-XXIX. 31 Im Gegensatz dazu gibt es die Position, dass sich Hegels Jenaer Konzept bis zum Gedanken des 29 29 Der Titel der „Phänomenologie“ wird stattdessen durch Hegels nochmalige Systementwürfe 32 hindurch in seiner Enzyklopädie als ein kleines Kapitel innerhalb der „Philosophie des Geistes“ eingegliedert, das als „[d]ie Phänomenologie des Geistes. Bewußtsein“ betitelt wird; damit verringert sich das inhaltliche Spektrum des Werkes drastisch. Indem die PHG, was Hegels Systemgedanken angeht, für nebensächlich gehalten wird, pflegt sie mittlerweile nur als vergängliches Werk charakterisiert zu werden. Die PHG wird also weder als eine bloße Vorbereitung zum System noch als der ins System einführende erste Teil desselben, sondern nun als ein Glied innerhalb des Systems aufgenommen.33 Hegels schwankende Evaluation der PHG und deren Umdeutungsversuch führen uns zur Skepsis, ob die PHG überhaupt eine das Bewusstsein zum wissenschaftlichen System hinführende Wissenschaft sein kann. In der „Vorrede“ zur PHG legt Hegel deren systematische Funktion als eine vorausgeschickte Einführung zum System klar, indem er insbesondere aufzeigt, dass die PHG als die Wissenschaft von irgendeiner geläufigen, enzyklopädischen Systems durchgesetzt habe. Dafür ist Beaufort (1983) bezeichnend. Er vertritt die These der „Zusammengehörigkeit von System und Phänomenologie“, d. h. der „Kontinuität des Hegelschen Denkens“. S. 1-4. Auch die Position Hansens ist anzuführen, der sagt, dass Hegel „die Phänomenologie zu keinem Zeitpunkt aus dem endgültigen wissenschaftlichen System verabschiedet“ habe. Hansen denkt, dass die PHG als „Hegels erste Darstellung des Gesamtsystems (d. h. des subjektiven, des objektiven und des absoluten Geistes)“ fungiert und dass diese Stellung der P HG in Hegels System bis zu seinem Tod gar nicht verloren gegangen ist. Hansen (1994), Vorwort. Aber es ist meines Erachtens unleugbar, dass Hegel selbst die systematische Stellung der P HG mehr oder minder relativiert hat. 32 Als Hegel als Rektor und Lehrer im Gymnasium in Nürnberg Vorlesungen für seine Schüler hielt, gestaltete er die „Phänomenologie“ mit dem Titel „Geisteslehre als Einleitung in die Philosophie“ oder „Bewußtseinslehre“, doch mit der verkürzten Fassung um. Allmählich stellte er die „Phänomenologie“ als ein Glied innerhalb der Abteilung der Philosophie vom subjektiven Geist fest. W4, S. 73-85; 111-123; Jaeschke (2003), S. 208-211. Im zweiten Band der Wissenschaft der Logik (1816) befinden sich Bemerkungen Hegels, dass die Phänomenologie „zwischen der Wissenschaft des Naturgeistes und des Geistes als solchen“ eingeordnet wird (W6.495); die „Phänomenologie“ behandele wohl nicht mehr den instinkthaften Geist (also die „Seele“), aber auch noch nicht den vernünftigen Geist(also den „Geist“ in seiner engeren Bedeutung), sondern das Bewusstsein überhaupt. Hier ist das Arrangement der subjektiven Geistesphilosophie in Heidelberger Enzyklopädie (die „Anthropologie“ als Seelenlehre => die „Phänomenologie“ als Bewusstseinslehre => die „Psychologie“ als eigentliche Geisteslehre) vorweggenommen worden. 33 Schon in dem ersten Band der Wissenschaft der Logik (1812) sagt Hegel, dass der Anfang der Wissenschaft ohne vorangestellte Erläuterungen der Thematik, d. h. nur mit dem „reine[n] Sein“ selbst, gemacht werden soll (W5.65-79). Diese Bemerkung birgt eine Beschränktheit der einführenden Funktion der P HG in sich. In Heidelberger Enzyklopädie (1817) ist nachdrücklich festgehalten, dass die PHG „nicht ein absoluter Anfang, sondern ein Glied in dem Kreise der Philosophie“ sein soll (GW13.34). In Berliner Enzyklopädie als deren zweiten Auflage (1827) grenzt Hegel die Phänomenologie auf den Bereich der Bewusstseinslehre, nicht der eigentlichen Geisteslehre ein. Hegels Gedanke wird besonders in seiner Bewertung der Philosophie Kants klargemacht, indem er denkt, „daß sie [= Kants Philosophie] den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat, und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält“ (GW19.317). In der „Vorrede zur zweiten Ausgabe“ der Wissenschaft der Logik, welche kurz vor seinem Tod (1831) geschrieben worden ist, verdeutlicht Hegel seinen letzten Verzicht darauf, die PHG als den ersten Teil des enzyklopädischen Systems zu betrachten (W5.18). 30 unwissenschaftlichen Propädeutik abweichen soll und muss. Seine Ausdrücke, „historische“ bzw. „räsonierende Konversation“, das „gefühlte und angeschaute“ Absolute, die „begrifflose“ und „abstrakte“ Denkweise, der „Formalismus“, „Dogmatismus“ usw.34, beschreiben alles in allem die Beispiele für die – durch wissenschaftliche Bemühungen – zu überwindende „Unmethode“ (W3.48).35 Aber es ist unleugbar, dass man eine Problematik mit dem Grundkonzept der PHG herausfindet; denn Hegel limitiert schon seit der ersten Publizierung der Logik die systematische Funktion der PHG mehr oder minder. Hegel sagt, die Wissenschaft ist in der Lage, „ohne vorangehende Reflexionen von der Sache selbst anzufangen“ (W5.35); indem die Logik voraussetzungslos mit sich selbst anfangen soll, wird der systematische Rang der PHG nämlich prekär. Diese Lagen evozieren die streng systematisch fundierte Vorstellung, dass man die PHG vom wissenschaftlichen System isolieren solle. In der ersten „Vorrede“ zur Logik schreibt er dementsprechend, dass die PHG und die Logik „das äußerliche Verhältnis“ (W5.18) zueinander haben. In der „Einleitung“ zur Logik wird dargestellt, dass eine vorläufige Erläuterung über ihr Hauptthema nicht so nötig sei, weil das Hauptthema der Logik „innerhalb ihrer“ (W5.35), also nicht in der „Vorrede“ noch in der „Einleitung“, behandelt werden müsse. Diese Aussage scheint auch zu implizieren, dass die PHG als die Einleitung ins System überflüssig sei.36 Aber trotz dieser Umstände kann niemand Folgendes verneinen: Die Aktualität der PHG wird auf keinen Fall von Hegel abgelehnt, im Gegenteil besitzt sie immerwährend einen erheblichen Stellenwert. Diesen Punkt kann man in der Aussage Hegels erkennen, und zwar in seiner letztendlichen Bewertung der PHG, in seiner „Notiz zur Überarbeitung des Werkes 34 Dazu vgl. W3, S. 11-18; 21 f.; 40-53; 59f.; 63-67. Diese Ausdrücke stellen die Reihenfolge der Betrachtungsweisen dar, die nur auf geläufigen Vorstellungen basieren, sich mit einer Sache zu beschäftigen. Diese Vorstellungen werden von Hegel wie folgt widerlegt: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen“ (W3. 35). Auch die Aussagen in der „Einleitung“ zur Wissenschaft der Logik wie „nur lemmatischer Weise“, „zugegebenerund bekanntermaßen“ usf. (W5.35 f.; 42) werden von ihm als unwissenschaftliche Vorstellungen angeführt. Hegel beschäftigt sich in jeder „Vorrede“ zu den anderen von ihm selbst publizierten Werken intensiv mit der Unterscheidung seiner eigenen (begrifflichen) Methode von den unphilosophischen Bemühungen. Dazu vgl. W7, S. 11-28; W8, S. 11-38. 36 Dazu vgl. z. B. Habermas (1963), S. 30; Vos (1983), S. 33. Aber als ein starkes Argument für diese Blickrichtung ist Ottmanns (1973) Polemik gegen die Idee der P HG anzugeben. Ottmann denkt, dass Hegels Versuch, die PHG als die Einleitung ins System zu verwenden, scheitert. Der Grund dafür besteht nach Ottmann darin, dass die PHG von vornherein in einer misslichen Lage ist; denn die PHG setze voraus, was durch ihre Darstellung selbst bewiesen werden sollte, obgleich sie, um die wissenschaftlich zu sein, ihren Standpunkt nicht voraussetzen, sondern beweisen soll. Ottmann wertet vorwiegend Hegels dialektische Denkweise, die durch „die bestimmte Negation“ geprägt ist, ab, weil dieses Negationsmodell in Hegels Gedankengang nur durch die Voraussetzung sein wahres Resultat erreichen kann. Seine Behauptung basiert auf seiner Überzeugung, dass die Einleitung und das „abgeschlossene“ System unverträglich seien, weil „Hegels absolutem Wissen [als dem Resultat der PHG] der Beweis der Wissenschaft [als der Logik] am endlichen Wissen [d. h. vom Standpunkt des unwissenschaftlichen Bewusstseins aus] nicht gelingen kann.“ S. 27-39; 185-197; 211 ff. 31 35 von 1807“, in der er kurz vor seinem Tod (1831) seine Gedanken mit einigen Worten umgerissen hat. Seine knappe Aufzeichnung lautet so: re. Vorrede Phaenomenologie erster Theil eigentlich a) Voraus, der Wissenschaft das Bewußtsein auf diesen Standpunkt zu bringen b) Gegenstand für sich fortbestimmen, Logik, hinter dem Bewußtsein c) Eigenthümliche frühere Arbeit, nicht Umarbeiten, – auf die damalige Zeit der Abfassung bezüglich – in Vorrede: das abstracte Absolute – herrschte damals (GW9.448). Hier tritt Hegels Bezeichnung „erster Theil eigentlich“ auf, die impliziert, dass die PHG originär als der erste Teil des Systems gedacht wurde. Dieses Wort „eigentlich“ führt uns zur Annahme, dass Hegel, zusammen mit seiner Andeutung über die Unvollkommenheit der PHG, endlich auf die einführende Funktion der PHG verzichtet haben würde. Hegels Bemerkungen in der Notiz, wie „nicht Umarbeiten“, lässt sich entnehmen, dass er ursprünglich nur auf die Ü berarbeitung der „Vorrede“ zur PHG, nicht auf die des wesentlichen Teils desselben hingezielt hat, weil seiner Auffassung nach die Eigentümlichkeit der PHG nicht angezweifelt werden kann.37 Der dezisivste Grund für ihre eigentümliche Stellung besteht nicht bloß in einigen Denkmotiven, beispielsweise in dem „Kampf auf Leben und Tod“, dem „unglückliche[n] Bewußtsein“, der „schöne[n] Seele“ (W3.149; 163; 484); die gedankliche Relevanz der PHG liegt auch in der Eigenständigkeit ihres Gedankengangs selbst. Die PHG ist zwar nicht mehr ein Teil des enzyklopädischen Systems; denn entweder steht sie außerhalb des Systems, insofern sie sich Hegels ursprünglicher Konzeption nach gestaltet, oder verliert sie ihre systematische Funktion, das Bewusstsein ins System einzuleiten, insofern sie als die Bewusstseinslehre innerhalb des Systems fungiert. Aber die PHG wird trotzdem nicht überflüssig, selbst was den Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Systematik betrifft. Dieser Gedanke Hegels 37 Dazu vgl. Jaeschke (2003), S. 180; Fulda (1965), S. 25-28 u. 160 f.; Pöggeler (1973), S. 351; ders. (1993), S. 173; Bonsiepen (1988), S. LIV. 32 lässt sich an dem obigen Ausdruck „Voraus [...] der Wissenschaft“ ablesen. Dieser Terminus „Voraus“ impliziert hinsichtlich seines Konzepts die folgenden Aspekte: Wenn man seine Blicke auf die Wissenschaftlichkeit der PHG richtet, lässt sich erkennen, dass sie Wissenschaft außerhalb des wissenschaftlichen Systems ist, d. h. dass die PHG als (Vorbereitungs-)Wissenschaft außerhalb des Systems steht. Diese Bezeichnung erhebt den Anspruch, das philosophische System auf der Ebene seiner Dynamik zu erfassen.38 Die PHG trägt für Hegel, wie schon erwähnt, „die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges“ (W3.73) in sich, die Hinführung zum wissenschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen. Diese Notwendigkeit liegt dem Bewusstsein im Rücken, aber sie rechtfertigt die Bewegung des Bewusstseins, das freilich nicht weiß, dass „hinter seinem Rücken“ die Notwendigkeit „vorgeht“ (W3.80); die Vollziehung des Wissens-Begriffs, die sich aus der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ (W3.72) in der PHG ergibt, ist schon durch die Wissenschaft gekennzeichnet, da der Bildungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft in der Notwendigkeit liegt. Wie in der obigen Notiz explizit wird, ist diese Notwendigkeit hinter dem Bewusstsein nichts anderes als die der „Wissenschaft der Logik“, d. h. die der spekulativen Wissenschaft. Mit der linearen oder eindimensionalen Sichtweise ist dieses reziproke Verhältnis zwischen der PHG und dem wissenschaftlichen System (einschließlich der Logik) unüberschaubar; denn Hegel denkt, dass die Logik die PHG als „Voraus“ der Wissenschaft voraussetzt, obwohl die logische Notwendigkeit dem Bewusstsein vorausgeht. Dass die Logik, die aus der PHG resultiert, wiederum dieser vorausgeht, scheint hinsichtlich der formallogischen Kohärenz sinnwidrig zu sein.39 38 Volkmann-Schluck (1963) ist der Ansicht, dass die PHG nach der Konstruktion des enzyklopädischen Systems nicht mehr ins System eingefügt wird, aber trotzdem noch zur Wissenschaft gehört, da sie als ein Stufengang zum wissenschaftlichen Standpunkt ins System eingeordnet wird. Sein Argument beruht auf der These von der „Geschichtlichkeit der Wahrheit“: Hegels Denken entwickelte sich auch nach der Systemkonstruktion ohne Ende, und zwar mit seinen historischen Varianten. S. 9 f.; 15 f. Allein diese These ist zu weit von Hegels Position entfernt, wenn mit dieser „Geschichtlichkeit“ die unabgeschlossene, sozusagen offene Systematik der Wissenschaft gemeint ist, sodass sich die systematische Grundstruktur durch die Entwicklung des Denkens ad infinitum verwandeln muss. 39 Gegen Hegels Jenaer Konzeption werden sogleich Bedenken und Einwände erhoben. Isaac von Sinclair bemängelt an diesem Punkt Hegels Gedanken, indem er an Hegel schreibt, dass Hegels Beweis nichts anderes als ein „Zirkel[schluss]“ sei. Als Begründung seines Urteils gibt er an: Obgleich die PHG die nicht wissenschaftliche, sondern bloße „historische Darstellung“ sei, beruhe trotzdem die Logik auf der PHG, sodass die Logik, die eigentlich der PHG vorhergehen soll, aus der PHG folge. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 395; 417. Hösle (1988) sieht Hegels Philosophie als „eine Höchstform der Transzendentalphilosophie“ an. Dem Ansatz von Düsing und K. Hartmann zustimmend, sowohl dass die P HG die Logik nicht begründen könne, sondern diese nur auf sich selbst beruhe, als auch dass die Logik und die Enzyklopädie die vollkommene Gestalt der Philosophie Hegels seien, konstatiert er, dass „unter begründungstheoretischen Gesichtspunkten die Phänomenologie kein integrierender Teil des Systems sein kann“, sondern sie „nur eine propädeutische Einleitungsfunktion“ hat. Die Begründung der Logik durch die PHG sei schon der Irrtum des Zirkelschlusses, wie Sinclair gesagt hat. Als ein Beleg dafür verweist Hösle auf Hegels dahin gehende Bemerkungen in der Enzyklopädie, dass der wissenschaftliche Standpunkt die gesamte Entwicklung der Bewusstseinsgestalten 33 Um diese Problematik zu lösen, ist es unabdingbar, diese lineare Denkweise zu überwinden. Dass die Logik die PHG voraussetzt und zugleich dieser vorausgeht oder dass die PHG durch den Ausdruck „Voraus“ des wissenschaftlichen Systems (inklusive der Logik) ausgezeichnet wird und zugleich schon zur Wissenschaft wird (weil die PHG in der logischen Notwendigkeit liegt), ist gar nicht widersinnig. Die Notwendigkeit, durch die sich das Bewusstsein bis zum Begriff der Wissenschaft entwickelt, kann nämlich durch die vollständige Darstellung selbst über den Entwicklungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft aufgezeigt werden. Dieser Entfaltungsgang des Bewusstseins wird nicht bloß auf den formellen (wie epistemologischen) Vollzug des gegenstandsbezogenen Bewusstseins beschränkt; die PHG handelt vielmehr von dem ganzen Vollzug des sowohl erkennenden als auch handelnden Bewusstseins. Ü ber diesen Punkt schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie wie folgt: In meiner Phänomenologie des Geistes […] ist der Gang genommen, von der ersten, einfachsten Erscheinung des Geistes, dem unmittelbaren Bewußtsein, anzufangen und die Dialektik desselben bis zum Standpunkte der philosophischen Wissenschaft zu entwickeln, dessen Notwendigkeit durch diesen Fortgang aufgezeigt wird. Es konnte hierfür aber nicht beim Formellen des bloßen Bewußtseins stehengeblieben werden; denn der Standpunkt des philosophischen Wissens ist zugleich in sich der gehaltvollste und konkreteste; somit als Resultat hervorgehend, setzte er auch die konkreten Gestalten des Bewußtseins wie z. B. der Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion voraus. Die Entwicklung des Gehalts, der Gegenstände eigentümlicher Teile der philosophischen Wissenschaft fällt daher zugleich in jene zunächst nur auf das Formelle beschränkt scheinende Entwicklung des Bewußtseins, hinter dessen Rücken jene Entwicklung sozusagen vorgehen muß, insofern sich der Inhalt als das Ansich zum Bewußtsein verhält (W8.91 f.). Diese Aussage ist bemerkenswert, weil Hegel hier feststellt, dass die konkreten Bewusstseinsgestalten eben den formellen vorhergehen, demnach der Gegenstand der Erkenntnis (der dem Bewusstsein als „Ansich“ erscheint) aus jenen konkreten Teilen der Philosophie resultiert. Der Fortgang des Bewusstseins zur Wissenschaft soll nicht allein die voraussetzt. Diese Voraussetzung bleibe „nur in einem historisch-psychologischen“ Rahmen, denn die Emporhebung des Bewusstseins zum absoluten Begriff des Wissens geschehe dadurch, dass die Zufälligkeit bzw. die Unvollständigkeit der Bewusstseinsformen auf der historisch-psychologischen Ebene, die sich aus dem entscheidenden Defizit des unwahren Bewusstseins ergibt, überwunden wird. Aus diesem Grunde diagnostiziert Hösle, dass diese Voraussetzung unhaltbar sei und im Unterschied dazu die wahre Voraussetzung nur „in einem geltungstheoretischen Sinn“ aufzunehmen sei. S. 12-15; 58 f. 34 Bildung des „Formellen des bloßen Bewußtseins“, d. h. nicht nur den epistemologischen Prozess, abdecken;40 er muss ebenso sehr in „konkreten Gestalten des Bewußtseins“ oder in realen „Gestalten einer Welt“ (W3.326) geltend gemacht werden; dadurch setzt die PHG nicht nur den erkenntnistheoretischen Vollzug, sondern auch die Bereiche der praktischen Philosophie, wie „Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion“, voraus. Hegels Feststellung, dass diese konkreten Geltungsbereiche des in die Praxis umsetzenden Bewusstseins, wie die „Moral, Sittlichkeit, Kunst, Religion“, gewissermaßen dem Entfaltungsgang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt angehören, gibt uns eine neue Deutungsweise der PHG; denn man muss denken, dass in ihr auch der reale Wirkungskreis des Bewusstseins als der Gegenstand der Sozial- und Geschichtsphilosophie spezifisch thematisiert worden ist. Während die „Phänomenologie des Geistes. Das Bewußtsein“ in der Enzyklopädie, genauer innerhalb des subjektiven Geistes, sich nur auf eine theoretische oder epistemologische Sphäre des Bewusstseins beschränkt, bezieht die PHG sowohl diese Sphäre als auch den praktisch-sozialphilosophischen Rahmen mit ein, sodass jene Verschränkung den wesentlichen Gedankengang der PHG nicht dekomponiert; dass sich die PHG als Einleitung ins System nicht auf die formellen Gestalten des erkennenden Bewusstseins beschränkt, sichert vielmehr ihre Wissenschaftlichkeit. Die PHG ist also gar nicht überflüssig und sogar ihre systematische Funktion wird nicht völlig wirkungslos, weil der Bildungsprozess des Bewusstseins in der PHG zumindest unter theoretischen oder praktischen Blickrichtungen seine eigene Stelle einnimmt. In diesem Zusammenhang muss man sorgfältig darüber nachdenken, inwiefern die PHG als eine wissenschaftliche Hinführung zum enzyklopädischen System fungiert. Um auf diesen Punkt einzugehen, richten wir unser Augenmerk auf Hegels Ausführungen anhand der Logik. Hier zeigt Hegel einerseits auf, dass die Wissenschaftlichkeit der PHG im Bezug auf die Logik eine affirmative Funktion hat, indem er über den „Weg“ des Bewusstseins zum absoluten Begriff des Wissens Folgendes schreibt: Dieser Weg geht durch alle Formen des Verhältnisses des Bewußtseins zum Objekte durch und hat den Begriff der Wissenschaft zu seinem Resultate. Dieser Begriff bedarf also (abgesehen davon, daß er innerhalb der Logik selbst hervorgeht) hier [d. h. in der Logik] keiner Rechtfertigung, weil er sie daselbst erhalten hat; und er ist keiner anderen Rechtfertigung fähig als nur dieser 40 Dazu vgl. Fulda (1965), S. 115. 35 Hervorbringung desselben durch das Bewußtsein, dem sich seine eigenen Gestalten alle in denselben als in die Wahrheit auflösen (W5.42). Hier sind insbesondere drei Punkte bedeutsam: 1) Die spekulative Philosophie (unter Anlehnung an das spekulative oder begreifende Wissen) (W3.554; 582) bedarf zwar keiner besonderen Rechtfertigung, weil der absolute Begriff der philosophischen Wissenschaft voraussetzungslos „innerhalb der Logik selbst“ abgehandelt werden kann; aber er ist das „Resultat“ des Bildungsgangs des Bewusstseins. 2) Andererseits aber liegt der Grund für die Voraussetzungslosigkeit der Logik darin, dass der Wissenschaftsbegriff diese Rechtfertigung „daselbst“, i. e. in der PHG, schon erhalten hat. 3) Nichts anderes als das Bewusstsein bringt allerdings den Begriff hervor; die Reihe der Bewusstseinsgestalten wird durch seinen Vollzug „in die Wahrheit“ emporgehoben, weil das Bewusstsein selbst im Wesentlichen wissenschaftsfähig ist. Allein Hegel zeigt zugleich eindeutig auf, dass die Logik als der absolute Anfang des Systems die obige Voraussetzungslosigkeit hat, indem er die Voraussetzungslosigkeit der Logik klarmacht;41 er betont nämlich neben der Funktion der PHG als der Voraussetzung auch die „Notwendigkeit, mit dieser Wissenschaft [der Logik] wieder einmal von vorne [also ohne Voraussetzung] anzufangen“ (W5.16). Soll aber keine Voraussetzung gemacht, der Anfang selbst unmittelbar genommen werden, so bestimmt er sich nur dadurch, daß es der Anfang der Logik, des Denkens für sich, sein soll. Nur der Entschluß, den man auch für eine Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden […]; er [= der Anfang] darf so nichts voraussetzen (W5.68 f.). Hier gibt es einen Ausdruck, der unsere Aufmerksamkeit erregt, also den „Entschluß“, der sich auch in der Heidelberger Enzyklopädie als „Entschluß, rein denken zu wollen“ (GW13.35), darstellt; es sei die Angelegenheit des Entschlusses, ohne Voraussetzung mit dem reinen Denken anzufangen, obgleich dieser Entscheid sogar als „eine Willkür“ angesehen werden könnte. Dieser „Entschluß“ beinhaltet die Unternehmung des Subjekts, mit Ü berlegung und Nachdenken eine Option aus den anderen auszuwählen. 41 Unter Berufung auf Hegels Bemerkungen behauptet z. B. Vos (1983) die Beschränktheit der PHG, und zwar vorausgesetzt, dass aus ihrer Darstellung nicht ein Beweis des begreifenden Wissens stattfindet. S. 32 ff. 36 Daher muss man diese Frage stellen: Was das Subjekt denn ausgewählt hat, wenn es sich entschlossen hat, „rein denken zu wollen“? Der Grundzug der Jenaer Systemkonzeption weist schon darauf hin, was Hegels Aufzeichnung „Voraus“ der Wissenschaft (GW9.448) anzeigt. Es ist wohl unleugbar, dass sich die Logik (als die Fundamentaldoktrin der philosophischen Wissenschaft) oder die Enzyklopädie (als das ausgeführte System der philosophischen Wissenschaft) auf sich selbst gründet; aber auch die PHG hat im Verhältnis zum System einen eigenen Grundcharakter. Die endgültige Begründung der Wissenschaft ist selbstverständlich nur innerhalb der Logik zu behandeln, indem man mit der voraussetzungslosen Logik anfängt; dennoch deutet diese Behauptung nicht gerade an, dass es keinen anderen Weg zur Begründung der Wissenschaft als jene Letztbegründung innerhalb der Logik gebe. Die PHG macht zwar insoweit nicht mehr den Anfang des Systems aus, als sie außerhalb des Systems steht. Aber die Darstellung in der PHG ist im Rahmen der bereits erwähnten „allgemeinen Verständlichkeit“ (W3.19) sowohl die Ausführung der logischen Notwendigkeit als auch die Rechtfertigung derselben; hierdurch wird die Logik begreiflich, lehr- und lernbar, damit zugänglich für jedes Bewusstsein. Die Wissenschaftlichkeit der PHG bedeutet, dass der absolute Begriff der Wissenschaft ausführbar und rechtfertigbar sein soll, sodass das philosophische Subjekt von der Erhebung zum Standpunkt der Wissenschaft überzeugt ist. Das philosophische Bewusstsein hat infolgedessen das absolute „Recht“, von der Wissenschaft die „Leiter“ zum wahren Standpunkt der Wissenschaft zu fordern (W3.29). Die PHG geht deswegen vom Standpunkt des (mit philosophischen Ü berlegungen beginnenden) Subjekts aus der Logik vorher, weil sie das „Voraus“ der Wissenschaft ist. Die PHG steht nun außerhalb des wissenschaftlichen Systems, sie ist trotzdem als eine Wissenschaft in der Lage, auf andere Weise (als bei der Enzyklopädie) den Begriff der Wissenschaft zu rechtfertigen. Ergo bietet sich sie – mit Fuldas Formulierungen – „als Rechtfertigung der Wissenschaft gegenüber dem Bewußtsein“ 42 dar. Diese Begründung 42 Fulda (1965), S. 12; 160. Er vertritt insbesondere die Stellungnahme: Nach der Konstruktion des abgeschlossenen Systems sei die PHG nicht mehr als der erste Teil des Systems, dennoch ebenso nicht bloß als die Lehre des Formellen des Bewusstseins (als Systemglied) aufzufassen, sondern bekomme die eigentümliche Stellung eines „Voraus“ der Wissenschaft. Die Einleitungsfunktion sei für die Enzyklopädie noch notwendig, denn das Subjekt habe das Recht, die Einleitung in die Wissenschaft zu verlangen. Um den Anspruch des Bewusstseins nachzukommen, „muss“ das absolute Wissen also „sich eine systemexterne Beglaubigung verschafften.“ S. 1-12; 110-124; 160 f.; 297 ff. Sein Argument ist mit der Nötigung der geschichtsbezogenen Betrachtung der PHG eng verwoben, die im nächsten Abschnitt eingehend thematisiert wird. Was die Thematik „eine systemexterne Beglaubigung“ angeht, muss man die Position von Puntel (1973) beachten. Puntel will, von der These Fuldas ausgehend, trotzdem über den Gedanken Fuldas hinausgehen. Puntel behauptet, dass die PHG nicht bloß den systemexternen Charakter, sondern ein anderes System Hegels ausmache. Puntel ist der Ansicht, dass es drei mögliche Darstellungen des Systems in Hegels Philosophie gebe, von denen eine die Phänomenologie sei. S. 308-346. Aber das Argument von Puntel ist m. E. unplausibel; 37 geschieht gegenüber dem Subjekt; sie geschieht zwar außerhalb des Systems im engeren Sinne, aber in Bezug auf das Subjekt oder vielmehr zu Gunsten desselben. Hegel begründet explizit nur das eine System. 38 3. Die Deutungsweisen der Phänomenologie des Geistes Die Frage, unter welchem Gesichtspunkt man sich mit der PHG beschäftigen solle, gehört zu den meistdiskutierten Themen, was die Hegel-Studien anbelangt. Es gibt zu viele PHGInterpretationen, 43 als dass man sie leicht unter eine bestimmte Zahl von Kategorien einordnen könnte. Diese Arbeit intendiert gleichwohl, die bisherigen Interpretationsweisen der PHG in die zwei Richtungen aufzuteilen: in eine werk-transzendente Herangehensweise und in eine werk-immanente. Als die werk-transzendente Richtung, dem Verhältnis der PHG zu den außerhalb derselben liegenden Umständen Beachtung zu schenken, ist zuerst die Intention oder Absicht des Autors zu beachten, die insbesondere aus Hegels Selbstbewertung des Werkes 44 herauszulesen ist. Die PHG wird zweitens unter dem eigentlichen Aspekt des Lesers, d. h. jeweils aus seiner bestimmten Ansicht, analysiert. 45 Diese perspektivische Betrachtungsweise ermöglicht uns zwar, Hegels Philosophie reichhaltig zu verstehen; sie soll dennoch durch eine exakte Textanalyse ergänzt werden, damit man sich der eventuellen willkürlichen (sogar parteiischen) Interpretation entledigen kann. Es ist drittens von den werkgeschichtlichen Tendenzen zu sprechen, durch die man das Werk unter Berufung auf seine Entstehungs-, Entwicklungs- oder Wirkungsgeschichte beurteilt. Dazu trägt vor allem die philologisch-historische Forschung 46 bei, die darauf hinzielt, uns zu zeigen, welche äußeren Umstände die Entwicklung des hegelschen Gedankens bedingt haben. Mit dieser positivistischen Betrachtungsweise wird bezweckt, uns die wissenschaftliche Vorurteilsfreiheit zu garantieren, aber das kann nur dann zuträglich sein, wenn man die Reihe der umfangreichen Materialien nicht einfach als die bloße Historie betrachtet, die als der bloß vergangene Sachverhalt nicht mit der eigenen Einsicht des Autors verknüpft wird. 43 Zu den verschiedenen Interpretationsweisen sind m. E. nachfolgende Bemühungen besonders zweckdienlich: Puntel (1973), S. 267-271; W. Marx (1981), S. 11-13; Becker (1971), S. 7-18; Weckwerth (2000), S. 103-127. 44 Zu Hegels eigenem Jenaer Systemkonzept vgl. Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 132, 134 u. 161; Rosenkranz (1844), S. 202 u. 214. Zu seinem endgültigen Jenaer Konzept vgl. W3, S. 593; W5, S. 18, 35 u. 42 f. Zu seinem implizierten Bekenntnis über die Unvollkommenheit des Werkes vgl. Briefe, Bd. 1, S. 157 ff.; GW9, S. 448. Zu seiner Umdeutung des Werkes vgl. GW13, S. 34; W8, S. 91 f.; W5, S. 18. 45 Für diese Tendenz sind die lebensphilosophisch-historistischen (bei Dilthey), die sozialphilosophischanthropologischen (bei K. Marx) und die phänomenologisch-ontologischen Bemühungen (bei Heidegger) bezeichnend. Die eigentlichen Textanalysen dieser Interpreten haben sich auf die späteren Textdeutungen ausgewirkt. 46 Als Beispiele dafür kann man Rosenkranz (1844), Haym (1857) usw. anführen, aber besonders ist Haering (1934) bezeichnend, der einen großen Einfluss auf die intensive Hegel-Forschung in den 1960er Jahren von Kimmerle (1967; 1969), Pöggeler (1973; 1993), Fulda (1965; 1973) usw. ausübt. 39 Die werk-immanente Haltung besteht darin, die Bedeutung des Textes möglichst so gut, wie er da steht, herauszulesen, indem man sich so genau wie möglich daran hält. Wenn diese Richtung nur ein für kritiklos-buchstäbliches Hinnehmen der Bemerkungen Hegels gehalten wird, ist die absolute Immanenztheorie unhaltbar; denn es gibt nirgends eine völlig vorurteilsfreie, unvoreingenommene Position und der unbefangene Leser könnte paradoxerweise in einer unbegründeten Fiktion befangen sein.47 Daher muss man statt der obigen – jeweils einseitigen – Deutungsweisen seine Aufmerksamkeit auf sonstige stichhaltigere richten. Dafür sind namentlich die logische und gleichermaßen die geschichtliche Untersuchung kennzeichnend; die meisten aktuellen Haltungen beruhen m. E. überhaupt auf einer dieser beiden Herangehensweisen. Die logische Interpretation der PHG beginnt mit dem Ansatz, dass eine grundlegende Logizität den Werdegang zum Begriff der Wissenschaft begründet, sodass man den notwendigen Ü bergang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt begrifflich erfassen kann. Diese Fundierung setzt wiederum das entsprechende Verhältnis der logischen Bestimmungen zum Entwicklungsgang des Bewusstseins voraus, und zwar die Gleichursprünglichkeit48 des enzyklopädischen Systems und der PHG im Hinblick auf die immanente Logizität. Weil diese Richtung unter Bezugnahme der PHG auf das System gedacht wird, kann man sie als die logisch-systematische Untersuchung bezeichnen, die nach einigen Kriterien weiter ausdifferenziert werden muss. Um den systematischen Zusammenhang zwischen der PHG und der Logik zu beweisen, ist in der Tat die immanente Gemeinsamkeit von beiden vollständig und genau aufzuzeigen. Als Versuche, die logische Grundlage für die PHG zu suchen, wird die durch die intensive philologisch-logische Deutung vorgebrachte Logizität angenommen. Es gibt erstens eine Behauptung, dass die Entwicklung des Bewusstseins bloß als „Konkretion logischer Kategorien“ 49 anhand der Logik anzusehen sei. Aber diese streng logisch fundierte Vorstellung kann entgegen der ursprünglichen Absicht direkt die Eigentümlichkeit der PHG 47 Diese werk-immanente Richtung basiert im Grunde auf der hermeneutischen Methode Gadamers, der die bisherigen Fehlinterpretationen berichtigen will, indem er anhand der präzisen Lektüre dessen, was Hegel ursprünglich in seinen Texten ausdrücken wollte, seine Gedankengänge so genau wie möglich nachvollzieht. Aus diesem Grunde bezweckt Gadamer, „Hegel buchstabieren zu lernen“. Aber sogar diese Buchstabierung bedeutet kein blindes Hinnehmen. Gadamer zielt mit dem „Nachvollzug“ des hegelschen spekulativen Denkens darauf ab, z. B. „das griechische Substrat im Denken Hegels“ ausfindig zu machen. Gadamer (1971), S. 5 f. Zur Kritik an einer absoluten Immanenztheorie vgl. Puntel (1973), S. 268. 48 Bezüglich dieser Thematik ist bes. ein Vergleich Pöggelers (1973) tauglich, dass „Phänomenologie und Logik so etwas wie eine ‚Zwiesel‘ sind – ein Baum mit zwei Stämmen, die aus einer Wurzel und aus einem Grundstamm erwachsen“. S. 359. 49 Heinrichs (1974), S. XI-XIII. 40 selbst als eines eigenständigen Werkes beschädigen.50 Insofern die Logik werkgeschichtlich gesehen der PHG nachfolgt, halten einige Forscher überdies dieses Unternehmen für einen Zirkelbeweis, i. e. für einen typischen Beweisfehler, das zu beweisende Resultat vorauszusetzen. Zweitens kann man denken, dass Hegel nicht der Logik, sondern irgendeinem der PHG chronologisch vorhergehenden (nämlich unter seinen Jenaer Systemkonzeptionen) Fragment die logische Struktur der PHG entnehme. Die Position, in der man die Skizze als den Entwurf der Darstellung interpretiert, resultiert außerdem bloß unter Anlehnung an die Probabilität aus dem Vorhaben, Hegels Systemkonzept fruchtbar abzuhandeln. In diesem Zusammenhang wird die chronologisch der PHG vorausgehende, zumal eine knappe über Skizze die „speculative Philosophie“ „Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/6)“ bezeichnet. 51 aus dem Obwohl diese Annahme jedoch das tatsächliche Konzept Hegels wiedergäbe, ist diese Logik-Skizze wörtlich die bloße Umrisszeichnung für die immanente Struktur der PHG; deshalb kann niemand nur mit dieser Skizze ein konkretes Entsprechungsverhältnis zwischen beiden leicht erfassen. Diese Annahme sollte also nicht zu stark unterstrichen werden. Im Gegensatz dazu gibt es eine andere Unternehmung, die philologische Kontextualisierung mehr oder weniger einzuschränken. Zunächst wird die Ü berlegung, die der PHG zugrunde liegende Logizität ausschließlich innerhalb dieses Werkes zu suchen, angestellt. 52 Dieser immanent-logischen Untersuchung gemäß kann man mit den Darstellungskategorien, die von Hegel als Komponenten der dialektischen Methodik innerhalb der PHG formuliert werden, – etwa das Ansich-, Fürsich- und Aunundfürsichsein, das abstrakte Wesen, das Anderswerden, das bei sich Sein in seinem Anderen u. a. – dem Gedankengang der PHG konsequent folgen. Es gibt auch einen anderen Versuch, um aus dem philologischen Rekurs loszukommen, aber die PHG insgesamt einheitlich zu verstehen. Diese Einstellung in der vorliegenden Arbeit, in der die geschichtliche Thematisierung genannt wird, resultiert aus der Auffassung, dass es zum Ü bergang des Bewusstseins zur Wissenschaft grundsätzlich eines zeitlichen 50 Zur Kritik der starken logischen Deutung vgl. Weckwerth (2000), S. 110; 127. Diese Skizze lautet „absolutes Seyn, das sich andres, (Verhältniß wird) Leben und Erkennen – und wissendes Wissen, Geist, Wissen des Geistes von sich“. GW8, S. 286. An dieser Annahme wurde zwar Kritik unter Berufung auf andere Hypothesen geübt. Fulda (1965), S. 140-145; Heinrichs (1974), S. XIII. Aber jene Annahme (ursprünglich Pöggelers) wurde nach und nach von anderen Interpreten umfassend angenommen. Pöggeler (1973), S. 362 ff.; Fulda (1973), S. 424; Trede (1975), S. 195-209; Düsing (1976), S. 156-159; Bonsiepen (1988), S. XXVI-XXIX; Hösle (1988), S. 121; Jaeschke (2003), S. 178. Zu den Ausführungen über das Entsprechungsverhältnis der Skizze zur P HG vgl. Pöggeler (1988), S. 20-30; Schäfer (2001), S. 164-176. 52 Dazu vgl. Scheier (1986), S. XIf. 41 51 Vorgangs bedarf. Diese Kontextualisierung ist ebenfalls ein konstanter Faktor für die PHGDeutung, sofern dieses Werk den Bildungsprozess des Bewusstseins darstellt.53 Die geschichtliche Richtung ist nach dem grundlegenden Merkmal weiterhin auszudifferenzieren, das mit der oben (in dem Abschnitt „A. 1. Die Bewertungen der Phänomenologie des Geistes) erwähnten Thematik „Palimpsest“ gemeint wird. Diese These impliziert, dass die PHG nicht kongruent aufgebaut worden sei, sondern zwei heterogene Grundmotive durcheinander gebracht hätte; die zwei Faktoren, nach Haym die „Psychologie“ und die „Geschichte“,54 sind in ein Werk geflochten worden. Die beiden sind als Bestandteile der geschichtlichen Strukturierung zu betrachten: der erste als die Geschichte auf der epistemologischen Ebene und der zweite als die auf der sozial- und geschichtsphilosophischen Ebene.55 Nach der Weise, auf welche Ebene man eine besondere Akzentuierung legt, sind die geschichtlichen Untersuchungen in zwei Teile aufzugliedern, die auch mit den obigen perspektivischen Bemühungen eng verwoben sind. Erstens: Es handelt sich um die Kontextualisierung des neuzeitlichen idealistischen Vollzugs (von Descartes bis zum deutschen Idealismus), insbesondere unter Berufung auf Diltheys 53 Selbst bei der logischen Interpretation wird wohl das geschichtliche Moment in Erwägung gezogen. Die PHG zeigt dem Bewusstsein auf, wie die Wahrheit der spekulativen Logik endlich für das Subjekt zugänglich wird, und deshalb kann sich die Logizität innerhalb der PHG gleichsam als die Geschichte der logischen Bestimmungen gestalten. Pöggeler (1993) thematisiert im Speziellen unter dem philologisch-logischen Blickwinkel die Geschichtlichkeit. Was die Geschichtsbezogenheit bei der logischen Interpretation betrifft, gibt Pöggeler vor: „Die Phänomenologie stellt das System der spekulativen Bestimmungen als Geschichte dar. Sie setzt die spekulativen Bestimmungen als Gegenstände der Gestalten des Bewußtseins und ist so eine Entäußerung der Logik aus der Form des reinen Begriffs in die Geschichte der Erfahrungen, die das Bewußtsein mit seinen Gegenständen macht.“ S. 354. Zu dem Zusammenhang zwischen der PHG, dem System und der Geschichtlichkeit vgl. Weisser-Lohmann (1998) S. 183-189. 54 Haym (1857), S. 238-243. 55 Die epistemologische Tendenz beruht m. E. auf der geistesgeschichtlich fundierten Perspektive (ursprünglich von Dilthey) und die sozialphilosophische ergibt sich aus der Position, in der man (von K. Marx beeinflusst) hauptsächlich die reale Weltgeschichte behandelt. Neben Kojève (1975), Lukács (1967) und Hyppolite (1946) interpretieren auch Beaufort (1983), Dellavalle (1998) u. a. den ganzen Entfaltungsgang des Bewusstseins direkt als die Weltgeschichte. Jaeschke (1996) beachtet die Geschichtlichkeit des Geistes, um die systematische Funktion der PHG zu ergründen. 42 geistesgeschichtliche Position.56 Auch die sog. phänomenologische Position Heideggers57 gehört zu diesen Betrachtungsweisen. Zweitens: Der Gedankengang der PHG wird als der Prozess verstanden, der die Zielsetzung der Menschheit in der konkreten sozial-kulturellen Welt realisiert. Diese geschichts- und sozialphilosophischen Bemühungen werden hauptsächlich vom Marxismus überhaupt motiviert.58 56 Diltheys Position besteht in der Einsicht, dass Hegels Philosophie für die Theorie des Begriffes des „Lebens“ oder dessen geschichtliche Auffassung bezeichnend sei. Für Dilthey sei Hegels Denken seit seiner Jugendzeit eng auf alle Gesamtgestaltungen des Lebens bezogen. Dilthey, Werke, Bd. 4. Die Eigentümlichkeit der hegelschen Philosophie liege nach Dilthey eben in der „Einführung des begrifflichen Denkens in die Geschichte“, sodass Hegel zur geschichtlichen Kontextualisierung des neuzeitlichen Bewusstseins oder zur Transzendentalphilosophie beitrage. Diltheys Interpretation zufolge bezeichne sich der Entwicklungsgang des Bewusstseins als derjenige Prozess, der den Dualismus der Transzendentalphilosophie überwindet. Dilthey (1961), S. 131 f. Den Hauptgegenstand der PHG bezeichnen andere Interpreten als „die transzendentale Geschichte des Bewußtseins“ oder „die idealistische Geschichte des Selbstbewußtseins“. Pöggeler (1973), S. 375; Düsing (1993), S. 107. Von dem Ansatz Diltheys ausgehend haben seine Schüler sich mit dem Thema der philosophischen Geschichte in der deutschen klassischen Neuzeit beschäftigt. Dazu vgl. N. Hartmann (1960); Kroner (1961). 57 Heidegger betont unter Berufung auf diese Wahrheitsfähigkeit der „Darstellung des erscheinenden Wissens“, dass sich dieses Wissen von dem natürlichen Bewusstsein absetzen müsse. Diese Darstellung bezeichne sich als die Darstellung des abendländischen philosophischen Denkens. Dazu vgl. Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“, in: Werke, Bd. 5, S. 115-208. Zu den eingehenden Bemerkungen in diesem Aufsatz zum Zusammenhang der Grundidee der PHG mit dem neuzeitlichen philosophischen Prinzip „cogito“ bzw. dem „transzendentalen Subjekt“ vgl. W. Marx (1981), S. 14-20; 34-41; 59-66. Zur auf der Grundlage der Phänomenologie Heideggers erbrachten ontologisch-seinsgeschichtlichen Untersuchung vgl. Fink (1977). 58 Der junge Marx versteht den ganzen Gedankengang der PHG als eine Entstehungsgeschichte der Menschheit. Ihm zufolge halte Hegel die Geschichte des Menschen für den „Prozeß“, durch den der Mensch sich selbst erzeugt; der Mensch überwinde kraft seiner „Arbeit“ als seines „Selbsterzeugungsakt[s]“ die Grundbedingung seiner Existenz, d. h. den Zustand der „Entäußerung“. An Hegels Darstellungen liest K. Marx den anthropologischen Drang und die Methodik ab, die Entstehungsgeschichte der Menschheit darzustellen, jedoch kritisiert er Hegels idealistische Einstellung überhaupt; K. Marx weist darauf hin, dass sich Hegels Darstellung selbst „in entfremdeter Weise“ vollziehe. Das strukturelle Modell der realgenetischen Durchführung in der PHG formuliert K. Marx als die folgende „Entstehungsgeschichte“ der Menschheit: Durch die „Arbeit“ geschieht die „Vergegenständlichung“, die jedoch zugleich die „Selbstentfremdung“ des Menschen verursacht, aber durch die Weiterbildung nimmt sich das Subjekt sein Wesen zurück; daraus ergibt sich die „Selbstgewinnung“ desselben. Für K. Marx erweise sich der gesamte Vollzug des Bewusstseins trotz der hegelschen idealistischen Tendenz als der geschichtliche Hergang des menschlichen Wesens. Marx u. Engels, Werke Erg.-Bd. 1, S. 568-588. Die These der geschichtlich-gesellschaftlichen Objektivierung des menschlichen Gattungswesens entwickelt sich durch seine Nachfolger weiter; dadurch bilden sich „Arbeit“, „Entäußerung“, „Entfremdung“, „Herrschaft und Knechtschaft“, „Anerkennung“ etc. sowohl als Schlüsselbegriffe zur Auffassung der wirklichen Weltgeschichte als auch als der Ansatzpunkt zum Verständnis der praktischen Philosophie Hegels heraus. Dafür stellen Lukács und Kojève die folgenden außerordentlich sinnvollen Thesen auf: Lukács betrachtet die „Entäußerung“ als den „philosophisch[en] Zentralbegriff“ der P HG. Kojève, der sich auch um die Philosophie Heideggers bzw. den Existenzialismus bemüht, betont im Rahmen des anthropologischen Menschenverständnisses die Begierde nach der Anerkennung; damit geht er mit großer Aufmerksamkeit auf das Kapitel „Selbstbewußtsein“ ein. Lukács (1967), S. 552-693; Kojève (1975), S. 20-89; 134-216. 43 <Die Richtungen der PHG-Interpretation> 1. werk-transzendent 1.1 intentionalistisch nach der eigenen Absicht des Autors 1.2 perspektivisch aus der Sichtweise des Lesers 1.3 philologisch-historisch die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes 2. werk-immanent 2.1 absolut immanent die Buchstabierung der Darlegungen des Autors 2.2 logisch 2.2.1 philologisch-logisch in Bezug auf die Logik oder das wissenschaftliche System 2.2.2 immanent-logisch die logische Struktur innerhalb des Werkes 2.3 geschichtlich 2.3.1 epistemologisch: theoretisch 2.3.2 sozial- und geschichtsphilosophisch: praktisch die Geschichte des philosophischen Gedankens die Geschichte der konkreten Kultur oder Welt Die vorliegende Arbeit verwendet – sowohl ohne den intentionalistischen Ü berblick (1.1) zu verlassen als auch in Auseinandersetzung mit der perspektivischen Richtung (1.2) – hauptsächlich die geschichtsbezogenen Betrachtungsweisen (2.3). Damit der Sittlichkeitsbegriff als das Hauptthema in dieser Arbeit dennoch eingehend behandelt wird, muss es sich um einen Versuch handeln, insbesondere auf den zweiten geschichtlichen Faktor (2.3.2) einzugehen. Diese revidierte geschichtliche Betrachtung ermöglicht m. E. uns, in der Darstellung der PHG einen einheitlichen Faden herauszufinden, indem man den Begriff der Geschichtlichkeit in der PHG, d. i. die Bildungsgeschichte des Geistes, auf die ganze Architektonik der PHG anwendet. Ü berdies ist herauszuheben, dass ihre konkrete Lektüre durch die Ü berlegung der im Werk selbst formulierten Darstellungskategorien (2.2.2) ergiebig ist. 44 B. Die strukturelle Einheitlichkeit der Phänomenologie des Geistes 1. Die Problematik im Bezug auf die Strukturierung der Phänomenologie des Geistes Es ist bis heute umstritten, ob man die PHG als ein einheitlich strukturiertes Werk einschätzen kann. Diese Problemstellung ist auch für die Deutungsweise der PHG in dieser Arbeit, die hauptsächlich in der geschichtsbezogenen Lektüre liegt, signifikant; denn der Geltungsbereich der geschichtlichen Momente in diesem Werk ist davon abhängig, bis wohin innerhalb der PHG der gedankliche Inhalt im Bezug auf die geschichtliche Thematisierung durchdrungen worden ist, mit anderen Worten, ob er sich auf ihren gesamten Text ausdehnt oder nur auf einige bestimmte Teilstücke beschränkt. Die meisten Beschäftigungen mit der Binnenstruktur der PHG sind auf die Frage bezogen, ob zwei Faktoren (die theoretisch- und die praktisch-philosophische Ebene) miteinander unverträglich sind oder in Gemeinschaft miteinander stehen. Der Verdacht59 hinsichtlich dieser Frage kann im Allgemeinen in diese zwei Richtungen eingeteilt werden: 1) Die PHG scheint als ein (ursprünglich von Haym festgestelltes) „Palimpsest“60, d. h. als ein Werk, in dem zwei heterogene Gedankengänge zur gleichen Zeit sichtbar sind; in Anlehnung an die Annahme, dass in die PHG diese verschiedenen Faktoren ineinander gesetzt werden, meinen einige Interpreten, sie sei gar kein einheitlich strukturiertes Werk. Die Skepsis, was eine einheitliche Komposition der PHG angeht, resultiert also aus nichts anderem als der Diagnose, dass in diesem Werk zwei Hauptfaktoren chaotisch miteinander verschlungen worden seien. 2) Aus (seit Haering61) versuchten Darlegungen lassen sich die nachfolgenden Umstände als Ursache für diese Skepsis beobachten: Hegels unerwartete Umgestaltung der Urform der PHG während ihrer Niederschrift, das daraus entstandene unproportionierte Anwachsen Als ein nachdrückliches Beispiel ist die folgende Aussage anzuführen: „Tatsächlich ist die Phänomenologie des Geistes viel zu umfassend, als daß wir sie systematisch durcharbeiten könnten“. Taylor (1978), S. 194. 60 Haym (1857), S. 238. Zu dieser Thematik vgl. TEIL I, A. 1. in dieser Arbeit: „Die früheren Bewertungen der Phänomenologie des Geistes“. 61 Haering (1934) behauptet, dass Hegels Zeitdruck vor der Abfassung, seine persönliche Notsituation während der Niederschrift, seine nachherige Umdeutung des Werkes usw. als Hauptmaßstäbe der PHG-Lektüre dienen müssen. Durch seine strengen philologisch-werkgeschichtlichen Bemühungen gelangt Haering zu der nachfolgenden Auffassung: Die PHG zeige sich „als Folge eines sehr plötzlichen, unter innerem und äusserem [sic!] Druck gefassten Entschlusses“. Sein Grundgedanke, die P HG sei ein konfundiertes Werk, scheint beweisbar aufgrund des Faktums, dass dieses Werk, ursprünglich als die Einführung zum System gedacht, letztendlich als ein Systemteil umgestaltet wurde. S. 119 f.; 133. 45 59 derselben usw.62 zeigen uns, dass der phänomenologische Ansatz dem wirklichen Vollzug desselben nicht völlig entspricht. Daraus folgt die Behauptung, dass die originelle Konstruierung dieses Werkes sogar wider Hegels Erwartung gegen die andere ausgewechselt worden sei, sodass an einer bestimmten Stelle innerhalb des Werkes die Gedankenlinie gebrochen worden sei, indem die zwei heterogenen Faktoren die PHG durcheinander gebracht hätten. Haerings Nachfolger nehmen im Grunde die These der Bruchstelle innerhalb der PHG seinen Gedanken hin, und zwar vorausgesetzt, dass Hegel ab dem letzten Teil der PHG auf jeden Fall in die andere Phase als in seiner ursprünglichen Strukturierung getreten sei.63 In Entsprechung zu dieser Position wird bei der PHG-Lektüre im Allgemeinen Folgendes vorausgesetzt: Die PHG bestehe aus zwei voneinander isolierten Teilen, d. h. dem ersten Teil als dem hauptsächlich theoretischen Teil und dem zweiten Teil als dem praktischen Teil; der letztere im Besonderen sei, wie Hegel selbst eingestanden hat, die entscheidende Ursache für diese „unselige Verwirrung“, weil in diesem zweiten Teil die „größere Unform“64 zutage trete. Diese zwei Richtungen lassen sich durch den folgenden Nachweis erkennen: Es gibt in einem Werk zwei Titel (die „WISSENSCHAFT DER ERFAHRUNG DES BEWUSSTSEYNS“ und die „WISSENSCHAFT DER PHÄ NOMENOLOGIE DES GEISTES“) 65 und zwei Prologe (die am Anfang der Niederschrift geschriebene „Einleitung“ und die nach der Fertigstellung des Textes schließlich geschriebene „Vorrede“). Dieses Faktum pflegt Hegel-Forschern nach wie vor Schwierigkeiten zu bereiten, denn es 62 Dazu vgl. Nicolin (1967); Pöggeler (1973), S. 330-339; der (1993), S. 182-195; Ottmann (1973), S. 115120; GW9, S. 469-471; Bonsiepen (1988), S. XXI-XXIII; Förster (2008), S. 37 f. 63 Hoffmeister denkt, dass sich im Text „keine einzige offene Bruchstelle feststellen“ lässt; trotzdem plädiert er realiter für die Hypothese Haerings, zumal Hegels ursprünglicher Plan, der sich angeblich in der „Einleitung“ zur PHG ausdrücke, auch für Hoffmeister, wie Haering meint, sei, dass der Weg des Bewusstseins nur bis zum Kapitel „Vernunft“ reichen solle, d. h., dass Hegel, ohne die Kapitel „Geist“ und „Religion“ zu behandeln, von der Vernunft „unmittelbar“ zur Logik übergehen wollte. Insofern sei die P HG von vornherein auf die Ebene des subjektiven Geistes (wie die „Phänomenologie“ im enzyklopädischen System) beschränkt und sie gestalte sich im Vergleich zu dem späten System höchstens nur als die Propädeutik, die als solche noch nicht wissenschaftlich ist. Haering (1934), S. 129 f.; 137 f.; Hoffmeister (1952), S. XXXIV f. Dieser inhaltliche Zusammenhang mit Haering findet sich auch im Argument Pöggelers. Pöggeler stellt zwar dem Gedanken Haerings seine These entgegen, dass der Ansatz zum Ziel der P HG oder – mit Hegels Formulierungen in der „Einleitung“ – der „Punkt“ der „eigentlichen Wissenschaft des Geistes“, wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird (W3.81), (nicht erst im Kapitel „Vernunft“, sondern schon) im Kapitel „Selbstbewußtsein“ erreicht worden sei. Dennoch ist auch er der Ansicht, dass die Urform der PHG während der Niederschrift erheblich modifiziert werde, wobei (weil die Wissenschaft der Geistes-Erscheinung während der Niederschrift seiner „Einleitung“ nicht konzipiert worden sei) Hegel (anders als in seinem ursprünglichen Plan) die dem Kapitel „Selbstbewußtsein“ nachfolgenden Gestalten dem gesamten Werk hinzufügen müsse. W3, S. 80f. Dies bedeutet: „Die Proportionen [dieses Werkes] verschieben sich also ins Monströse“, indem die zweite Hälfte des Buchs entgegen dem anfänglichen Konzept suppliert ist. Pöggeler (1973), S. 333-336, 348350 u. 354f.; ders. (1993), S. 209-214. 64 Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 161 f. 65 Dazu vgl. GW9, S. 3, 51; 444; 469 ff. 46 scheint, dass man eine grundlegende Bruchstelle innerhalb des Werkes finden müsse, an der die zwei Prinzipien endgültig entzweit werden. Allein die PHG ist m. E. nicht einfach als ein doppeldeutiges Werk zu sehen, sondern einheitlich durchkomponiert; in ihrem ganzen Text wird nämlich ein und derselbe Ansatz geltend gemacht. Diese These, dass der ganze Inhalt der PHG von ein und demselben Ansatz durchdrungen sei, negiert gleichwohl nicht die Tatsache, dass dieses Werk in mehrere Teile aufgegliedert werden kann.66 Diese Einteilung der inneren Struktur soll sich trotzdem von der Bruchstelle der Gedankenlinie unterscheiden. Der obige Verdacht, ob die PHG einheitlich organisiert worden ist, kann dadurch überwunden werden, dass man den obigen „Palimpsest“-Charakter des Werkes, um den Gedankengang der PHG einheitlich zu erblicken, unter dem geschichtlichen Blickwinkel wieder betrachtet. Man könnte zwar die PHG als ein „Palimpsest“ ansehen, aber dieser Charakter folgt nicht daraus, dass die zwei Faktoren chaotisch miteinander verflochten worden sind; denn die PHG enthält vielmehr diese Faktoren als ihre Momente, genauer die zwei geschichtlichen Momente, umfassend in sich. Die theoretische und die praktische Ebene sind nämlich im ganzen Entwicklungsgang des Bewusstseins eng verwoben. Der „Palimpsest“-Charakter der PHG tritt also in wahrhafter Bedeutung nur dann heraus, wenn in jeder Stufe des Bewusstseins Hegels Beschäftigungen – mit K. Marx – sowohl mit der Geschichte der Welt-Interpretation als auch mit der Geschichte der Welt-Veränderung 67 miteinander vereinigt integriert werden. Um die strukturelle Einstimmigkeit der PHG zu erfassen, muss man zunächst darauf hinweisen, wie die oben erwähnte Problematik aufgelöst werden kann, also wie zwei Titel und zwei Prologe unter einer Gedankenfolge zusammengefasst werden können. Es wird im Allgemeinen gesagt, dass die Veränderung des Buchtitels (von der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zur Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes) Hegels unerwartete Umdeutung der PHG repräsentiere; die „Einleitung“ betreffe außerdem nur die erste Hälfte des Werkes, während die „Vorrede“ als das Prolog zum System den ganzen Text in Zusammenhang mit dem System bringe. Aber die Haupterkenntnis der vorliegenden Arbeit liegt besonders unter Anlehnung an W. Marx in nachfolgenden Feststellungen: 1) Die PHG ist nur insoweit die „Wissenschaft des Geistes“, 66 Dementsprechend setzt diese Arbeit voraus, dass die PHG eine entscheidende Zäsur insbesondere zwischen dem Kapitel „Vernunft“ und dem Kapitel „Geist“ bilde, sodass sie in zwei Hauptteile plausibel erteilt wird, obgleich sie einheitlich durchkomponiert ist. Dazu vgl. den TEIL I, C. 1. „Vorausblick“. 67 Marx u. Engels, Werke Bd. 3, S. 7. 47 als sie die „Erfahrungswissenschaft des Bewußtseins“ ist (und umgekehrt ebenso), und 2) die „Vorrede“ zur PHG wird als die Einführung sowohl zum wissenschaftlichen System als auch zum Text der PHG selbst, zumal sie das Argument der „Einleitung“ zur PHG nachvollziehbar macht.68 In diesem Zusammenhang lässt sich die Hauptthese in dieser Arbeit, was die Grundidee der PHG betrifft, folgendermaßen ausdrücken: Die PHG ist sowohl die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins als auch die Wissenschaft der Erscheinung des Geistes. Dieser Punkt ist nun dadurch zu erörtern, dass man den Text der PHG, der neben dem Hauptteil auch die zuerst geschriebene „Einleitung“ bzw. die zuletzt geschriebene „Vorrede“ abdeckt, ganzheitlich interpretiert. 68 Dazu vgl. W. Marx (1981), S. 9 ff.; 70; 79 ff. 48 2. Die „Umkehrung des Bewußtseins“ und die „Kraft des Geistes“ Die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins“, die im letzten Absatz der „Einleitung“ zur PHG auftaucht, wird ebenfalls in der „Vorrede“ zur PHG als die „Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht“ (W3.80; 38) dargestellt. Diese Erfahrung betrifft fraglos die Erfahrung des Bewusstseins; aber dieser Terminus gibt uns m. E. einen entscheidenden Beweis dafür, dass die PHG sowohl die Wissenschaft der Phänomenologie des Geistes als auch die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins ist (GW9.51; 444). Wenn das Bewusstsein ohne seine Bemühung um einen wissenschaftlichen Standpunkt nur auf sein Recht pochen würde, so würde die Wissenschaftlichkeit dem Bewusstsein unausweichlich als eine unüberwindbare Schranke gelten. Diese resultiert ursprünglich aus der Selbstbeschränkung der „natürlichen Vorstellung“, dass es „zwischen das Erkennen und das Absolute eine sie [= beide] schlechthin scheidende Grenze falle“ (W3.68). Die Meinung des „natürlichen Bewußtseins“, das annimmt, dass „das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten“ (W3.72; 70) sei, hat zur Folge, dass das Bewusstsein von Anbeginn an immer einen unüberbrückbaren Hiatus ansetzt: den absoluten Abgrund zwischen dem von ihm jeweils erworbenen Wissen und der von ihm ultimativ beabsichtigten Wahrheit. Wenn wir einen Blick auf „die abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit“ in ausführlicher Weise werfen, und zwar „wie sie an dem Bewußtsein vorkommen“ (W3.76), so schreibt Hegel Folgendes: Dieses [natürliche Bewusstsein] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen. Von diesem Sein für ein Anderes unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird ebenso von ihm [= dem Wissen] unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung; die Seite dieses Ansich heißt Wahrheit (W3.76). Insofern das Bewusstsein diesen Abgrund als seine epistemologische Grundbedingung voraussetzt, könnte die PHG laut Hegel permanent nicht dem Bewusstsein eigen sein; das natürliche Bewusstsein schickt sich in einen unvermeidlichen „Schein“ (W3.81) der kompletten Abtrennung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven.69 69 Zur Natürlichkeit des Bewusstseins bei Hegel vgl. besonders W. Marx (1981), S. 22-24. 49 Der „Weg des natürlichen Bewußtseins“ fängt mit der „Gewißheit“ von der jeweils jetzigen Position an (W3.72). Indem jedoch die Einsicht erreicht wird, dass sein momentanes Dafürhalten des Bewusstseins unwahr sei, gerät das Bewusstsein bald in „Zweifel[]“ (W3.72); das natürliche Bewusstsein ist nämlich mit dem Schein, als ob sein Objekt von ihm selbst schlechthin abgetrennt wäre, verbunden. Das Bewusstsein muss aber erweisen, dass sein Vorgang realiter der affirmative Prozess zur Wahrheit ist; aus der Erfahrung des Bewusstseins ergibt sich, dass der Begriff des absoluten Wissens entfaltet wird. Hegels Ausdruck der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ ist nicht einfach auf den „Weg des Zweifels“, sondern vielmehr auf „die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens“ (W3.72) bezogen. Die Erfahrung des Bewusstseins kann laut Hegel nicht einfach als „der Weg des Zweifels“, sondern „eigentlicher als der Weg der Verzweiflung“ (W3.72) angesehen werden; aus der „Darstellung des erscheinenden Wissens“ ergibt sich nämlich die „Verzweiflung an den sogenannten natürlichen Vorstellungen“ (W3.73). Das für Irrtum anfällige Bewusstsein gestaltet, immer wenn sein jeweiliger Wahrheitsanspruch in eine unhaltbare Lage gerät, sein bisheriges Kriterium für das Wahrheitsurteil um, damit es den Wahrheitsgehalt seiner Auffassung prüfen kann. Seine Veränderung des Kriteriums führt dazu, dass es die Nichtigkeit des Gegenstandes selbst erfährt. Dadurch verkehrt sich seine bisherige These ins Gegenteil, aber diese „Umkehrung des Bewußtseins“ (W3.79) bedeutet, dass es seine Position zu der dazu konträren,70 nicht kontradiktorischen verlagert; diesen Punkt formuliert Hegel wie folgt: Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird (W3.78). Diese Erfahrung des Bewusstseins wird als „das ganze System desselben“ (W3.80) verstanden; der Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft fungiert nämlich bereits als die wissenschaftliche Darstellung der ganzen Bewusstseinserfahrung. Diese Bewusstseinserfahrung wird von Hegel auch als „vollständige Erfahrung“ (W3.72) dargestellt. Dazu vgl. die Anm. 13 im TEIL I, A. 2. „Das Verhältnis der Phänomenologie des Geistes zum enzyklopädischen System“. 50 70 Auf das natürliche Bewusstsein macht zwar jeder Moment, in dem es sich seines Gegenstandes bewusst ist, den Eindruck, als ob sein Dafürhalten verloren wäre, ohne dafür etwas Wahres neu zu lernen. Die „vollständige Erfahrung“ des Bewusstseins ist aber nichts anderes als affirmativer Vollzug, mit dem es die „fortschreitende Entwicklung der Wahrheit“ (W3.12) gestaltet. Der Skeptizismus des Bewusstseins ist deshalb auf gar keinen Fall pessimistisch; vielmehr steht jeder Augenblick, in dem es sich zu seinem Gegenstand verhält, ganz und gar in fortschreitender Bewegung. Insofern ist die Erfahrung des Bewusstseins als der „sich vollbringende Skeptizismus“ (W3.72) zu schildern, weil „nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist oder, wie dasselbe auch ausgedrückt wird, was nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges, oder welche Ausdrücke sonst gebraucht werden, vorhanden ist“ (W3.585). Diese Erfahrung ist mitnichten einfach als Gefühl, Ahnung, Glauben usw. zu deuten. Dieser bloß subjektive Vollzug setzt im Grunde den Gegensatz zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand voraus. Gleichwohl realisiert es unwissentlich (nicht „für das Bewußtsein“) unter Anlehnung an die Notwendigkeit der Sache selbst („an sich“ oder „für uns“ – also für die philosophische Wissenschaft) den Begriff der Wissenschaft. Die Erfahrung des Bewusstseins bedarf somit jedes Momentes seiner Erfahrungen. Der Weg des natürlichen Bewusstseins wird insofern „schon Wissenschaft“, als seine Erfahrung potenziell den „Weg zur Wissenschaft“ impliziert, denn aus dem Vollzug des Bewusstseins geht für Hegel „die Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges“ der Bewusstseinsgestalten (W3.80; 73) hervor. Die Notwendigkeit kann nur durch die vollständige Darstellung seiner gesamten Erfahrung aufgezeigt werden. Diese Charakteristika, d. h. die Notwendigkeit und die Vollständigkeit, machen die PHG bereits zu einer Wissenschaft, die von der Erfahrung des Bewusstseins handelt. Das natürliche Bewusstsein muss sich von seinem „Schein“ entfernen, bis es „zu seiner wahren Existenz“ gelangt (W3.80). Hier erreicht es nach Hegel „einen Punkt“, „wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird“ (W3.81). Anschließend macht er eine beachtliche Bemerkung, dass „seine [= des Bewusstseins] Darstellung hiermit mit eben diesem Punkte der eigentlichen Wissenschaft des Geistes zusammenfällt“ (W3.81). Das heißt: Die eigentliche Wissenschaft des Geistes, die sich aus der vollendeten Bewegung des Bewusstseins ergibt, ist nichts anderes als der absolute Begriff der Wissenschaft.71 Welcher Phase der Bewusstseinserfahrung der in der „Einleitung“ zur PHG erwähnte „Punkt“ entspricht, d. h. was die eigentliche Wissenschaft des Geistes impliziert, ist entscheidend dafür, dass man erfasst, was Hegel mit seinem phänomenologischen Unternehmen bezweckt. Was diese Frage betrifft, behauptet Pöggeler (1993), dass dieser „Punkt“ dem Ansatzpunkt des objektiven Geistes entspreche; Pöggelers Behauptung beruht im Grunde auf seiner Annahme, dass die zweite Hälfte der P HG nicht zu Hegels ursprünglicher Konzeption gehört habe. S. 212 ff. 51 71 Mit der „Umkehrung des Bewußtseins“ versucht Hegel die „vollständige Erfahrung“ vonseiten des Bewusstseins zu erweisen, in der vielmehr eine andere Gestalt als seine neue Wahrheit „entspringt“. Diese Dialektik ist für uns durch die vollständige Erfahrung des Bewusstseins zu vollbringen und diese notwendige Kohärenz muss in allen Bewusstseinsgestalten entstehen, wie sie an sich ist. Das natürliche Bewusstsein, das mit dem Schein (als ob sein Objekt von sich selbst abgetrennt worden wäre) nicht entbunden bleibt, sieht die Entstehung des neuen Gegenstands nur, ohne zu wissen, dass der Gegenstand des Bewusstseins das Phänomen desselben ist, „was für uns gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht“ (W3.80). Die Reihe der gegenstandsbezogenen Erfahrungen vonseiten des Bewusstseins impliziert gleichwohl den Weg zur „Realisierung des [Wissens-]Begriffs“ (W3.72); dieser Begriff ist mehr oder minder in seinem einfachen Potenzial verborgen, aber entwickelt sich allmählich, also von sich selbst her (der „Natur der Sache selbst“ gemäß) bis zu seinem Ziel, das seinem Inhalt nach nichts anderes als der Begriff der Wissenschaft ist. Was den Werdegang des natürlichen Bewusstseins zur Wissenschaft anbelangt, ist nicht außer Acht zu lassen, dass die ganze Reihe seiner Erfahrungen nicht einfach als ein Instrument, um zum absoluten Begriff des Wissens hinaufzusteigen, gedacht werden soll; Hegels phänomenologische Darstellung ist nämlich keinesfalls für eine einfache Leiter zum wissenschaftlichen System zu halten. Der Grund dafür ist Folgendes: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen (W3.24). Der Begriff des absoluten Wissens manifestiert sich nämlich durch die vollständige Erfahrung des Bewusstseins als das „Ganze“, das nämlich „aus der Sukzession wie aus seiner Ausdehnung in sich zurückgegangen“ ist (W3.19). Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden; der Zweck für sich ist Diese Wissenschaft des Geistes ist aber nicht bloß als die Philosophie des objektiven Geistes zu deuten. Die PHG behandelt die Gegenstandserkenntnis vonseiten des Bewusstseins, aber zu seinem Gegenstand gehört auch das geistige Prinzip für die kulturelle Welt der Menschheit (die Moralität, die Sittlichkeit, die Kunst und die Religion); die PHG deckt sich nämlich für das wissende bzw. handelnde Subjekt mit dem gesamten Bereich des Geistes, d. h. dem subjektiven, objektiven und absoluten Geist. 52 das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen (W3.13). Das „wirkliche Ganze“, das als das Wahre bezeichnet wird, besteht nicht in dem „nackte[n] Resultat“, sondern in dem ganzen Werdegang zu seinem vollendeten Wesen. Der „einfache Begriff“ wird durch die ganzen Ausführungen des erscheinenden Wissens erst als „der erreichte Begriff des Ganzen“ bezeichnet, mit anderen Worten, die bis auf Aristoteles zurückgeführt werden: Die bloße „Möglichkeit“ entwickelt sich durch ihre „Realisierung“ endlich als „vollkommene Wirklichkeit“ (W3.19; 34). Hegel denkt, dass sich die Sache selbst durch ihre eigene Dialektik, wie sie beschaffen ist, d. h. nur unter Anlehnung an „die Selbstbewegung des Begriffs“ (W3.65), manifestiert. In diesem Gedanken spiegeln sich mehr oder minder die philosophischen Gedanken während des antiken Griechentums wider. Hegel sieht in dem Ausdruck Nous (νοῦς), den Anaxagoras zuerst benutzte, den „Verstand des Daseins“, d. h. die Natur der Sache selbst (W3.54). Diese Sache beruht, solange sie als sich selbst bewegend gedacht wird, auf dem folgenden aristotelischen Gedanken der Natur: Die Physis (φύσις) vollziehe von sich selbst aus das „zweckmäßige Tun“, denn sie sei das „Subjekt“, das entstand, sich entfaltet und letztlich vergehen wird (W3.26). Als die wissenschaftliche Methode zur Einsicht in die Sache selbst wurde von Parmenides und Platon die Dialektik konzipiert, die aber erst von Aristoteles eingehend thematisiert wurde (W3.65 f.). Aus dieser Grundlage lässt sich feststellen, dass Hegels spekulative Methodik aus diesen traditionellen Errungenschaften folgt. Hegel vertieft aber diese Weltweisheit, und zwar durch seinen eigenen Terminus „Geist“. Der Geist wird im Grunde als das Ganze verstanden. Die Ganzheit des Geistes tritt zuerst im Kapitel „Geist“ auf; hier wird der Geist als der Grund oder die substanzielle Grundlage für das wirkliche Leben des Menschen (W3.325-331) dargestellt. Die grundsätzliche Implikation des Geistes-Begriffs kann man im Kapitel „Religion“ eruieren; hier ist Hegels Bestimmung des Geistes durch die einfache Totalität oder den ganzen Geist gekennzeichnet (W3.498). Dieser ganze Geist ist nichts anderes als der absolute Geist, weil der Geist der Religion dem Inhalt nach schon seine Wahrheit impliziert. Mit dem Konzept des absoluten Geistes bezweckt Hegel, den Dualismus von Bewusstsein und Gegenstand zu überwinden; die Reihe der Gegenstände wird jeweils als geistiges Wesen bezeichnet, indem das Bewusstsein zu der Einsicht kommt: Sein Verhältnis zu seinem Gegenstand ergibt sich realiter aus dem „geistige[n] Verhalten“ (W3.576). Der Geist ist weder ein bloß Allgemeines 53 als Abstraktes noch ein bloß Konkretes als Zufälliges, sondern das konkret-allgemeine Wahre; er wird als die durch alle Bewusstseinsgestalten durchdringende Totalität aufgefasst, indem er alle seine Momente integriert. Hegels Bezeichnung des Wahren als des Ganzen ist auf der im Folgenden dargestellten Ebene der geistigen Ganzheit ersichtlich: Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder Ansichseiende, - das sich Verhaltende und Bestimmte, das Anderssein und Fürsichsein - und [das] in dieser Bestimmtheit oder seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende; - oder es ist an und für sich. - Dies Anundfürsichsein aber ist es erst für uns oder an sich, es ist die geistige Substanz. Es muß dies auch für sich selbst, muß das Wissen von dem Geistigen und das Wissen von sich als dem Geiste sein, d. h. es muß sich als Gegenstand sein (W3.28). Das Wahre ist für Hegel schon das „Geistige“; die geistige Wahrheit ist nämlich weder eine bloß jenseitige, denkunabhängige Substanz noch ein Produkt des subjektiven Dafürhaltens, sondern sie ist durch die spekulative Einsicht in die Sache selbst zu erreichen. Damit bezweckt Hegel, zu beweisen, dass das Subjekt kraft seiner sich bewegenden Natur seine Substanz als denjenigen Zweck, der nichts anderes als sein Anfang ist, begreifen kann. In diesem Zusammenhang schreibt Hegel über das Wesen des Geistes Folgendes: Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten (W3.18). Der „Geist“ enthält die „Kraft“ bzw. „Tiefe“ in sich; die Bildungsgeschichte des erscheinenden Wissens muss „in immer fortschreitender Bewegung begriffen“ werden (W3.18), sodass sich aus dem Entwicklungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft ergibt, dass Nichts verloren gegangen ist. Jede Gestalt des natürlichen Bewusstseins hat eine Erfahrung, dass sein Versuch, ein endgültiges Wissen zu erringen, gescheitert ist. Dieses Scheitern erscheint ihm als ein „Tod“, weil es die „Gewalt“ leiden muss (W3.74), zur Einsicht in die Unwahrheit seines Wissens zu kommen; das Bewusstsein muss nun auf sein Dafürhalten vollständig verzichten und den Zustand der Haltlosigkeit geduldig ertragen, bis eine neue Wahrheit auftritt. Diese seine Erfahrung über die „ungeheure Macht des Negativen“ führt gleichwohl zur „Angst“ vor der ankommenden Wahrheit (W3.36; 74). Das Wesen des Geistes besteht also darin, über die Grenze des jeweiligen Bewusstseins 54 hinauszugehen. Der obige Tod ist für das Bewusstsein „das Furchtbarste“, weil „das Tote festzuhalten das [ist], was die größte Kraft erfordert“ (W3.36). Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut […], sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet (W3.36). Es ist die Aufgabe der PHG, dieses „Leben des Geistes“ gänzlich auszuführen. In jeder Phase der Bildungsgeschichte des Bewusstseins ist für Hegel der absolute Begriff der Wissenschaft „an und für sich schon bei uns“ (W3.69), obwohl für das natürliche Bewusstsein eine jeweilige Parusie des Absoluten in einer beschränkten Form gilt. Jeder Versuch, mit der bloß abstrakt wesentlichen, aber noch nicht entfalteten Substanz das Wahre zu erfassen, ist dann zum Scheitern geworden. Die nur sich auf sich beziehende Einfachheit stößt sich – sich auf dem sich Entgegengesetzten beziehend – von sich selbst ab, sodass es in sich zurückkehrt. Das Wahre als Ganzes besteht in dem wirklichen Dasein des Begriffs, das im begreifenden Wissen wirklich zu erfassen ist. Dem Bewusstsein enthüllt sich sein Wesen nur dadurch, dass es zu der folgenden Einsicht gelangt: Sein Verhältnis zu seinem Gegenstand ist nichts anderes als die Beziehung des Geistes auf sich selbst. Das Wissen des Geistes von sich ist also erst dadurch erreichbar, dass das natürliche Bewusstsein „an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist“ (W3.68), gelangt. In jeder Phase der Erfahrung wird vonseiten des Bewusstseins sein geistiges Spezifikum so gleich überschaubar, wie die Sache ihm erscheint. Indem das Bewusstsein seinen Gegenstand, wie er an sich ist, begreifen kann, wird dieses an sich seiende Potenzial auch für das Bewusstsein selbst ersichtlich. Aufgrund dieser Dialektik des Geistes lässt sich erkennen, dass er „sich seiner selbst entäußert und sich in seine Substanz versenkt, und ebenso als Subjekt aus ihr in sich gegangen ist, und sie zum Gegenstande und Inhalte macht, als es diesen Unterschied der Gegenständlichkeit und des Inhalts aufhebt“ (W3.587 f.). Das wahre Wissen des Menschen betrifft nicht einfach die jenseitige Substanz, sondern beruht im geistigen Verhältnis des Subjekts zum Objekt. Im begreifenden Erfassen dessen, was der Geist an und für sich ist, wird der absolute Geist als das Wissen des subjektivsubstanziellen Geistes von sich ausgeprägt. Diese Selbstbeziehung des Geistes auf sich selbst impliziert die „selbstbewußte Freiheit“, die „in sich ruht“, dennoch dem Anderen nicht gegenübersteht, sondern mit ihm „versöhnt“ ist (W3.25 f.; 498); diese Versöhnung ist ein 55 Prädikat seines Freiheitsbegriffes, mit dem Hegel grundsätzlich den Gegensatz zwischen der Bewusstseinserscheinung und der sie beherrschenden Gesetz- oder Zweckmäßigkeit auszugleichen versucht. Hegels Gedanke der Versöhnung bzw. Freiheit wird endgültig in dem Kapitel „Das absolute Wissen“ dargelegt; das absolute Selbstbewusstsein des Geistes ergibt sich aus der nochmaligen, aber abschließenden Versöhnung zwischen der moralischen und der religiösen Versöhnung, mit anderen Worten aus dem endgültigen Ausgleich zwischen dem Bewusstsein des Geistes (d. h. dem Wissen des Geistes) und seinem Selbstbewusstsein (d. h. seinem Wissen von diesem Wissen) (W3.578 f.). Daraus lässt sich erkennen, dass der Geist infolgedessen nun „in seinem Anderssein als solchem bei sich ist“ (W3.575), sodass sein Inhalt in der „Freiheit seines Seins“ besteht (W3.588).72 Was die Strukturierung der geistigen Totalität (das freie Beisichsein des Geistes in seinem Anderssein) angeht, ist auch dieser Punkt nicht außer Acht zu lassen: Das endgültige Wissen des Geistes von sich ist erst durch die vollständige Erfahrung des Bewusstseins erreichbar. Was Hegel als das Wesen des subjektiv-substanziellen Geistes darlegt, das ist seine „reine einfache Negativität“ (W3.23), aus der vonseiten des Geistes der Prozess des „Sichunterscheidens“, des „Dirimierens“ und des „in sich [Z]urücknehmen[s]“ (V5.120) geschieht. Dieser Gedanke spiegelt sich auch in diesem Satz wider: „Das Sichselbstgleiche entzweit sich“ (W3.132). Der Geist entwickelt sich nämlich seinerseits aus der einfachen Identität mit sich durch seine Entäußerung (oder Entzweiung in das Fürsichsein und in das Sein für Anderes) erst zur Rückkehr zu dem, was er an sich ist. Aber dieses Wesen des Geistes ist in Wahrheit als die Entelechie des geistigen Potenzials vonseiten des Bewusstseins zu denken, denn er ergibt sich erst aus der eigenen Erfahrung des Bewusstseins. In diesem Zusammenhang sagt Hegel, „eine Zutat von uns“ sei „überflüssig“, denn das Bewußtsein „gibt seinen Maßstab an ihm selbst“ (W3.76 f.). Wenn es unsere Zutat geben sollte, ist sie nichts anderes als „das reine Zusehen“ oder als „das reine Auffassen“ (W3.77; 79); nur diese „Betrachtung“ ist „unsere Zutat, wodurch sich die Reihe der Erfahrungen des Bewußtseins zum wissenschaftlichen Gange erhebt“ (W3.79). Unsere Betrachtung ist selbstverständlich nicht belanglos, weil die ganze Reihe der Bewusstseinserfahrungen von uns erst „in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht“ wird.73 Gleichwohl muss sie nichts 72 Zu dem engen Zusammenhang dieses Beisichseins des Geistes mit der Freiheit bzw. der Versöhnung vgl. Jaeschke (2004), S. 210 ff. 73 Dazu vgl.: „Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sie nach ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen, welche ihre nächste Wahrheit sind“ (W3.593). 56 anderes als bloße „Zutat“ sein, weil wir dem Gehalt der von dem Bewusstsein selbst schon gemachten Erfahrungen zuhöchst eine Form um der Ordnung willen hinzufügen. In diesem Zusammenhang denkt Hegel, dass die Wissenschaft vom Bewusstsein im Grunde mit der Wissenschaft vom Geist übereinstimmen kann, und zwar indem jene Wissenschaft die gleiche Leistung wie diese erreicht. Die Bewusstseinserfahrung in der PHG drückt „das ganze Reich der Wahrheit des Geistes“ (W3.80) aus; in der „Vorrede“ berührt Hegel sogar die „Erfahrung des Geistes“ (W3.39). Sowohl in der „Einleitung“ als auch in der „Vorrede“ sind die Wissenschaft vom Bewusstsein und die Wissenschaft vom Geist nämlich zumindest insoweit von gleichem Rang, als die beiden den Erfahrungsbegriff betreffen. Solange das Bewusstsein als „der daseiende Geist“ verstanden wird, impliziert seine Erfahrung „die Bewegung des besonderen, sich nicht befriedigenden Geistes“ (W3.35). Weil die Erfahrung des Bewusstseins also den Begriff des Geistes selbst betrifft, ist sie nichts anderes als „das Werden seiner zu dem, was er an sich ist“ (W3.585). Die Gemeinsamkeit mit beiden Wissenschaften lässt sich durch den Begriff „Erscheinung“ (φαινόμενον oder Phänomen) eindeutiger konstatieren. Wie Hegel in der „Vorrede“ festhält, ist das „System der Erfahrung des Geistes“ nichts anderes als „die Erscheinung desselben“ (W3.39 f.); die Phänomenologie bedeutet demgemäß die Erscheinungs-Wissenschaft (d. h. Phänomenonlogie) des Geistes. Die „Darstellung des erscheinenden Wissens“ (W3.72) hat die doppelte Bedeutung: Einerseits ist das erscheinende Wissen insoweit „eine leere Erscheinung des Wissens“, als es, „neben“ dem geläufigen fehlbaren Wissen stehend, nur auf der unüberprüften „Versicherung“ beruht (W3.71). Aber sein Entwicklungsgang ist andererseits – im Wesentlichen – der Weg, um den absoluten Begriff des Wissens zu realisieren, weil das Bewusstsein durch seine vollständige Erfahrung hindurch zum absoluten Wissen gelangen werden muss. Die Darstellung des erscheinenden Wissens ist „die bewußte Einsicht in die Unwahrheit“ desselben, genauer die Einsicht, dass jedes erscheinende Wissen „nur der nicht realisierte Begriff“ (W3.72) des Wissens ist. Also lässt sich Folgendes folgern: Die PHG als die Wissenschaft der Bewusstseinserfahrung hat wohl das erscheinende Wissen zu ihrem Gegenstand, das nichts anderes als „der Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt“ (W3.72) ist, weil sie selbst die wissenschaftliche Darstellung des erscheinenden Wissens ist. Hegel setzt das erscheinende Wissen von dem natürlichen Bewusstsein überhaupt nicht ab; 74 denn er fasst „eine natürliche Vorstellung“ als die Heidegger ist dazu gewillt, die (in der „Einleitung“ zur PHG dargestellte) „Darstellung der Erscheinung“ als Grundlage der hegelschen Philosophie zu bezeichnen. Er setzt seinem Gedanken entsprechend die Darstellung 57 74 Unternehmung auf, „das wirkliche Erkennen desselben, was in Wahrheit ist“ (W3.68), zu erreichen. Das Bewusstsein ist der Treib eigen, sich zum absoluten Wissen zu bilden; die wissenschaftliche Darstellung über den Bildungsprozess des Bewusstseins betrifft aber die begreifende Auffassung, das geistige Potenzial des Bewusstseins zu betrachten. Die PHG bringt, insofern sie die begreifende Betrachtung ist, die vollständige Erfahrung des Bewusstseins zu einer wissenschaftlichen Ordnung, sodass das Bewusstsein das Begriffene oder dasjenige, was wissenschaftlich betrachtet wird, ist. Auch Hegels Verständnis der „Erscheinung“ in der „Vorrede“ deckt sich im Wesentlichen mit dem in der „Einleitung“. Die Erscheinung tritt zwar dem ersten Anschein nach als das bloße „Entstehen und Vergehen“ (W3.46) des Vorhandenseins einer Sache auf, aber aus diesem empirischen Vorgang ergibt sich der affirmative Ü bergang zur Wahrheit; wie „der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“ (W3.46), so bezeichnet jedes einzelne Phänomen sich als der Prozess, der die Momente der Wahrheit nach und nach realisiert. Dieser Gedanke Hegels verdichtet sich mit dem Satz: „Das Wahre ist das Ganze“ (W3.24). Dies ist des Weiteren mit der Einsicht eng verwoben, dass wir „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (W3.23) haben; indem sich die Wahrheit als das wissenschaftliche Gesamtsystem gestaltet, erweist die Substanz sich an ihr selbst, ebenso sehr Subjekt zu sein. Damit kommt das Bewusstsein zum wahren Einblick in den Geist. Jede Erscheinung tritt jeweils als eine bestimmte Phase auf, in der das Bewusstsein das Wesen des Wahren erfährt, mit anderen Worten: „Das Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz“, sodass diese Substanz eben als sein „Gegenstand“ (W3.38) erscheint. Daran lässt sich ablesen, dass des erscheinenden Wissens vom Gang des natürlichen Bewusstseins nachdrücklich ab. Heidegger zufolge „geht sie [= die Darstellung des erscheinenden Wissens] ständig in einem Zwischen hin und her, das zwischen dem natürlichen Bewußtsein und der Wissenschaft waltet“; weiter sei das erscheinende Wissen ein qualifiziertes Wissen für das Werden zum absoluten Wissen, also solle es von dem natürlichen Bewusstsein deutlich unterschieden werden. Heidegger, „Hegels Begriff der Erfahrung“, in: Werke, Bd. 5, S. 115-208. Von der Position Heideggers ausgehend beabsichtigt W. Marx (1981) weiterhin, auf das erscheinende Wissen oder auf die Rolle des Phänomenologen einen besonderen Akzent zu setzen. W. Marx zufolge ist das erscheinende Wissen nichts anderes als dasjenige, das nicht nur ein bestimmt qualifizierter Modus des natürlichen Bewusstseins, sondern auch oder vielmehr ein ganz anderes Wissens als dieses Bewusstsein ist; er ist der Ansicht, das erscheinende Wissen erhebe kraft der oben gesagten Qualifizierungen wie der Vollständigkeit bzw. der Notwendigkeit das natürliche Bewusstsein zum absoluten Wissen. S. 21; 26-34; 45; 92 f.; 124-133. Aber Hegel denkt m. E., das natürliche Bewusstsein enthält, obgleich es momentan als ein ganz und gar unwissenschaftliches Bewusstsein erscheint, potenziell das geistige Wesen in sich. Das in der PHG behandelte natürliche Bewusstsein ist kein geläufiges – d. h. bloß naive – Bewusstsein, sondern ein von Hegel methodisch hervorgebrachter Terminus. Für den Phänomenologen ist das natürliche Bewusstsein schon ein wissenschaftsfähiges Wissen, also gleichbedeutend mit dem erscheinenden Wissen. 58 der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung selbst daraus folgt, dass der Geist selbst vergegenständlicht wird. In diesem Kontext ist der Weg des natürlichen Bewusstseins auch als der Weg desselben zu deuten, auf dem es sich zum Geist läutert. Der Werdegang des Bewusstseins zum Geist oder die Befreiung des Bewusstseins von seinem Schein ereignet sich nicht bloß als Resultat dieses Werdegangs, sondern ebenso sehr im ganzen Prozess. Weil Hegel von vornherein das Bewusstsein als das „unmittelbare Dasein des Geistes“ ansieht, besteht die „Gestalt des erscheinenden Geistes“ in der gleichen Gedankenfolge wie bei der Gestalt des „erscheinenden Bewußtseins“ (W3.38; 589; 73). Also bezeichnet sich die PHG als die Darstellung darüber, wie das (potenziell geistige) Bewusstsein zum Geist erhoben und als derselbe begriffen wird. Wie der Weg des natürlichen Bewusstseins im Wesentlichen als seine vollständige Erfahrung zum absoluten Wissen erfasst werden muss, so gestaltet sich „das System der Erfahrung des Geistes“, insofern es die „Erscheinung des Geistes“ selbst repräsentiert, als die oben erwähnte dialektische Bewegung des Geistes (also der Prozess des „Sichunterscheidens“, des „Dirimierens“ und des „in sich [Z]urücknehmen[s]“) (V5.120). Die „ganze Bewegung“ des Geistes zu seiner vollendeten Entfaltung besteht – mit Formulierungen in der PHG – darin, „sich ein Anderes, d. h. der Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben“ (W3.46; 38). Und die Erfahrung [des Bewusstseins] wird eben diese Bewegung [d. h. die des Geistes] genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist (W3.38 f.). Der abstrakte Zustand des Geistes, seine Entäußerung und seine Rückkehr zu sich sind für Hegel die Musterformen, um die Sache zu begreifen, aber er qualifiziert sie im Speziellen für die paradigmatische Dialektik einer solchen geistigen Bewegung.75 Weil Hegels Terminus „Erscheinung“ sowohl der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung als auch die Manifestationsweise des Geistes ist, wird der Bildungsgang des Bewusstseins unter zwei Gesichtspunkten, teils „für das Bewußtsein“ (also für das erscheinende Wissen 75 Dazu vgl. W10, S. 9-32. 59 selbst), teils „für uns“ (d. h. im Rahmen der wissenschaftlichen Darstellung des erscheinenden Wissens), dargestellt. Die Erfahrung des Bewusstseins oder die Erscheinung des Geistes macht das darzustellende erscheinende Wissen, d. h. „die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“ oder „die eigentliche Durchbildung des natürlichen Bewußtseins“ aus, durch die das Bewusstsein seine Beschränktheit allmählich überwindet, um erst seine „geistige Wesenheit“ (W3.73; 37) zu erringen. Soweit das Bewusstsein für den unmittelbaren Geist charakteristisch ist, erfährt dieser (auf der Ebene des Bewusstseins stehende) Geist sein Phänomen. Die Dialektik des Bewusstseins fußt darauf, dass der Geist sich von sich selbst unterscheidet und endlich aus seiner Unterschiedenheit zur Einsicht in die strukturelle Einheitlichkeit von beiden zurückkehrt. Aus dem Obigen lässt sich Folgendes festhalten: Die Wissenschaft vom Bewusstsein und die Wissenschaft vom Geist betreffen im Grunde eine und dieselbe Thematik, sodass, wie W. Marx feststellt, „die Phänomenologie des Geistes vom Anfang bis zum Ende sowohl die Erfahrungswissenschaft als auch die Geisteswissenschaft ist“. 76 Die Grundidee der PHG besteht nämlich darin, die Lehre des Bewusstseins und die des Geistes im ganzheitlichen Bezugsrahmen zu vereinigen. Die PHG schildert, insofern sie Bewusstseinslehre ist, die Läuterung des Bewusstseins zum Geist und zugleich vermittelt sie uns, insofern sie Geisteslehre ist, die Selbstentwicklung des Geistes, der die Beschränktheit des Bewusstseins überwindet und zu sich selbst zurückkommt. Die Erfahrung des Bewusstseins und die Erscheinung des Geistes decken sich im Hinblick auf Hegels phänomenologisches Unternehmen miteinander. 76 W. Marx (1981), S. 70. 60 C. Der ganze Aufbau der Phänomenologie des Geistes 1. Vorausblick Die PHG als Bewusstseinslehre schildert den Ü bergang des Bewusstseins zum Geist und sie vermittelt uns, insofern sie als die Geisteslehre aufgefasst wird, den Fortgang des Geistes, der die Beschränktheit des Bewusstseins überwindet. Diese These der Kongruenz zwischen beiden Lehren in puncto des Geltungsbereiches bringt uns zur Auffassung der einstimmigen Konstruktion innerhalb der PHG; diese Deckungsgleichheit impliziert, dass man nirgends innerhalb der PHG die Stelle, an der ihr Gedankengang deutlich entzweigerissen ist (wie gesagt in den theoretischen und in den praktischen Teil), finden kann. Das heißt: Es gibt in der PHG keine Bruchstelle im Bezug auf den Inhalt bzw. die Form. Es ist vielmehr folgerichtig zu denken, dass man einige bestimmte Wendepunkte an der Bewegung des Bewusstseins, die den ganzen Entwicklungsgang periodisieren, finden kann. Die Punkte, die die Grenze der Etappen, in denen das Bewusstsein zum Geist wird, sind als die Reihe der Bewusstseinsgestalten zu verstehen; dadurch, dass das Bewusstsein diese ihm selbst „vorgesteckte[n] Stationen“ restlos durchwandert hat, wird es „zum wahren Wissen“ dringen, indem es sich zum Geist läutert (W3.72). Dadurch lässt sich erkennen, dass sich die Bewusstseinserfahrung nach einigen Wendepunkten differenziert und dass diese Periodisierung den ganzen Aufbau der PHG bildet. Gleichwohl ist auch zu beachten, dass man, um die These der einheitlichen Struktur der PHG geltend zu machen, die folgenden Bedingungen in solche Ü berlegungen mit einbeziehen muss: Erstens: Die beiden Lehren fungieren auf voneinander unterschiedliche Weise, und zwar jeweils von ihrem Antipoden ausgehend. Die Bewusstseins- und die Geisteslehre bestehen zwar in einer voneinander unterschiedlichen Weise; die PHG betrifft nämlich zwei Perspektiven: die theoretische und die praktische. Deswegen führt diese Gegenseitigkeit dazu, dass der Akzent jeweils auf den eigenen bestimmten Teil des Werkes gelegen ist; die erste Hälfte der PHG beruht hauptsächlich auf der theoretischen Perspektive, während ihre zweite Hälfte hauptsächlich die praktische betrifft.77 Man soll gleichwohl die Strukturierung Man kann wohl sagen, dass das gesamte Kapitel „Selbstbewußtsein“ und die einigen Teile im Kapitel „Vernunft“ der praktischen Philosophie zugeordnet worden sind. Aber erst im Kapitel „Geist“ kann man m. E. einen eigentlichen Sinn der Geschichtsgezogenheit erkennen, während man in den einigen Teilen, die dem Kapitel „Geist“ vorhergegangen sind, nur einige der Momente für die wirkliche Geschichte finden kann. Dazu 61 77 der PHG wie folgt nicht verkennen: Als ob die Erfahrung des Bewusstseins nur zu dem ersten Teil der PHG gehören würde, während man die Offenbarung des Geistes nur im zweiten finden könnte. Die Dialektik des Bewusstseins und die des Geistes werden vielmehr im ganzen Hauptteil der PHG thematisiert. Das Bewusstsein verwirklicht durch seinen Vollzug sein geistiges Potenzial und dieser Vollzugsprozess entspricht dem Prozess, die Beschränktheit des Bewusstseins, also des unmittelbaren Geistes, zu überwinden. Indem das philosophische Subjekt die Dialektik des Geistes nachvollzieht, kann es das wahre Verständnis über das sein Objekt wissende bzw. seinen Willen objektivierende Wesen des Bewusstseins erst erringen, nachdem es zum Kapitel „Das absolute Wissen“ gelangt ist. Indem sich die Substanz durch die Dialektik des Bewusstseins, die mit dem Kapitel „Die sinnliche Gewißheit“ mit der persönlichen Ü berzeugung des Bewusstseins vom Vorhandensein anfängt, repräsentieren lässt, kann sich der Geist für es manifestieren. Also sind die zwei Methoden oder zwei Aspekte auf die Verschiedenheit des Ansatzpunkts, mit dem die beiden anfangen, bezogen, gar nicht auf die Verschiedenheit des Geltungsbereiches.78 Zweitens: Wenn man die PHG auch mit einer Gedankenfolge interpretiert, lässt sich doch daraus keinesfalls folgern, dass Hegel vom Anfang der Niederschrift bis zu ihrem Ende nicht einmal sein Konzept verändert hätte. Eine solche Interpretationsweise zieht nämlich die Tatsache nicht in Betracht, dass Hegel während der Abfassung der PHG einen Punkt, der am Anfang der Arbeit für ihn nicht sichtbar war, erspürt; Hegel hat tatsächlich während der vgl. den folgenden Teil: „2. Überblick“. 78 Siep (2000) sagt, die PHG habe zwar „zwei Aspekte“ oder „zwei Methoden“; Siep denkt, mit einem Vergleich, dass „Erfahrung [des Bewusstseins] den Weg von unten, von den unmittelbarsten Formen und Standpunkten des natürlichen Bewußtseins, zum absoluten Wissen ist, Phänomenologie [des Geistes] dagegen diesen Weg von oben charakterisiert, nämlich insofern auf ihm schon alle Kategorien, Erkenntnis- und Seinsweisen des Geistes erscheinen bzw. ins Bewußtsein treten.“ Aber diese beiden Aspekte der PHG bedeuten die „Aspekte derselben Sache“; die PHG behandele nämlich dieselbe Sache. Diese Idee von Siep ist m. E. nur insoweit haltbar, als die zwei Lehren alle jeweils charakteristischer für einen bestimmten Teil sind. Also kann es nicht gesagt werden, dass die Bewusstseinslehre den zweiten Teil des Buchs (von der „Vernunft“ bis zur „Religion“) nicht abdecke. S. 63. In Anlehnung an die Behauptung von Siep hält Iber (2006) fest, dass Hegel in seinem Werk die „Zusammenführung des Bewußtseins- mit dem Geistbegriff“ aufzeigen wollte. Iber zufolge impliziere Hegels Titelveränderung, dass die PHG vielmehr „nur dieselbe Sache“ thematisiere; diese Titelveränderung stelle nämlich „den Paradigmenwechsel vom Bewußtsein zum Geist“ dar, und zwar „aus verschiedenen Perspektiven“; die Erfahrung des Bewusstseins gelange endlich zur „Einsicht in die Geistnatur des Bewusstseins“. Iber beweist schlüssig, dass Hegel in Bezug auf diese zwei Titel dieselbe Thematik ins Auge fasst. S. 135. Dementsprechend betrifft jeder Teil der PHG grundsätzlich die zwei Lehren, obgleich diese beiden jeweils charakteristischer für einen bestimmten Teil sind. Auch Siep vertritt die gleiche Meinung. Er sagt, das Kapitel „Geist“ bilde eine grundlegende „Zäsur“ im Bildungsgang des Bewusstseins; dennoch denkt er, dass von der Dialektik des Bewusstseins auch in dieser Phase noch die Rede sei, weil Hegel den Begriff der Bewusstseinserfahrung für das ganze Werk benutze. Also lässt sich feststellen, dass die von Siep erkannte „Zäsur“ auf keinen Fall als die Bruchstelle innerhalb der PHG aufzufassen ist. Siep (2000), S. 173 f. 62 Abfassung die ursprüngliche Strukturierung der PHG zu verändern versucht. Aber Hegel hat sich trotzdem mit dieser unerwarteten Umgestaltung von seinem ursprünglichen Entwurf nicht verabschiedet. Das heißt: Weder wandelte Hegel, wie Haering sagt, „unter der Hand“, d. h. plötzlich und unabsichtlich, seinen Plan, noch verschoben sich, wie Pöggeler sagt, die „Proportionen“ der PHG, bes. ihrer zweiten Hälfte „ins Monströse“. 79 Stattdessen entwickelte sich ein Denkmotiv, das zu Anfang für Hegel nicht so klar, dennoch irgendwie latent vorhanden war, während der Niederschrift weiter. 80 Hegel bemühte sich während dieser Zeit um die optimale Methodik, um den Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft zu schildern; demgemäß konzipierte er endlich die Erfahrungswissenschaft des Bewusstseins als die Lehre, die nicht bloß die Erkenntnis des Objekts thematisiert, sondern sich sogar in den ganzen Umfang der Bewusstseinsgestalten, um den Inhalt des nachfolgenden Systems vorzubereiten und vorwegzunehmen, ausbreitet. In diesem Zusammenhang ist es schlüssig, dass Hegel, um die Notwendigkeit des Ü bergangs des Bewusstseins zum Geist klarer zu beleuchten, den Titel des Werkes veränderte. Aus diesem Bezugsrahmen lässt sich die folgende These hinsichtlich des ganzen Aufbaus in der PHG herleiten: Jede Bewusstseinsgestalt (schon ab dem Kapitel „Selbstbewußtsein“) ist sowohl die Antithese ihrer Vorgängerin als auch die Synthese von allen bislang vollzogenen Gestalten. Der absolute Geist besagt eben die logische Totalität, die die Reihe der Bewusstseinsgestalt (vom sinnlichen Bewusstsein zum religiösen Bewusstsein) in ein Prinzip integriert. Die Vollendung des Bewusstseins in der PHG liegt darin, dass das Bewusstsein sein geistiges Potenzial vollständig erkennt. Zur Textorganisation bedarf es auch in der PHG fraglos irgendeiner Einteilung, aber eine Problematik in dieser Hinsicht liegt darin, dass es hier zwei Gliederungen gibt. Die zwei 79 Haering (1934), S. 133; Pöggeler (1973), S. 334. Was diesen Punkt anbelangt, ist vor allem die Analyse Försters (2008) sinnvoll. Er hält die Ansicht, dass Hegel im Kapitel „Vernunft“ die Übersicht über seinen Text verloren habe, für „ganz unplausibel“. Hegel bezwecke vielmehr, jeden Entwicklungsgang der Bewusstseinsgestalten „zu einer höheren Stufe von Komplexität“ zu führen, weil die auftretende Gestalt den Inhalt der bisherigen Gestalten in sich enthalten muss (indem sich die Spiralbewegung der Bewusstseinsgestalten gestaltet). Besonders anhand seiner philologischen Bemühungen versucht Förster zu begründen, warum das Kapitel „Vernunft“ sehr viel umfangreicher werden musste. Diese Behauptung Försters ergibt sich aus der Einsicht, dass Hegel entdeckte, „was er bei Abfassung der Einleitung so nicht deutlich vor Augen hatte“. Förster denkt, dass der „Kreis“ des Bildungsgangs des Bewusstseins im Kapitel „Vernunft“ zwar „noch gar nicht geschlossen“, „die Dialektik des natürlichen Bewußtseins“ jedoch „an ihr Ende gekommen“ sei. Dadurch rekurriert er auf Haerings Ansatz, dass die Darstellung in der PHG bis zu diesem Kapitel in Bezug auf den Inhalt schon ihren Schlusspunkt erreiche. S. 4556. Aber man kann m. E. die von Förster explizierte Spiralbewegung der Bewusstseinsgestalten nicht bloß in dem ersten Teil des Werkes, sondern vielmehr in seinem ganzen Hauptinhalt finden, weil man „die Dialektik des natürlichen Bewußtseins“ nicht bloß in dem ersten Teil des Werkes, sondern auch in dem zweiten Teil desselben finden kann. 63 80 unterschiedlichen Einteilungen gehen beide auf Hegel selbst zurück; sowohl die erste als auch die zweite Gliederung kann man nämlich direkt in dem Text beobachten. Daran, dass die zweite Gliederung nicht im Hauptteil des Textes, sondern nur im „Inhalt“81 am Anfang des Buchs auftritt, lässt sich ablesen, dass Hegel erst nach der Abfassung der PHG diese alphabetische Gliederung hinzugefügt hat. Daraus, dass die erste in diesem „Inhalt“ noch vorhanden ist, lässt sich auch ersehen, dass die erste durch die zweite nicht ersetzt, sondern komplettiert worden ist. Neben den zwei Gliederungen gibt es gleichwohl auch eine andere, die als die dritte Gliederung bezeichnet werden kann; in seiner „Selbstanzeige“, die kurz nach der Niederschrift der PHG vermutlich, aber mit ziemlicher Sicherheit, von Hegel selbst formuliert wurde, schreibt er über die Strukturierung des Werkes Folgendes: Die Phänomenologie des Geistes […] faßt die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird. Es wird daher in den Hauptabteilungen dieser Wissenschaft, die wieder in mehrere zerfallen, das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, die beobachtende und handelnde Vernunft, der Geist selbst, als sittlicher, gebildeter und moralischer Geist, und endlich als religiöser in seinen unterschiedenen Formen betrachtet. Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, welche sie nach ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen, welche ihre nächste Wahrheit sind. Die letzte Wahrheit finden sie [= die Bewusstseinsgestalten oder die Geistesphänomene] zunächst in der Religion und dann in der Wissenschaft, als dem Resultate des Ganzen (W3.593). Seine Bemerkung könnte zwar keine explizite Gliederung sein, jedoch könnte man sagen, sie impliziert Hegels Gedanken, was die Architektonik der PHG betrifft. Daraus lässt sich die Reihe der strukturellen Einteilungen der PHG folgendermaßen tabellarisieren: 81 Dazu vgl. GW9, S. 5 ff. 64 <Hegels Einteilung des Hauptteils der PHG> Die erste Gliederung Die zweite Gliederung Die „Hauptabteilungen“ in Hegels „Selbstanzeige“ I. „Die sinnliche Gewißheit“ II. „Die Wahrnehmung“ (A) „Bewußtsein“ „Bewußtsein“ (B) „Selbstbewußtsein“ „Selbstbewußtsein“ III. „Kraft und Verstand“ IV. „Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“ A. „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft“ B. „Freiheit des Selbstbewußtseins; Stoizismus, Skeptizismus und das unglückliche Bewußtsein“ V. „Gewißheit und Wahrheit der Vernunft“ A. „Beobachtende Vernunft“ B. „Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst“ C. „Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“ VI. „Der Geist“ A. „Der wahre Geist. Die Sittlichkeit“ B. „Der sich entfremdete Geist. Die Bildung“ C. „Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ (AA) „Vernunft“ (C) Die „beobachtende und handelnde Vernunft“ (BB) „Der Geist“ „als sittlicher, gebildeter und moralischer“ „Geist“ VII. „Die Religion“ A. „Die natürliche Religion“ B. „Die Kunstreligion“ C. „Die offenbare Religion“ (CC) „Die Religion“ VIII. „Das absolute Wissen“ (DD) „Das absolute Wissen“ „als religiöser“ „Die letzte Wahrheit“ „Wissenschaft“ Die Dialektik in der PHG kann man mit dem der ersten Gliederung entnehmbaren Denkmodell wie folgt konstatieren: 1) Jedes Bewusstsein in einer bestimmten Gestalt fängt mit der „Gewißheit“ davon, dass sein Ansatzpunkt als Kriterium für die Wahrheitsbeurteilung unbedingt gültig sei, seinen wissenden bzw. handelnden Vollzug an; es verschafft sich über etwas Gewusstes bzw. Durchgeführtes Gewissheit. 2) Das Bewusstsein erfährt jedoch auf einen Schlag die „Unwahrheit“ desselben; in dem 65 Augenblick, da sich dieser Vollzug des überzeugten Bewusstseins vollendet, geht dieser Verlauf sogleich zu Ende. Dadurch muss sein bisheriger Grund untergehen, sodass das Bewusstsein sozusagen von seinem „Schein“ nicht abweichen kann. 3) Aber dieses Zugrundegehen der bisherigen Ü berzeugung impliziert zugleich für Hegel seine Rückkehr in den wahren Grund des Bewusstseins; die Einsicht desselben in die Unwahrheit seines Gegenstandes bringt andererseits das Bewusstsein zu einem höheren Standpunkt. Dieses Moment des dialektischen Ü bergangs, d. h. die „Umkehrung des Bewußtseins“, ergibt sich aus der „bestimmten Negation“, die man als die Aufhebung des Inhalts des bisherigen Gegenstandes, d. i. als den daraus einen anderen wahren Gegenstand, „eine neue Gestalt des Bewußtseins“ (W3.80), erscheinen lassenden Vollzug, bezeichnen kann. Dieser Ü bergang des Bewusstseins von der Gewissheit zur Wahrheit fungiert als sein dialektisches Bewegungsmodell bis zum letzten Atemzug und, weil durch den jeweiligen Ü bergang die Bestimmungen der vormaligen Wahrheitsaussage nicht ausgelöscht werden; jede nächste Ü bergangsphase, d. h. die zur Wahrheit gewordene Gewissheit, muss sowohl intensiver als auch extensiver denn je zuvor werden. Auf diese Weise führt das wissende bzw. objektivierende Bewusstsein in die allmählich intensiver und extensiver werdende Richtung vom Kapitel „I. Die sinnliche Gewißheit“ zum Kapitel „VIII. Das absolute Wissen“. 82 Wenn wir uns im Speziellen mit der ganzen Architektonik der PHG befassen, lässt sich daran ablesen, dass Hegels Geschichtsverständnis als die umfangreiche Bildungsgeschichte des Geistes bezeichnet wird. Die Ausdrücke der „Gewißheit“ und der „Wahrheit“ treten zwar nur bis zum Kapitel „V“ in der ersten Gliederung zutage. Aus diesem Grunde denkt z. B. Pöggeler (1993), dass unerwartet der Schwerpunkt des Werkes vom „Selbstbewußtsein“ durch den „Geist“ bis zur „Religion“ verlagert sei. S. 222. Aber die Erhebung der Gewissheit zur Wahrheit bildet m. E. auch in den nachfolgenden Kapiteln, also im „Geist“ und in der „Religion“, jeweils die Übergangsphase der Bewusstseinsgestalten. Das Kapitel „VI. Der Geist“ hat seinen Ausgang, indem die „Gewißheit“ der Vernunft endlich „zur Wahrheit erhoben“ ist. Aber diese Entsprechung der Gewissheit zur Wahrheit gilt nur an sich. Der Geist erscheint dem Bewusstsein im Kapitel „VII. Die Religion“ „als absoluter Geist“, weil der religiöse Geist, genauer der Geist der christlichen Religion, „wie er in der Gewißheit seiner selbst, sich auch in seiner Wahrheit ist“. Trotzdem sind auch in diesem Geist die beiden „noch ungleich“. Erst der absolute Geist, „der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt“, erscheint dem Bewusstsein in seinem wahren Element. Denn erst seine „Wahrheit ist nicht nur an sich vollkommen der Gewißheit gleich, sondern hat auch die Gestalt der Gewißheit seiner selbst, oder sie ist in ihrem Dasein, d. h. für den wissenden Geist in der Form des Wissens seiner selbst.“W3, S. 324; 501 f.; 582 f. 66 82 2. Ü berblick 2.1 „Bewußtsein“: die Dialektik des gegenständlichen Bewusstseins Die drei zuerst auftretenden Bewusstseinsgestalten („Die sinnliche Gewißheit“, „Die Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“) werden wiederum in der zweiten Gliederung in das Kapitel „Bewußtsein“ eingeordnet. Dies „Bewußtsein“ ist der geläufigen Epistemologie nach im Grunde das gegenständliche Bewusstsein. Der Standpunkt des Bewusstseins, den Hegel als die Supposition des natürlichen Bewusstseins bezeichnet, liegt darin, dass das Bewusstsein „etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“ (W3.76), unterscheidet; deshalb ist für das Bewusstsein ein grundlegender Gegensatz zwischen der Erscheinung und dem Wesen, vor allem zwischen der Gewissheit und der Wahrheit, unabdingbar vorausgesetzt. Weil das Bewusstsein auf dieser Hypothese (die besagt: „Ich bin ganz anders als mein Gegenstand“) fußt, gerät es ins Schwanken zwischen zwei ontischen Konstanten, indem es einmal das Objektive, ein andermal hingegen das Subjektive – aber wiederum umgekehrt – als seinen Kanon der Wahrheit erachtet. Das Bewusstsein bezweckt zuerst mit dem unmittelbaren Wissen (abhängig von der sinnlichen Anschauung) direkt die unvoreingenommene Erkenntnis über einzelnes „Dieses“ (W3.82). Aber es erfährt sogleich die Unwahrheit seiner „Meinung“ (W3.85), indem es beobachtet, dass dieses von ihm als am wahrhaftesten angesehene Objekt in der Tat nicht als ein rein Einzelnes, sondern als ein Allgemeines erscheint, weil alle Einzelnen als sense-data ausschließlich mit Hilfe von kategorialen Formulierungen des Subjekts aussprechbar sind. Unter Berufung auf die Ebene einer solchen Allgemeinheit erlangt das Bewusstsein die Kenntnis, dass jedes einfache Substrat mit vielerlei (einzelnen) Bestimmungen vermittelt werden muss; aufgrund dessen nimmt es sodann das „Ding von vielen Eigenschaften“ (W3.94) wahr. Aber es muss in den Widerspruch zwischen dem Einfachen (d. h. der „Dingheit“ eines Dinges) (W3.95) und den vielen Einzelnen (d. h. den „Eigenschaften“ desselben) geraten, weil hier eine „Täuschung“ (W3.97) immer möglich ist, gleich wenn es eine von zwei extremen Optionen für das Kriterium der Wahrheit wählt. Der Verstand als die dritte Bewusstseinsgestalt kommt zur Einsicht in die Einheit von beiden solchen Konstanten. Er kann als intellectus, i. e. als das geistige Verständnis, angegeben werden, indem durch ihn das Innere und das Ä ußere an einer Sache in einem Atemzug einzusehen sind. Mit dieser Fähigkeit hat das Bewusstsein einen Einblick in „die in sich zurückgedrängte Kraft“ (W3.110). Dadurch erkennt es zuerst die „Erscheinung“ (das „Spiel der Kräfte“) (W3.116); dann kommt es durch sie zur Einsicht in ihren wahren Hintergrund 67 (das „Gesetz der Kraft“), d. h. in ihre „übersinnliche Welt“ (W3.120). Erst dieser letzte Verstand – mit Scheier der „begreifende“ Verstand 83 – ermöglicht (potenziell) dem Bewusstsein, das „Unbedingt-Allgemeine“ (W3.108) zu erfassen. 2.2 „Selbstbewußtsein“: der erste Wendepunkt des Geistes Mit der letzten Wahrheit des Verstandes gelangt das Bewusstsein für Hegel an den Eingang zur übersinnlichen Welt; das „Reich der Gesetze“ (W3.120) als die Wahrheit des Bewusstseins führt das Bewusstsein zur Einsicht in den „Begriff des Gesetzes selbst“ (W3.121). Das Bewusstsein beschränkt den Geltungsbereich dieses Gesetzes nicht nur auf sein Objekt, sondern geht nun über seine Objektbezogenheit hinaus und in sich selbst zurück. Es wird sich nunmehr seiner selbst bewusst; hiermit taucht „das einheimische Reich der Wahrheit“ auf (W3.138). Das resultiert daraus, dass das Bewusstsein neben der Objektbezogenheit auch die Beziehung auf sich selbst hat. Hier „ist dies entstanden, was in diesen früheren Verhältnissen nicht zustande kam, nämlich eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist“ (W3.137). Das Bewusstsein macht hierdurch eine erste geistige Erfahrung, dass „nicht nur für uns, sondern auch für das Wissen selbst der Gegenstand dem Begriffe entspricht“ (W3.137); diese Erfahrung ergibt sich aus der „Bewegung des Anerkennens“ (W3.146). Aus diesem Grunde bezeichnet Hegel das Selbstbewusstsein mit dem „Begriff des Geistes“ (W3.145); obgleich die geistige Natur des Bewusstseins nicht vollkommen erfasst wird, beginnt ab diesem Augenblick „die Offenbarung der Tiefe“ (W3.591), zu der das erscheinende Wissen erst auf seinem Endpunkt gelangen soll, sodass der absolute Begriff der Wissenschaft dem Bewusstsein erscheint.84 Also hat das Laut Scheier (1980) hat das unmittelbare Bewusstsein (von der „sinnlichen Gewißheit“ zum „Verstand“) insgesamt vier Gegenstände, denn der Verstand besteht aus zwei Gestalten; die erste ist der „wahrnehmende“ Verstand, der „das reflektiert allgemeine Ansich“, d. h. das „Spiel der Kräfte“, zu seinem Gegenstand hat; die zweite wird als der „begreifende“ Verstand bezeichnet, dessen Denken auf „das absolut allgemeine Ansich“, d. h. auf das „Gesetz der Kraft“, gerichtet ist. S. 63-88. 84 Von dieser Aussage Hegels ausgehend kommt Pöggeler (1993) zur Einsicht, dass das Selbstbewusstsein den Punkt des absoluten Wissens erreiche, sodass alle nachfolgenden Bewusstseinsgestalten (von dem Kapitel „Vernunft“ zu dem Kapitel „Das absolute Wissen“) „als die erfüllteren Gestaltungen dessen, was im Selbstbewußtsein erreicht wird, vorgeführt“ würden. S. 293. Diese Vorführungsthese beruht auf Pöggelers folgender Ansicht: „In gewisser Weise steckt die Vernunft ja schon im Bewußtsein; Geist und Religion steckten im Selbstbewußtsein.“ S. 210. Aber dieses Argument ist m. E. unplausibel, denn für Hegel ist das „Selbstbewußtsein“ nichts anderes als der „Begriff“ des Geistes und die nachfolgenden (zum absoluten Wissen gelangenden) Darstellungen sind die Ausführung des virtuellen Wesens, nicht Exemplifikationen der bereits vollendeten Substanz. Das Wesen des Geistes ist nämlich nicht im „Selbstbewußtsein“ vollendet und alle sukzedierenden Bewusstseinsgestalten sind nicht einfach als die Wiederholung des Inhalts im Kapitel „Selbstbewußtsein“ zu verstehen. Es könnte zwar 68 83 Bewusstsein nun „seinen Wendungspunkt“ (W3.145); deswegen verselbständigt sich diese Phase – mit Recht – in der zweiten Gliederung zu einem eigenen Kapitel „Selbstbewußtsein“.85 Das Selbstbewusstsein ist eine „neue Gestalt des Wissens“, insofern es sich nicht einfach als das „Wissen von einem Anderen“, sondern nunmehr als das „Wissen von sich selbst“ bezeichnet (W3.138). Das heißt: „Ich unterscheide mich von mir selbst“, aber dieses Ich ist zugleich von dem Unterschiedenen nicht unterschieden, somit ist dieses „Unterschieden des Ununterschiedenen“ (W3.134) für das sich auf sich beziehende Selbstbewusstsein kennzeichnend. Insofern diese Selbstbezogenheit freilich nichts anderes tut, als von seinem Anderssein zu abstrahieren, schwebt diesem Bewusstsein nur die „Tautologie: Ich bin Ich“ (W3.138) als der archimedische Punkt der subjektivistischen Philosophie vor. Gleichwohl verabschiedet sich das Selbstbewusstsein nicht von seiner Objektbezogenheit; vielmehr hebt es sie denkerisch auf. Es macht im Grunde seine Erfahrung über sich selbst, jedoch verbleibt dieser Vollzug nicht in einer bloßen Kontemplation, sondern er erweitert sich auch bis zum Bereich der durch die praktische Tätigkeit gewonnenen Erfahrung. 86 Durch diese doppelsinnige Erfahrung vergegenständlicht sich der Geist, d. h. die „absolute Substanz, welche in der vollkommenen gesagt werden, dass im Kapitel „Bewußtsein“ und im Kapitel „Selbstbewußtsein“ irgendein in den nachfolgenden Gestaltungen darzustellender Inhalt „in gewisser Weise“ bereits „steckt“. Aber niemand kann dieser Sachlage entnehmen, dass mit einigen fragmentarischen Darstellungen im „Bewußtsein“ bzw. „Selbstbewußtsein“ die nachträgliche Entwicklung des Bewusstseins zur Wissenschaft schon fertig geworden sei. 85 Es sind Versuche, diesen Wendepunkt als die grundlegende Bruchstelle des ganzen Werkes zu betrachten. Dafür ist die Behauptung Taylors (1978) bezeichnend. Für ihn handelt es sich bei den drei Gestalten im Kapitel „Bewußtsein“ um die (im Grunde ausschließlich auf die Logik in Hegels System zurückzuführende) „ontologische Dialektik“ als die Grundlage für den epistemologischen Vollzug, während die „historische Dialektik“ vom Kapitel „Selbstbewußtsein“ bis zum letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ vorherrschend sei. Mit dieser Analyse bezweckt Taylor zu erweisen, dass die PHG nicht ein systematisch einheitliches Werk sei. S. 284-293. Aber seine radikalistische Einstellung, den angeblich logischen Teil vom realphilosophischen Teil solcherweise abzutrennen, ist m. E. deswegen unhaltbar, weil die ursprüngliche Idee selbst der P HG nichts anderes als die Einführung zum System (einschließlich der Logik) ist. Die Dialektik des Bewusstseins ist im Grunde auf den ganzen Text bezogen. Der Ü bergang des Bewusstseins zum Selbstbewusstsein fungiert – dieser Punkt wird nachher ausführlich gemacht – als ein Grundmodell der PHG, weil z. B. die Entstehung der offenbaren Religion als der letzten Bewusstseinsgestalt mit diesem Ü bergangs-Modell expliziert wird. W3, S. 502. Ü berdies gibt es in den nachherigen Gestalten die beiden Dialektiken, und zwar vermischt miteinander; aber es muss zugleich festgestellt werden, dass auch im Kapitel „Bewußtsein“, soweit die sog. historische Dialektik behandelt wird, sich zumindest Hegels Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern in der Darstellung über die Dialektik des Bewusstseins widerspiegelt. Zum Zusammenhang der P HG mit der philosophischen Geschichte vgl. z. B. die Literatur Falkes (1996), in der (neben ihrem Zusammenhang mit dem enzyklopädischen System auch) dieser geschichtliche Zusammenhang thematisiert worden ist. 86 Der praktische Sinn des Begriffes „Selbstbewußtsein“ wird vor allem von Kojève (1975) als die Basis der PHG-Interpretation betont. Ihm zufolge ist das Selbstbewusstsein das ursprüngliche Prinzip der Menschwerdung und Sozialkonstruktion. S. 20-47. Zum Versuch, die „Anerkennung“ als den Grundbegriff der praktischen Philosophie überhaupt aufzufassen, vgl. Honneth (1992). 69 Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (W3.145). In diesem Erfahrungsprozess des Selbstbewusstseins tritt für ein selbständiges Individuum ein anderes als sein Gegenstand auf. Das heißt: „Es ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein“ (W3.144). Weil sogar mein Gegenstand als das „Ich“ erscheint, wird das Verhältnis zwischen mir und meinem Gegenstand auf eine ganz andere Ebene als bisher gehoben, denn es geht nunmehr um die Beziehung zwischen zwei für sich seienden (d. h. eigene „Freiheit“ haben wollenden) Individuen. Auf dieser überindividuellen Ebene bemühen sich die beiden Subjekte gleichermaßen darum, ihre eigene „Freiheit“ zu bewahrheiten. Das Lebensgefühl des Subjekts, das den Zustand „der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit“ begehrt, nennt Hegel „Begierde“ (W3.143). Hier ist es beachtenswert, dass das solcherweise begehrende Subjekt unabdingbar das Dasein eines anderen Subjekts voraussetzt, um ihm seine „Freiheit und Selbständigkeit“ zu entziehen, denn „[d]as Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein“ (W3.144). Jedes in dieser „Begierde“ begriffene Subjekt ist „seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben“ seines Gegenstandes (W3.143); weil es nur durch die „Nichtigkeit dieses [= seines] Anderen“ seine „Selbständigkeit“ bewährt sieht (W3.143), müssen die beiden so miteinander interagierenden Individuen in den als Zero-sum-game bezeichneten Zustand eintreten, der mit dem Begriff „Kampf auf Leben und Tod“ (W3.149) verdichtet beschrieben worden ist. „Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“, die auch der Titel des Kapitels „IV“ ist, besteht aber darin, dass durch diese gegenseitig verschlungenen Bemühungen die beiden Subjekte endlich zu der Einheit miteinander kommen, die sich mit dem Motto bezeichnet, dass das „Ich“ nichts anderes als das „wir“ sei und, ebenfalls das „wir“ nichts anderes als das „Ich“. Der Erfahrungsprozess des Selbstbewusstseins zeigt uns auf diese Weise den Prozess der Anerkennung; daraus resultiert die kollektive Ebene des Selbstbewusstseins als das geistige Wesen desselben. Aber diese Dialektik 87 der Begierde bzw. Anerkennung im Kapitel „Selbstbewußtsein“ expliziert nicht völlig das geistige Wesen des Bewusstseins, sondern besagt nur, dass „der Begriff des Geistes für uns vorhanden“ (W3.145) ist, denn erst in der jetzigen Phase wird für uns, also für die Wissenschaft, auf das Substrat zur Einheit zwischen zwei verschiedenen Individuen auch nur hingedeutet. In diesem Kapitel erfährt zwar das begehrende Selbstbewusstsein, dass sein Gegenstand seinem Verlangen nachkommt, aber 87 Zu dieser Thematik vgl. z. B. Gadamer (1973); Siep (1998), bes. S. 108-116. 70 seine Erfahrung („Ich bin geradezu wir selbst“) wird durch die Privation der Selbstständigkeit von seinem Anderen, von einem anderen Selbstbewusstsein, gewonnen. Deshalb ergibt sich diese Einheit noch nicht zwischen zwei selbstständigen Individuen, sondern zwischen einem selbstständigen Bewusstsein („Herr“) und einem anderen, aber unselbstständigen Bewusstsein („Knecht“). Dieses „Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft“ (W3.157) ist nicht ein wahrhaft gegenseitiges, sondern „ein einseitiges und ungleiches Anerkennen“ (W3.152). Selbst wenn der Träger der Freiheit verändert wird, ist diese Unvollkommenheit der Anerkennungsbewegung nicht zu überwinden. Anstatt des Herrn, der sich seine Selbstständigkeit in der Tat durch einen Anderen bewähren lässt, eruiert der Knecht endlich durch die Vergegenständlichung seines Wesens kraft seiner eigenen „Arbeit“ seine Freiheit (W3.151). Indem zwei Momente des Selbstbewusstseins, d. i. die Selbstständigkeit und die Unselbstständigkeit, einem solchen Subjekt anheimfallen, stellt sich nunmehr „die Verdopplung des Selbstbewußtseins in sich selbst“ (W3.163) ein. Aber dieser Augenblick geschieht ohne die Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein; diese „Verdopplung“ bleibt nur „innerhalb der Knechtschaft“ (W3.154 f.) stehen. Diese Freiheit des Selbstbewusstseins gestaltet sich als „Stoizismus“, „Skeptizismus“ und letztendlich als „das unglückliche Bewußtsein“. Diese Gestalten sind alles in allem die der Freiheit innerhalb des unselbstständigen Bewusstseins. Das wahrhafte Anerkennungsverhältnis zwischen zwei selbstständigen Individuen findet hier noch nicht statt. 88 Kurz: Im „Selbstbewußtsein“ fängt für uns das virtuelle geistige Wesen des Bewusstseins zu erscheinen an, im Gegensatz dazu für das Bewusstsein sein eigener (aber bis jetzt nur unvollkommener) Freiheitsgenuss.89 2.3 „Vernunft“: die Synthesis von Bewusstsein und Selbstbewusstsein Das „Selbstbewußtsein“ nannte Hegel noch nicht den Geist selbst, sondern nur den „Begriff“ desselben, weil das geistige Wesen des Selbstbewusstseins ausschließlich für uns vorhanden war. Zwar fand auch für das Bewusstsein die Erfahrung der Gegenwart des geistigen Wesens statt; aber diese Erfahrung seiner Freiheit bzw. Selbstständigkeit war vor allem deswegen einseitig, weil es sich auf seinen Gegenstand (auch als ein Selbstbewusstsein) 88 Dazu vgl. Siep (1979), S. 68-75; 124-129. Hier fehlt die Darstellung des Teils „B. Freiheit des Selbstbewußtseins“, weil es in der vorliegenden Arbeit nur um die Dialektik der Anerkennung geht. 71 89 negativ bezieht, weil es nämlich, um sich selbst zu bewähren, ihn ausschließt. Für das stoische Selbstbewusstsein, das seinen Gegenstand für schlechthin gleichgültig gegen sich hält, und für das skeptische, das es für den vergänglichen Schein hält, erscheint sein Anderes ebenfalls als bedeutungslos. Das unglückliche Bewusstsein ergibt sich daraus, dass, obwohl es ernsthaft die Einheit von seiner Ü berzeugung und ihrer wirklichen Sachlage intendiert, sein Wunsch, immer unbefriedigt, jenseits seiner selbst bleibt; deshalb bezeichnete sich sein Anderes als dasjenige, was immer anders als es selbst sei. Anders als in dieser Etappe kommt erst in dem Kapitel „Vernunft“ die positiv-affirmative Beziehung des Denkenden auf das Seiende auf. Das Bewusstsein hält bedenkenlos dafür, dass eine solche Einheit diesseits realisiert sein müsse. Diese „Gewißheit“ des Bewusstseins, „alle Realität zu sein“ oder „alle Wahrheit zu sein“, ist geradezu die „Vernunft“ (W3.177 f.). Diese „Vernunft“ ist einesteils die Wahrheit des Bewusstseins, denn sie kann seinen Gegenstand, wie er in Wahrheit ist, erfassen. Ebenso ist sie andernteils die Wahrheit des Selbstbewusstseins, denn sie ist im Gegenstand zugleich bei sich. Das Bewusstsein auf der Ebene dieser Vernunft meint ergo gewiss, seine Gegenstände seien, wie sie in Wahrheit sind, durch seinen eigenen Vollzug realisiert. Aus diesem Grunde lässt sich feststellen, dass die Vernunft deswegen als die „Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins“ (W3.326) zu verstehen ist, weil sie die vorigen Gestalten des Bewusstseins (von dem Kapitel „Bewußtsein“ zu dem Kapitel „Selbstbewußtsein“) umfasst. Das Kapitel „Vernunft“ stellt, was den Aufbau der PHG angeht, einen anderen Wendepunkt (als das Kapitel „Selbstbewußtsein“) dar: In der schon erwähnten („1. Vorausblick“) zweiten Gliederung lässt Hegel das Kapitel „(C)“ mit der Vernunft anfangen. Die Erfahrung des Bewusstseins auf der Ebene der Vernunft impliziert seine Ü berzeugung davon, dass sein Gegenstand nichts anderes als das Absolute (namentlich das Anundfürsichsein oder die „Sache selbst“) sei und dass das Bewusstsein dies Absolute suchen und finden könne. Anscheinend könnte man deshalb zwar sagen, dass die Entfaltung des natürlichen Bewusstseins zur Vernunft den ganzen Umfang markiere. Aber man soll aus dieser Perspektive es nicht so ansehen, als ob die dem Kapitel „Vernunft“ nachfolgenden Gestaltungen die bloße Rekapitulation des Standpunkts der „Vernunft“ wären; diese Missdeutung beruht auf der Sachlage, dass die Darstellung der „Phänomenologie“ im enzyklopädischen System als Bewusstseinslehre in dem Kapitel „Vernunft“ ihre Darstellung beendet. Warum und wie die „Vernunft“ in der PHG den zweiten Wendepunkt bildet, dafür muss man also den Grund anderwärts ausfindig machen. 72 Das dritte Kapitel „(C)“ beginnt mit der „Vernunft“, gleichwohl soll dies nicht heißen, das Bewusstsein erreiche mit der „Vernunft“ völlig die Ebene des absoluten Wissens. Die anfängliche Existenz-Form der Vernunft ist die „Gewißheit“; diesen Vollzug des Bewusstseins nennt Hegel auch „die Vorstellung der Vernunft“ (W3.177). Das Bewusstsein, das nunmehr als Vernunft erscheint, meint: „[D]ie Realität, die ich im Auge behalte, ist alles in allem meine Vorstellung, die sich durchgehend als die Wahrheit selbst bezeichnet“ – diese „Gewißheit“ nennt Hegel auch den „Idealismus“ (W3.179). Diese Ausdrücke, „Gewißheit“, „Vorstellung“, „Idealismus“ usf., sind unüberbietbar kennzeichnend für das Spezifikum der Vernunft in der PHG; denn im Kapitel „Vernunft“ geht es um den Vollzug des „einzelnen Bewußtsein[s]“, also besteht seine „Gewißheit“ grundsätzlich „in seiner Einzelheit“ (W3.177). Obgleich das Bewusstsein in diesem Kapitel (anders als im „Selbstbewußtsein“) in positiver Beziehung zu seinem Anderen steht, kann es trotzdem noch nicht über den Standpunkt von einem Individuum hinausgehen. Die „Gewißheit“ der Vernunft, „alle Realität zu sein“, ist weder „die Realität der Vernunft“ noch „die wirkliche Vernunft“ (W3.185); die absolute Wahrheit soll sich für das vernünftige Bewusstsein als sein eigenes Produkt erweisen, dennoch kann das für es nicht geschehen. Dieser Träger des vernünftigen Dafürhaltens ist noch nicht zur wahrhaften „Verdopplung des Selbstbewusstseins in sich selbst“ gelangt; die Thematik der gegenseitigen Anerkennung bzw. Versöhnung zwischen verschiedenen Individuen tritt nämlich erst im Kapitel „Geist“ zum ersten Mal auf. Aufgrund dessen drückt sich in dem Titel „(C) (AA) Vernunft“, mit dem Hegel versieht, sein Gedanke aus, dass die Vernunft die Synthesis von den beiden vorherigen Gestalten („(A)“ und „(B)“) ist, und zwar die erste („(AA)“) Synthesis. Auch der Titel in der ersten Gliederung „V. Gewißheit und Wahrheit der Vernunft“ repräsentiert den Entwicklungsgang, in dem sich das Bewusstsein an seinem naiven Dafürhalten, an dem „abstrakten Begriff der Vernunft“ abarbeitet, um „das leere Mein“, d. h. seine abstrakte Meinung, mit dem allgemeingültigen Inhalt „zu erfüllen“, um dadurch ihm selbst „die Realität in Wahrheit“ (W3.185) zuteilwerden zu lassen. In diesem Zusammenhang nähert sich das Bewusstsein im Kapitel „Vernunft“ seinem Ziel stufenweise an: Erstens gestaltet es sich als die theoretische Vernunft („A. Beobachtende Vernunft“), die das „Sein“ des „einzelnen Bewußtseins“ mit der „Kategorie“ in seinen Besitz bringt, zweitens als die praktische („B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst“), die trotz seiner Einzelheit um der erfüllten „Allgemeinheit“ bzw. „Notwendigkeit“ willen tätig ist, 90 und drittens als die Einheit von beiden („C. Die 90 Aber selbst die praktische Vernunft kann die Dimension der Einzelheit nicht überwinden, weil sie noch in 73 Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“), also als das einzelne Selbstbewusstsein, das den Weg dazu findet, sich selbst im Allgemeinen „Tun Aller und Jeder“ (W3.325) zu betätigen. Die „Vernunft“ ist der Anfang der dritten und letztendlichen Phase im Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft und macht im Vergleich zu vorigen Gestaltungen zweifellos einen noch hochrangigeren Wendepunkt (also einen intensiveren und extensiveren als je zuvor) aus. Das vernünftige Individuum, das seine einzelne Ü berzeugung mit dem allgemeinen Inhalt erfüllt, umfasst den ganzen Inhalt der vorigen Gestaltungen, weil es graduell sein Wesen sowohl intensiver als auch extensiver verwirklicht. Die Vernunft ist nicht als die Entgegensetzung der bisherigen Gestaltungen sondern als die umfangreichere bzw. reichhaltigere Synthese derselben aufzufassen, während das Selbstbewusstsein gewissermaßen als die Antithese des Bewusstseins verstanden werden kann. Die Dialektik des Entwicklungsgangs in der PHG besteht also darin, dass – zumindest ab der „Vernunft“ – jeweils alle Wendepunkte jeweils aller bisherigen Prozesse dieser Bewegung von Anfang an wiederholt (insbesondere die strukturellen Elemente der Bewegung in Erwägung ziehend) dargestellt werden. Das „Bewußtsein“, das „Selbstbewußtsein“ und die „Vernunft“ als die Einheit von beiden fungieren deshalb als die grundlegenden Momente, die nachfolgenden (zum absoluten Wissen zu gelangenden) Bewegungen zu explizieren.91 Die Vernunft enthält den theoretischen Vollzug des Bewusstseins (im „Bewußtsein“) und den praktischen Vollzug desselben (im „Selbstbewußtsein“) in seinem Geltungsbereich; sie umfasst auch innerhalb ihrer Bewegung die theoretische Seite („A. Beobachtende Vernunft“) und die praktische („B. Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins“), um die Einheit von beiden („C. Die Individualität“) zu erringen. Das letzte übergeordnete Kapitel „(C)“ in der zweiten Gliederung ist titellos, also entspricht das Kapitel „Vernunft“ dem ersten untergeordneten Kapitel „(C) (AA)“. Weil die Vernunft nicht das Ziel selbst der PHG ist, sondern mit anderen gleichrangigen untergeordneten Gestaltungen92 die strukturellen Elemente mehr oder minder gemein hat, gilt die Dialektik der Synthese von Bewusstsein und Selbstbewusstsein auch in diesen nachfolgenden Gestaltungen. Das Bewusstsein und das Selbstbewusstsein (und die Einheit von beiden) sind nämlich – gleich wie das Verhältnis zwischen der Substanz und dem Subjekt – relevant dafür, den Ü bergang des Bewusstseins zum absoluten Geist darzulegen. der Vorstellung des Einzelnen bleibt. Die Verwirklichung dieser Vorstellung bezweckt das moralische Bewusstsein in dem nächsten Kapitel „Geist“, und zwar vor allem mit dem Ideal des höchsten Guts. 91 Dazu vgl. z. B. Dooren (1969), S. 93. 92 Das heißt: „(BB) Der Geist“, „(CC) Die Religion“ und „(DD) Das absolute Wissen“. 74 2.4 „Geist“: das Ganze des weltlichen Geistes Dadurch, dass die „Gewißheit“ der Vernunft „zur Wahrheit erhoben“ ist, wird sie erst zum „Geist“ (W3.324). Diese Erhebung wird ohne Zweifel auch als die dialektische Begebenheit im bisherigen Entwicklungsgang des Bewusstseins qualifiziert; wie das gegenständliche Bewusstsein im Kapitel „Bewußtsein“, indem seine Gewissheit zur Wahrheit gelangt war, in das Kapitel „Selbstbewußtsein“ eintrat und wie das „Selbstbewußtsein“ sich, indem es diese Wahrheit des gegenständlichen Bewusstseins als seine Gewissheit voraussetzte, auf den Weg zu seiner Wahrheit, der Vernunft, machte, so geht auch die Vernunft von der Wahrheit des Selbstbewusstseins aus. Aber die Stellung des Geistes, in der sich die Gewissheit der Vernunft als ihre Wahrheit beweist, bringt viele Interpreten zur Ü berzeugung davon, dass hier ein deutlicher (gedanklicher) Einschnitt in der PHG sei.93 Was das Kapitel „Geist“ zum durchschlagendsten Wendepunkt des Werkes macht, ist, dass das absolute Wesen für das Bewusstsein als das Resultat seines eigenen Vollzugs wirklich erscheint, während die Vernunft nur die Gewissheit hatte, dass die Wahrheit als ihr Produkt auftrete. Alle bisherigen Gestaltungen sind die „Gestalten nur des Bewußtseins“; sogar die Vernunft ist streng genommen nichts anderes als „das Bewußtsein, das Vernunft hat“; deshalb lässt sich nicht sagen, dass sie selbst Vernunft „ist“ (W3.326). Dagegen nennt Hegel die Gestalten im Kapitel „Geist“ „Gestalten einer Welt“, d. h. „die realen Geister“, die ihrerseits „eigentliche Wirklichkeiten“(W3.326) haben. Erst im Geist werden das „Selbst des Ungeachtet seiner Diagnose, dass der (in der „Einleitung“ von Hegel implizierte) Punkt der eigentlichen Geisteslehre schon im Kapitel „Selbstbewußtsein“ (und zwar mit dem Ausdruck: der „Begriff des Geistes“) erreicht worden sei, ist auch Pöggeler der Ansicht, dass die PHG, insofern sie nicht als die Erfahrungswissenschaft des Bewusstseins, sondern jetzt als die Wissenschaft vom Geist umgedeutet werde, erst im Kapitel „Geist“ an diesem Punkt ankomme. S. 221. Es gibt die Behauptung, dass das Kapitel „Geist“ die grundlegende Bruchstelle in der PHG sei. Dazu vgl. z. B. Röttges (1976) S. 147. In Bezug auf diesen Punkt ist Meulen (1958) der Ü berzeugung, dass die Vernunft (als der erste Abschnitt im dritten Kapitel) zwar die erste Synthese zwischen dem ersten und dem zweiten sei, trotzdem müsse man sagen, dass der Geist „der eigentliche Angelpunkt des Werkes“ sei. Der Punkt, der für ihn von größerer Bedeutung ist, was den ganzen Aufbau des Werkes anlangt, ist, dass der Geist als die sog. „gebrochene Mitte“ in der PHG verstanden werden soll. Er sei die Mitte im doppelten Sinne: einesteils die Vollendungsphase der ersten Tetrade (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => Vernunft => Geist), aber andernteils die Anfangsphase der zweiten (Geist => Religion => das absolute Wissen => Natur). S. 289-292. Dieser Behauptung kann die Position von Siep (2000) entgegengehalten werden. Auch er kommt, wie schon (die Anm. 1. in diesem Abschnitt) dargestellt, zur Einsicht, dass man zwischen der Vernunft und dem Geist eine markante „Zäsur“ findet, die das Werk plausibel in die zwei Teile teilt. Gleichwohl behauptet er zugleich nicht, dass die PHG ab dem Kapitel „Geist“ auf einer ganz anderen (als je zuvor angewandeten) Methodik beruhe. Siep denkt, dass der Geist den entscheidendsten Wendepunkt des Werkes bildet, aber man nicht sagen solle, dass er die Bruchstelle desselben sei. S. 173 f. 75 93 wirklichen Bewusstseins“ (d. i. das einzelne Subjekt) und seine „Substanz“ (d. i. seine Welt als die substanzielle Grundlage für seine Existenz) in Eins integriert (W3.325). Dass diese beiden zur Einheit kommen, ergibt sich daraus, dass die Vernunft „sich ihrer selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewußt ist“ oder dass „das allgemeine, sichselbstgleiche, bleibende Wesen“ wirklich ist, sodass das einzelne Subjekt die allgemeine Substanz für „sein eigenes Werk“ hält (W3.324 f.). Aus diesem Grunde lässt sich folgern, dass alle Gestalten im Kapitel „Geist“ den objektiven Geist im enzyklopädischen System betreffen. 94 Der „Geist“ und der objektive Geist in der Enzyklopädie sind zwar nicht in allen Punkten völlig kongruent, jedoch wird selbstverständlich auch in der PHG die objektive Grundlage behandelt, die für alle Mitglieder verbindlich ist, und zwar unter dem Blickwinkel auf das Verhältnis der Subjektivität zu dieser Grundlage.95 Die bisherigen Bewusstseinsgestalten (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zum Kapitel „Vernunft“) wurden dargestellt, ohne den Zusammenhang des einzelnen Bewusstseins mit seiner substanziellen Grundlage in Erwägung zu ziehen. Aber ohne diesen Zusammenhang wäre das einzelne Individuum von Anfang gar nicht da; das geläufige Bewusstsein, das natürliche Bewusstsein, setzt ohne Zweifel voraus, dass sein Gegenstand von Anfang schlechthin gegeben worden sei, aber seine Annahme stimmt mit der Wirklichkeit nicht 94 Zur Strukturierung der PHG unter Berufung auf die Gliederung der Philosophie vom Geist im enzyklopädischen System vgl. bes. Lukács (1967), S. 572-655. Er teilt ihren ganzen Text in den subjektiven Geist („Bewußtsein“, „Selbstbewußtsein“ und „Vernunft“), den objektiven Geist („Geist“) und den absoluten Geist („Religion“ und das „absolute Wissen“) auf. Auch Haering (1938) ist im Grunde in der gleichen Position. S. 484 ff.; 513. Diese Komposition wird bis heute als die Musterform im Bezug auf die systematische Analyse der PHG verstanden. 95 Es gibt die Behauptung, dass das Kapitel „Geist“ dem objektiven Geist in der Enzyklopädie nicht entspreche. Diese Position folgt aus der Ansicht, dass man in der PHG die Darstellung des objektiven Geistes nicht beobachten kann. Nach dieser Position müssen sich alle Wahrheitsansprüche in der P HG wegen ihres eigenen Systemverhältnisses auf den Ü bergang des Bewusstseins zur Wissenschaft zurückführen, sodass der Geltungsbereich der Subjektivität dem Bildungsprozess des Bewusstseins entsprechend immer umfangreicher werde. In der PHG sei (im Gegensatz zum enzyklopädischen System oder sogar zu den Jenaer Systementwürfen) die Objektivierungsform des Willens, das rechtlich-politisch-staatliche System, nicht eingehend dargestellt. Dazu vgl. z. B. Dellavalle (1998) S. 135 f.; Luckner (1994) S. 193 f. Wenn man einen genaueren Blick auf diese Behauptung wirft, dann zeigt sich folgender Kernpunkt: Das System des objektiven Geistes liege in der „drittpersönlichen Perspektive“, aber in der PHG sei diese Perspektive unmöglich, weil hier im Grunde der Standpunkt des sich bildenden Bewusstseins, also die „erstpersönliche“ Perspektive, beherrschend sei. Aber auch in der praktischen Philosophie in seinem späten System hält Hegel diese Perspektive der Subjektivität für unabdingbar, was die wahre Verwirklichung des vernünftigen Prinzips angeht. Dazu vgl. Halbig (2008), S. 494497; 501-503. Ungeachtet dessen, dass die Grundkonzeption der PHG von der Enzyklopädie unterschieden ist, kann man aber die Objektivierungsphase im Entwicklungsgang des Bewusstseins behandeln. Obgleich der Staatsbegriff im neuzeitlichen Sinne in der PHG zwar nicht speziell thematisiert ist, kann diese Situation m. E. nicht geradezu das Hindernis für die praktisch-philosophische Betrachtung der PHG sein, denn der ganze Bildungsprozess im Kapitel „Geist“ kann aus der geschichtsbezogenen Perspektive und dadurch in Bezug auf das allgemeine Selbstbewusstsein, also – mit dem Terminus in der PHG – der „Gemeinde“, intensiv abgehandelt werden. Die PHG handelt also von dem Prinzip des Gemeinwesens, obgleich der explizite Begriff des Staats nicht ausgeführt ist. 76 überein. Vielmehr kann das Bewusstsein nach wie vor nur unter (ihm selbst vorausgehenden) bestimmten Bedingungen etwas wissen, wollen, handeln usw. Nur dadurch, dass es zum Einblick in diese Bedingungen kommt, d. h. von seinem Schein (als ob seine partikulare Subjektivität und die universale Grundlage für seine Existenz selbst voneinander „isoliert“ worden wären) (W3.325) entbunden ist, fängt das Bewusstsein die (bis jetzt außer seiner Einsicht gebliebene) Grundverfassung seiner Existenz zu erfassen an. Alle bisherigen Gestalten sind „Abstraktionen“ des Geistes und indem dieser sie als seine „Momente“ auffasst und in sich enthält, bleiben sie in ihrem „Grund und Wesen“, also im Geist, bestehen (W3.325 f.). Hiermit bezeichnet sich der Geist sowohl als Vernunft wie als Bewusstsein und zugleich Selbstbewusstsein, denn er ist der Grund für die Vernunft, die Einheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, qualifiziert. Die Vernunft war insofern die Wahrheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, als diese beiden Gestaltungen auf dieser höheren Ebene („Vernunft“) eins werden, aber der Geist bringt wiederum die Gewissheit der Vernunft zu ihrer Wahrheit. Ü ber den „Geist“ schreibt Hegel Folgendes: Der Geist ist also Bewußtsein überhaupt, was sinnliche Gewißheit, Wahrnehmen und den Verstand in sich begreift, insofern er in der Analyse seiner selbst das Moment festhält, daß er sich gegenständliche seiende Wirklichkeit ist, und davon abstrahiert, dass diese Wirklichkeit sein eigenes Fürsichsein ist. Hält er im Gegenteil das andere Moment der Analyse fest, daß sein Gegenstand sein Fürsichsein ist, so ist er Selbstbewußtsein. Aber als unmittelbares Bewußtsein des Anundfürsichseins, als Einheit des Bewußtseins und des Selbstbewusstseins ist er das Bewußtsein, das Vernunft hat, das, wie das Haben es bezeichnet, den Gegenstand hat als an sich vernünftig bestimmt […]. Diese Vernunft, die er hat, endlich als eine solche von ihm angeschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und die seine Welt ist, so ist er in seiner Wahrheit; er ist der Geist (W3.326). Der „Geist“ enthält nämlich als Ganze die Reihe der vorherigen Bewusstseinsgestaltungen in sich, die nun nur als die „Abstraktionen“ oder „Momente“ des Geistes entpuppt werden. Im „Geist“ wird der (im „Selbstbewußtsein“ für uns erfasste, also nur von dem spekulativen Betrachter angekündigte) „Begriff des Geistes“ (W3.145) realisiert, und zwar nicht einfach in seiner Gewissheit, sondern in seiner Wirklichkeit. In der „Vernunft“ hatte das Bewusstsein eine Erfahrung über sein geistiges Wesen, jedoch konnte es noch nicht dazu gelangen, dies als sein eigenes Werk auszuweisen. Dem Bewusstsein im „Geist“ tut sich hingegen eine neue Phase auf: In dieser Verdopplung findet sich nicht bloß meine eigene 77 Freiheit, sondern auch deine Freiheit ist vorhanden, indem das Bewusstsein zur Einsicht kommt, dass sein Anderes ebenfalls das die Anerkennung wollende Selbstbewusstsein ist. In dem Gemeinwesen haben sowohl Ich als auch Du Geltung, dadurch werden Wir uns gegenseitig anerkannt, miteinander versöhnt. Im „Geist“ erfasst also das Bewusstsein, dass um meiner Freiheit willen auch deine Freiheit prinzipiell zu präsupponieren ist. Im „Geist“ tragen sich, wie schon gesagt, die „Gestalten einer Welt“ zu; jede Gestalt im „Geist“ wird von Hegel jeweils als Gestalt in einer bestimmten geschichtlichen Zeit, in einem bestimmten Volksstaat, dargestellt; hiermit ist sie nichts anderes als eine bestimmte Gestalt einer bestimmten geschichtlichen Welt. Nun wird die gesamte Bildungsgeschichte des Geistes in der okzidentalen Welt (anders als bei den bisherigen Bewusstseinsgestalten)96 intensiv und ausführlich ins Auge gefasst. Indem der Geist alle bisherigen Bewusstseinsgestalten als seine Momente in sich enthält, kann man den ganzen Prozess der geistgeschichtlichen Bildung sozusagen chronologisch erfassen, sodass die Weltgeschichte in der PHG auftritt, und zwar in einer Aufeinanderfolge von verschiedenen historischen Epochen. Aber Hegel relativiert mehr oder weniger den geistesgeschichtlichen Bildungsprozess des Bewusstseins in dem Kapitel „Geist“, denn diese Chronologie des geistigen Geschehens ist streng genommen noch nicht vollkommen chronologisch; mit dieser einen Reihenfolge ist die ganze Weltgeschichte nämlich noch nicht fertig. Diese Geschichte deckt die der alten morgenländischen Welt nicht ab; ferner liegt der Entwicklungsgang des Geistes noch nicht in der vollkommen zeitlichen Kontinuität, die nach Hegel erst im Kapitel „Religion“ in optima forma dargestellt werden könne. Die Darstellung des erscheinenden Wissens bleibt nicht im „Geist“. Der „Geist“ macht drei Abschnitte aus: der Geist in seiner einfachen Wahrheit oder in der unmittelbaren Einheit mit sich selbst (A. „Die Sittlichkeit“), der Geist in seiner höchstabstrakten Entfremdung (B. „Die Bildung“) und endlich der Geist in seiner vollkommenen Gewissheit (C. „Die Moralität“). Dieser Prozess kann als der Entwicklungsgang des Geistes 96 Es gab natürlich auch vor dem Geist die geschichtsbezogenen Darlegungen. In der Reihe aller Gestalten im subjektiven Geist (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => Vernunft) zeigt sich Hegels Auseinandersetzung mit der Geschichte der (von der altgriechischen Welt zu der hegelschen Gegenwart) ganzen theoretischen Philosophie. Im zweiten Abschnitt des Kapitels „Selbstbewußtsein“ wurden einige Erfahrungen des Bewusstseins in einer bestimmten wirklichen Welt, d. i. in der nachklassischen griechischen Zeit, deutlicher hervorgehoben und aus dem Kapitel „Vernunft“ kann man die wissenschaftliche Revolution in der frühen Neuzeit (der Epoche der Renaissance und auch schon der Aufklärung bis hin zu Kants „Vernunft“-Begriff) und auch die Moralphilosophie von Kant und Fichte in der klassischen Neuzeit herauslesen. Aber insofern diese Gestalten die „Abstraktionen“ des Geistes, also die Momente desselben sind, darf die hiesige geschichtliche Auffassung auf jeden Fall nur partiell und einseitig sein. 78 zu seiner absoluten Wahrheit, genauer zu seinem endgültigen Wissen um diese Wahrheit, charakterisiert werden. 2.5 „Religion“: der absolute Geist in Form der Vorstellung Das Kapitel „Religion“ besitzt trotz der Zweifel97 an dessen Funktion in der Konstruierung der PHG offenkundig seine eigene Stellung im Rahmen des Werdegangs zur Wissenschaft, und zwar nicht bloß der Darstellungsfolge, sondern auch der wahrheitstheoretischen Rangordnung nach. Die Religion fungiert evident als eine Gestalt des Bewusstseins; sie macht somit die letzte Vorstufe des absoluten Wissens aus und lässt sich, wie in der Religionsphilosophie formuliert, als „die höchste Stufe des Bewußtseins“ (V3.4) verstehen. Der Begriff der Religion aber impliziert für Hegel bereits das Wesen des absoluten Geistes; ab dem Kapitel „Religion“ gibt sich nämlich der absolute Geist zu erkennen; die christliche Religion wird als die Heimstätte der höchsten Wahrheit für das Bewusstsein dargestellt. Im letzten Kapitel wurde der „Geist“ bereits als „das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“, nämlich als der „Grund“ für die bisherigen Bewusstseinsgestalten bezeichnet, indem er diese als seine „Momente“ voraussetzte (W3.325 f.). Aber dieser „Geist“ muss sich in die Richtung seiner höheren Gedankendimension weiterentwickeln; mithin muss die „Religion“ wiederum den bisherigen (nun bis zum „Geist“ gelangten) Gesamtvollzug Es gibt die Behauptungen, dass das Kapitel „Religion“ hinsichtlich der Gesamtstruktur innerhalb des Werkes nicht nur überflüssig, sogar eher nachteilig für die einheitliche Interpretation desselben sei, weil dieses Kapitel uns höchstens Beispiele für das absolute Wissen gebe. Dazu vgl. z. B. Röttges (1976), S. 175 ff.; Welker (1978) S. 96 f. u. 122. Schnädelbach (1999) glaubt, dass in dem Kapitel „Religion“ die Wissenschaft der Bewusstseinserfahrung gescheitert sei, sodass sie sich auf die Religionsphilosophie umstelle. S. 76. Liebrucks (1970) denkt sogar, dass die Darstellung in der PHG mit dem letzten Teilstück im Abschnitt „Moralität“, d. h. mit dem Teilstück „c. Das Gewissen“ abschließen könnte. S. 262. Aber diese negativen Meinungen, die sich aus dem Bedenken hinsichtlich der systematischen Tauglichkeit des Kapitels „Religion“ ergeben, setzen, worauf Jaeschke (1983) mit Recht hinweist, im Allgemeinen voraus, dass die Notwendigkeit selbst des Ü bergangs von der „Religion“ zum absoluten Wissen keinesfalls zu bezweifeln ist. Also hat nach Jaeschke dieses Kapitel jener Kritik zum Trotz eine eigenständige Funktion im Hinblick auf die Strukturierung der PHG. S. 61f. Aber Jaeschke relativiert mehr oder minder den Sinn der Religionsdarstellungen in der PHG, indem er denkt, der spezielle Begriff der Religion werde in der P HG (im Vergleich zur Darstellungskonstruktion in Hegels enzyklopädischem System oder sogar zur Jenaer Systemkonzeption) nicht behandelt. Ders. (1986), S. 200-209. Es gibt viele Interpreten, die dem Kapitel „Religion“ große Bedeutung beimessen. Wagner (1971) betont die Unentbehrlichkeit des Kapitels „Religion“, indem er die dialektische Notwendigkeit des Ü bergangs von dem Gewissen durch die „Religion“ zu dem absoluten Wissen bemerkt. S. 188-195. Hoffmann (2008) bemüht sich darum, die methodische Sonderstellung des Kapitels „Religion“ und die abschließende Funktion desselben zu erklären. S. 309ff. Maza (1999) sagt, dass das Kapitel „Religion“ insbesondere im Hinblick auf die Interpretation der Geschichtlichkeit der PHG und deren Logik eine entscheidende Stellung einnimmt. Häußler (2007) analysiert das Kapitel „Religion“ im Hinblick auf die Säkularisierung des Religionsbegriffs. S. 11-17. 79 97 voraussetzen, sodass der Gedankenhorizont im Kapitel „Religion“ intensiver und extensiver als je zuvor werden kann. Anders als in den vorherigen Gestalten (vom „Bewußtsein“ bis zur „Vernunft“) kann man im Kapitel „Geist“ Hegels Betrachtungen der Weltgeschichte (von der griechischen bis zur neuzeitlichen Welt) eruieren; auch die im „Geist“ dargestellten Bewusstseinsgestalten sind in einer chronologischen Reihenfolge zusammengefasst. Aber das Kapitel „Religion“ bezieht die allen bisherigen Gestalten (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) in die Darstellung der Geschichte der Religion mit ein, damit kann man in diesem Kapitel den noch intensiveren und extensiveren Gedankenhorizont als je zuvor betrachten. Die Endphase der Religionsgeschichte ist sowohl die Vollendung des religiösen Bewusstseins als auch die Vollendung der vollständigen Bewusstseinserfahrung; denn aus dem Ü bergang der Religion zum absoluten Wissen ergibt sich die Einsicht in das Verhältnis zwischen der Moralität und der Religion, d. h. zwischen dem Fürsichsein des Geistes und dem Ansichsein des Geistes, und aus dieser Einsicht folgt, dass das Bewusstsein zur Einsicht in den absoluten Begriff der Wissenschaft kommt (W3.579). Um den gedanklichen Inhalt der Religion darzulegen, wendet Hegel in dem einleitenden Teil zum Kapitel „Religion“ die Folgenden an: 1) Die feine Aufgliederung des Geistesbegriffs, und 2) die Einbeziehung der Zeit-Konzeption in das Ausmaß des religiösen Gedankens. 1) Im Kapitel „Religion“ wird der „Geist“ nunmehr als „unmittelbarer Geist“ (W3.498) bezeichnet. Zu diesem Titel gehört ursprünglich das Bewusstsein überhaupt, solange ihm selbst sein geistiges Wesen noch fremd ist. Der unmittelbare Geist ist daher im Wesentlichen nichts anderes als das natürliche Bewusstsein, weil er „seiner Welt gegenübertretend in ihr sich nicht erkennt“ (W3.497); insofern ist dieser Geist weder zum Wissen von seiner Wahrheit noch zur Einsicht in den innigen Zusammenhang zwischen ihm selbst und seiner Welt (d. h. der in Wahrheit von ihm selbst realisierten Grundlage) gelangt. Jede vor-religiöse Bewusstseinsgestalt (mitsamt dem „Geist“) liegt in der „Bestimmung des eigentlichen Bewußtseins des Geistes“, sodass sie insgesamt den Geist „in seinem Bewußtsein“ (W3.497) bedeutet. Sie wird auch als „das Dasein des Geistes“ oder der „Geist in seinem weltlichen Dasein“ (W3.498) ausgedrückt, der mit dem objektiven Geist im enzyklopädischen System eng verwoben ist. Dieser „wirkliche Geist“ (W3.504), der das weltliche Interesse des Menschen betrifft, kann m. E. als WELTLICHER GEIST aufgefasst werden, während die drei Gestalten der Religion (d. h. „A. Die natürliche Religion“, „B. Die Kunstreligion“ und „C. Die offenbare Religion“) insgesamt mit dem RELIGIÖ SEN GEIST zu bezeichnen sind. Die Ü berwindung der Weltlichkeit fällt mit der „Vollendung des Geistes“ zusammen, in der er 80 als „der sich selbst wissende Geist“ oder „der sich als Geist wissende Geist“, mit anderen Worten als „das Selbstbewußtsein des Geistes“ (W3.499; 496; 495), formuliert wird.98 <Die „Religion“ als die Vollendung des Geistes> „Religion“ Der religiöse Geist Der weltliche Geist „Bewußtsein“ „Selbstbewußtsein“ „Vernunft“ „Geist“ Im Kapitel „Religion“ wird die Religion als der „Grund“ für die vorherigen Gestalten qualifiziert, indem sie diese als „Momente“ voraussetzt (W3.497 ff.). Die ganzen vorhergegangenen Bewusstseinsgestaltungen (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) bilden nur insofern die „Momente“ für die Religion, als der RELIGIÖ SE GEIST jene Gestaltungen umfassend und gänzlich in sich enthält. Auch die Gestalten im Kapitel „Geist“ sind zwar ganze geschichtliche Welten. Aber die Religion bildet m. E. das größere Ganze (als „Geist“), weil sie ihre vorherigen Stufen (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“), also die Gestalten des gesamten WELTLICHEN GEISTES, zu ihren Momenten hat. Ohne den RELIGIÖ SEN GEIST (d. h. das größere Ganze) könnten diese vor-religiösen Gestalten (d. h. die Momente des Ganzen) voneinander nicht verschieden sein, weil diese (ohne Zusammenhang miteinander) überhaupt nicht mit gleichem Maß messbar wären; obschon sie sich daher anhäufen, würde ihre Gesamtheit nur als die bloße Summe bezeichnet. Im RELIGIÖ SEN GEIST kann man genauer gesagt die zwei Reihenfolgen finden: die Reihenfolge des WELTLICHEN GEISTES und die Reihenfolge der drei obigen Gestalten der Falke (1996) versucht, das Entsprechungsverhältnis der drei Gestalten im Kapitels „Geist“ zu den drei Gestalten im Kapitel „Bewußtsein“ aufzuzeigen und damit zu demonstrieren, dass „sich der Geist zur Religion wie das Bewußtsein zum Selbstbewußtsein verhält“. S. 273 ff. 81 98 Religion. In Bezug auf die erste stellt sich die Frage, in welchem Sinne die vorreligiösen Gestalten die Momente der Religion ausmachen. Man darf nicht meinen, dass in jeder Gestalt der Religion alle Gestalten des WELTLICHEN GEISTES behandelt werden; man kann ebenso wenig sagen, dass das moralische Gewissen weltgeschichtlich gesehen der Religion vorausgehe, weil sich die Geschichte der Religion mit der ganzen Weltgeschichte deckt, während die Moralität selbstverständlich auf der Freiheit der neuzeitlichen Subjektivität beruht. Daher kann man den RELIGIÖ SEN GEIST weder als die bloße Summe der allen bisherigen vorreligiösen Gestalten noch als die geschichtliche Folge des WELTLICHEN GEISTES auffassen; die Religion ist vielmehr diejenige logische Folge, die aus der Erkenntnis resultiert, dass sie die aufgehobene Form desselben ist. Diese Bestimmung erlaubt es uns, die beiden Reihenfolgen mit einzubeziehen; die Gestalten des WELTLICHEN GEISTES sind ergo der „Notwendigkeit des Fortganges und Zusammenhanges selbst“ (W3.73) gemäß als die Momente der Religion darzustellen und man kann ebenso in der zweiten Reihenfolge (von der natürlichen bis zur offenbaren Religion) diese Notwendigkeit des Ü bergangs erkennen. In diesem Zusammenhang nennt Hegel den Geist der Religion als den ganzen Geist, in dem ihre Momente bestehen, „die einfache Totalität“, während er die Gesamtheit der allen vorreligiösen Gestalten „[die] zusammengefaßte Totalität“ (W3.498) nennt. Wenn der „Geist“ der „Grund“ für die vorherigen Gestalten war, kann man m. E. die „Religion“ nun gleichsam als den Urgrund für den WELTLICHEN GEIST bezeichnen, indem der RELIGIÖ SE GEIST alle Vorstufen als seine Momente wiederum, aber umfassender, in sich enthält. 2) Um diese Stellung der Religion zu rechtfertigen, verwendet Hegel hier die spekulative Zeit-Konzeption. Im Gegensatz zu dem bislang vollzogenen Gesamtverlauf können die drei Gestalten des RELIGIÖ SEN GEISTES mit ein und demselben Maß für die Zeit dargestellt werden. Hegels Interpretation der Zeit lässt sich zwar mit der diesbezüglichen Erläuterung Kants vergleichen; Was die Vorstellung der Zeit belangt, vertritt Hegel mehr oder weniger die gleiche Stellung wie Kant.99 Hegel denkt nämlich, dass die verschiedenen Dinge oder Bekanntlich sieht Kant die Vorstellung der „Zeit“ (mit dem „Raum“ zusammen) als die apriorische Grundlage für unsere empirische Anschauung. Er denkt, es sei nur durch diese Vorstellung möglich, einen fundamentalen Sachverhalt in der Mechanik, etwa Veränderung oder Bewegung, zu erörtern; man betrachtet teils die „zu einer und derselben Zeit“ vorhandenen verschiedenen Dinge (und zwar insofern sie im einem und demselben Raum vorhanden sind) nach der Vorstellung „zugleich“, teils die verschiedenen Eigenschaften von einem Ding oder die verschiedenen Dinge „in verschiedenen Zeiten“ nach der Vorstellung „nacheinander“. Diese Vorstellung („das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen“) koordiniert die verschiedenen Vorgänge in einem gleichen Maße, das „nur von einer Dimension“ ist. Die Zeitvorstellung ist für Kant (anders als die Raumvorstellung) die „innere Anschauung“; es ist deshalb um deren Erläuterung willen unabdingbar, die Zeitfolge durch die analogische Methodik zu verbildlichen, indem man sich die Zeit „durch eine ins Unendliche fortgehende Linie“ vorstellt. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 3, S. 78-83. 82 99 Vorgänge nur in der Zeit sozusagen „in einer Aufeinanderfolge“ (W3.498), ergo einheitlich darzustellen sind. Aber anders als die kantische (gewissermaßen geläufige) Analogie der ein-dimensionalen Linie, versucht Hegel mit einer anderen Metapher die unentbehrliche Rolle der Zeitlichkeit in der Religion zu veranschaulichen: mit einem „Bund“ oder dem Urgrund für „viele Linien“ oder „Knoten“ (W3.500 f.). 100 Während in der vertrauten linearen Dimension der Zeitfolge (Vergangenheit => Gegenwart => Zukunft) die verschiedenen Angaben ausschließlich nacheinander in eine Gedankendimension eingeordnet werden können, beabsichtigt Hegel mit der Zeitlichkeit eine andere Implikation: Die verschiedenen Faktoren entwickeln sich sowohl gleichzeitig, i. e. in einem Atemzug zugleich auftretend, als auch parallel, i. e. sich in ein und dieselbe Richtung wendend. Bisher spricht sich jede Gestalt des weltlich-vorreligiösen Geistes jeweils als die letzte Wahrheit an; jede Position desselben erstreckt sich von der Wahrheit seines Vorgängers (d. h. von seiner Gewissheit) bis zu seiner Wahrheit (d. h. zu der Gewissheit seines Nachfolgers). Jede der bisherigen Bewusstseinsgestalten (wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein usw.) ist mit einer geraden Linie vergleichbar; eine Linie ist durch einen Knotenpunkt von einer anderen getrennt. Mehrere durch diese Knoten gebrochene Linien treffen aber wiederum in einem „Bund“, d. h. einem Bündel als Vereinigungsort, zusammen. Ü ber das Verhältnis von „Knoten“ und „Bund“ sagt Hegel Folgendes: Wenn also die bisherige eine Reihe [aller vor-religiösen Gestalten] in ihrem Fortschreiten durch Knoten die Rückgänge in ihr bezeichnete, aber aus ihnen sich wieder in eine Länge fortsetzte, so ist sie nunmehr gleichsam an diesen Knoten, den allgemeinen Momenten, gebrochen und in viele Linien zerfallen, welche, in einen Bund zusammengefaßt, sich zugleich symmetrisch vereinen (W3.500 f.) Hegel steht zwar prinzipiell im Gegensatz zu Kant. Hegel denkt, dass Raum und Zeit nicht „subjektive Formen“, sondern vielmehr alle Dinge „in Wahrheit selber räumlich und zeitlich“ seien. W10, S. 253. Also ist die Thematik „Zeit“ für Hegel nicht der Philosophie des subjektiven Geistes, sondern im Grunde der „Naturphilosophie“ zugeordnet. Aber Hegels Begriff der Zeit ist in concreto kommensurabel mit der Position Kants. Hegel stellt fest, dass z. B. die Zeit die Grundlage für den Werdegang der Dinge und zunächst als „Punkt“ vorstellbar sei, jedoch diese Vorstellung in Bezug auf den Raum als „Linie und Fläche“ entwickelt werden könne. W9, S. 47-55. Die Zeit wird von Hegel (ebenso wie von Kant) mit Hilfe von der Analogie mit dem Raum dargelegt, damit der Entwicklungsgang der Sache einheitlich erfasst werden kann. Allein Hegel schreibt der Zeit eine grundsätzliche Schranke zu, die Kants Gedanken betrifft: die Form der subjektiven Vorstellung. Hegel versucht zwar im Kapitel „Religion“ durch eine noch eingehendere (als Kant) Interpretation, die Sonderstellung der Religion in dem ganzen Aufbau der PHG anschaulich zu machen. Er relativiert aber zugleich ihren wahrheitstheoretischen Rang. Obwohl die Religion ihrem Inhalt nach schon den absoluten Geist impliziert, ist sie mit einer (der Form angemessenen) Schranke verbunden; sofern die Religion im vorstellenden Denken des Gegenstandes liegt, ist sie mit dem Zeit-Begriff eng verwoben. Zu dem speziellen Zeitbegriff Hegels vgl. Brauer (1982), S. 135-195. 100 „Knote“ (node) kann als Schleife, Verschlingung, Knorren, Knolle, Ast, Gelenk usw. verstanden werden. Hingegen ist „Bund“ (bundle) als Bündel, Gefäßband oder Gefäßpflanze zu deuten. 83 Aus diesem Grunde ist die Ganzheit des RELIGIÖ SEN GEISTES als die „einfache Totalität“ charakterisiert. Sie bezieht daher unter ihrem eigenen Aspekt die Reihe der vorreligiösen Gestaltungen einheitlich mit ein; diese Gestalten vereinigt sich nunmehr zu einer und derselben Gedankenlinie, also zur Vorstellung der Zeitlichkeit, sodass „die folgende [Gestalt] die vorhergehenden an ihr behält“ (W3.499). Wie seine Darstellungen besteht das methodische Spezifikum 101 des Kapitels „Religion“ eben in der Totalität, in der alle Momente symmetrisch zueinander gehören, weil diese sich gleichzeitig und parallel entwickeln. Unter dem Aspekt der spekulativ überlegten Zeitlichkeit versucht Hegel, in der „Religion“ (tief blickender als im „Geist“) die Reihe der Bewusstseinsgestalten umzustrukturieren. Während im „Geist“ die Teilung in die zwei Ebenen, also einesteils in den Geist als das „Wesen“ und andernteils in die Reihe der „Abstraktionen desselben“ (W3.325), thematisiert wurde, werden die Gesamtgestaltungen in der „Religion“ gleichsam in einer dreistufigen logischen Struktur angeordnet: 1) die Religion oder der ganze Geist („Bund“), 2) die Momente der Religion („Knoten“) und 3) die Vereinzelung dieser Momente. Die Religion ist der „ganze“ Geist, denn sie hat die vorherigen Bewusstseinsgestalten zu ihren Momenten, die „sich im allgemeinen als Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Vernunft und Geist unterscheiden“ (W3.498; 495). Anders als die Gestalten der Religion steht der Verlauf ihrer Momente Hegel zufolge außerhalb der Zeit, weil diese allgemeinen Momente (die auch als „Konten“ bezeichnet werden) die bloße Zusammenfassung der vor-religiösen Gestaltungen sind; ohne den Zusammenhang mit dem ganzen Geist als der einfachen Totalität fielen diese Momente bloß auseinander, obgleich man sie vollständig zusammensetzen könnte. Diese Momente haben, soweit sie Momente sind, keine Verschiedenheit voneinander, sodass sie nicht in der Dimension der Zeit bestehen können. Also lässt sich Folgendes sagen: „Der ganze Geist [also der RELIGIÖ SE GEIST] nur ist in der Zeit“ (W3.498). Neben dem Unterschied zwischen der Religion und den allgemeinen Momenten lässt sich ein anderer Unterschied entdecken. „Wie der [ganze] Geist von seinen Was das Verhältnis von „Knoten“ und „Bund“ betrifft, stellt Hoffmann (2009) eine (schon früher von Franco Chiereghin gedachte) geometrische Konzeption vor: das Verhältnis von „Zykliode“ und „Epizykloide“, um zu betonen, dass Hegels Gedanke nicht bloß mit einer vagen Metapher, vielmehr mit dem exakt greifbaren Ausdruck verständlich gemacht werden kann. Die Zeichnung der Epikloide oder auch die Himmelkarte veranschaulicht Hoffmann zufolge die Struktur der Totalität, in der sich alle Momente zu einem Ganzen vereinigen. Damit bezweckt er, die Reihe von den verschiedenen Bewusstseinserfahrungen in einem (nicht mathematischen noch astronomischen, sondern) philosophischen Prinzip (und zwar unter Berufung auf den neuzeitlichen Gedanken), im „Wissen der Religion“ zusammenzufassen. S. 313 f. 84 101 Momenten unterschieden wurde, so ist […] von diesen [allgemeinen] Momenten selbst ihre vereinzelte Bestimmung zu unterscheiden“ (W3.498 f.). Jedes der vor-religiösen (also allgemeinen) Momente unterscheidet sich jeweils in seinem eigenen Verlauf wiederum, indem es sich als die Reihe der ausdifferenzierten, also „vereinzelte[n]“, Momente gestaltet, „wie z. B. am Bewußtsein die sinnliche Gewißheit und die Wahrnehmung sich unterschied“ (W3.499). Diese Gestalten, die sich aus der Vereinzelung der allgemeinen Momente ergeben, „stellen […] den Geist in seiner Einzelheit oder Wirklichkeit dar“ (W3.499). In diesem Zusammenhang lässt sich der ganze Verlauf der vor-religiösen Gestaltungen wie folgt beschreiben: Die allgemeinen Momente „Bewußtsein“ Die Reihe „Selbstbewußtsein“ der vorreligiösen Gestaltungen „Vernunft“ „Geist“ Die Vereinzelung der allgemeinen Momente - „Die sinnliche Gewißheit“ - „Wahrnehmung“ - „Verstand“ - „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins“ - „Freiheit des Selbstbewußtseins“ - „Beobachtende Vernunft“ - „Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst“ - „Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist“ - „Sittlichkeit“ - „Bildung“ - „Moralität“ Jede Gestalt, die sich aus dieser Vereinzelung ergibt, unterscheidet sich von den allgemeinen Momenten darin, dass sie, wie der ganze Geist, in der Zeit auszudrücken ist (W3.499). Um das Verhältnis von den drei Elementen zu erläutern, gibt Hegel Folgendes an: „[D]er Geist steigt aus seiner Allgemeinheit durch die Bestimmung zur Einzelheit herab. Die Bestimmung oder Mitte ist Bewußtsein, Selbstbewußtsein usf.“ (W3.499).102 Daraus lässt sich das logische Gefüge des religiösen Gangs erkennen: Die allgemeinen Momente, von denen sich „ihre vereinzelte Bestimmung“ unterscheiden, haben zwar keine Verschiedenheit voneinander, weil sie nur Momente für den ganzen Geist sind, aber mittels dieser Momente Der obige Satz nimmt seinen Gedanken zur Struktur der begriffsnotwendigen Entwicklung vorweg: „der allgemeine Begriff“ => „der besondere Begriff“ => „das Einzelne“. W6, S. 273-301. Das zeigt uns auf, dass die PHG hinsichtlich ihrer Darstellungsmethodik für die Wissenschaft zu qualifizieren ist. 85 102 sind die Allgemeinheit (oder die Ganzheit des RELIGIÖ SEN GEISTES) auf die Einzelheit bezogen, sodass der ganze Geist (Allgemeinheit) in seiner konkreten Wirklichkeit (Einzelheit) existiert. Hegel denkt, dass in den vereinzelten Gestalten der Gang des RELIGIÖ SEN GEISTES konkret dargestellt wird, aber dadurch auch jedes der allgemeinen Momente im Zusammenhang mit dem ganzen Geist steht. Hier soll man aber auch Folgendes beachten: Jede der vereinzelten Gestalten ist zwar jeweils das Moment für die allgemeinen Momente (wie die „sinnliche Gewißheit“ ein Moment für das „Bewußtsein“ bildet), aber sie ist ebenso das Moment für den ganzen Geist, das mit dem „besonderen Ganzen“ 103 (W3.499) bezeichnet wird. Die allgemeinen Momente fungieren als die „Mitte“ zwischen der ersten Bestimmung („Allgemeinheit“) und der dritten („Einzelheit“), gleichwohl stellt die Reihe der vereinzelten Gestalten den ganzen Geist in seiner einfachen Totalität konkret dar; im Verlauf der Religion stellen eben diese vereinzelten Gestalten als das Korrelat des RELIGIÖ SEN GEISTES „die daseiende Wirklichkeit des ganzen Geistes“ (W3.499) dar. Jede der drei Religionsgestalten ist die einzelne Gestalt des ganzen Geistes (also der Allgemeinheit) oder die konkrete Verwirklichung desselben, wobei die Bestimmtheit der (ursprünglich) unzeitlichen allgemeinen Momente in die Bestimmtheit einer Religionsgestalt aufgenommen werden kann. In Anlehnung an diese Logizität erfolgt die dargestellte Geschichte der Religion (die natürliche Religion => die Kunstreligion => die offenbare Religion); diese Darstellung bringt uns zur Einsicht in die doppelsinnige Logizität innerhalb des Entwicklungsgangs in dem Kapitel „Religion“: 1) Insofern die Religion als solche der ganze Geist ist, werden ihre Momente zu dem einen „Bund“ vereinigt, in dem sie gleichzeitig und parallel darzustellen sind. 2) Aber die Religion kann in der Reihe ihrer besonderen Gestalt, d. h. in der Form des besonderen Ganzen, konkret existieren, dadurch erfolgen diese besondern Gestalten des ganzen Geistes nacheinander. Weil der RELIGIÖ SE GEIST überdies in einem Entsprechungsverhältnis zum WELTLICHEN GEIST dargestellt wird, lässt sich folgern, dass jede „bestimmte Religion“ ihren eigenen „bestimmten wirklichen Geist“ hat (W3.500), wie z. B. die Kunstreligion den sittlichen Geist in der griechischen Welt zu ihrem wirklichen Geist hat (W3.512). Dieses „gemeinschaftliche Gepräge“ (W3.500) zeigt uns auf, dass die Religion in einer Aufeinanderfolge ihrer bestimmten Gestalten angeordnet worden ist, wobei Dieser Terminus kann für die spekulative Vereinigung von „Allgemeinheit“ und „Besonderheit“, die als der „Begriff“ in der Wissenschaft der Logik bezeichnet wird, gehalten werden. Die „Einzelheit“ wird nämlich als die „bestimmte Allgemeinheit“ aufgefasst, weil das (abstrakt) Allgemeine durch die Besonderheit „gesetzt“ wird, sodass es zu dem Einzelnen oder dem konkret Wahren „heruntersteigt“. W6, S. 296. 86 103 in jeder Gestalt bereits die Reihe der vorherigen Bewusstseinsgestalten jeweils symmetrisch vereinigt worden ist. Daraus lässt sich erkennen, worin die Ganzheit des RELIGIÖ SEN GEISTES von der Ganzheit im Kapitel „Geist“ zu unterscheiden ist; während die Bewusstseinsgestalten in diesem Kapitel in der bloßen chronologischen, eindimensionalen Abfolge zusammengefasst wurden, lässt sich im Kapitel „Religion“ Folgendes feststellen: „Die eine Bestimmtheit der Religion greift durch alle Seiten ihres wirklichen Daseins hindurch“ (W3.500); der Bestimmtheit einer Religionsgestalt entsprechen nicht nur eine Bestimmtheit des Geists, sondern auch die anderen – d. h. eine des Bewusstseins, eine des Selbstbewusstseins und eine der Vernunft und zugleich die obige vereinzelte Bestimmung – z. B. eine von den drei vereinzelten Bestimmungen des Bewusstseins (also entweder die „sinnliche Gewißheit“ oder die „Wahrnehmung“ oder der „Verstand“).104 Weil im Kapitel „Religion“ die verschiedenen Seiten des WELTLICHEN GEISTES gleichzeitig und parallel verlaufen, hat die Darstellung der Religionsgeschichte in diesem Kapitel die Implikation für den intensiveren und extensiveren Gedankenhorizont als die geschichtsbezogene Darstellung im Kapitel „Geist“. 2.6 „Das absolute Wissen“: die Tilgung der Zeit Im letzten Kapitel zeigt Hegel auf, wie der im Verhältnis von Bewusstsein und Gegenstand beherbergte Widerspruch endgültig überwunden wird; diese Schlussphase fungiert ihm zufolge als die Auflösung der religiösen Erfahrung, aus der allerdings die letztendliche Wahrheit des Bewusstseins in der PHG folgt. Gegen das letzte Kapitel in der PHG wurden bis jetzt die im Allgemeinen zwei Arten der Polemiken erhoben: 1) Es wird gesagt, diese Darstellung sei zu kompliziert (zu dunkel oder zu vage), als dass man ihren Inhalt eindeutig interpretieren könnte, 2) diese Diagnose entwickelt sich manchmal sogar zum Zweifel an der eigenständigen Funktion dieses Kapitels im Aufbau der PHG weiter, und zwar angenommen, dass die hier bezweckte endgültige Begründung des begreifenden Wissens fehlgeschlagen sei. 105 Es ist aber m. E. unleugbar, dass in dem letzten Kapitel „keine 104 Wenn man seine genauere Blicke auf die natürliche Religion richtet, lässt sich Folgendes erkennen: Der natürlichen Religion entspricht die Bestimmtheit des Bewusstseins. Der ersten Gestalt der natürliche Religion „Das Lichtwesen“ entspricht die Bestimmtheit der sinnlichen Gewissheit, ihrer zweiten Gestalt „Die Pflanze und das Tier“ entspricht die der Wahrnehmung und ihrer letzten Gestalt „Der Werkmeister“ entspricht die des Verstandes. Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 323 f., Anm. 35. 105 Dazu vgl. Hyppolite (1946), S. 553; Fulda (1965), S. 89-94 u. 99 ff. Diese Bemerkungen der inhaltlichen 87 Erfahrungsgeschichte mehr stattfindet“106 und man kann ebenso wenig behaupten, dass es in diesem Kapitel nur die Zusammenfassung der vorhergehenden Gestalten (vom sinnlichen zum religiösen Bewusstsein) gebe. Dieser abschließende Teil soll vielmehr mit der „Vorrede“ zusammen die Einleitung in das wissenschaftliche System bilden. Im absoluten Wissen wird auch seine Ansage des zweiten Systemteils – der Philosophie der Natur und der Philosophie des Geistes – beschrieben.107 Die Stellung der Religion im ganzen Aufbau der PHG kann wie folgt formuliert werden: Die Religion fungiert schon als die letzte und höchste Bewusstseins-Gestalt, aber noch nicht als die wahrhafteste Geistes-Gestalt, also die „Begriffsgestalt“ (W3.584). Das Bewusstsein muss diese Form der Vorstellung, mit der „die Form der Gegenständlichkeit“ verbunden ist, überwinden, sodass es in den „Begriff“ übergeht (W3.503). Der erscheinende Geist ist nunmehr in seiner allerhöchsten Gestalt situiert, indem der Geist sein Wesen begrifflich erfasst. Der absolute Geist, welcher bereits in dem Kapitel „Religion“ dargelegt wurde, besteht nun in seiner wahren Form; der selbstbewusste, also sich selbst wissende, Geist wird in dem Kapitel „Das absolute Wissen“ als „der sich in Geistsgestalt wissende Geist“ (W3.582) geschildert. Das absolute Wissen bedeutet (dem Inhalt nach) das Wissen des Geistes von sich selbst, der schon das Absolute ist, und zugleich (der Form nach) das (nicht vorstellende, sondern) begreifende Wissen.108 Dass der Mangel des RELIGIÖ SEN GEISTES überwunden wird, impliziert, dass der Mangel des Bewusstseins überwunden wird, denn die Religion fungiert bereits als der ganze Geist, der die vor-religiösen Gestaltungen als Momente in sich enthält. Jede Bewusstseinsgestalt, inklusive der Religion, erscheint in der noch nicht vollends entwickelten Form. Das Undeutlichkeit des absoluten Wissens sind grundsätzlich mit der wirklichen Problematik, wie die Funktion der PHG als Einleitung in die spekulative Philosophie begründet ist, verwoben. Die Kritik, dass die Funktion dieses Kapitels für die Strukturierung der PHG unklar ist, beruht meines Wissens hauptsächlich auf der Beurteilung, dass nach dem Kapitel „Religion“ keine inhaltliche Ausführung mehr nötig sei. Bubner (1980), S. 14; Kreß (1996), S. 267; Schnädelbach (1999), S. 76. Nach dieser Position könne dieses letzte Kapitel den Gesamtdurchgang des Bewusstseins nicht umfassen, weil Hegel darstelle, dass das absolute Wissen die Stufe außerhalb des Bewusstseins ausmache (denn das spekulative Wissen sei für das Bewusstsein durch und durch nicht zugänglich), während die Erfahrung des Bewusstseins schon im Kapitel „Religion“ zu ihrem Ziel gekommen sei. Die PHG sei somit ein ungelungenes Werk, zumal sie das Resultat, das sich erst aus ihrem Entwicklungsgang ergeben soll, zu Anfang voraussetze. Habermas (1963), S. 30 ff.; Vos (1983), S: 32 f.; Düsing (1998), S. 79 f. Dagegen ist Fulda (2008) der Meinung, das absolute Wissen solle als der eine, letzte Modus des erscheinenden Wissens aufgenommen werden. Dazu vgl.: „Ich möchte das Kapitel über das absolute Wissen verteidigen als (nach dem Hegelschen Programm) genuinen Bestandteil einer Darstellung des erscheinenden Wissens; genauer: als deren Abschluß, in welchem es ebenfalls noch um Erfahrung des Bewußtseins geht.“ S. 603. Auch in diesem Kapitel könne man ihm zufolge beobachten, wie das Verständnis des Bewusstseins fortschreitet. 106 Siep (2000), S. 244. 107 Dazu vgl. den Teil I, D. 3. „Die begriffene Geschichte“. 108 Zu den ausführlichen Darlegungen des Ü bergangs von der Religion (Vorstellung) in das absolute Wissen (begreifende Denken) vgl. z. B. Vieweg (2008). 88 Bewusstsein erfasst seinen Gegenstand noch nicht im Begriff; dadurch kommt es noch nicht zur Einsicht, dass seine Beziehung zu seinem Gegenstand ursprünglich das Verhältnis des Geistes zu sich selbst impliziert. Aber das bedeutet auch, dass aus der Ü berwindung des religiösen Denkens erst das endgültige Wissen entsteht; denn die Entgegensetzung der religiösen Position ist kein Ü bergang zu einer anderen Bewusstseinsgestalt. Die Ü berwindung der religiösen Form ist auch ein Stadium im Gesamtprozess der Geistesbildung, d. h. im Weg des Geistes zum Wissen von sich. Aus der „Entäußerung des Selbstbewußtseins“ ergibt sich „die Dingheit“, indem es „sich als Gegenstand“ setzt (W3.575). Aber dieser Gegenstand folgt nicht aus der Rückkehr des Bewusstseins in sein subjektives Einbilden. Indem das Bewusstsein „das Kleid seiner Vorstellung [von sich]“ (W3.497) ablegt, wird der Inhalt des absoluten Geistes, wie er in Wahrheit ist, erfasst. Das absolute Wissen des Geistes verhält sich oberflächlich gleich, wie „die sinnliche Gewißheit“, die Anfangsphase der PHG, sich zu ihrem Gegenstand verhält: Das Objekt wird aus der subjektiven Vorstellung entlassen und damit, wie es existiert, erfasst. Daraus geht hervor, dass „nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist“ (W3.585); also kann gesagt werden, dass hier nichts gewusst wird, was „als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges“ usw. bezeichnet wird (W3.585). Diese unmittelbare Erfahrung setzt zuerst voraus, dass das Bewusstsein direkt der Dingheit überhaupt gegenübersteht. Gleichwohl hat das Bewusstsein ebenso das „geistige Verhalten“ zu seinem Gegenstand, sodass das Bewusstsein „in seinem Anderssein als solchem bei sich selbst ist“ (W3.575 f.). Aus seinem geistigen Wesen folgt sein absolutes Recht, die Gestalt des Begriffes in seinem Gegenstand zu gewinnen, d. h. den Gegenstand im Begriff, wie er in Wahrheit ist, zu erfassen. In dieser Phase wird das absolute Wesen erst seiner wahren Form nach (nicht einfach auf der Ebene der Vorstellung, sondern auf der Ebene des begreifenden Denkens) erkennbar gemacht. Hegel expliziert dieses absolute Wissen des Geistes von sich mit Hilfe von dem Ansatz der Tilgung der Zeit. Die Vorstellung der Zeit ermöglicht es, den RELIGIÖ SEN GEIST in der Aufeinanderfolge seiner Momente darzustellen. Der gesamte Gang der religiösen Geschichte wird dementsprechend unter Anlehnung an die Vorstellung gedacht, sodass die lineare Zeit-Perspektive (Vergangenheit => Gegenwart => Zukunft) noch für das religiöse Denken nötig ist. Daraus lässt sich erkennen, dass die Ü berwindung der religiösen Form eben die Überwindung der „Zeitform“ selbst bedeutet. Diesen Gedanken erläutert Hegel folgendermaßen: 89 [Der Geist] erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d. h. nicht die Zeit tilgt […]; indem dieser [Geist] sich selbst erfaßt, hebt er seine Zeitform auf (W3.584). Die wahre Vereinigung von Begriff und Dasein, oder von Begriff und Anschauung, ergibt sich aus der Tilgung der Zeit. „Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen“ (W3.585). Der Weltgeist, der grundsätzlich in der Zeitlichkeit liegt, umfasst sowohl den WELTLICHEN GEIST, zu dem die ganzen vorreligiösen Bewusstseinsgestalten gehören, als auch den RELIGIÖ SEN GEIST. Der sich selbst wissende, also selbstbewusste, Geist, der den Inhalt des RELIGIÖ SEN GEISTES bildet, besteht nur dann in seiner absoluten Form, wenn er im absoluten Wissen verankert ist. Aus dem Durchgang des religiösen Gedankens ergibt sich also die Philosophie des Absoluten, in der das menschliche Denken erst „in der absoluten Freiheit“ (W3.586) besteht. Die Ebene des absoluten Wissens ist gleichbedeutend mit dem obigen Beisichsein des Geistes in seinem Anderssein; durch diese begreifende Erfassung des ursprünglichen Zusammenhangs von Bewusstsein und Gegenstand kann der Geist mit jeder Phase des Entwicklungsgangs in der PHG, wie sie an sich ist, zusammentreffen, während aus einer Perspektive in der „Religion“ der Begriff des Geistes und sein Dasein noch abgesondert sind. Der Einsicht in das absolute Wissen des Geistes lässt sich entnehmen, dass jedes Wissen vonseiten des Bewusstseins auf seinem Wesen als dem erscheinenden Geist beruht; man kann somit aus der „Bewegung des Bewußtseins“ eben „die Totalität seiner Momente“ (W3.575) herauslesen. Die „WISSENSCHAFT DER PHÄ NOMENOLOGIE DES GEISTES“ ist nichts anderes als die „WISSENSCHAFT DER ERFAHRUNG DES BEWUSSTSEYNS“ (GW9.51; 444). Jede Erfahrung des Bewusstseins macht daher als solche den Inhalt des begreifenden Wissens aus; während der absolute Begriff der Wissenschaft für das Bewusstsein erst in der Schlussphase der PHG auftritt, ist er für uns in jeder Phase des Bildungsgangs des Bewusstseins in der PHG offenbar. Das Wesen des Bewusstseins, das nunmehr für es selbst erscheint, wie er an sich ist, wird von Hegel am intensivsten geschildert. Die Bewusstseinserfahrung betrifft immer einen Gegenstand, aber sie ist realiter nichts anderes als der Prozess, der zum wissenschaftlichen Standpunkt führt, dass dieser Gegenstand mehr oder weniger den absoluten Geist expliziert. 90 Der Geist impliziert „an sich die Bewegung, die das Erkennen ist, – die Verwandlung jenes Ansichs in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstands des Bewußtseins in Gegenstand des Selbstbewußtseins“ (W3.585); er enthält demgemäß im Wesentlichen die Dynamik in sich, sich selbst zu manifestieren, wie er in Wahrheit ist. Die Vereinigung von Ansichsein und Fürsichsein, von Substanz und Subjekt oder von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, ist sowohl das Endziel des erscheinenden Wissens als auch die Verwirklichung des geistigen Potenzials des Bewusstseins. Daraus lässt sich erkennen, dass der sich selbst wissende Geist nicht nur als solcher ist, sondern sein Wesen begrifflich weiß. Der subjektiv-substanzielle Geist erscheint dem Bewusstsein selbst, und zwar, wie er an und für sich ist. Indem der absolute Geist sich selbst im begreifenden Gedanken erfasst, „beschließt sich die Phänomenologie des Geistes“, sodass das Bewusstsein erst zum „Punkte der eigentlichen Wissenschaft des Geistes“ (W3.39; 81) gelangt. Das absolute Wissen handelt von dem Geist als dem Absoluten. Wie Hegel in seiner Philosophie des Geistes erwähnt: „Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste“ (W10.9), liegt die Schwierigkeit bei der spekulativen Betrachtung des Geistes nicht in der Zweideutigkeit bzw. Verworrenheit des Geistesbegriffs. Die spekulative Erkenntnis des Geistes setzt die konkrete Darstellung desselben vor. Dadurch ist das natürliche Bewusstsein zu seinem Endziel gelangt. 91 3. Rückblick Der Vollziehungsprozess des natürlichen Bewusstseins fängt auf den ersten Blick mit der „Gewißheit“ der jeweils jetzigen Position an. Aus seiner Gewissheit ergibt sich zwar die Einsicht, dass sein Dafürhalten tatsächlich unwahr ist; aber dieser Vorgang erweist sich im Wesentlichen als der affirmative Prozess, in dem sich das Bewusstsein an die Wahrheit annähert; nur durch seine vollständige Erfahrung kann das Bewusstsein sein geistiges Wesen potenzieren. Diese Dialektik der Bewusstseinserfahrung zeigt uns, wie sich ihre ganze Reihe in der PHG entwickelt. Der Posten einer Bewusstseinsgestalt stellt sich als die Wahrheit ihrer Vorgängerin heraus; indem das Bewusstsein, mit einer Gewissheit beginnend, das Verlorengegangensein derselben erfährt, erfolgt wiederum der Posten ihrer Nachfolgerin, der ebenfalls von einer anderen Gewissheit ausgeht. Dem Gesamtvollzug des Bewusstseins lässt sich m. E. das folgende Stufenmodell entnehmen: das Bewusstsein => das Selbstbewusstsein => das allgemeine Selbstbewusstsein. Die drei zuerst auftretenden Gestalten im „Bewußtsein“ („sinnliche Gewißheit“, „Wahrnehmung“ und „Verstand“) sind typisch für das gegenstandsbezogene Bewusstsein, das einen Gegensatz zwischen der Erscheinung und dem Wesen voraussetzt. Im „Selbstbewußtsein“ („IV. Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“) erfährt das Bewusstsein zum ersten Mal seine geistige Natur, sodass für es die Erscheinung dem Wesen entspricht. In dieser Phase tritt der Begriff des Geistes zuerst auf; hier erfährt das Bewusstsein von dem Prozess der Anerkennung, die substanzielle Grundlage für sein Zusammenleben herauszufinden. Das Wesen des Bewusstseins ist dennoch bis zu diesem Atemzug ausschließlich für uns und noch nicht für das Bewusstsein offenbar. Das heißt: Das Bewusstsein im „Selbstbewußtsein“ erfährt sein geistiges Wesen, aber kommt noch nicht zur Einsicht, dass seine Erfahrung den absoluten Begriff des Wissens betrifft. Die Bewegung des Selbstbewusstseins zielt auf ein gegenseitiges Anerkanntsein zwischen beiden Subjekten ab; seine vollkommene Manifestation ergibt sich daraus, dass die beiden Subjekte das Phänomen der gegenseitigen Versöhnung erfahren können, dessen Phase als das allgemeine Selbstbewusstsein aufzufassen ist. Dies tritt in dieser Phase wie „die reine Einsicht“, „das Gewissen“ und „die offenbare Religion“ auf (W3.396; 478 ff.; 556 ff.). Diese Allgemeinheit ist in gleicher Weise mit dem Gemeinwesen, also dem Zusammenleben von Menschen eng verwoben, zumal sie als die „Gemeinde“ bezeichnet wird. Die religiöse Gemeinde und das sittliche Gemeinwesen werden nämlich in das Prinzip des allgemeinen Selbstbewusstseins integriert. 92 Das Bewusstsein erreicht gleichwohl nicht einfach mit dieser Phase sein Ziel, sondern nähert sich durch den Gang von der „Vernunft“ zur „Religion“ das Bewusstsein seinem Ziel an, um endlich an sein Ziel zu gelangen. 109 Die Phase der Versöhnung erscheint dem Bewusstsein als die Etappe, in der das allgemeine Selbstbewusstsein von dem einzelnen Selbstbewusstsein anerkannt und in Erscheinung tritt. Diese Erfahrungen finden sich explizit in der Kunstreligion, im moralischen Gewissen und letztlich in der offenbaren Religion. Aber erst im absoluten Wissen kommt das Bewusstsein zur Einsicht in seine Wahrheit; aus dem endgültigen Ausgleich zwischen dem Bewusstsein des Geistes und seinem Wissen von sich selbst ergibt sich der Gehalt der vollständigen Erfahrung des Bewusstseins. Daraus lässt sich feststellen, dass das absolute Wissen des Geistes von sich nichts anderes als das allgemeine Selbstbewusstsein des Geistes ist. <Der gesamte Vollziehungsprozess vonseiten des Bewusstseins> Die Dialektik der Bewusstseinserfahrung Das Entwicklungsstadium der Bewusstseinsgestaltungen Die unmittelbare Gewissheit => die Erfahrung der Unwahrheit => der Übergang zur Wahrheit „Bewußtsein“ => „Selbstbewußtsein“ => das allgemeine Selbstbewusstsein („Vernunft“, „Geist“ und „Religion“) In der PHG wird „der sich bildende Geist“ (W3.18) thematisiert. Dieser Geist tritt zwar explizit im „Geist“ auf, aber hier spiegelt sich die Dialektik seiner vorherigen Gestalten implizit wider. Daher setzt der ganze Bildungsprozess vom „Geist“ bis zur „Religion“ eben den vorigen Werdegang zum „Geist“ voraus. Die Struktur der Geistesbildung (der Geist selbst => seine Anderswerdung => die Aufhebung seines Andersseins) kann man, was das Ein Bericht von Rosenkranz (1844), Hegel habe bereits vor der Abfassung der PHG ihr letztes Kapitel „Das absolute Wissen“ als die „Einheit des allgemeinen und einzelnen Selbstbewußtseins“ konzipiert, dient als ein überzeugender Beleg dafür, dass das endgültige Wissen des Geistes in der Synthese von Bewusstsein und Selbstbewusstsein besteht. S. 213. Sein Bericht wurde von einigen Interpreten als Beweis dafür zitiert, dass Hegel während der Niederschrift der PHG, was ihren Aufbau, ihre systematische Funktion usf. betrifft, grundlegend schwankte; es gibt nämlich die Behauptung, Hegel habe zumindest vor ihrer Abfassung die Kapitel zwischen dem „Selbstbewußtsein“ und dem absoluten Wissen nicht erwartet, denn er habe nur das absolute Wissen als das allgemeine Selbstbewusstsein konzipiert. Dazu vgl. z. B. Pöggeler (1993), S. 209. Ob es sich in Wirklichkeit so verhielt, könnte man zwar anhand der philologischen Studien mehr oder weniger aufspüren. Aber diesen Umständen zum Trotz darf man m. E. „Vernunft“, „Geist“ und „Religion“ mitnichten für nebensächlich halten. Denn wenn man die Dialektik der Bewusstseinserfahrung ansieht, fungiert jedes dieser Kapitel, was das Wissen des Bewusstseins von seiner endgültigen Universalität (d. h. von dem allgemeinen Selbstbewusstsein) angeht, als unentbehrliche Phase. 93 109 gesamte Geistesphänomen betrifft, als den folgenden Verlauf formulieren: der abstrakte Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare Einheit mit sich selbst => seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich. Zur Bildung des Geistes bedarf es zunächst „des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens“ (W3.13). Der anfängliche Geist liegt wie bei der altgriechischen Sittlichkeit in dem festen Zutrauen zu der substanziellen Grundlage, endlich in der daraus entstandenen Befriedigung; infolgedessen fühlte es sich glückselig. Hier tritt ein Leitmotiv des hegelschen geistesgeschichtlichen Gedankens auf. Hegel, der neuzeitliche Denker, ist der Ansicht, seine Gegenwart sei die Zeit „des Übergangs zu einer neuen Periode“ (W3.18). Die Aufgabe seiner Philosophie ist es ebenso, den Geist seiner Zeit zu begreifen. Dieses neue Prinzip gilt als die Subjektivität des Geistes, oder deren Freiheit durch seine Reflexion in sich.110 Hier tritt der selbstbewusste Geist auf. In der Neuzeit zeigt sich, wie dieser Geist „über das substantielle Leben“ hinausgegangen ist (W3.15). Er wird jedoch zunächst als das Subjekt der „substanzlosen Reflexion“ (W3.15) bezeichnet, insofern er zunächst nur gegenüber seiner substanziellen Grundlage gelegen wird. Dieser aus der substanziellen Unmittelbarkeit heraus in die substanzlose Reflexion getretene Geist darf zunächst ausschließlich mit dem Verlust seiner Substanz erkauft werden. Sein Wissen um diesen Verlust ist auch das Wissen um seine Endlichkeit, sodass er unter der „absoluten Zerrissenheit“ (W3.36) leiden muss. Die Entfremdung des Geistes ist kennzeichnend eben für diesen Zustand, in dem das substanzielle Leben gescheitert ist; insofern der Geist seinen Gegenpol für sein Anderes hält, kann der selbstbewusste Geist nicht vermeiden, seinem Wesen entfremdet zu werden. Es ist aber sinnvoller, den Verlust der Substanz nicht bloß zu diagnostizieren, sondern eine Lösung zu finden; wie Hegel schreibt: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben“ (W3.492), so muss der Geist durch das wahre Wissen von sich aus seine Potenz für die Selbstüberwindung herausfinden können, und zwar ohne seinen Gehalt selbst zu verlieren. Diese Lösung ist ergo die Berichtigung der bisherigen einseitigen Reflexion, gleichsam die „Reflexion der Reflexion“111 als ihre erneuerte Form; dadurch stellt der Geist ohne den Verlust seiner Subjektivität seine Substanz wieder her. Das begriffliche Erfassen, dass „die Substanz an ihr selbst Subjekt ist“, ermöglicht die Einsicht, dass „aller Inhalt seine eigene Reflexion in sich“ (W3.53) ist. Durch diese erneuerte Reflexion erweist sich der selbstbewusste Geist als Subjekt, ohne in die Substanz- oder Haltlosigkeit zu geraten. Hegel 110 111 Dazu vgl. Habermas (1985), S. 26 f. Bubner (1996), S. 128. 94 berührt diesen subjektiv-substanziellen Geist – außer in der „Vorrede“ – in der christlichen Religion und endgültig im absoluten Wissen (W3.546; 550 ff.; 582; 585 ff.). Das Wesen des Geistes ist also im religiösen Wissen vom absoluten Geist und im begreifenden Wissen des Geistes von sich situiert. <Der gesamte Vollziehungsprozess vonseiten des Geistes> Die Dialektik der Erscheinungsformen des Geistes Das Entwicklungsstadium der Geistesbildung Der abstrakte Zustand des Geiste: die unmittelbare Einheit mit sich => seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich Der substanzielle Geist („Sittlichkeit“) => der (substanzlose) subjektive Geist („Bildung“ und „Moralität“) => der subjektiv-substanzielle Geist („Religion“ und „das absolute Wissen“) Aus dem Ü berblick der Gesamtlage in der PHG lässt sich ablesen, wie das Bewusstsein sein geistiges Wesen im jeweiligen Kapitel Schritt für Schritt entfaltet. Die Bewusstseinserfahrung und die Offenbarung des Geistes fallen im ganzen Gang der phänomenologischen Bewegung miteinander zusammen. Die Dialektik dieser Bewegung kann teils vonseiten des Bewusstseins, teils aus der Perspektive des Geistes angeordnet werden. Diese beiden Gänge, d. h. der Weg des Bewusstseins zum allgemeinen Selbstbewusstsein und der Weg des Geistes zu seinem Wissen von sich, decken sich nämlich miteinander. In dem absoluten Wissen wird die enge Verschränkung zwischen der Dialektik des Bewusstseins und der des Geistes dargelegt, indem das Stufenmodell der drei gegenstandsbezogenen Bewusstseinsgestalten (die „sinnliche Gewißheit“, „Wahrnehmung“ und „Verstand“) mit der folgenden Struktur beschrieben wird: Unmittelbarkeit => Verhältnis => Wesen. Diese liegt in der gleichen Ordnung wie die Struktur der geistigen Bewegung (der abstrakte Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare Einheit mit sich selbst => seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich). Dieses Gefüge ist bis zur letzten Phase des WELTLICHEN GEISTES durchgehalten worden.112 112 Dazu vgl. W3, S. 576 ff. Die Binnenstruktur des RELIGIÖ SEN GEISTES besteht außerdem aus der Dialektik des Bewusstseins (Bewusstsein => Selbstbewusstsein => das allgemeine Selbstbewusstsein). Der Grund dafür ist Folgendes: Der religiöse Geist steht, obgleich er seinem Begriff nach das Wissen des Geistes von sich impliziert, mit seinem Anfangspunkt noch nicht in seiner Vollendung, sodass der Geist sich durch den religiösen Gesamtvollzug zum absoluten Wissen im begreifenden Denken weiter entwickelt, um sein 95 D. Die geschichtsbezogene Betrachtung der Phänomenologie des Geistes 1. Begriff und Geschichte Die PHG dient als Einführung zum enzyklopädischen System der philosophischen Wissenschaft, aber fungiert bereits als Wissenschaft, die freilich außerhalb des Systems steht; damit hat sie ihre eigenständige Funktion im Bezug auf das System. Sie ist als „Voraus“ der Wissenschaft für das philosophische Subjekt deswegen unumgänglich, weil sie aufzeigt, wie sich das Bewusstsein zum absoluten Begriff der Wissenschaft emporhebt; das Bewusstsein, das zwar (momentan) noch nicht wissenschaftlich, aber (potenziell) wissenschaftsfähig ist, kann (wirklich) sein Wesen als erscheinenden Geist entfalten, sodass das Wahre Hegel zufolge sowohl Substanz als auch Subjekt ist. Dieser Punkt wird dann nachvollziehbar, wenn man die Dynamik des Entfaltungsgangs des Bewusstseins, die im engen Zusammenhang von Begriff und Geschichte besteht, eingehend betrachtet. Das einzelne Bewusstsein, das seine Empirie in sich hinein nimmt, kann nicht direkt das System der philosophischen Wahrheit erfassen; der Begriff der Wissenschaft muss durch die vollständige Erfahrung des Bewusstseins ausgeführt werden. Hegel versucht, mit der folgenden Analogie zu begründen, warum die geschichtliche Entwicklung des Begriffs nötig ist: Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an Stelle dieser eine Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet (W3.19). Wie eine Eichel nicht bereits eine reife Eiche ist, können philosophische Beschäftigungen nur mit dem bloßen Ansatzpunkt allein nicht zum Abschluss gebracht werden. Hierin befindet sich ein Leitfaden von Hegels Auffassung der Geschichtlichkeit in der PHG. Die Bewusstsein und sein Selbstbewusstsein miteinander auszugleichen. Die natürliche Religion hat nämlich die Form des Bewusstseins und die Kunstreligion hat die Form des Selbstbewusstseins, aber die offenbare Religion ist der Geist in der Einheit von beiden, die von der Vernunft bis zum absoluten Geist reicht. 96 Geschichte besteht scheinbar aus einer Reihe von kontingenten Ereignissen; dadurch könnte man denken, dass das bloß zufällige Geschehen von der Philosophie verschieden sei. In der traditionellen Philosophie wurde die Geschichte demnach nicht eingehend thematisiert, vorausgesetzt, dass die Geschichte etwas Flüchtiges sei, während die Philosophie, als rational-begriffsnotwendige Erkenntnis, in einer Absetzung von der Faktizität liege. Hegel erschließt hingegen in der PHG einen neuen Gedankenhorizont, um die Geschichtlichkeit zu thematisieren. Hegel kritisiert sehr scharf die Reihe der (für ihn) unphilosophischen Methoden, und zwar unter Anlehnung an „Gefühl“ bzw. „Erbauung“ (die in seiner Gegenwart sehr geläufig waren) oder an „Formalismus“ bzw. „Dogmatismus“ (der von Hegel insgesamt mit „Unmethode“ tituliert wird) (W3.11-22; 40-53). Dadurch entwirft er seine Philosophie als das wissenschaftliche System; die Philosophie muss nämlich „die gerechte Forderung des Bewußtseins“, das der Wissenschaft zugänglich sein will, erfüllen, weil sie sich als „verständige Form der Wissenschaft“ herausbildet (W3.20). Hegel denkt, die Offenbarung des Geistes muss mit der Reihe der Bewusstseinserfahrung von der Welt einhergehen; somit kommt er zur Einsicht in den engen Zusammenhang der Bewusstseinserfahrung und der Erscheinungsformen des Geistes, den man erst im wissenschaftlichen System erfassen kann. Die PHG wird also als die letzte Instanz für das philosophische Subjekt konzipiert, damit man wirklich zur Einsicht in den absoluten Begriff der Wissenschaft kommt. Um diesen Punkt zu begründen, setzt Hegel die „innere“ und die „äußere“ Notwendigkeit zueinander in Beziehung. Die innere Notwendigkeit, daß das Wissen Wissenschaft sei, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der [spekulativen] Philosophie selbst. Die äußere Notwendigkeit aber, insofern sie, abgesehen von der Zufälligkeit der Person und der individuellen Veranlassungen, auf eine allgemeine Weise gefaßt wird, ist dasselbe, was die innere [ist], in der Gestalt nämlich, wie die Zeit das Dasein ihrer Momente vorstellt (W3.14). Das begreifende Wissen liegt in der inneren Notwendigkeit, die man durch die Reihe der Darstellungen des Systems der philosophischen Wissenschaft erkennen kann. Diese „Erklärung“ setzt die wissenschaftliche Darstellung der Sache selbst – also der logischen Idee, der Natur und des Geistes – voraus; die Notwendigkeit ergibt sich nämlich daraus, dass 97 man zur Einsicht in das Wesen der Sache, wie sie in Wahrheit ist, kommen kann.113 Die äußere Notwendigkeit kann man dadurch erkennen, dass die (wesentlich innere) Notwendigkeit im Hinblick auf die Zeitlichkeit – eher auf die Geschichtlichkeit – dargestellt wird, sodass die Notwendigkeit im Rahmen der Erscheinung (die in der Zeit geschieht) gedacht wird. Die innere Notwendigkeit ist insofern dem Bewusstsein noch fremd, als sie ihm im Rücken liegt; soweit es nicht weiß, dass „hinter seinem Rücken“ diese Notwendigkeit „vorgeht“ (W3.80), ist sie ihm äußerlich. Aber die äußere Notwendigkeit muss von der bloßen Zufälligkeit der sog. reinen Historie unterschieden werden, weil sie dadurch die Notwendigkeit hat, dass sie („abgesehen von der Zufälligkeit“) durch die wissenschaftliche Betrachtung „auf eine allgemeine Weise“ aufgefasst wird. Die bloße Historie würde dem Augenschein nach durch die Zufälligkeit oder eigentlicher durch die blinde Notwendigkeit (die man Schicksal nennt) nicht entbunden; aber die wissenschaftliche Einsicht erlaubt es uns, die darin immanente Gesetz- oder Zweckmäßigkeit zu erkennen. Die äußere Notwendigkeit ist zwar von der inneren zu unterscheiden, soweit das Bewusstsein die Notwendigkeit der Wissenschaft nicht erkennen kann, sodass sie ihm noch äußerlich ist. Die „auf eine allgemeine Weise“ erfasste Notwendigkeit darf dem Subjekt nicht ein für alle Mal greifbar sein, sondern nur durch seine vollständige Erfahrung. Aus dem gesamten Bildungsprozess des Bewusstseins (zum absoluten Begriff der philosophischen Wissenschaft) ergibt sich aber die „Er-Innerung“ 114 (W3.591) der äußerlichen in die innerliche Notwendigkeit, indem die vollständige Erfahrung des Bewusstseins begriffen wird. Indem der absolute Begriff der Wissenschaft eben in jeder Gestalt der Bewusstseinserfahrung, d. h. in der Zeit-Dimension, mehr oder weniger erscheint, wird er Schritt für Schritt entfaltet; in dieser Phase wird das Beisichsein des Geistes in seinem Anderssein manifestiert. Wo das Schicksal vonseiten des Bewusstseins als Erscheinung der Freiheit entdeckt wird, da gelangt das Bewusstsein zur Erkenntnis, dass die wissenschaftlich fundierte innerliche Notwendigkeit in jeder Darstellung des erscheinenden Wissens (momentan verdeckt) ausformuliert worden ist. Den absoluten Begriff des Wissens kann das 113 Hegel hat seinen eigenen Gedanken der Freiheit (der sich mehr oder minder auf Spinoza zurückführt). Die Freiheit ist nämlich die „Wahrheit der Notwendigkeit“ oder die wahre „Verhältnisweise des Begriffs“, der für das philosophische Wissen relevant ist. Die Philosophie kann seiner Einsicht nach als „bewußte Einsicht in die Notwendigkeit“ aufgefasst werden. W6, S. 246; W18, S. 188. Diese Bezeichnung wird von Engels folgendermaßen umformuliert: Die „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“. Marx u. Engels, Werke, Bd. 20, S. 106. Zu den Ausführungen des Zusammenhangs von Freiheit und Notwendigkeit anhand der Philosophie Hegels vgl. Angehrn (1977), S. 56 ff. 114 In Bezug auf die Erinnerung richtet Hegel sein Augenmerk auf die etymologische Bedeutung von „Sichinnerlich-Machen, Insichgehen“ (W19.44). 98 Bewusstsein erst in der letzte Phase seiner Erfahrung erreichen; dieser Begriff, der in der Sache selbst immanenten Logos darstellt, kann auch als die logische Idee des Absoluten bezeichnet werden. Diese „logische Notwendigkeit“ (W3.55) entwickelt Hegel in seiner Logik. Unter Anlehnung an diese logisch-begriffliche Notwendigkeit wird der Werdegang des Bewusstseins zu dem wissenschaftlichen Standpunkt dargestellt. Die äußerliche Notwendigkeit bedeutet die Notwendigkeit der Geschichte in der PHG, solange der absolute Geist in der Vorstellungsform der Zeitlichkeit liegt; insofern die phänomenologische Bewegung unter dem Blickwinkel der Zeitlichkeit dargelegt wird, ist im Entfaltungsgang des Bewusstseins eben die im zeitlichen Geschehen erkannte Notwendigkeit sichtbar. Die obige „Erklärung“ bedeutet die Deutung der innerlichen Notwendigkeit, in der logisch das reale Geschehen liegt, während die äußere Bestimmung im Hinblick auf den Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG zu denken ist. Aber mit dem absoluten Wissen kann das philosophische Subjekt durch die Er-Innerung die beiden zu einem Ganzen zusammenschließen. In diesem Zusammenhang soll die Verschränkung von Begriff und Geist betont werden; derentwegen lässt sich die Geschichtlichkeit115 des Geistes in der PHG erkennen, die nichts anderes bedeutet, als dass das Selbstbewusstsein des Geistes eben aus konkreten Erfahrungen des Bewusstseins und deshalb aus einer Reihe der Kontingenz folgt. Diese geschichtliche Thematisierung ist daher konstitutiv für den Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit; es handelt sich bei der PHG um „die wissenschaftliche Geschichte des Bewußtseins“ (GW13.34), in der das Subjekt allmählich an sein Wesen als Wahrheit herankommt. Die bisherigen PHG-Interpretationen setzen trotz ihrer Verschiedenheit einen gemeinsamen Ansatz hinsichtlich der Geschichtlichkeit voraus: Die Gesamtbewegung des Bewusstseins bildet den geschichtlichen Weg zum absoluten Wissen. Was das Ziel bzw. die Methodik der geschichtsbezogenen Darstellung betrifft, gibt es natürlich den Unterschied zwischen der PHG und dem System. Dieser Unterschied resultiert aus dem Unterschied im Bezug auf die Darstellungsperspektive. In der PHG geht es nämlich um die Geschichte der Bildung des natürlichen Bewusstseins zum absoluten Wissen, während unter dem Gesichtspunkt des Systems die Geschichtsphilosophie behandelt wird. Aber man kann trotzdem nicht sagen, dass ausschließlich die Geschichtsphilosophie die vollkommene Geschichtsdarstellung sei, denn auch die Weltgeschichte in der PHG nimmt einen eigentümlichen Rang in der hegelschen Philosophie ein.116 „Die Bewegung, die Form seines Dazu vgl.: „Das absolute Wissen ist ein geschichtliches Resultat, weil alle Formen des Geistes sich geschichtlich entwickeln“. Jaeschke (2004), S. 210. Vgl. ebenfalls ders. (2009A), S. 24-27. 116 In Bezug auf diesen Punkt kann man die verschiedenen Versuche mit einem eigenen Ansatz finden. 99 115 Wissens von sich hervorzutreiben, ist die Arbeit, die er als wirkliche Geschichte vollbringt“ (W3.586). Die Wirklichkeit des geistigen Vollzugs, die uns an „wirkliches Wissen“ oder an „das wirkliche Erkennen“ (W3.14; 68) erinnert, liegt darin, dass die Geschichte des Geistes sein subjektiv-substanzielles Charakteristikum repräsentiert. Damit versucht Hegel die traditionelle Diskrepanz zwischen der Rationalität (Normativität) und der Gegebenheit (Faktizität) zu überwinden; das wirkliche Wissen des Geistes bedeutet nämlich das begreifende Wissen dessen, was in Wahrheit ist, oder, was wirklich und zugleich vernünftig ist.117 Die wirkliche Geschichte des Geistes stellt seinen Bildungsprozess dar, um sein Ziel, nämlich wirkliches Wissen, zu erlangen. Die Wissenschaft stellt sowohl diese bildende Bewegung [des Geistes] in ihrer Ausführlichkeit [also die Vollständigkeit] und Notwendigkeit als [auch] das, was schon zum Momente und Eigentum des Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Marcuse (1968) versucht grundsätzlich, von der Position Diltheys ausgehend, die (ungeschichtliche) Idee des epistemologischen Subjekts (als das „Ich“) und die Idee des Lebens (als Seinsbegriff) in den Begriff der Geschichtlichkeit zu integrieren, dadurch behandelt er aus dieser Perspektive Hegels P HG. Maurer (1980) bezweckt mit der Verknüpfung zwischen der Geschichtsphilosophie und der spekulativen Theologie, Diltheys und Marx’ Position zu überwinden. S. 89f. Weckwerth (2000) entnimmt dem Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG eine Genese der Reihe der kulturellen Phänomene in der Geschichte, und sieht diese als Beweis dafür an, dass die PHG nicht in Bezug auf ihre Funktion im System sondern als eine Metaphysik in einem eigenständigen System bestimmt werden solle. S. 11 ff. Falke (1996) findet in der P HG Hegels Auseinandersetzung mit der philosophischen Geschichte. Es gibt überdies noch eine andere Richtung, in der man, um die Religion in die Geschichte einzubeziehen, die noch umfangreiche, vollendete Weltgeschichte in der PHG sehen kann. Dazu vgl. z. B. Maza (1998). Es gibt zwar die Behauptung, dass die weltgeschichtliche Schilderung in der PHG nicht vollkommen sei. Davon geht die Position, dass das Kapitel „Geist“ dem objektiven Geist in der Enzyklopädie nicht endgültig entspreche, aus. Diese Position, die grundsätzlich der These von Lukács oder Haering entgegengesetzt ist, beruht auf Pöggelers Auffassung. Nach Pöggeler können die geschichtlichen Momente der PHG bestenfalls entweder als nur partiell haltbar oder als nebensächlich angesehen werden; für ihn muss nämlich z. B das Verhältnis von Knechtschaft und Herrschaft im Kapitel „Selbstbewußtsein“ nicht dem sozialphilosophischen Thema zugerechnet, sondern nur als „ein illustrierendes Exempel“ für die jenem Kapitel zugrunde liegende Logizität betrachtet werden. Er denkt, die gesamten geschichtlichen Darstellungen in der PHG seien nichts anderes als die Exemplifizierungen der logischen Bestimmungen. Damit könne man die Grundstruktur der P HG (vonseiten des Bewusstseins) veranschaulichen. Pöggeler (1993), S. 220, 293 u. 354; ders. (1998), S. 130-136. WeisserLohmann betrachtet, unter Anlehnung an Pöggeler, die Geschichte in der PHG als die Geschichte der logischen Kategorien, nach denen die Reihe der Bewusstseinserfahrungen zur Wissenschaft erhoben werden kann, vorausgesetzt, dass alle Bewusstseinsgestalten in der PHG nichts anderes als Erscheinungen der wissenschaftlichen Logizität seien. Dazu vgl. z. B. Weisser-Lohmann (1998), S. 187-191. Aber das Verhältnis der logischen Grundbestimmungen zu den Geschichtsdarstellungen in der PHG ist auf keinen Fall das der Substanz zu ihren Akzidenzien. Die Geschichte in der P HG ist nicht einfach als solche beispielhaften Schilderungen zu verstehen, sondern als die Durchführung selbst des Grundgedankens des Werkes, durch die die Wahrheit für das philosophische Subjekt zugänglich ist. Auch Maza (1998) ist trotz der Orientierung an der These Pöggelers der Ansicht, das Bewusstsein erreiche im Kapitel „Religion“ das völlige Erfassen der Geschichte. S. 157-159. 117 Dazu vgl.: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“. Insofern die Vernunft grundsätzlich sowohl in „selbstbewußtem Geiste“ als auch in „vorhandener Wirklichkeit“ erkannt wird, ist die Vernunft sowohl (ihrer Form nach) „begreifendes Erkennen“ als auch (ihrem Inhalt nach) „das substantielle Wesen“ der Sache. Und diese „Einheit der Form und des Inhalts“ kann als „die philosophische Idee“ bezeichnet werden. W7, S. 24-27. 100 Geistes in das, was das Wissen ist. Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. Einesteils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn jedes Moment ist notwendig; - andernteils ist bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Konkretes oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet wird (W3.33). Diese Notwendigkeit und die Ganzheit machen die Wissenschaftlichkeit der PHG aus; dieser Bildungsprozess, dessen vollständige Darstellung unter Anlehnung an die Notwendigkeit (des Ü bergangs einer Bewusstseinsgestalt zu ihrer nächsten) selbst die phänomenologische Wissenschaftlichkeit ausmacht, ergibt sich aus der langfristigen und standhaften Arbeit des Geistes. Die Geschichte des Geistes wird dementsprechend von Hegel als „die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte“ geschildert; die „Weltgeschichte“ liegt nämlich in dem Bildungsprozess, in dem sich „der Weltgeist“ darum bemüht, die Reihe der Erfahrungen „in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen“ (W3.33 f.). Daraus lässt sich hervorheben, wie sich der Begriff, als der Standpunkt der Wissenschaft oder die logische Idee selbst, zu der Zeit, als Grundlage für das Geschehen des Geistes, verhält. Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt (W3.584). Die Zeit wird von Hegel nicht als die bloße Form der subjektiven Anschauung (wie bei Kant) sondern (mit dem Raum als der anderen Weise zusammen) als eine Existenzweise dessen, was ist, mit anderen Worten als der erscheinende Begriff verstanden.118 In der Zeit erscheint nämlich das geistige Wesen und der Geist muss durch das geistige Verhältnis zu ihm seinen Begriff, wie er in Wirklichkeit ist, erfassen. Die Bildung des Geistes impliziert den Prozess, in dem man entdeckt, was in der Reihe der Bewusstseinsgestalten verdeckt worden ist; die zeitliche Entfaltung des geistigen Begriffs ist nämlich nichts anderes als der allmähliche Dazu vgl.: „Wenn wir aber gesagt haben, daß das Empfundene vom anschauenden Geiste die Form des Räumlichen und Zeitlichen erhalte, so darf dieser Satz nicht so verstanden werden, als ob Raum und Zeit nur subjektive Formen seien. Zu solchen hat Kant den Raum und die Zeit machen wollen. Die Dinge sind jedoch in Wahrheit selber räumlich und zeitlich“ (W10.253). 101 118 Übergang der „Verborgenheit“ des geistigen Potenzials in die „Offenbarkeit“, sodass der Geist erst als „das erfüllte Ganze“ erfasst wird (W3.584). Ü ber die Dialektik von Begriff und Wirklichkeit schriebt Hegel Folgendes: Was aber das Dasein dieses Begriffs betrifft, so erscheint in der Zeit und Wirklichkeit die Wissenschaft nicht eher, als bis der Geist zu diesem Bewußtsein über sich gekommen ist. Als der Geist, der weiß, was er ist, existiert er früher nicht, und sonst nirgends als nach Vollendung der Arbeit, seine unvollkommene Gestaltung zu bezwingen, sich für sein Bewußtsein die Gestalt seines Wesens zu verschaffen (W3.583). Der Geist ist noch mit einer bestimmten Gestalt der Bewusstseinserfahrungen verbunden, solange er noch auf der zeitlichen Entdeckungsreise ist; die Zeit erscheint nämlich dem Bewusstsein als das Schicksal, als die blinde Notwendigkeit, indem sie nicht endgültig begriffen wird. Die Vollendung der geistigen Arbeit fällt daher mit der Ü berwindung der Zeit-Dimension zusammen (W3.584); indem er seine Zeit-Dimension aufhebt, manifestiert sich sein subjektiv-substanzielles Wesen: der Ausgleich zwischen dem Bewusstsein des Geistes und seinem Selbstbewusstsein, das an und für sich seiende Wissen dessen, was er an sich ist (W3.579); sowie die Emporhebung der bloßen Gewissheit seiner selbst zur Wahrheit, also die Abwandlung des Schicksals in die erfasste Notwendigkeit (die nichts anderes als die Freiheit des Geistes ist). Aus der Tilgung der Zeit ergibt sich, dass der Geist als das ganz Erfüllte in der Unendlichkeit der Zeitfolge immanent ist, weil er sich selbst begreifen kann.119 Dazu vgl.: „Solange der Geist sich selbst vorstellt, ist Geist: Geschichte; insofern er sich aber vollzieht, ist er der sich begreifende Begriff: Tilgen der Zeit in historisch erfüllter Gegenwart“. Luckner (1994), S. 228. 102 119 2. Die Geschichte des Bewusstseins und die Geschichte des Geistes Hegel integriert den Begriff des Geistes und sein zeitliches Dasein in seine geschichtliche Thematisierung; die PHG ist nämlich im Umfeld der Geschichtlichkeit zu betrachten, sofern sie den Werdegang zum absoluten Begriff der philosophischen Wissenschaft darstellt. Um auf diese Thematik einzugehen, muss man sich auf die folgenden Grundkonzeption der PHG besinnen: Sie ist sowohl die Wissenschaft der Bewusstseinserfahrung als auch die der Erscheinungsformen des Geistes. Dementsprechend kann man die Geschichte ebenfalls mit den beiden Momenten, die die Geschichtlichkeit in der PHG ausmachen, bezeichnen; die Geschichte in der PHG kann zunächst als die Geschichte des Bewusstseins, aber auch als die Geschichte des Geistes beschrieben werden. Nicht unbedingt besagt die strukturelle Einheitlichkeit der PHG, dass nur die eine Gedankenlinie durch den ganzen Hauptteil durchgedrungen ist; denn man findet in diesem Werk zwei Perspektiven, d. h. die theoretische und die praktische. Aber Hegels phänomenologisches Unternehmen ist nicht fehlgeschlagen, sondern darin wird die strukturelle Konformität der ganzen Darstellungen entdeckt; denn die geschichtsbezogene Betrachtung kommt der Grundidee der PHG entgegen. Um den Darstellungen in der PHG die geschichtlichen Momente zu entnehmen, muss vorausgesetzt werden, dass man die PHG (trotz der Veränderung des ursprünglichen Buchplans) als ein einheitlich organisiertes Werk betrachten kann. Aus der Betrachtung der geschichtlichen Momente folgt, dass sich eine Ü bersicht über verschiedene Varianten der Geschichte in der PHG findet. Der ersten Hälfte der PHG (von dem „Bewußtsein“ zur „Vernunft“) lässt sich vor allem die theoretische Thematik entnehmen, die eher als logische Entwicklung des subjektiven Geistes aufzufassen ist; trotzdem kann man auch hier hinsichtlich der Geschichtlichkeit die obige Konzeption eruieren. Das Kapitel „Geist“ handelt eigentlich von der Weltgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart Hegels. Auch die Komposition des Kapitels „Religion“ ist eben der Entwicklungsgang des Religionsbegriffs, d. h. die Geschichte der Religion, die aber für Hegel nichts anderes als das höchste geistige Gebilde im Bezug auf die Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes ist. Es gibt gleichwohl noch umstrittene Punkte hinsichtlich dieser geschichtlichen Thematisierung anhand der PHG, denn es ist zu erkennen, wie sich die Geschichtlichkeit in Bezug auf den Aufbau der PHG verhält, oder wie weit sich diese Thematik mit dem Hauptteil der PHG deckt. Die in dem Jenaer „Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/6)“ niedergeschriebene Skizze, was die Gliederung innerhalb der PHG betrifft, gibt 103 uns einen Hinweis. Sie hat das folgende 6-teilige Gefüge: „absolutes Seyn“, „Verhältniß“, „Leben und Erkennen“, „wissendes Wissen“, „Geist“ und „Wissen des Geistes von sich“ (GW8.286). Wenn man sie wirklich auf die Binnenstruktur des Bildungsgangs des Bewusstseins anwenden darf, lässt sich das Entsprechungsverhältnis der Skizze zur PHG wie folgt anordnen:120 „absolutes Seyn“ „Verhältniß“ Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/6) „Leben und Erkennen“ „wissendes Wissen“ „Geist“ „Wissen des Geistes von sich“ I II III „Die sinnliche Gewißheit“ „Wahrnehmung“ „Verstand“ und „Selbstbewußtsein“ IV „Vernunft“ V „Geist“ VI Phänomenologie des Geistes (1807) „Religion“ und das „absolute Wissen“ Diese Binnenstruktur wird im ganzen Entfaltungsgang des Bewusstseins durchgehalten, d. h. von dem Wissen von der natürlichen Welt oder dem Wissen von der Anlage zu diesem Wissen (von der „sinnliche[n] Gewißheit“ bis zur „Vernunft“) durch das Wissen von der kulturellen Welt oder dem Prinzip von dem Zusammenleben (im „Geist“) bis zum Wissen des Geistes von seinem Wissen („Religion“ und das „absolute Wissen“ betreffend). Dieses 120 Pöggeler behandelt diese Skizze in Bezug auf das Metaphysik-Konzept (als spekulative Wissenschaft). Nach Pöggeler entspreche die erste Hälfte der Skizze (I.-III.) der Logik (als Einleitung in die Wissenschaft oder als Lehre der formallogischen Begriffe des Gedankens), ihre zweite Hälfte (IV.-VI.) hingegen der traditionellen Metaphysik (zu der Seelen-, Welt- und Gotteslehre gehören). Vgl. Pöggeler (1993), S. 267 ff.; ders. (1998), S. 132. Damit bezweckt er, Hegels Schwanken im Bezug auf die Niederschrift der PHG zu begründen. Pöggeler denkt nämlich, Hegel habe ursprünglich geplant, mit der PHG nur die erste Hälfte (nur „Bewußtsein“ und „Selbstbewußtsein“) abzudecken, aber die Proportionen des Werkes haben sich seinem Konzept entgegen zu seinen Ungunsten verändert. Vgl. bes. ders. (1973), S. 333 ff.; 348 ff. Allein man kann m. E. unabhängig von dem wahrscheinlichen Resultat dieses philologischen Studiums die Skizze sozusagen werk-immanent behandeln. Die Bemerkungen zu dieser Skizze in dieser Arbeit könnten nämlich nur dazu beitragen, im Hinblick auf die Geschichtlichkeit die Binnenstruktur der PHG zu thematisieren. Daraus lässt sich feststellen, dass man aus dem ganzen Aufbau der P HG (nicht bloß die formelle Erkenntnistheorie, sondern auch) den Ansatz zur metaphysischen Bemühung, die das Bewusstsein, seinen Gegenstand und die spekulative Beziehung von beiden umfasst, entnehmen kann. 104 dreifache Gefüge bildet, mit der traditionellen Metaphysik formuliert, die Lehre von Seele, Welt und Gott. Man kann einerseits denken, jedes der drei Momente wird zwar als eigenständiger Verlauf aufgefasst; in diesem Zusammenhang kann „die dreimalige Wiederholung des Geschichtsablaufs“121 gedacht werden. Aber es ist andererseits möglich, dass man mit der spekulativ fundierten Zeit-Konzeption auf die Thematisierung der eigentlichen Geschichtlichkeit erst in der „Religion“ hinzielt; insofern wird angenommen, dass erst die Geschichte des RELIGIÖ SEN GEISTES zu der realen Weltgeschichte passe, sodass sich erst in der „Religion“ die eigenständige Dimension der Weltgeschichte ergebe.122 Es ist aber m. E. noch sinnvoller, diese beiden Richtungen in eine Dimension zu integrieren. Darüber lässt sich Folgendes ausführen: 1) Der „Weltgeist“ (W3.33) vollzieht in der PHG die Aufgabe der Gesamtbewegung des Bewusstseins (vom sinnlichen bis zum religiösen Bewusstsein), 2) die Bewusstseinsgestalten bis zur „Vernunft“ haben jedoch keine eigenständige Weltgeschichte, sondern machen die Reihe der Momente für die Konstruktion des Kapitels „Geist“ aus und 3) bloß mit dem WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ zum „Geist“) vollendet sich seine Bildung deswegen noch nicht, weil sie erst mit der vollständigen Entfaltung des RELIGIÖ SEN GEISTES (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion) abgeschlossen ist. Der „Geist“ betrifft zum ersten Mal eingehend die Reihe der „Gestalten einer Welt“ (und zwar „statt Gestalten nur des Bewußtseins“) (W3.326). Auch bei den Etappen vor dem „Geist“ könnte man sporadisch (z. B. in Bezug auf den nachklassischen Gedanken der „Freiheit des Selbstbewußtseins“ im „Selbstbewußtsein“ oder in Bezug auf die erkenntnistheoretischen „Versicherungen“ vom frühneuzeitlichen „Idealismus“ in der „Vernunft“) die Momente der wirklichen Geschichte erkennen;123 indem im „Geist“ erst ein 121 Lukács (1967), S. 577. Er versucht, die Komposition der PHG (analog der Philosophie vom Geist in der Enzyklopädie) in drei Teile aufzugliedern. Dieser Aufbau impliziert ihm zufolge den „Prozeß der Aneignung der historischen Gattungserfahrungen der Menschheit“. Zur wirklichen Geschichte in ihrer eigentlichen Bedeutung zähle nur der zweite Kreis („Geist“) unter den geschichtlichen Folgen. Lukács denkt, der erste Kreis (bis zur „Vernunft“) sei noch nicht die wirkliche Geschichte, weil sich hier die Reihe der schicksalhaften Erfahrungen vonseiten des individuellen Bewusstseins ergebe; hingegen sei der dritte (d. h. ab der „Religion“) nicht mehr die wirkliche Geschichte, weil er davon handele, die Reihe der bisherigen geschichtlichen Bemühungen des Menschen retrospektiv zusammenzufassen und zu begreifen. S. 577 ff. 122 Maza (1998) denkt, dass die Religion „die wesentliche und unentbehrliche Funktion“ für die Komposition der PHG habe. Im Kapitel „Geist“ werden die historischen Momente behandelt; jedoch sei diese Durchführung deswegen nur „exemplarisch“, weil es da streng genommen keine spekulative Zeit-Dimension gebe, sodass darin keine reale Geschichte vorhanden sei, sondern nur zufällige Erscheinungen ausfindig gemacht werden. Erst die Religion fungiere als „Bund“, der alle vorigen Knotenlinien umfasst, indem sie „idealtypisch“ die adäquate geschichtliche Erscheinung des ganzen Geistes ausmache. S. 155-159. Vgl. bes.: „[E]rst im Übergang vom Geist- zum Religionskapitel wird es überhaupt möglich, daß sich der Geist als Ganzes in der Zeit anschaut, während er bis dahin gleichsam nur in Schattenrissen erschien. Deshalb erscheint der Geist als Weltgeist oder als Geschichte im vollendeten Sinn nur im Religionskapitel“. S. 158. 123 Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ erblickt Hegel in der „Geschichte des Geistes“ den „Stoizismus“, den 105 „wissendes Wissen“ (GW8.286) des individuellen Bewusstseins in den Umfang des überindividuellen Zusammenlebens emporgehoben wird, kann man hier durch die eigene Dimension der Weltgeschichte hindurchsehen. Auch die Gestalten im Kapitel „Geist“ verliefen von der griechischen Sittlichkeit bis zur neuzeitlichen Moralität, und zwar der geschichtlichen Chronologie entsprechend. In der „Religion“ wird aber ein noch größerer geschichtlicher Umfang thematisiert. Die natürliche Religion stellt die altmorgenländische Religion dar, deren wirklicher Geist nicht im Kapitel „Geist“ behandelt wurde, und die offenbare Religion impliziert den gedanklichen Inhalt des absoluten Geistes, der anhand der (von Hegel selbst erneuten) philosophischen Wissenschaft eingehend zu überprüfen ist. Der RELIGIÖ SE GEIST erschließt somit extensiver und intensiver als die Gestalten des WELTLICHEN GEISTES die weltgeschichtliche Ebene. Ü ber den Zusammenhang zwischen dem sich selbst wissenden Geist, der den Begriff der Religion ausmacht, und dem Weltgeist im Rahmen der PHG schreibt Hegel Folgendes: Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins [und zwar des unglücklichen Bewusstseins] gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein und als Wahrheit ein (W3.551). Die vollendete gegenständliche Darstellung ist erst zugleich die Reflexion derselben oder das Werden derselben zum Selbst. - Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist (W3.585). Der Weltgeist kann also erst im Kapitel „Religion“ seine Vollendung erreichen; der RELIGIÖ SE GEIST ist nichts anderes als das Wissen des Weltgeistes von sich selbst. Aber die Vollendung des Weltgeistes ergibt sich keinesfalls direkt am Anfang des RELIGIÖ SEN GEISTES, noch irgendwo innerhalb seines Entfaltungsgangs, sondern erst in „Skeptizismus“ und das „unglückliche Bewußtsein“. In diesem Zusammenhang erwähnt Hegel explizit den Ausdruck „Weltgeist“, um den Stoizismus mit dem römischen „Rechtszustand“, der im Kapitel „Geist“ eingehend dargelegt wird, in Beziehung zu setzen. W3, S. 157. Aus Hegels Bemerkungen im Kapitel „Vernunft“ lässt sich außerdem konstatieren, dass Hegels Gedanke des Weltgeistes nicht bloß auf die faktische Geschichte der Menschheit bezogen wird. Hegel schreibt Folgendes: „Das Bewußtsein wird sein Verhältnis zum Anderssein oder seinem Gegenstande auf verschiedene Weise bestimmen, je nachdem es gerade auf einer Stufe des sich bewußtwerdenden Weltgeistes steht“ (W3.181). Die Bildung des Weltgeistes besteht also in dem gesamten Vollzug des wissenden bzw. handelnden Bewusstseins überhaupt, sodass die Reihe der Bewusstseinsgestalten bis zur Vernunft in die weltgeschichtliche Dimension mit einbezogen wird. 106 seiner Schlussphase; weil die Vollendung des Weltgeistes realiter mit der Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES zusammenfällt, ist es offensichtlich, dass der Weltgeist von der ersten bis zur letzten Etappe der Bewusstseinserfahrung voranschreiten muss. Den Weltgeist in der PHG darf man somit nicht unbedingt für den vorreligiös-weltlichen Geist halten; jener bedeutet gleichsam die Gesamtheit der Bewusstseinsgestalten (einschließlich des RELIGIÖ SEN GEISTES). Der geschichtliche Verlauf in der PHG deckt also 1) die Geschichte des Bewusstseins, 2) der Welt und 3) der Religion umfassend ab, mit anderen Worten: 1) die Geschichte des Wissens des Menschen von der gegenständlichen Welt, 2) die Geschichte der Praxis um der Welt-Gestaltung willen, in der der Mensch seinen Willen verwirklicht, und 3) die Geschichte der affirmativen Offenbarung des Absoluten. Die Gesamtheit der Geschichte in der PHG kann gemäß ihrer Grundidee gänzlich behandelt werden. Aus der „Vorrede“ bzw. „Einleitung“ zur PHG lassen sich zwei Ziele ihrer Darstellung beschreiben. Dem besonderen Individuum steht einesteils die Aufgabe bevor, seine Perspektive zum wissenschaftlichen Standpunkt zu erheben. Das (momentan) ungebildete Individuum als Einzelne ist nichts anderes als das natürliche Bewusstsein. Es nimmt schrittweise seinen Gegenstand „für sich in Besitz“ (W3.33); dieser Prozess ist schmerzhaft, weil es „sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten“ hat (W3.31). Die Darstellung dieses Prozesses wird von Hegel mit der „Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft“ (W3.73) betitelt; diese Wissenschaft ist eben die „Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht“ (W3.38). Demzufolge tritt als das zweite Ziel die Bildung des „allgemeinen Geistes“, der die „Substanz des Individuums“ (W3.33) ausmacht, auf; dieser Geist, mit anderen Worten „das allgemeine Individuum“, enthält den gesamten Vollziehungsprozess aller besonderen Individuen in sich. Ü ber diese Allgemeinheit sagt Hegel Folgendes: Die Aufgabe, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen und das allgemeine Individuum, der selbstbewußte Geist, in seiner Bildung zu betrachten (W3.31). Diese Bildung bedeutet die geistige Universalgeschichte der Menschheit überhaupt. Hegel benennt den Hauptdarsteller in der Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung als den selbstbewussten, d. h. den sich selbst wissenden Geist, zu dem aber auch der Weltgeist 107 gehört.124 Der Weltgeist macht jeden Augenblick der Bewusstseinserfahrung zum Material für seine Geschichtsdarstellung, damit sich das absolute Wissen des Geistes von sich selbst ergeben kann. Also bildet sich die zweite Bezeichnung für den Entwicklungsgang in der PHG als die „Geschichte der Bildung der Welt“ (W3.32), eigentlicher als die Weltgeschichte, heraus. Die Vollendung des Weltgeistes ist, wie schon gesagt, durch den gesamten Vollzug des WELTLICHEN GEISTES hindurch erst in der Phase der Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES zu erreichen. Wie sich die beiden geschichtlichen Subjekte, d. h. das besondere Individuum und das allgemeine Individuum, zueinander verhalten, wird folgendermaßen expliziert: Was das Verhältnis beider betrifft, so zeigt sich in dem allgemeinen Individuum jedes Moment, wie es die konkrete Form und eigene Gestaltung gewinnt. Das besondere Individuum ist der unvollständige Geist, eine konkrete Gestalt, in deren ganzem Dasein eine Bestimmtheit herrschend ist […]. In dem Geiste, der höher steht als ein anderer, ist das niedrigere konkrete Dasein zu einem unscheinbaren Momente herabgesunken; was vorher die Sache selbst war, ist nur noch eine Spur; ihre Gestalt ist eingehüllt und eine einfache Schattierung geworden. […] Der Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist […]. Dies vergangene Dasein ist bereits erworbenes Eigentum des allgemeinen Geistes, der die Substanz des Individuums und so ihm äußerlich erscheinend seine unorganische Natur ausmacht (W3.31 ff.). Indem sich jedes besondere Individuum die allgemeine Geschichte der Menschheit geistig zu eigen macht, ist sein geistiges Potenzial erkennbar. Aber dieser „Durchbildung des natürlichen Bewußtseins“ entspricht der fortlaufenden „Umbildung“ des Weltgeistes oder „der Arbeit seiner Umgestaltung“ (W3.37; 34; 18); mit biologischen Ausdrücken formuliert, 124 Als Hegel kurz vor seinem Tod (1831) die PHG zu revidieren versucht hat, hat er den ursprünglichen „Weltgeist“ durch diesen Ausdruck „der selbstbewusste Geist“ ersetzt (W3.31; 598). Man könnte auf den ersten Blick denken, Hegel halte endgültig den Weltgeist nur für den WELTLICHEN GEIST, während der RELIGIÖ SE GEIST als der „selbstbewußte“, d. h. „sich selbst wissende“ Geist repräsentativ für die ganze Menschheit sei. Aber man muss in diesem Zusammenhang aufmerksam auf diesen Nebensatz achten: „[w]eil die Substanz des Individuums, weil sogar der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte […]“ (W3.33 f.). Hier bedeutet zwar die hiesige „Substanz des Individuums“ eben das obige „allgemeine Individuum“, aber Hegel sagt, „sogar“ der Weltgeist muss mit dem selbstbewussten Geist zusammen die langfristige Arbeit der geistigen Bildung vollziehen. Daraus wird in der vorliegenden Arbeit gefolgert, dass der Bildungsprozess zu dem Wissen des Geistes von sich wohl als die Geschichte des allgemeinen Geistes, aber auch als die Geschichte des Weltgeistes aufzufassen ist. 108 entspricht die Ontogenese des Geistes (als eines besonderen Individuums oder des natürlichen Bewusstseins) eben der Phylogenese des Geistes (als eines allgemeinen Individuums oder Weltgeistes). Diese Weiterbildung des Weltgeistes folgt aus der vollständigen Erfahrungsgeschichte, die das Bewusstsein wiederum mit dem historischen Erbe in seiner Epoche der Bildung beginnt. Daraus lässt sich folgern, dass der Ü bergang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt und die weltgeschichtliche Entfaltung des Geistes in Anlehnung an Hegels phänomenologisches Programm konvergieren. In jedem geschichtlichen Geistesphänomen erfährt das Bewusstsein sein geistiges Wesen und jede substanzielle Wahrheit des Geistes erscheint als der Gegenstand der Bewusstseinserfahrung. Hegels Thematisierung der Geschichte in der PHG zielt darauf, das Werden des Bewusstseins zur Wissenschaft durch das Begreifen des geistigen Wesens zu demonstrieren. Also setzen die Geschichte des Bewusstseins (als des Einzelnen) und die des Geistes (als des Universalen) sich einander voraus und die beiden machen die beiden Modi der Geschichte in der PHG aus. 109 3. Die „begriffene Geschichte“ Wie bereits dargelegt, ist die PHG ursprünglich als „Weg zur Wissenschaft“ nicht als die bloße Propädeutik, sondern als „schon Wissenschaft“ zu betrachten (W3.80); ihre Wissenschaftlichkeit beruht auf der Vollständigkeit der Bewusstseinsgestalten in der PHG und auf der Notwendigkeit des Ü bergangs einer Gestalt zu ihrer nächsten Phase. Die PHG thematisiert außerdem sowohl die Erfahrung des Bewusstseins als auch die Erscheinungsformen des Geistes. Diese Einsicht wird von Hegel in der „Vorrede“ bzw. „Einleitung“ zur PHG vorläufig125 erläutert, auch im ganzen Gang des Hauptteils wird unter dem Gesichtspunkt des spekulativen Betrachters, d. h. für uns, – und zwar wie die Sache noch nicht für das Bewusstsein, sondern nur an sich ist – darauf hingewiesen; dieser Punkt wird letztlich in dem letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ tiefgründiger geschildert. Das absolute Wissen des Geistes liegt darin, dass er in jedem Verhältnis des Bewusstseins zu dem Gegenstand nämlich „das wirkliche Spekulative“ (W3.61) erfasst. Dies begreifende Wissen, das sich aus dem gesamten Entfaltungsgang des Bewusstseins ergibt, bildet den Grund für die spekulative Betrachtung der Sache, die anhand des enzyklopädischen Systems behandelt wird. Die Einsicht in das wissenschaftliche System wird nämlich durch die gesamte Darstellung des erscheinenden Wissens erreichbar. Indem Hegel in der „Vorrede“ Folgendes schreibt: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ (W3.14), denkt er, dass die philosophischen Bemühungen weder mit der Behauptung ihres Ansatzes noch mit der einfach tabellarisierten Schlussfolgerung enden. Das philosophische System ist ihm zufolge kein Resultat von Schematismus oder Formalismus, sondern die logisch-begriffliche Notwendigkeit wird in den Ausführungen des erscheinenden Wissens sozusagen als „Rhythmus des organischen Ganzen“ (W3.55) vollzogen; denn der Entwicklungsgang des Geistes in der PHG ist nichts anderes als der kontinuierliche Ü bergang seiner „Verborgenheit“ zu seiner vollständigen „Offenbarkeit“, sodass das philosophische Subjekt das „das erfüllte Ganze“ begreift (W3.584). Im Hinblick auf die Zeitlichkeit lässt sich die Reihe der Bewusstseinsgestalten darstellen; zur vollendeten Position des Stufengangs in der PHG bedarf es der Ü berwindung der Zeit- Die „Vorrede“ wurde zwar chronologisch später als der Hauptteil der PHG geschrieben, dieses Werk ist aber trotzdem – zumindest unter dem Aspekt des Rezipienten – der Darstellungsordnung nach (d. h. von der „Vorrede“ bis zum Kapitel „Das absolute Wissen“) zu lesen. Daraus lässt sich erkennen, dass die „Vorrede“ als vorläufige Bemerkungen hinsichtlich seines phänomenologischen Unternehmens bzw. dessen Ausführungen aufzufassen ist. 110 125 Dimension. Das absolute Wissen des Geistes von sich, wodurch die obige logischbegriffliche Notwendigkeit als der in der Sache selbst immanente Logos selbst entdeckt wird, folgt nämlich aus der Ü berwindung der Zeit-Vorstellung. Die denkerische Aufhebung der Zeitlichkeit bedeutet zwar den Endpunkt des Bildungsprozesses Bewusstseins in der PHG, aber sie ist nirgends als die Beendigung des geistigen Vollzugs, was geläufig als das Ende der Geschichte ausgedrückt wird, zu erkennen. Aus der Vollendung des Geistes ergibt sich, dass das endgültige Wissen des Geistes von sich nicht als seine einfache Introspektion verstanden wird; denn das Wissen des Geistes besteht, soweit sein Wissen auch ein Wissen ist, in seinem Verhältnis zum Phänomen und das absolute Wissen ergibt sich daraus, dass die Gesamtheit der Kenntnisse, die das natürliche Bewusstsein hat, im Ganzen begriffen wird. Der Schlusspunkt des Bewusstseins in der PHG ist also nicht einfach als eine Endhaltstelle, in der der geistige Vollzug zu seinem Stillstand kommen würde, anzusehen; hier fängt der absolute Geist wieder seinen Vollzug an, und zwar in der Form der BegriffsGestalt; die Weiterentwicklung des absoluten Geistes ist nämlich auf das System der philosophischen Wissenschaft bezogen. Für das spekulative Wissen des Geistes ist die Vereinigung zwischen der geistigen Intro- und Extrovertiertheit konstitutiv. Der Standpunkt der Wissenschaft lässt sich aus der Darstellung dieser Vereinigung folgern. Hegel veranschaulicht die Dialektik der geistigen Bewegung nicht durch eine eindimensionale Linie, sondern durch eine runde, in sich geschlossene Linie (also den Kreis). Die wissenschaftliche Entwicklung des Geistes ist nämlich „der in sich zurückgehende Kreis, der seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht“ (W3.585; 23). Auf die Extrovertiertheit des Geistes hat bereits („1. Begriff und Geschichte“) die Dialektik von Begriff und Geschichte Hinweise geliefert. Was den Bildungsprozess des Geistes in der PHG (der abstrakte Zustand des Geistes, d. h. die unmittelbare Einheit mit sich selbst => seine Entäußerung => seine Rückkehr zu sich) betrifft, könnte man das zweite Moment der Geistes-Bildung, d. h. die Entäußerung des Geistes, als die bloße Depotenzierung des geistigen Wesens ansehen; aber der Entäußerungsprozess des Geistes muss vielmehr als die gesamte Geschichte der geistigen Entfaltung ausgedrückt werden, in der sich der Geist sein Wesen aneignet. Das Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand impliziert das Verhältnis des Geistes zu sich selbst. Indem dieser Inhalt des absoluten Geistes explizit wird, erreicht das Bewusstsein den wissenschaftlichen Standpunkt. Das Wesen des absoluten Geistes findet man in der Ausführung seiner Offenbarung, in seiner gesamten Entäußerung. 111 Die Entäußerung des Geistes wird in dem letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ differenziert dargelegt. Die erste Entäußerung des absoluten Geistes wird von Hegel wie folgt ausgeführt: Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit, der Form des reinen Begriffs sich zu entäußern, und den Übergang des Begriffs ins Bewußtsein. Denn der sich selbst wissende Geist, eben darum, daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewißheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewußtsein, - der Anfang, von dem wir ausgegangen [sind] (W3.589 f.). Dieser erste Modus der Entäußerung betrifft nicht nur die Entäußerung des reinen Logos, den Hegel in seiner Logik behandelt, sondern auch die wiederholte Betrachtung des (von der „sinnliche[n] Gewißheit“ ausgehenden) erscheinenden Wissens. Aber dieser Ü bergang von dem absoluten Wissen zu dem unmittelbaren Bewusstsein ist streng genommen keine einfache Wiederholung, sondern quasi eine Rückwärtsbewegung, aus der (obgleich für uns kein Fortschritt hinsichtlich der Wahrheitserkenntnis resultiert) nur für das Bewusstsein die logische Grundlage für den Bildungsgang des Bewusstseins zur Wissenschaft aufgezeigt wird. Dieser Zugang zu der Erscheinung vonseiten des Geistes impliziert „die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich“ (W3.590). Wie bereits festgestellt, liegt Hegels phänomenologisches Unternehmen darin, dass die Darstellung des erscheinenden Wissens auf der begrifflichen Notwendigkeit beruht, sodass die Bewusstseinserfahrung unter dem spekulativen Blickwinkel, d. h. wie sie für uns erscheint, erkannt wird. In der Entäußerung der logischen Idee kommt das Bewusstsein selbst nun zur Einsicht, dass der „hinter seinem Rücken“ (W3.80) liegende Logos im begreifenden Wissen eben durch seine vollständige Erfahrung erreicht worden ist. Die logische Notwendigkeit, durch die die Reihe der Bewusstseinsgestalten in eine Gedankenlinie integriert wird, hat sich aber schon aus der vollständigen Erfahrung des Bewusstseins ergeben. Die logische Notwendigkeit setzt – der Darstellungsordnung nach – die Erfahrung des Bewusstseins voraus, aber zugleic begründet die erste – dem logischen Begriff nach – die zweite. Aber nur mit diesem reduktiven Vollzug ist die Entäußerung des Geistes noch nicht befriedigt. Der zweite Modus der Entäußerung betrifft das Seiende überhaupt, nämlich dasjenige, was geschieht; um einen Zusammenhang mit diesem Geschehen zu herstellen, muss der Geist seine „Grenze“ überschreiten. 112 Seine Grenze wissen heißt sich aufzuopfern wissen. Diese Aufopferung ist die Entäußerung, in welcher der Geist sein Werden zum Geiste in der Form des freien zufälligen Geschehens darstellt, sein reines Selbst als die Zeit außer ihm und ebenso sein Sein als Raum anschauend. Dieses sein letzteres Werden, die Natur, [… d. h.] der entäußerte Geist, ist in ihrem Dasein nichts [anderes] als diese ewige Entäußerung ihres Bestehens […]. Die andere Seite aber seines Werdens, die Geschichte, ist […] der an die Zeit entäußerte Geist; aber diese Entäußerung ist ebenso die Entäußerung ihrer selbst (W3.590). Der Geist soll nämlich nicht nur sich wissen, sondern auch seine „Grenze“. Aus der bewussten Einsicht in seine „Grenze“ ergibt sich, dass er, um sich über sie hinaus zu erweitern, sie überschreitet. Der wissenschaftliche Standpunkt, den das Bewusstsein durch seine vollständige Erfahrung erreicht hat, erlaubt es uns, „das wirkliche Spekulative“ (W3.61) zu begreifen. Die Sache selbst existiert in der Form des zufälligen Geschehens. Das wirkliche Erkennen dessen, was geschieht, entsteht durch das spekulative Wissen, nämlich dadurch, dass der in der Sache immanente Logos begriffen wird. Damit die Sache selbst zu begreifen sein kann, soll ergo die Entäußerung dessen, was das wirkliche Spekulative ist, vorausgesetzt werden und die „Aufopferung“ des Geistes, aus der der Werdegang des Geistes zum Seienden oder zum zufälligen Geschehens folgt, impliziert die fortschreitende Bewegung des absoluten Geistes. In diesem Vollzug des Geistes sieht Hegel den Zusammenhang des Geistes mit dem Raum bzw. der Zeit. Diese beiden machen ein Geschehen zu dem zu begreifenden Seienden. Aus dem Werdegang des Geistes zu dem Seienden im Raum ergibt sich die Natur, während „der an die Zeit entäußerte Geist“ von ihm als die Geschichte bezeichnet wird.126 Der Geist soll somit auf allumfassende Gebiete, d. h. auf die Sache selbst, wie die natürliche und die geistige Welt, übergreifen; insofern betrifft diese Vorwärtsbewegung des Geistes eben die Ausdehnung bis zu seinem Anderen, indem er es zu seinem Reich macht. Der Zusammenhang des absoluten Geistes mit der natürlichen und geistigen Welt, also sein Ü bergang in die Natur und in den (zunächst endlichen) Geist betrifft die „Wissenschaften der Natur und des Geistes“ (W3.593), also die Realphilosophie, in der die Natur und der Geist in die Realität der absoluten Idee eingegliedert werden. Diese Auffassung spiegelt sich auch in dem folgenden Satz wider: „Die Weltgeschichte, wissen wir, ist also überhaupt die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie die Idee als Natur sich im Raume auslegt“ (W12.96). 113 126 Während die Natur grundsätzlich als der im Element der Räumlichkeit entäußerte Geist gedacht wird, daher dieser Naturgegenstand keine Geschichte hat, lässt sich die Geschichte als der Geist im Element der Zeitlichkeit verstehen. Aber Hegel denkt keinesfalls, dass der Geist und die Natur nur voneinander unabhängig sind; die beiden sollen vielmehr in eine Gedankenlinie integriert werden: in die Dimension des (natürlichen oder geistigen) Weltgeschehens. Wie bereits in der Dialektik von Begriff und Geschichte konstatiert, ist in der natürlichen und geistigen Welt die Existenzweise der logischen Idee dargestellt. Wie die äußerliche Notwendigkeit als der „hinter dem Bewusstsein“ liegende Logos aufzufassen ist, so muss auch die Natur aus der Perspektive der Zeitlichkeit in Betracht kommen, damit das Nebeneinander von Dingen, die Entwicklungen des natürlichen Vorgangs usw. erklärt werden können.127 Die Entfaltung des Geistes zu seinem Wesen vollzieht sich in Anlehnung an die Zeitlichkeit, auf die sich die langfristige, aber eindeutig fortschreitende Bewegung des Geistes stützt. Aus der spekulativen Sicht, d. h. für uns, fallen die Entäußerung des absoluten Geistes und die Erinnerung desselben nämlich miteinander zusammen. Die Er-Innerung des absoluten Geistes wird auch als das „Insichgehen“ desselben bezeichnet. In seinem Insichgehen ist er [= der absolute Geist] in der Nacht seines Selbstbewußtseins versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene Dasein – das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene – ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt (W3.590). Dieses introspektive Begreifen richtet sich vielmehr danach, die Existenz der Sache zu betrachten, und zwar so, wie die Erscheinung ihrem Wesen gemäß ist. Daraus ergibt sich, dass die Sache durch die geistige Betrachtung neu geboren ist; denn das Seiende, also das, was schon geboren ist, ist dadurch neu geboren, dass der in diesem Seienden immanente Logos begriffen wird.128 In seiner Naturphilosophie beginnt Hegel in diesem Zusammenhang eben mit der Lehre von „Raum und Zeit“ seine Darstellung. Die Dimension der Zeit bildet nämlich mit der Räumlichkeit zusammen den Anfangspunkt für die philosophische Betrachtung der Natur. W9, S. 41-60. 128 Hegels Gedanke, dass aus dem introspektiven Vollzug des absoluten Geistes, also aus der Er-Innerung desselben, das Neu-Geborensein der Sache resultiert, wird in Darstellungen der Realphilosophie festgestellt. Zum Beispiel schreibt er über die Schönheit, um die es sich bei der Kunstphilosophie handelt, „die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit“ (W13.14). 114 127 Die Entäußerung des Logos ist, soweit sie das spekulative Insichgehen des absoluten Geistes ist, der Grund für das Neu-Geborensein von phänomenologischem, natürlichem und geistigem Geschehen. In diesem Zusammenhang bemerkt Hegel die „Er-Innerung“ (W3.591) im spekulativen Sinne. Aber das spekulative Insichgehen des Geistes ergibt sich aus dem Beisichsein in seinem Anderssein. Die obige Kreisbewegung des Geistes impliziert „das wechselseitige Ineinandergehen von Ent-Ä ußerung und Er-Innerung“.129 Daraus lässt sich die vollständige „Offenbarung“ des absoluten Geistes beobachten (W3.591). Die Reihe der Erinnerung des absoluten Geistes, die der obigen Reihe der Entäußerungen desselben entspricht, wird in dem letzten Paragraf der PHG folgendermaßen ausdifferenziert: Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns (W3.591). Aus der spekulativen Er-Innerung des absoluten Geistes ergibt sich also die zwei Modi voraus: das (natürliche und geistige) Weltgeschehen und die wissenschaftliche Darstellung des erscheinenden Wissens; den Grund dafür kann man folgendermaßen anführen: 1) Das erste historische Gebilde ergibt sich aus der Erinnerung des Geistes, und zwar nach der Seite des „in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins“. Sie bedeutet alles, was geschah, geschieht und sogar geschehen wird; die Geschichte ist also nichts anderes als das Weltgeschehen oder die Gesamtheit der Phänomene in der Welt, die den Gegenstand der philosophischen Spekulation ausmacht. Hier wird also neben der Natur auch die ganze Abfolge von Gestalten des obigen an die Zeit äußerten Geistes (W3.590), d. h. die „Geschichte“ abgedeckt. Dies Werden [des an die Zeit entäußerten Geistes, also die Geschichte] stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes, mit dem vollständigen Reichtume des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil 129 Baptist (1998), S. 258. 115 das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat (W3.590). Die „Geschichte“ wird hier als Produkt der Arbeit des Geistes verstanden, seinen Begriff vollständig auszuführen; diese Vollständigkeit macht den ganzen Reichtum des geistigen Wesens aus. Diese „Geschichte“ liegt in einer noch umfassenderen Dimension als bloß die Weltgeschichte oder Religionsgeschichte. Im geschichtlichen Werdegang des Geistes ist jede vorherige Erfahrung aufbewahrt, also nicht verloren gegangen. „Das Geisterreich“ (W3.591) besteht aus der Reihe dieser geistigen Gestalten, in denen der Geist sich selbst erkennt. 2) „Der dem ersten Blick sich als Chaos darbietende Reichtum der Erscheinungen des Geistes ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht“ (W3.593); die Darstellung der geistigen Bildung lässt sich als die „Wissenschaft des erscheinenden Wissens“ verstehen, die die Ontogenese des Geistes (d. h. den Werdegang des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Standpunkt) und die Phylogenese des Geistes (d. h. den Werdegang des Weltgeistes zum absoluten Wissen von sich) zu einem Ganzen zusammenschließt. Den allen Bewusstseinsgestalten in der PHG entspricht die innere Notwendigkeit; aber aus der Vollendung der wissenschaftlichen Darstellung des erscheinenden Wissens ergibt sich, dass das absolute Wissen die äußere in die innere Notwendigkeit er-innert, damit das philosophische Subjekt den ganzen Bildungsgang des Bewusstseins in jene wissenschaftliche Ordnung bringen kann. Zu dieser „begriffenen Organisation“ bedarf man eines auswählenden Vollzugs; denn die PHG ist nicht auf alles, was geschah, geschieht und geschehen wird, sondern nur auf die Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes bezogen. Die Geschichte in der PHG besteht folglich in der Form der „Abbreviatur“, in der „die einfache Gedankenbestimmung“ (W3.34) um der wissenschaftlichen Betrachtung der Erfahrungen willen betrachtet werden kann. In der Geschichte des WELTLICHEN GEISTES wird deshalb die altorientalische Epoche (anders als in der „Philosophie der Weltgeschichte“ aus dem wissenschaftlichen System) nicht behandelt und zur Religion gehört z. B. überhaupt keine Thematisierung der römischen Religion, die in der Philosophie der Religion von Hegel mit der „Religion der Zweckmäßigkeit“ bezeichnet wird. Denn die Geschichte in der PHG ist unter Berufung auf die systematische Funktion der PHG konzipiert und ausgeführt worden. 116 3) Wenn die „Geschichte“ als das zufällige Weltgeschehen (das „in der Form der Zufälligkeit“ besteht) und die PHG als die „Wissenschaft des erscheinenden Wissens“ (das in die „begriffen[e] Organisation“ gebracht worden ist) zu einem Ganzen zusammengeschlossen werden, ergibt sich die spekulative Betrachtung des Weltgeschehens: „die begriffene Geschichte“. Der Gegenstand dieser Betrachtung sind die Natur und der Geist. Der wissenschaftliche Standpunkt, der durch die begriffene Organisation der gesamten Bewusstseinserfahrung in der PHG entsteht, wird nun auf das Seiende überhaupt angewandt; dadurch tritt die philosophische Betrachtung des natürlichen und geistigen Geschehens überhaupt in den Vordergrund. Damit meint Hegel die spekulative Erkenntnis der Natur und des Geistes, wobei es sich um das Begreifen des in der konkreten Sache immanenten Logos handelt. Die ewige und unendliche Wahrheit der spekulativen Philosophie darf nämlich nicht verkannt werden, als ob sie völlig von dem endlichen Phänomen unabhängig wäre; denn das Unendliche als das Absolute ist keine bloße Antithese des Endlichen noch eine einfache Abstraktion von der Zeit-Dimension wie die die Geschichte transzendierende Ewigkeit, sondern ist in dem Weltgeschehen immanent, in dem man eine ewige Aufeinanderfolge von Kontingenzen, wie sie in Wahrheit sind, begreift.130 In seiner Logik sagt Hegel, dass „es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar […] zeig[en]“ (W5.66). Seine These der ursprünglichen Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung lässt sich verstehen, indem man erkennen kann, wie die Sache neu geboren ist. Alles, was anscheinend schlechthin da ist, kann de facto erst durch die wissenschaftliche Betrachtung des absoluten Wissens erwiesen werden; was es eigentlich ist, das kann dadurch exponiert werden. Was aus der PHG resultiert, das bildet sozusagen die „Prinzipienwissenschaft“, 131 die die methodische Grundlage für die wissenschaftliche Betrachtung des Weltgeschehens überhaupt oder „[d]ie reinen Begriffe der Wissenschaft“ (W3.589) behandelt. Unter Anlehnung an die wissenschaftlichen Kategorien wird der in der konkreten Sache immanente Logos begriffen. Dazu vgl.: „Der Begriff der Ewigkeit muß aber nicht negativ so gefaßt werden als die Abstraktion von der Zeit, daß sie außerhalb derselben gleichsam existiere; ohnehin nicht in dem Sinn, als ob die Ewigkeit nach der Zeit komme; so würde die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht“ (W9.50). Zu Hegels Ausführungen der spekulativen Auffassung des Unendlichen im Gegensatz zu der dualistischen Einstellung (mit z. B. dem perennierenden Sollen oder dem Schlecht-Unendlichen benannt) vgl. W5, S. 125173. 131 Siep (2000), S. 255. 117 130 Der Geist erreicht nun seine völlige Freiheit, denn aus der völligen Entlassung seines Daseins, d. h. aus seiner „Aufopferung“, ergibt sich vielmehr seine vollständige „Offenbarung“ (W3.590 f.). Die „begriffene Geschichte“ wird von Hegel zu einem heilsgeschichtlichen Vergleich herangezogen; sie ist eben „die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes“ (W3.591), d. h. Golgota als Kreuzigungsstätte Jesu Christi; denn hier erlitt dieser Gottmensch seinen tiefsten Schmerz, aber wir können uns auf diesem Hügel umso tief blickender an den Begriff der Unendlichkeit erinnern, um das göttliche Wesen philosophisch umzudeuten. Diese Erinnerung impliziert den Zusammenhang des absoluten Wissens mit dem System der philosophischen Wissenschaft, aber zunächst zur Logik. Hegel denkt, dass die PHG das absolute Wissen zum Resultat hat, sodass die Logik das reine Wissen der Wissenschaft (also das, was aus der PHG resultiert) voraussetzt. Aber zugleich denkt er, dass, weil der absolute Begriff der Wissenschaft – für uns – dem Bewusstsein vorhergegangen ist, der reine Logos „hinter seinem Rücken“ liegt. Um das Missverständnis zu vermeiden, dass dieser Gedanke ein Zirkelschluss sei, soll man beachten, dass die „reinen Begriffe der Wissenschaft“ bei Hegel nicht nur durch die Ent-Ä ußerung des absoluten Geistes, sondern auch die ErInnerung desselben entsteht. Das absolute Wissen bedeutet die Er-Innerung des absoluten Geistes in sich selbst oder das Selbst-Erkennen des absoluten Geistes in seiner EntÄ ußerung. Hegels Logik, die die metaphysische Grundlage für die realphilosophischen Gesamtdarstellungen bildet, lässt sich gleichnishaft als „die Darstellung Gottes“ ausdrücken, und zwar „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“ (W5.44). Die von Gott erschaffene Welt, also alles, was geschah, geschieht und geschehen wird, ist durch die begreifende Betrachtung neu geboren; das wirkliche Spekulative ist nichts anderes als der zu begreifende Logos, der in der Schöpfung oder im Geschehen immanent ist. Aber diese Selbst-Erinnerung des Geistes setzt die SelbstEntäußerung desselben voraus. Mit dem Verständnis der Unendlichkeit des Geistes kann man den folgenden, letzten Satz in der PHG, der ursprünglich auf Schiller zurückzuführen ist,132 erfassen: [A]us dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit (W3.591). 132 Dazu vgl. GW9, S. 523f. 118 Weil für das begreifende Wissen die Vereinigung zwischen der Ent-Ä ußerung des absoluten Geistes und der Er-Innerung desselben konstitutiv ist, kann man in jedem Gegenstand der begreifenden Betrachtung die Unendlichkeit im Endlichen erkennen; alles, was das philosophische Subjekt im Geistreich betrachtet, ist ein zu Begreifende, aber zugleich schon ein Begriffenes. Aus dem Obigen lässt sich der Zusammenhang zwischen Hegels Systematik und dem Entäußerungs- oder Erinnerungs-Prozess des absoluten Geistes wie folgt tabellarisieren: Die Ent-Äußerung des Die Er-Innerung des absoluten Geistes absoluten Geistes Natur und Geist: die Sache der wissenschaftlichen Betrachtung Das Werden des Geistes in der Form des zufälligen Geschehens: Natur und Geschichte Nach der Seite des zufällig erscheinenden Daseins: (die Natur und) die Geschichte Die Phänomenologie des Geistes Der Übergang (der Form des reinen Begriffs) zur sinnlichen Gewissheit Die Wissenschaft des erscheinenden Wissens Die Realphilosophie: die spekulative Betrachtung der Natur und des Geistes Natur und Geist (: das zu begreifende Geschehen) 119 Die begriffene Geschichte 4. Der selbstbewusste Geist als der neue Geist Nun erblicken wir den Zusammenhang der Geschichtsdarstellung in der PHG mit Hegels wissenschaftlichem System. Die PHG ist unter Anlehnung an ihre Geschichtlichkeit, die im ganzen Hauptteil des Werkes zu durchschauen ist, mit dem System eng verwoben. Der geschichtliche Gesamtablauf des natürlichen Bewusstseins ist nichts anderes als der Prozess zur völligen Entfaltung des Wissenschaftsbegriffs, aus der das absolute Wissen des Geistes resultiert. Der Standpunkt des absoluten Geistes oder der logischen Idee ergibt sich aus diesem geschichtlichen Entwicklungsgang. Hegels phänomenologisches Programm, das seinem Begriff der Wissenschaft gemäß verstanden werden soll, liegt also darin, aufzuzeigen, dass die von ihm konzipierte Wissenschaft die Wahrheit auf der erneuerten Ebene behandelt. Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt [habe]. […]. Daß die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit ist, dies aufzuzeigen würde daher die einzig wahre Rechtfertigung der Versuche sein, die diesen Zweck haben (W3.14). Aus diesem wirklichen Wissen entsteht die Philosophie als die Wissenschaft und das philosophische Subjekt erreicht das wirkliche Wissen dessen, was in der Tat ist. Hegels Entwurf des wissenschaftlichen Systems der Philosophie ergibt sich aus seiner Ü berzeugung, dass die Philosophie nunmehr in einer wissenschaftlichen Form steht. In diesem Zusammenhang behauptet Hegel, dass man sich in einer ganz neuen Phase in Ansehung der Gedankensgeschichte befindet. Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung (W3.18). Durch seine Arbeit gestaltet sich der Geist nun ganz neu. Ü ber diese Umgestaltung schreibt Hegel weiter. 120 Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und ebenso vielfacher Anstrengung und Bemühung (W3.19). Das Produkt dieses „neuen Geistes“ wird von Hegel eben als der selbstbewusste Geist, der sich selbst als Geist weiß, bezeichnet. Der neue Geist bedeutet weltgeschichtlich den Geist in der Neuzeit. 133 Wie die allgemeine Bildungsgeschichte des Geistes als der Entwicklungsgang von dem einfach substanziellen Leben zu seinem Selbstbewusstsein dargestellt wird, lässt sich die Genese des neuzeitlichen philosophischen Gedankens auch als die Dialektik von Substanz und Subjekt verstehen. Wenn man diesen philosophiegeschichtlichen Durchgang seit der frühen Neuzeit anhand von Hegels Darlegungen im letzten Kapitel der PHG betrachtet, lässt sich Folgendes zusammenfassen: Nachdem Descartes unter Anlehnung an das Prinzip des philosophischen Selbstbewusstseins „die unmittelbare Einheit des Denkens und Seins“ (W3.586) konzipiert hatte, entwickelte sich der philosophische Kerngedanke in der Neuzeit bis zum Gedanken Hegels; Spinozas Konzept der „selbstlosen Substantialität“, Leibniz’ Behauptung der „Individualität gegen sie“, die Auffassung der „Nützlichkeit“ in der Aufklärung, der radikale Vollzug um „der absoluten Freiheit“ willen in der Französischen Revolution, Kants Bestrebungen, den menschlichen „Willen“ in „seiner innersten Tiefe“ zu setzen, Fichtes Grundsatz der Wissenschaftslehre als „Ich = Ich“, der nach Hegel aber nichts anderes als „die sich in sich selbst reflektierende Bewegung“ ist, letztlich das „Absolute“ Schellings als „die absolute Einheit“ von Inhalt und Reflexion, das jedoch nach Hegels Meinung de facto nur „das inhaltsleere Anschauen“ ist, folgten nacheinander und daran schließt sich nun Hegels wissenschaftliches System an (W3.587). 133 Es ist für Hegel klar, dass sich die Geschichte des Christentums mit der gesamten abendländischen Geschichte (die von der römischen Welt ausgeht) deckt. Diese geschichtliche Zeitepoche bezeichnet er in seiner Geschichtsphilosophie mit der christlich-germanischen Welt. Die germanischen Völker nennt er die „Träger des christlichen Prinzips“; damit denkt er, dass in der christlich-germanischen Welt „ein vollkommen neuer Geist“ oder „der freie Geist“ eingetreten ist. In dieser Epoche sieht Hegel die Triadik der nachrömischen Geschichte, die er nach der christlichen Vorstellung folgendermaßen unterscheidet: das Reich des Vaters (bis zu Karl dem Großen), das Reich des Sohnes (Mittelalter) und das Reich des Geistes (von der Reformation bis zur Französischen Revolution). Diese Perioden unterscheiden sich Hegel zufolge in dem Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen; der Gegensatz zwischen der Kirche und dem Staat bildet nämlich das Prinzip der zweiten Periode, während das Prinzip der dritten Epoche als die Versöhnung der beiden aufzufassen ist. W12, S. 413-418. Der neue Geist in der PHG ist also der Geist in der Neuzeit, den man erst nach der Reformation betrachten kann, während jener vollkommen neue Geist in Hegels Geschichtsphilosophie der gesamten christlichgermanischen Welt zugeordnet ist. 121 Was die gedankliche Universalgeschichte der Menschheit betrifft, impliziert die Entstehung des neuen Geistes, dass der Weltgeist in einen engen Zusammenhang mit dem philosophischen Denken auf der neuzeitlichen Ebene gesetzt wird. Nun tritt das philosophische Denken selbst als die höchste Gestalt des Gedankens in der Neuzeit auf.134 Der neue Geist wird in der Philosophie der Weltgeschichte von Hegel als das Produkt aus dem neuzeitlichen gedanklichen Vollzug präsentiert, das aus der spekulativen Ü berlegung des Geistes-Begriffs unter Anlehnung an das neuzeitliche Prinzip entdeckt wird.135 Seine Grundeinsicht, dass die Philosophie nun die höchste geistige Gestalt ist, wird in seiner Rechtsphilosophie so ausgedrückt: Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt (W7.26). In der Philosophie wird ihre Zeit dargestellt; man erfasst in dem philosophischen Gedanken seine Zeit. Alle Bemühungen in dem enzyklopädischen System, wie die Betrachtung der Naturphänomene, der Beschaffenheit der menschlichen Seele, des Prinzips unseres Zusammenlebens oder der ganzen Geschichte des absoluten Geistes, beruhen auf diesem begreifenden Wissen, das aus dem Werdegang des Bewusstseins resultiert. Dazu vgl. „Nicht mehr in der Kunst, wie im Falle der schönen griechischen Sittlichkeit, und auch nicht mehr in der Religion, wie im christlichen Mittelalter, sondern in der Form der Philosophie muß sich die moderne Welt erkennen“. Brauer (1982), S. 185 135 Dazu vgl. W12, S. 491-540. 122 134 TEIL II: Die Hauptmomente fü r die Sittlichkeit in der neuzeitlichen Welt: Moral und Religion "[A]lles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu kö nnen vermeint, um Gott wohlgefä llig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes" - I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 123 A. Die Moral: das Moment der Versöhnung im Rahmen des weltlichen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VI. C. Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ 1. Hegels Begriff der Moral Als der letzte Abschnitt im Kapitel „Geist“ tut sich „Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralität“ auf. Die drei Gestalten in diesem Kapitel („Sittlichkeit“, „Bildung“ und „Moralität“) haben Hegel zufolge ihrerseits „eigentliche Wirklichkeiten“ (W3.326). Diese Substanz für das wirkliche Leben gilt dem Bewusstsein als eine bestimmte Gestalt in einer (geschichtlichen) Welt. Die „Sittlichkeit“ wird der altgriechischen Welt zugeordnet, die „Bildung“ der mittelalterlichen und neuzeitlichen Welt und die „Moralität“ der klassischen Neuzeit; das moralische Bewusstsein ist nämlich von der unmittelbaren Wahrheit (in der „Sittlichkeit“) her durch die Vermittlung der Selbst-Entfremdung (in der „Bildung“) bei der absoluten Gewissheit von sich angekommen. In diesem Zusammenhang kann man einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Moralität, die das höchste Niveau des WELTLICHEN GEISTES (der alle Bewusstseinsgestalten von dem Kapitel „Bewußtsein“ zum Kapitel „Geist“ betrifft) aufrechterhält und zu dem RELIGIÖ SEN GEIST übergehen muss. Dem sittlichen Bewusstsein in der antiken Welt erscheint die Grundlage für sein wirkliches Leben als „das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“ oder als „der unverrückte und unaufgelöste Grund und Ausgangspunkt des Tuns Aller“, aber dieses absolute Wesen ist zugleich das „Werk“ jedes einzelnen Individuums, sodass das einzelne Bewusstsein die Geltung der ethischen Normen in seinem Gemeinwesen anerkennt. (W3.325). Dafür ist Antigone kennzeichnend, die fraglos die familiäre Pietät für das göttliche Sitten- und Pflichtgebot hält. Der wahre Geist, die altgriechische Sittlichkeit, besteht also in der unmittelbaren Ü berzeugung des Bewusstseins, dass sein Vertrauen zu seiner Substanz als die ewige Wahrheit gelte. Seine Ü berzeugung davon, dass seine Welt mit ihm selbst versöhnt sei, entpuppt sich jedoch als eine absolute, aber realiter einseitige Vorliebe, die sich aus seiner reflexionslosen Gesinnung ergibt; der altgriechischen Gesinnung mangelt nämlich noch der Standpunkt der subjektiven Freiheit. Sein unvoreingenommenes, aber unüberlegtes Zutrauen zu seiner Substanz prägt sich als nur „ein bestimmter Geist“, der „nur einer der sittlichen Wesenheiten angehört“ (W3.442). Die Wahrheit vonseiten des sittlichen 124 Bewusstseins basiert somit nur auf dieser Einseitigkeit bzw. Unwissenheit, indem das Individuum bedenkenlos auf seine Substanz vertraut.136 Sein Dafürhalten gerät dadurch in einen Konflikt zwischen verschiedenen Charakteren, sodass es im Kontrast zu dem anderen, aber gleichberechtigten Widerpart stehen muss. Aus dem Untergang der sittlichen Welt resultiert der römische „Rechtszustand“ (W3.355), in dem die Individualität der rechtlichen Person jedoch noch im Gegensatz zu dem allgemeinen Gesetz steht.137 An die Schranke des griechischen Sittlichkeit schließt sich also die folgende Aufgabe im Hinblick auf die Bildungsgeschichte des Bewusstseins: Man soll diesen „entsittlicht[en]“ (W12.349) Weltzustand überwinden. Der sich entfremdete Geist („Bildung“) behandelt den Prozess der Befreiung von der Entfremdung oder den Weg zur Freiheit. Das Individuum in diesem Abschnitt kommt aber noch nicht zur Einsicht, dass seine vorgefundene Wirklichkeit in der Tat von ihm selbst hervorgebracht wird. Weil seiner Persönlichkeit seine Welt als eine ihm fremde entgegengehalten wird, beginnt das Individuum mit der „Zerreißung seines Selbsts und der Wirklichkeit“ (W3.442). Der Geist der Entfremdung bemüht sich zwar sehr darum, seine verlorene Wirklichkeit wieder einzuholen, aber sein Vollzug verursacht endlich „die höchste Abstraktion“ (W3.441); diese äußerst abstrakte Ü bertreibung hemmt die Verwirklichung seines freien Willens, sodass sie endlich zur „sich selbst zerstörenden Wirklichkeit“ (W3.441) führt. Als ein Beispiel dafür bringt Hegel eine Analyse der Französischen Revolution vor, dass in ihrem Entwicklungsgang der Freiheitsanspruch des Subjekts die Menschenverachtung des jakobinischen Totalitarismus hervorbrächte. Unter diesem Wahrheitsanspruch vonseiten des sittlichen Bewusstseins versteht Scheier (1986) „die absolute Vergessenheit seiner vollständigen Vermittlung“. S. 443. Während die tugendhafte Tätigkeit der Alten (für die Ö dipus charakteristisch ist) in der PHG noch nicht mit dem moralischen Handeln zu bezeichnen ist, stellt Hegel in seiner Rechtsphilosophie, genauer im ersten Abschnitt „Der Vorsatz und die Schuld“ innerhalb des Kapitels der „Moralität“ diese antike Tugend anhand der Thematik der „Tat“ als das erste Moment für die Moralität dar. Die „Tat“ eines moralischen Subjekts ist zunächst durch seinen „Vorsatz“ (der besagt: Diese Handlung ist die meinige), anschließend durch das Verhältnis zu mannigfaltigen Umständen und endlich durch die „Schuld“, m. a. W. durch die Zurechnungsfähigkeit, die das moralische Subjekt an der Auswirkung hat, gekennzeichnet. Die moralische Handlung besteht darin, dass das handelnde Subjekt die Reihe der Umstände im Bezug auf sein Handeln im Blick hat (obgleich es nicht in die Zukunft schauen kann), indem es den allgemeinen Zweck – sei es sein eigenes Wohl oder das allgemeine Gute – beabsichtigt. W7, S. 215 ff. 137 Eine Stelle aus Hegels Kunstphilosophie vermag seinen Gedanken der römischen Welt, die der Periode des Untergangs der sittlichen Welt zugeordnet wird, zu verdeutlichen: „Der Geist der römischen Welt ist die Herrschaft der Abstraktion, des toten Gesetzes, […] das Zurückdrängen der Familie als der unmittelbaren, natürlichen Sittlichkeit, überhaupt die Aufopferung der Individualität, welche sich an den Staat hingibt und im Gehorsam gegen das abstrakte Gesetz ihre kaltblütige Würde und verständige Befriedigung findet. Das Prinzip dieser politischen Tugend, deren kalte Härte sich nach außen alle Völkerindividualität unterwirft […], ist der wahren Kunst[-Religion in der griechischen Welt] entgegen“ (W14.123 f.). 125 136 Indem das Bewusstsein aus der tragischen Wirklichkeit wieder in sich zurückkehrt, indem es also in das „Land des selbstbewußten Geistes“ übergeht, so tritt die „in das Selbstbewußtsein eingeschlossene“ (W3.441) Form des erscheinenden Wissens, also der moralische Geist, auf; das moralische Subjekt stellt das Fürsichsein des Geistes in der PHG dar. Während in der „Bildung“ des Geistes die Entfremdung hier nicht vollständig überwunden werden kann, erreicht der seiner selbst gewisse Geist die absolute Gewissheit von sich selbst. Weltgeschichtlich gesehen wird der moralische Geist der (Hegel zeitgenössischen) klassischen Neuzeit, zu der der neuzeitliche Geist (der ihm zufolge von der Reformation ausgeht) 138 gelangt, zugeordnet. Der Geist in der Neuzeit, dessen Geschichte eben der Weg zur Aneignung der subjektiven Freiheit ist, erscheint in diesem Abschnitt als die Autonomie des Subjekts. Das moralische Bewusstsein nimmt an, dass „das reine Wollen und das rein Wollende“, d. h. der allgemeine Wille und der einzelne Wille, miteinander eins werden. Was es weiß und handeln will, das scheint für es bereits „seiner Wahrheit vollkommen gleich geworden zu sein“ (W3.440 f.), wodurch die Diskrepanz zwischen seinem besonderen Grundmotiv zum Handeln und dem Kriterium für dessen allgemeine Gültigkeit oder zwischen seinem Ideal und der Wirklichkeit ausgeglichen ist. In diesem Zusammenhang stellt Hegel fest, dass erst das moralische Subjekt seiner Sache Meister wird, mit anderen Worten, dass es nicht nur über das ihm entgegengesetzte Objekt herrscht. Sein Wissen und die zu wissende Wahrheit scheinen somit ihm miteinander eins zu werden. Daraus ergibt sich, dass das moralische Subjekt seine Grundeinsicht geradezu für das absolut Gültige hält. „Das Wissen des Selbstbewußtseins ist ihm also die Substanz selbst. Sie ist für es ebenso unmittelbar als absolut vermittelt in einer ungetrennten Einheit“ (W3.441 f.). Das Bewusstsein ist sich, indem es fest auf sich selbst vertraut, ganz von seinem Entschluss überzeugt. Nur in dieser „individuelle[n] Ü berzeugung“ (W3.444) liegt die Annahme des moralischen Subjekts, dass es sich selbst das Gesetz des moralischen Handelns geben soll. Die Moral besteht wesentlich in der „subjektiven Freiheit“, die den gedanklichen Ansatzpunkt der „modernen Zeit“ für Hegel – also in der neuzeitlichen Welt – ausmacht (W7.233); die Bestimmung der Freiheit macht nämlich das weltgeschichtliche Prinzip in der Neuzeit aus. 138 In seiner Geschichtsphilosophie stellt Hegel fest, dass sich aus der Reformation die Umkehrung des bisherigen Verhältnisses zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen, also die des Gegensatzes von Kirche und Staat in die Versöhnung von den beiden, ergibt. Der wesentliche Inhalt der Reformation ist das religiöse Gewissen des Menschen, das grundsätzlich Folgendes impliziert: „[D]er Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein“. Mit der Reformation beginnt ihm zufolge die „neue Zeit“ oder die Neuzeit (von der Reformation und Aufklärung bis zur Revolution). W12, S. 414-417; 491-497. 126 [Denn diese Bestimmung liegt darin, dass das Subjekt] nicht nur in der gegebenen Sitte und Gesetzlichkeit, sondern in seinem eigenen Innern frei zu sein den Anspruch macht, insofern es das Gute und Rechte aus sich selbst in seinem subjektiven Wissen sich erzeugen und zur Anerkenntnis bringen will. Das Subjekt verlangt das Bewußtsein, in sich selbst als Subjekt substantiell zu sein (W14.118). Die Welt des moralischen Bewusstseins ist weder ein vorgefundenes Diesseits (wie bei der „Sittlichkeit“) noch das denkunabhängige Jenseits (wie bei der „Bildung“, genauer bei dem „Glauben“); bei dem sich selbst gewissen Geist handelt es sich um die Ü berzeugung, dass sein Wissen „in seiner Substanz gegenwärtig“ (W3.442) sei. Im moralischen Geist ist seine reine Gewissheit von sich selbst sein Gegenstand; er hält dafür, dass sein Wissen von sich schon seine Wahrheit darstelle. Sein Bewusstsein ist daher mit seinem Selbstbewusstsein bedeutungsgleich, denn sein Gesamtvollzug geht aus dieser Ü berzeugung von sich selbst hervor. Bei dem Wissen des moralischen Bewusstseins geht es weder um sein Anderes im Diesseits noch um sein Wesen im Jenseits, sondern darum, das Individuum und seine Welt miteinander auszugleichen. Ü ber das Verhältnis des Geistes in der absoluten Selbstgewissheit zu seiner Welt schreibt Hegel Folgendes: Das absolute Wesen ist daher nicht in der Bestimmung erschöpft, das einfache Wesen des Denkens zu sein, sondern es ist alle Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit ist nur als Wissen; was das Bewußtsein nicht wüßte, hätte keinen Sinn und kann keine Macht für es sein; in seinen wissenden Willen hat sich alle Gegenständlichkeit und Welt zurückgezogen. Es ist absolut frei darin, daß es seine Freiheit weiß, und eben dies Wissen seiner Freiheit ist seine Substanz und Zweck und einziger Inhalt (W3.442). Dass sein Wissen nämlich das Absolute ausmacht, darin fühlt das moralische Bewusstsein sich „absolut frei“. Die Autonomie des moralischen Subjekts besteht in seiner absoluten Selbstgewissheit davon, dass seine Entscheidung als solche souverän sei. Darüber schreibt Hegel in seiner Rechtsphilosophie Folgendes: Das Recht des subjektiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde und daß ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objektivität tretende Zweck, nach seiner Kenntnis von ihrem Werte, den sie in dieser Objektivität hat, als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde (W7.245). 127 Das Subjekt in der neuzeitlichen Welt nimmt an, dass es selbst zu allen seinen Vollzügen eine Uneingeschränktheit haben könne. Dieses Charakteristikum des moralischen Geistes qualifiziert sich für die höchste Gestalt des WELTLICHEN GEISTES. Im moralischen Gewissen erreicht er seinen prägnantesten Ausdruck. Das Subjekt vollzieht mit Berufung auf seine gediegene Ü berzeugung von sich seinen freien Willen. Allein das moralische Subjekt kann nicht umhin, in den absoluten Gegensatz zwischen dem Sein-Sollenden und dem wirklich Seienden zu stürzen. Es verfällt nämlich in folgende Aporie: Sein Wille verwirklicht sich auf der dualistischen Annahme (Sein vs. Sollen) anders als er eigentlich will. Die Hauptsache des moralischen Geistes ist die bloße „immanente dialektische Bewegung der persönlichen Entscheidung“139, nicht etwa die Erörterung der Institutionen oder des öffentlichen Geltungsbereichs. Der moralische Freiheitsanspruch des Geistes stützt sich auf seine unumschränkte Herrschaft über seine Gegenstandsbezogenheit, jedoch genauer gesagt auf die folgende Ü berzeugung: Aller Gegensatz zwischen dem Wissen und der Wahrheit werde innerhalb seines Gedankens aufgelöst, sodass seine absolute Freiheit nur in diesem gilt; die Gleichheit der Gewissheit mit ihrer Wahrheit geschieht nur in dem Inneren des Subjekts. Der moralische Geist impliziert also eine Selbstrelation, und zwar die Ü berzeugung des Subjekts davon, dass sein Objekt seinem Willen entsprechen können solle. Daraus ergibt sich, dass jedes Subjekt einen eigenen Maßstab an seinem moralischen Urteil legen muss; davon ausgehend denkt nämlich Hegel, dass die Moralität grundsätzlich in der „Selbstbestimmung der Subjektivität“ (W7.199) besteht; „die so für sich unendliche Subjektivität der Freiheit macht das Prinzip des moralischen Standpunkts aus“ (W7.198). Obgleich man allerdings diesen Begriff der Moralität als den grundlegenden Beleg für die subjektive Freiheit ansieht, bleibt der Gegensatz von Subjekt und Objekt ständig unversöhnt übrig; sobald das Subjekt sich vornimmt, den moralischen Standpunkt anzunehmen, gerät es Hegel zufolge in den Gegensatz zwischen dem Gedanken und der Welt. Dieses fundamental unüberwindliche Hindernis kann von dem Subjekt nicht bewältigt werden. Die Freiheit des moralischen Subjekts setzt zwar voraus, dass das allgemein Gültige von ihm selbst vollzogen werden soll, weil seine Pflicht schlechthin darin liegt, dieses allgemeine (Moral-)Gesetz zu befolgen. Aber niemand weiß, welches in concreto das unbedingte Gute ist, weil jedes Subjekt immer im Verhältnis zu besonderen Umständen steht. Weil das 139 Dooren (1976), S. 231. 128 Handelnde immer etwas Besonderes bezweckt, muss das moralisch gut gesinnte Subjekt die folgende Frage stellen, was meine Pflicht ist (W7.251). Jeder will jedes Mal das allgemein Gültige vollziehen, aber niemand kann das allgemeine Gesetz selbst vollziehen. Über „das Abstraktum der Pflicht“ (W7.251) schreibt Hegel an der Stelle im Kapitel „Vernunft“, in der er an die gesetzgebende Vernunft kritisiert, Folgendes: „Der Maßstab des Gesetzes, den die Vernunft an ihr selbst hat, paßt daher allem gleich gut und ist hiermit in der Tat kein Maßstab“ (W3.319). In der inneren Ü berzeugung des moralischen Geistes wird nämlich schon die Notwendigkeit des Ü bergangs in die absolute Souveränität des Subjekts erwiesen. Aus dieser Sichtweise behaupten Denker in der klassischen Neuzeit die absolute Autonomie der praktischen Vernunft. Wenn man die neuzeitliche Moralphilosophie im Vergleich zu Hegels Sittlichkeitsbegriff betrachtet, kann der Gehalt der moralischen Weltansicht bei Hegel noch klarer verständlich gemacht werden. Die „Sittlichkeit“ und die „Moralität“ sind etymologisch gesehen sinnverwandt. 140 Hegels Vorgänger in der klassischen Neuzeit, wie Kant und Fichte, verwendeten demgemäß die beiden Wörter deckungsgleich. Hegel will jedoch die Sittlichkeit von der Moralität scharf absetzen. Diese Grundidee stellt er wie folgt fest: Moralität und Sittlichkeit, die gewöhnlich etwa als gleichbedeutend gelten, sind hier in wesentlich verschiedenem Sinne genommen. Inzwischen scheint auch die Vorstellung sie zu unterscheiden; der Kantische Sprachgebrauch bedient sich vorzugsweise des Ausdrucks Moralität, wie denn die praktischen Prinzipien dieser Philosophie sich durchaus auf diesen Begriff beschränken, den Standpunkt der Sittlichkeit sogar unmöglich machen, ja selbst sie ausdrücklich zernichten [sic!] und empören. Wenn aber Moralität und Sittlichkeit ihrer Etymologie nach auch gleichbedeutend wären, so hinderte dies nicht, diese einmal verschiedenen Worte für verschiedene Begriffe zu benutzen (W7.88). Hegel sieht in der Moralität eine grundlegende Beschränktheit, d. i. den unüberbrückbaren Riss zwischen der reinen subjektiven Seite (d. h. der Ü berzeugungsfreiheit) und ihrer umgebenden objektiven Seite (d. h. der Geltung von Normen bzw. Institutionen). Mit der moralischen Autonomie kann man dem Schicksal nicht ausweichen, dass der einzelne Wille trotz seiner unverfälschten Gesinnung von seiner tatsächlichen Lebenswelt isoliert wird. Die Sittlichkeit leitet sich von dem Ausdruck „Sitte“, der den „Gebrauch“, die „Gewohnheit“ usw. bedeutet, ab. Die Sitte stammt von dem bedeutungsgleichen altgriechischen Wort ἦθος oder ἔθος. Die Moralität stammt von dem lateinischen Synonym mos, das ebenfalls von dem zuvor genannten altgriechischen Wort abstammt. Dazu vgl. W7, S. 302; Taylor (1979), S. 83; Ritter, Gründer u. Gabriel (Hg.), Bd. 6, S. 149 ff.; Bd. 9, S. 897 ff. 129 140 Hegels Sittlichkeitsbegriff, der mit der Lehre des sittlichen Staats bezeichnet wird, ist über diese moralische Weltansicht hinausgegangen. Obgleich man Hegels Position prima facie wohl als die bloße Konsequenz aus seinem Erneuungsversuch im Rahmen der praktischen Philosophie in der klassischen Neuzeit ansehen kann, ist sie auch ein Versuch, den Inhalt der sittlichen Gesinnung in der antikgriechischen Welt auf der neuzeitlichen Ebene nachzusinnen. Aus diesem Grunde bezweckt Hegel mit dem Sittlichkeitsbegriff moralphilosophischen Standpunkts aufzuheben. 141 die Schranke des vorherigen Die konkrete Darstellung der neuzeitlichen Sittlichkeit kann man in Hegels Rechtsphilosophie finden, aber der Begriff der Moral in der PHG bildet m. E. eins der Hauptmomente für den Sittlichkeitsbegriff in der Neuzeit. Hegel setzt sich im ganzen Abschnitt „Moralität“ mit dem Standpunkt des moralischen Geistes auseinander: sowohl mit der Ethik-Konzeption Kants und Fichtes als auch mit der romantischen Gewissensbestimmung;142 seine Darstellung ist so gut durchdacht wie seine intensive Beschäftigung mit der Mangelhaftigkeit der neuzeitlichen Weltansicht überhaupt. Das handelnde Subjekt erlaubt keine Autonomie seiner gegenständlichen Wirklichkeit; es zielt nur seinem Willen gemäß auf die Harmonie von Bewusstsein und Welt hin, aber seine Bemühungen müssen für Hegel fehlschlagen. Als Grund gibt Hegel an, dass sich der moralische Geist in ein „Selbstmißverständnis“143 verstrickt, durch das sich das moralische Bewusstsein dualistisch verhält. Das Subjekt will seine Willensbestimmung restlos vollziehen, aber die Reihe der wirklichen Umstände steht seiner Grundkonzeption im Weg, da der Sachverhalt, den es antrifft, sich von dem erwarteten unterscheidet. Seine steten Bemühungen sind zwar fehlgeschlagen; das moralische Bewusstsein strebt dennoch andauernd danach, seine Schranke zu überwinden. Das Subjekt fordert nämlich von sich selbst einen unendlichen Progress zur Selbstüberwindung. Diesen Standpunkt thematisiert Hegel im Umfeld des „perennierenden Sollens“ (W7.253), das die Schranke der Moralität darstellt. Für Hegel bedeutet sein Terminus technicus „Aufhebung“ nicht bloß Negieren (einer Sache), sondern auch Aufbewahren (ihres wahren Gehalts) und zugleich Emporheben (auf eine neue höhere Ebene). Dazu vgl. z. B. W5, S. 113 ff. 142 Zu dieser Thematik vgl. Tillich (1995), S. 590; Jürgensen (1997), S. 206 f.; Prestel (1998), S. 123 ff.; Siep (2000), S. 206. 143 Siep (2007), S. 16. Zu dieser Thematik vgl. noch Bitsch (1977), S. 195. 130 141 2. Die moralische Vor- und Verstellung 2.1 Die moralische Vorstellung Die Freiheit des moralischen Subjekts besteht in seiner absoluten Ü berzeugung von sich. Es liegt daher nahe, dass es vom axiologischen Standpunkt aus – vor allem betreffs des Maßstabs, nach dem sein Handeln beurteilt werden soll – seine Willensäußerung als ein unantastbares Recht im höchsten Maß ansieht; seiner Ü berzeugung nach ergibt sich dies absolute Gesetz des moralischen Handelns ausschließlich aus seinem eigenen Vollzug. Diese Autonomie des moralischen Geistes bedeutet zugleich seine absolute Herrschaft über die von ihm vorgefundene Welt überhaupt. Sein reines Motiv zum moralischen Handeln prägt sich somit als sein eigenes Urteil über das allgemeine Gute aus. Das Subjekt nimmt an, dass es selbst nun mit seiner Substanz eins wird, sodass das Sein-Sollende ihm als das SeinKönnende erscheint, soweit das, was das Subjekt weiß und tun will, für allgemeingültig gehalten wird. In diesem Zusammenhang bedeutet der Standpunkt des moralischen Subjekts Folgendes: Das Selbstbewußtsein weiß die Pflicht als das absolute Wesen; es ist nur durch sie gebunden, und diese Substanz ist sein eigenes reines Bewußtsein; die Pflicht kann nicht die Form eines Fremden für es erhalten (W3.442). Das Subjekt des reinen Wissens ist davon, an die ihm nicht fremde Pflicht gebunden zu sein, überzeugt. Insofern es seine Pflicht als das absolute Wesen ansieht, ist es restlos „in sich selbst beschlossen“ (W3.442). Die moralische Pflicht wird von dem Subjekt schlechthin für „reinen Zweck“ gehalten, weil sie nur „um der Pflicht willen“ (W3.445; 489) getan werden soll. Das seinem moralischen Credo folgende Subjekt nimmt nur seinen eigenen Leitsatz an, und zwar von den äußerlichen Umständen gänzlich befreit, sodass es sich frei fühlt. Hegel setzt sich in Bezug auf die Freiheit des moralischen Geistes mit der Pflichtkonzeption. Für diese ethische Pflichtenlehre ist vor allem Kants praktische Philosophie bezeichnend, die Hegel im Abschnitt „Moralität“ eingehend behandelt. Hegel denkt, dass Kants Ethik darin liegt, „die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben“ (W7.252). Hegels Auffassung der moralischen Pflicht kann man nämlich mit Kants Lehre von der Pflicht anhand der Analytik in der Kritik der praktischen Vernunft verdeutlichen: 131 [Der moralisch handelnde Mensch] urteilet [sic!] also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.144 Kant bestimmt die moralische Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft zum Prinzip der Moralität; er geht von der Ü bernahme der Pflicht, die die Befreiung von jeglicher Heteronomie impliziert, also von dem obigen „reinen Zweck“, aus. Der Begriff der Pflicht und die moralische Autonomie nähern sich dem gleichen Punkt an, d. i. dem NotwendigkeitsBegriff im Bezug auf die Moralität; dieser Begriff liegt in der „Kausalität durch Freiheit, und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur“, und zwar im Gegensatz zu der bloßen Naturnotwendigkeit als „Kausalität der sinnlichen Natur“.145 Der Mensch erweist sich Kant zufolge als ein moralisches Subjekt, indem er sich durch die Willensfreiheit, als Autonomie146 der praktischen Vernunft bezeichnet, an das unbedingte Moralgesetz binden will. Dieses Gesetz lässt sich als „ein Faktum der Vernunft“ 147 bezeichnen, das für das Subjekt als das Unbedingte gilt. Ein kategorischer Imperativ148 gebietet ihm, moralisch gut zu handeln und der moralische Mensch befolgt dieses Gebot durch seine bewusste Entscheidung. Auf dem „Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das [Moral-]Gesetz“ basierend, bezweckt das Subjekt „mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung“, d. h. „nur durch eigene Vernunft“ 149 seine absolute Freiheit. Die vollkommene Freiheit hinsichtlich des moralischen Handelns bedeutet die bewusste Annahme der Pflicht, mit der die Befreiung von der Heteronomie einhergeht. Aus diesem Grunde definiert Kant die Pflicht als die „Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“, m. a. W. als die „moralische Nötigung“150; das Gefühl der Achtung für das Moralgesetz wirkt auf den Menschen so ein, dass nur die Pflicht seine moralische Handlung bestimmt. 144 I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 140. Ebd., S. 162. Zu dem Verhältnis der Kausalität aus Freiheit zur Natur-Kausalität vgl. die dritte Antinomie der reinen Vernunft. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 4, S. 426-433. 146 Dazu vgl. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“ I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 144. 147 Ebd., S. 141. 148 Das hier erwähnte Gesetz wird von Kant als das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ bezeichnet, hauptsächlich mit diesem Leitsatz: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Ebd. S. 140. Vgl. noch S. 125 ff; 140 ff. 149 Ebd., S. 202. 150 Ebd., S. 26; 202; 206. 132 145 Was Hegels Auseinandersetzung mit kantischer Pflichtenlehre betrifft, muss man folgende Punkte der kantischen Moralphilosophie beachten: 1) Die Pflicht soll von gar keinen äußerlichen Motiven – sei es nach dem Naturgesetz (i. e. der Natur außerhalb des menschlichen Wesens) oder nach der Neigung (i. e. der Natur innerhalb desselben) – ausgehen; das moralische Bewusstsein handelt vielmehr „bloß um des Gesetzes willen“, sodass sich das Handeln des Menschen nicht nur „pflichtmäßig“, sondern „aus Pflicht“151 oder aus dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz ergibt; die den Menschen zum moralischen Handeln motiviert. 2) Dieses Gefühl gilt nur dem noch unvollkommenen Vernunftwesen; hingegen sind jene äußerlichen Motive, d. h. die Sinnlichkeit, dem allerhöchst-allervollkommensten Wesen, d. h. Gott, gar nicht hinderlich, denn das Moralgesetz gilt diesem absoluten Wesen als das „Gesetz der Heiligkeit“, nicht als das der Pflicht.152 Diese Bemerkungen erlauben uns wiederum zu folgern, dass Hegel aus diesem Kontext Folgendes entnimmt: Weil es, insofern es Mensch ist, noch unvollkommen ist, kann es sein Ziel überhaupt nicht vollständig erreichen, sondern es nimmt an, dass es nur dasselbe tun können soll; insofern setzt die Moralität den Standpunkt „des Sollens oder der Forderung“ (W7.206) voraus. Diese Formulierungen ermöglichen uns einen Ausblick auf Hegels Auffassung der kantischen Ethik im Ganzen. Das moralische Subjekt zielt darauf ab, mit seiner Substanz oder mit seinem moralischen Endzweck eins zu werden. Aber sein Gegenstand gehört nur zu seinem Innern, das „rein von dem Selbst durchdrungen ist“ (W3.443). Daraus lässt sich erkennen, dass seine Wirklichkeit nicht auf es bezogen ist oder, dass sein Zweck noch nicht verwirklicht ist. Die hier herausgestellte Dialektik des moralischen Geistes lässt sich den Denkmotiven in dem vorigen Entwicklungsgang entnehmen. Wie zuerst in dem Abschnitt „Verstand“ die Wahrheit über das Verhältnis des Verstandes zu der übersinnlichen Welt letztlich „das Unterscheiden des nicht zu Unterscheidenden oder die Einheit des Unterschiedenen“ war, aber diese Einheit eben wegen dieser Unterschiedlichkeit durch „ihr Abstoßen von sich selbst“ (W3.139) von sich unterschieden wurde, so erweist sich das moralische Bewusstsein dem Begriff gemäß als – nicht nur das sich auf sich beziehende unmittelbare, sondern zugleich als – das sich von sich abstoßende Wissen, weil es die Reihe der Bewegungen der „Vermittlung und Negativität“ (W3.443) erfährt. Wie das Subjekt zudem in dem Kapitel „Selbstbewußtsein“ nach der abstrakten Identität mit sich an seiner absoluten Selbstständigkeit festhalten wollte, aber sich noch nicht als absolute Selbstbezüglichkeit 151 152 Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. 133 vollziehen konnte, sondern auch die Selbstständigkeit des anderen Selbstbewusstseins erfahren musste, so ist sich auch das moralische Subjekt der „Beziehung auf ein Anderssein“ (W3.443) bewusst. Das moralische Bewusstsein ist also nichts anderes als seine unmittelbare Gewissheit von sich, obgleich es in der Tat auf seine gegenständliche Welt bezogen werden soll. Daraus ergibt sich Folgendes: Im Resultat aus dem Vollzug des moralischen Geistes bleibt immer die Gegenstandsbezogenheit übrig, sodass der Prozess zur Zielsetzung noch nicht vollendet ist. Das moralische Subjekt, das sein Wissen für absolut hält, muss sich, um moralisch gut zu sein, immer negativ zu seinem Gegenstand verhalten; es muss trotzdem auf ihn bezogen werden, um diesen Widerspruch zu beherbergen.153 Diese Gegenstandsbezogenheit auf sich selbst stellt seine Stellung in seiner Wirklichkeit dar. Wenn seine eigentlich ungetrübte Vorstellung der Pflicht seine Außenseite von sich ausschließt und wirklich ausschließen könnte, wäre seine Welt für das Bewusstsein nicht mehr relevant, da es hier kein Wesentliches gäbe. Wenn das Subjekt meint, seine Welt ist vollkommen in sich beschlossen, ist die ihm äußere Welt ebenfalls von ihm völlig unabhängig. Hierdurch entsteht aus dem Freiheitsanspruch vonseiten des moralischen Subjekts die folgende Ironie: „[J]e freier das Selbstbewußtsein wird, desto freier [wird] auch der negative Gegenstand seines Bewußtseins“ (W3.443). Dass das moralische Subjekt seine Freiheit verlangt, bedeutet seine eigene Selbstständigkeit von dem Anderen überhaupt. Das Bewusstsein kann trotzdem nicht umhin, an seinem Anderen interessiert zu sein; das moralisch gut gesinnte Subjekt ist keineswegs gleichgültig gegen seine Bemühungen darum, seine Autonomie in Tat und Handlung zu verwirklichen. Aber sein Anderes ist auch so selbstständig wie es selbst. Diese Außenseite, die dem Bewusstsein fremd ist, nennt Hegel die „Natur“. [Der Gegenstand des moralischen Bewusstseins] ist hierdurch eine zur eigenen Individualität in sich vollendete Welt, ein selbständiges Ganzes eigentümlicher Gesetze sowie ein selbständiger Gang und freie Verwirklichung derselben, – eine Natur überhaupt, deren Gesetze wie ihr Tun ihr selbst angehören, als einem Wesen, das unbekümmert um das moralische Selbstbewußtsein ist, wie dieses um sie (W3.443). Die „Natur“ hat Kant zufolge die Kausalität als ihr Gesetz. Der Freiheitsanspruch vonseiten des autonomen Bewusstseins trifft nämlich mit der eigenen Selbstständigkeit dieser Natur 153 Dazu vgl. Bitsch (1977), S. 189; Jürgensen (1997), S. 206. 134 zusammen. Der Mensch muss die „Beziehung des moralischen Anundfürsichseins und des natürlichen Anundfürsichseins“ (W3.443) voraussetzen, sodass er niemals von dieser „Beziehung“ entbunden werden kann. Von dem moralischen Standpunkt aus liegt nämlich das moralische Subjekt von vorneherein in der „Beziehung so ganz widerstreitender Voraussetzungen“ (W3.443). Seine Einstellung zur Welt, die in der radikalen Vorbedingung der grundlegenden Trennung von Subjekt und Objekt liegt, bezeichnet Hegel als „eine moralische Weltanschauung“ oder „Weltvorstellung“ (W3.443; 464); das moralisch gut gesinnte Subjekt ist nämlich auf seine „Welt“ bezogen. 2.2 Kants Lehre der Postulate der praktischen Vernunft Um Hegels kritische Analyse der moralischen Weltanschauung oder -vorstellung im Rahmen der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie genauer zu erfassen, ist es zunächst nötig, sich mit der kantischen Thematik der Postulate der praktischen Vernunft154 kurz zu befassen; denn Hegels Darstellung über die Postulate der moralischen Weltansicht beruht im Grunde auf Kants Konzept, das Hegel aber meines Wissens mehr oder minder erneut. Die Moral kann zwar mit der Autonomie der praktischen Vernunft oder mit der Selbstgesetzgebung des subjektiven Willens selbstgenügend sein, aber dies verhält sich in der Wirklichkeit nicht so. Das moralisch gut gesinnte Subjekt findet sich nicht endgültig glückselig, insofern es nur in seiner inneren Freiheit bleibt. Der Mensch hat vielmehr die Bestimmung dazu, zunächst den Endzweck der praktischen Vernunft, also die vollendete Willensfreiheit, aber anschließend das ihr zugeschriebene Verdienst zu besitzen. Er ist allerdings mitnichten in der Lage, den Zweck völlig zu erfüllen. Diese tatsächlich unerreichbare, aber zugleich unverzichtbare Idee stellt eine ursprüngliche Schranke des Menschen dar. Er muss daher ein Postulat annehmen, durch das dem Menschen ermöglicht werden könnte, diese Idee zu erreichen. In der Vereinigung der moralischen Vollendung mit dem ihr entsprechenden Verdienst besteht der Zweck, den Kant „die Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit“155 nennt. Anders als bei geläufigen – wie mathematischen – Verwendungen wird der Ausdruck des Postulats von Kant im Umfeld der praktischen Philosophie als die „subjektive, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit“ verstanden. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 140. 155 Ebd., S. 239. Dieser Begriff der Glückseligkeit ist darauf zurückzuführen, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Glückseligkeit als „eine Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend“ ansieht. Aristoteles (1991), S. 127. Bei ihm ist nur mit der vollendeten Tugend die Glückseligkeit 135 154 Diese Einheit von beiden bedeutet also genauer den Zustand, in dem das moralisch freie Subjekt mit der Vollendung seiner Tugend die Glückseligkeit erreicht. Dieses gelungene Leben, das sich aus der Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit ergibt, ist nichts anderes als der Endzweck seiner praktischen Philosophie, auf den der handelnde Mensch letztendlich abzielt, d. h. „das höchste Gut“ 156 , das das Hauptthema der Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft bildet. Dies ist bei Kant der erreichte Endzweck der praktischen Vernunft, denn dieser Oberbegriff des moralischen Guten bedeutet „das Ganze, das vollendete Gut“ 157 , d. h. die vollständige Verwirklichung der dem Subjekt zugehörigen moralischen Vorstellung in seiner objektiven Welt. Wenn sich die moralische Gesinnung völlig verwirklichen soll, so folgt, dass sie durch und durch bis zum externen Bereich gelten soll; der Gedanke des höchsten Guts impliziert, dass die vollendete Tugend mit dem vollkommenen Genuss der Glückseligkeit zusammenfallen soll. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel das absolute Gute, das das moralische Subjekt beabsichtigt, als „die realisierte Freiheit“ (W7.243). Das höchste Gut kontrastiert Kant mit dem „oberste[n] Gut“ 158 , um die verwirklichte Moralität klar zu erläutern. Diese beiden machen die zwei Hauptmomente für den moralischen Endzweck aus. Soweit die Tugend auf dem Moralgesetz beruht, besteht die Vollendung der moralischen Gesinnung darin, „[die] Würdigkeit [zu erlangen] glücklich zu sein“ 159 ; weil diese Glücks-Würdigkeit von dem Menschen für am erstrebenswertesten gehalten werden soll, bezeichnet sie sich als „die oberste Bedingung“ für den menschlichen Vollzug, d. h. als das oberste Gut.160 Der Zustand des obersten Guts bedeutet gleichsam nur die Glückswürdigkeit des Menschen. Das oberste Gut würde nur dann entstehen, wenn der Mensch der ihm auferlegten moralischen Pflicht völlig nachkommen könnte. Aber der Mensch ist zu dieser völligen Befolgung des moralischen Gesetzes nicht fähig, sofern er einesteils ein vernünftiges, aber anderenteils ein bloß sinnliches, von der Neigung abhängiges Lebewesen ist. Dieser vollendete Moralzustand ist daher eine Idee außerhalb der Grenze der menschlichen Tugend, denn er könnte sich nur aus der Heiligkeit (des absoluten Wesens) ergeben. Die vollendete Tugend oder das oberste Gut bildet also das erste Moment für das höchste Gut. Dieses Postulat setzt einen weiteren Punkt voraus; denn, um der erreichbar, aber bei Kant überhaupt nicht. 156 I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 239. 157 Ebd., S. 239. 158 Ebd., S. 238. 159 Ebd., S. 239. 160 Ebd., S. 238. Die Moralität ist in diesem Zusammenhang „nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen.“ S. 261. 136 vollständigen Verwirklichung des moralischen Gesetzes willen, d. h. damit sich der Mensch seinem Ideal der Vollkommenheit nähern könnte, soll ihm also auch die Unsterblichkeit der Seele161 vorausgesetzt werden. Nur mit der vollendeten Tugend oder der Glückswürdigkeit des Menschen, um deren willen er die Unsterblichkeit der Seele annimmt, kann gleichwohl noch nicht auch die Glückseligkeit garantiert werden; der Mensch kann nämlich seinen Endzweck nicht erreichen, nur wenn er nur bei der Errichtung der Glückswürdigkeit bleibt. Auch wenn man das oberste Gut erringen könnte, wäre die Glückseligkeit dem Menschen nicht zu gewährleisten, denn man kann in keiner Weise feststellen, dass die vollendete Tugend direkt die Glückseligkeit verursacht. Ü ber die Glückseligkeit, das zweite Moment für das höchste Gut, sagt Kant Folgendes: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruhet also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke“.162 Weil der Mensch ihm selbst diese Ü bereinstimmung nicht garantieren kann, ist es nötig, eine von der Naturkausalität unabhängige Welt, zu der nur das ganz intellektuelle Subjekt gehört, vermittelst des Postulats der Freiheit163 anzunehmen und auch das Postulat des Daseins Gottes164 als des vollkommenen Welturhebers aufzustellen. Diese Postulate sind bei Kant die Forderungen, die für den moralischen Endzweck unumgänglich sind; für die Denkbarkeit des höchsten Guts sind die folgenden Postulate Dazu vgl.: „Da sie [= die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz] indessen gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, […] Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich.“ Ebd., S. 252. 162 Ebd., S. 255. 163 Dazu vgl.: „Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört: so ist die Vorstellung derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der Kausalität unterschieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe selbst Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum Gesetz dienen kann, als bloß jene allgemeine gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungsweise auf einander, gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande. Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.“ Ebd., S. 138. 164 Dazu vgl.: „Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Ü bereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postuliert. […] Also ist die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes. […] da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.“ Ebd., S. 255 f. 137 161 aufzustellen: 1) die Unsterblichkeit der Seele (d. h. die psychologische Idee), 2) die Freiheit (d. h. die kosmologische Idee) und 3) das Dasein Gottes (d. h. die theologische Idee).165 2.3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung Das moralische Subjekt nimmt an, dass seine Pflicht nur „um der Pflicht willen“ (W3.489) erfüllt werden soll. Dieser allgemeine Leitsatz kann aber nicht vollkommen verwirklicht werden, weil sich diese beiden Momente seiner Pflichterfüllung, also das Moment der Allgemeinheit (als des Grundsatzes des moralischen Handelns) und das der Besonderheit (als des einzelnen Falls desselben), gegenseitig widersprechenden. Das Bewusstsein hält sich an seine moralische Einstellung, immer wenn es seine Absicht in seiner Wirklichkeit realisiert, und zwar darauf abzielend, dass sein einzelnes Handeln in der Wirklichkeit dem allgemeinen Moralgesetz entspricht. Indem das Bewusstsein die ihm auferlegte Pflicht für „das reine unvermischte Ansich“ 166 hält, bezweckt es zu gleicher Zeit die „Einheit des reinen und einzelnen Bewusstseins“ (W3.452; 445), d. h. die Verwirklichung der reinen Pflicht. Das Bewusstsein kann jedoch die Kluft zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit nicht überbrücken, sondern steht im Widerstreit zu der harten Wirklichkeit. Darüber schreibt Hegel Folgendes: [Das moralische Bewusstsein] erfährt, daß die Natur unbekümmert darum ist, ihm das Bewußtsein der Einheit seiner Wirklichkeit mit der ihrigen zu geben, und es also vielleicht glücklich werden läßt, vielleicht auch nicht. Das unmoralische Bewußtsein dagegen findet vielleicht zufälligerweise seine Verwirklichung, wo das moralische [Bewusstsein] nur Veranlassung zum Handeln, aber durch dasselbe nicht das Glück der Ausführung und des Genusses der Vollbringung ihm zuteil werden sieht (W3.443 f.). Dazu vgl.: „Das erste [Postulat] fließt aus der praktisch notwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes; das zweite aus der notwendigen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens, nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt, d. i. der Freiheit; das dritte aus der Notwendigkeit der Bedingung zu einer solchen intelligibelen Welt, um das höchste Gut zu sein, durch die Voraussetzung des höchsten selbständigen Guts, d. i. des Daseins Gottes“. Ebd., S. 264. 166 Es geht im Kapitel „Vernunft“ (genauer im Abschnitt „Die gesetzgebende Vernunft“) um dieses „Ansich“ als solches, das Hegel aber im Kapitel „Geist“ eingehend thematisiert, indem er aufzeigt, wie dieses „Ansich“ in der Weltgeschichte realisiert worden ist. Dazu vgl. Siep (2000), S. 206. 138 165 Das Bewusstsein erfährt nämlich, dass sich die Einheit zwischen seiner Vorstellung und seiner Welt „zufälligerweise“ verwirklichen lässt. Das moralische Subjekt kann trotzdem „nicht auf die Glückseligkeit Verzicht tun und dies Moment aus seinem absoluten Zwecke weglassen“ (W3.444); dem Menschen wird die Hoffnung auf diese Glückseligkeit zur obersten Aufgabe, deren Erledigung von ihm gefordert wird. Also wird „ein ganzer Kreis von Postulaten“ (W3.445) in der Entwicklung der moralischen Weltansicht mit folgenden drei fortlaufenden Momenten zusammen geöffnet: der Zweck als die Pflichtverwirklichung, die Erfahrung über sein Scheitern und letztlich die wiederholte Forderung der Verwirklichung. Der Begriff der Pflicht, die dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz folgt, ist Kant zufolge schon ein ausreichender Grund für die vollendete Tugend; weil die Pflicht nur um ihrer selbst willen erfüllt werden soll, nimmt das Subjekt an, dass seine moralische Gesinnung für die Glückswürdigkeit reicht. Aber die Pflicht soll realiter verwirklicht werden; das moralische Bewusstsein bezweckt mit seinem Handeln eo ipso die konkrete und vollendete Verwirklichung des allgemeinen Gesetzes, sodass sich die vollendete Erfüllung seiner Pflicht ereignen soll. Ü ber diesen Standpunkt schreibt Hegel Folgendes: „[D]ie Harmonie der Moralität und der Glückseligkeit ist gedacht als notwendig seiend, oder sie ist postuliert“ (W3.445). Diese Bezeichnung ist auf Kants (im letzten Abschnitt erwähnten) Gedanken der „Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit“ zurückzuführen, der direkt auf das höchste Gut bezogen ist. Aus seiner Postulierung des Endzwecks ergeben sich die drei Postulate. Also macht die Forderung der praktischen Vernunft tatsächlich den Grundgedanken der Moralität aus, der für das Ideal des höchsten Guts von Kant relevant ist. Um seine grundlegende Forderung zu erfüllen, stellt das moralische Subjekt die Reihe der Postulate auf. In diesem Zusammenhang versucht Hegel den Begriff der „Natur“ zu verdeutlichen. Die Natur ist nämlich nicht nur diese ganz freie äußerliche Weise, in welcher als einem reinen Gegenstande das Bewußtsein seinen Zweck zu realisieren hätte. Dieses ist an ihm selbst wesentlich ein solches, für welches dies andere freie Wirkliche ist, d. h. es ist selbst ein Zufälliges und Natürliches. Diese [innere] Natur, die ihm die seinige ist, ist die Sinnlichkeit, die in der Gestalt des Wollens, als Triebe und Neigungen, für sich eigene bestimmte Wesenheit oder einzelne Zwecke hat, also dem reinen Willen und seinem reinen Zwecke entgegengesetzt ist (W3.445). 139 Wenn der moralisch gut gesinnte Mensch also „die Harmonie der Moralität und der Natur“ (W3.445) bezweckt, gehört die Natur, auf die seine moralische Vorstellung bezogen ist, nicht allein der objektiven Welt; sie ist auch in ihm selbst. In diesem Sinne kann man das erste Postulat mit der Harmonie des Bewusstseins mit seiner äußeren Natur betiteln und im Gegensatz dazu das zweite als die Harmonie desselben mit seiner inneren Natur.167 Hegel stellt den Zusammenhang von beiden folgendermaßen dar: Das erste Postulat war die Harmonie der Moralität und der gegenständlichen [d. h. ganz freien äußerlichen] Natur, der Endzweck der Welt; das andere die Harmonie der Moralität und des sinnlichen Willens, der Endzweck des Selbstbewußtseins als solchen; das erste also die Harmonie in der Form des Ansich-, das andere in der Form des Fürsichseins (W3.447). Während das erste Postulat die Entsprechung der moralischen Vernünftigkeit mit der Naturkausalität ist, besagt das zweite, dass die Neigung des Menschen überwunden sein soll. Das erste besteht darin, dass die Willensfreiheit des Subjekts dem objektiven Weltzustand entsprechen kann; das zweite besagt, dass seine absolute Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit erreichbar ist. Das erste Postulat (also der Endzweck der Welt) entspricht dem kantischen Postulat der Freiheit (d. h. der kosmologischen Idee). Man könnte wohl sagen, das zweite Postulat (also der Endzweck des Selbstbewusstseins) entspreche Kants Postulat der Unsterblichkeit der Seele (d. h. die psychologische Idee), das für die Denkbarkeit des obersten Guts unumgänglich ist. Aber die (hier von Hegel formulierte) zweite Forderung der moralischen Weltansicht steht m. E. vielmehr im Widerspruch zur Position Kants, was das Verhältnis der Vernunft (oder Pflicht) zur Sinnlichkeit (oder Neigung) betrifft. Kant sieht den Willen des moralisch gut gesinnten Menschen als das absolut Gute an 168 , und zwar unter der Voraussetzung, dass es ohne den guten Willen keine gute Handlung gebe. Die Moral beruht Kant zufolge ausschließlich auf dem Vernunftwesen in dem Noumenon; die moralische Tugend liegt nur in der Pflicht aus Vernunft, die von der Neigung scharf zu unterscheiden ist. Hingegen geht es im Endzweck der Selbstbewusstseins, in dem zweitem Postulat Hegels, um ein anderes: die Pflicht und die Neigung sollen als ein und dasselbe angesehen werden. 167 Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 235-238. Dazu vgl.: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ I. Kant, Werkausgabe, Bd. 7, S. 18. 140 168 Das heißt: „Beides, das reine Denken und die Sinnlichkeit des Bewußtseins, sind an sich ein Bewußtsein“ (W3.445). Gemäß dieser Forderung soll der Gegensatz von reinem Willen und natürlichen Trieben entschärft werden, denn die beiden gehören zu ein und demselben Bewusstsein. Die Forderung, dass das reine Denken und die sinnliche Willkür an sich einem Bewusstsein zugehören, wird allerdings entgegen der Position Kants dadurch herbeigeführt, dass man die beiden einheitlich betrachtet. Dieser Punkt impliziert, dass Hegels Thematik der Postulate neben Kants praktischer Philosophie auch die Auseinandersetzung mit den Lehren von anderen Denkern (vor allem Schiller und Fichte) im Rahmen der Ethik in sich enthält.169 Aus der Erwartung der Identität von beiden Momenten ergibt sich das Postulat des moralischen Subjekts, das den Ü bergang von „dem gewußten Gegensatze beider“ zur „wirkliche[n] Einheit“ oder verwirklichten Moralität besagt (W3.446). Daraus ergibt sich, dass die moralische Pflicht nicht als eine bloße Nötigung gilt, weil die absolute Selbstständigkeit des moralischen Subjekts in seiner freien Wahl besteht.170 169 Als ein Repräsentant dieser Tendenz, d. h. der einheitlichen Betrachtung, hat Hegel insbesondere Schiller vor Augen. W7, S. 233. Schiller sieht die moralische Tugend als die Verbindung von Pflicht und Neigung an; denn „der Mensch soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen“. Das absolute Gebot der Pflicht bewirkt für Schiller das Gefühl des Abscheus, solange es in der Unterdrückung des sinnlichen Triebes besteht. Um Kants asketische Tendenz zu kritisieren, konzipiert Schiller das wahre Menschenbild der „gesamten Menschheit“, zu dem er in seiner Schrift Ü ber Anmut und Würde Folgendes darlegt: „Tugend ist nichts anders »als eine Neigung zu der Pflicht«. Wie sehr also auch Handlungen aus Neigung und Handlungen aus Pflicht in objektivem Sinne einander entgegenstehen, so ist dies doch in subjektivem Sinn nicht also, und der Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen. […] In der Kantischen Moralphilosophie ist die Idee der Pflicht mit einer Härte vorgetragen, die alle Grazien davon zurückschreckt und einen schwachen Verstand leicht versuchen könnte, auf dem Wege einer finstern und mönchischen Asketik die moralische Vollkommenheit zu suchen.“ F. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 299 f; Bd. 5, S. 464 f. Die obige Harmonie zwischen reinem Denken und sinnlicher Willkür herzustellen, ist auch die Hauptaufgabe von Fichte, die er insbesondere mit dem Interesse an der Ethik lösen wollte. Hegel diagnostiziert offenkundig, dass die Philosophie von Fichte die Schranke der subjektivistischen Tendenz berherbergt, indem er wie bei F. Schlegel dem Fichteschen Standpunkt der absoluten Gewissheit von der Ichheit die sog. romantische „Ironie“ zuschreibt. W7, S. 285 f. u. W13, S. 93 ff. Aber Hegel schätzt Fichtes Leistungen deswegen hoch, weil Fichte die im bloßen Allgemeinen immanente Negativität als das spekulative Prinzip der begriffsnotwendigen Entwicklung erblickt. W7, S. 53. In diesem Zusammenhang kann man m. E. die zweite Harmonie in Bezug auf Fichtes ethisches Programm mit betrachten. Fichtes System der Sittenlehre (von 1798) handelt davon, dass sich unter der Vorbedingung der Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen absoluten Ich und dem Selbstbewusstsein das Bewusstsein durch den folgenden „Mechanismus“ entwickelt: die „absolute Identität des Subjects und Objects im Ich“ => „Trennung beider“ => Hervorbringung der „Vereinigung“. Vgl. auch: „Mein Trieb als Naturwesen, meine Tendenz als reiner Geist, sind es zwei verschiedene Triebe? Nein, beides ist vom transscendentalen Gesichtspuncte aus ein und ebenderselbe Urtrieb, der mein Wesen constituirt: nur wird er angesehen von zwei verschiedenen Seiten. Nemlich, ich bin Subject-Object, und in der Identität und Unzertrennlichkeit beider besteht mein wahres Seyn.“ Beides besteht nämlich „in einem Wesen, das absolut Eins seyn soll“. Fichte, Werke, Bd. 4, S. 1; 130 f. 170 So kann man in gewissem Sinne denken, dass sich diese Forderung der Vernunft nach folgender Einsicht darstellt: Metz (2006) ist unter Anlehnung an Fichtes System der Sittenlehre (von 1798) der folgenden Auffassung: „Die Freiheit als Autonomie ist nur da im Element der Wahl-Freiheit, ohne mit dieser identisch zu sein“. Dieser Punkt sei durch die Thematik des Zusammenhangs von der (aus der moralgesetzlichen Notwendigkeit hervorgegangenen) Freiheit (als Autonomie oder absolute Selbstbestimmung) und der 141 Auch Hegel erblickt in Kants Konzept das folgende Problem: Das moralische Bewusstsein kann den Gegensatz zwischen der Vernunft und der Sinnlichkeit nicht auflösen, sofern seine Sinnlichkeit als sein Anderssein betrachtet wird; dann würde trotz der ursprünglichen Einheit von beiden die Bemühung um ihre Hervorbringung vielmehr nur zum „Aufheben“ der Sinnlichkeit führen, indem das Subjekt seine Sinnlichkeit unterdrücken soll, damit „die Sinnlichkeit der Moralität gemäß sei“ (W3.446). Vom moralischen Standpunkt aus soll die Sinnlichkeit zu dem Moralgesetz gehören, aber aus der vollendeten Tugend würde sich die unterdrückte Sinnlichkeit ergeben. Das moralische Bewusstsein setzt gleichwohl das Moment der Sinnlichkeit voraus, sofern seine Weltansicht in seinem Verhältnis zu seinem Anderssein besteht, obgleich sich das Bewusstsein negativ zu seinem Gegenstand verhält; insofern beherbergt der Begriff der vollendeten Moralität den folgenden Widerspruch: Das Subjekt muss, um seine Pflicht zu erfüllen, seine innere Natur negieren. Obgleich das moralische Bewusstsein die reine Pflicht als sein absolutes Wesen ansieht, führt diese Ansicht dazu, dass diese Pflicht ihm unwirklich zu sein scheint. Daraus lässt sich also folgern: Die Vollendung der praktischen Vernunft ist „ins Unendliche hinauszuschieben“, denn ihre „absolute Aufgabe“ muss „in der dunklen Ferne der Unendlichkeit“ (W3.446 f.) bleiben.171 Das Bewusstsein bezweckt mit der Verneinung der Sinnlichkeit sein Ziel zu erreichen; dennoch steht es für immer in der Disharmonie von Pflicht und Neigung; trotzdem kann es aber nicht darauf verzichten, sich seinem Ziel dauernd anzunähern. Die Pflicht und die Neigung sind in Wirklichkeit noch gegeneinander abgetrennt. Das moralische Bewusstsein will jetzt die zwei obigen Postulate, also den Endzweck der Welt in der Form des Ansichseins und den Endzweck des Selbstbewusstseins in der Form des Fürsichseins, verbinden. Diese Vermittlung kann durch „die Bewegung des wirklichen Handelns selbst“ (W3.447) entstehen. „Die hierdurch entstehenden Postulate enthalten, wie vorher nur die getrennten an sich und für sich seiende Harmonien [enthielten], jetzt an und für sich seiende“ (W3.447 f.). Hegel denkt nämlich, nur bei dem wirklichen Handeln gehe es um diese Vermittlung. Im dritten Postulat kann das moralische Bewusstsein durch diesen Begriff der Handlung auf die Vielfältigkeiten des wirklichen Daseins bezogen werden. (produktiven bzw. schöpferischen) Reflexion (als Wahl- oder Willkürfreiheit) zu erläutern. S. 23-30. Die absolute Autarkie des moralischen Subjekts thematisiert Hegel im Rahmen des Gewissens eingehend. 171 Fichte denkt, dass „absolute Freiheit, absolute Unabhängigkeit von aller Natur“ nämlich „ein unendlicher nie zu erreichender Zweck“ sei. Also geht es ihm um die „Aufgabe“, „anzugeben, wie gehandelt werden müsse, um jenem Endzwecke sich anzunähern.“ Fichte, a. a. O., S. 131. 142 Das moralische Bewußtsein ist als das einfache Wissen und Wollen der reinen Pflicht im Handeln auf den seiner Einfachheit entgegengesetzten Gegenstand, auf die Wirklichkeit des mannigfaltigen Falles bezogen und hat dadurch ein mannigfaltiges moralisches Verhältnis (W3.448). Dieses Verhältnis stellt die Trennung zwischen dem Bewusstsein (als der einfachen Gesinnung) und der Wirklichkeit (als der Mannigfaltigkeit der konkreten Fälle) dar. Es hält die vielen konkreten Pflichten in Bezug auf seine wirkliche Handlung für geringer als die reine Pflicht aus dem kategorischen Imperativ Kants, da ihm nur diese Pflicht als absolutes Wesen gilt. Hingegen müssen jene konkreten Pflichten in der Vielfalt der Wirklichkeit und in dem dadurch mannigfaltigen Verhältnis des moralischen Bewusstseins zu seiner Welt liegen – man könnte aber vielmehr denken, dass dieses Verhältnis unbedingt erforderlich ist –, weil wir dann nach konkreten Vorschriften auf die jeweiligen Umstände irgendwie reagieren müssen. Statt jener beeinträchtigten reinen Pflicht, doch zugleich auch statt dieser vielen bestimmten Pflichten, muss das moralische Subjekt einen moralisch an und für sich seienden Grund suchen, seine bestimmten Handlungen in seiner konkreten Wirklichkeit zur Geltung zu bringen; dieser Grund würde gleichwohl anderswo als bei sich selbst liegen. Es ist also postuliert, daß ein anderes Bewußtsein sei, welches sie [= die vielen Pflichten] heiligt oder welches sie als Pflichten weiß und will (W3.448). Hier kommt das dritte Postulat, das von Hegel entworfen und formuliert ist, zum Vorschein: Während das moralische Bewusstsein viele konkrete Fälle von sich ausschließen will, indem es sich vorsetzt, nur die reine Pflicht anzunehmen, will das hier geforderte andere Bewusstsein die „Beziehung auf das Handeln und die Notwendigkeit des bestimmten Inhalts“ in sich einschließen, damit diesem Bewusstsein die vielen bestimmten Pflichten als solche gelten, sodass „das Allgemeine und das Besondere schlechthin eins ist“ (W3.448). Nunmehr fordert das Bewusstsein die Harmonie der Moralität und Glückseligkeit; das höchste Gut liegt nur im Bewusstsein. Dieser moralisch an und für sich seiende Grund ist aber kein menschliches Bewusstsein, sondern im ganz denkerischen Sinne „ein Herr und Beherrscher der Welt“, der sowohl die reine Pflicht wie viele bestimmte Pflichten „heiligt“ (W3.449). In diesem Zusammenhang lässt sich das Dasein (des an und für sich seienden) Gottes als das letzte Postulat erheben. 143 Der moralisch gesinnte Mensch zielt darauf ab, die reine Pflicht ganz und gar zu vollbringen; jedoch gehört diese Pflicht streng genommen nicht zu ihm selbst, sondern zu einem anderen Wesen, das als „der heilige Gesetzgeber der reinen Pflicht“ (W3.449) bezeichnet wird. Daraus folgt, dass es auf der einen Seite das „Gelten der Pflicht als des an und für sich Heiligen“ gibt, wogegen das „unvollkommne“ moralische Bewusstsein auf der anderen Seite steht (W3.449). Aber dieses Bewusstsein will über seine Schranke hinausgehen. Seine Unfähigkeit, eigenen Forderungen nachzukommen, ist die Ursache für die Vorstellung über den Gnadenakt Gottes.172 Um seiner [Glücks-]Unwürdigkeit willen kann es [= das moralische Bewusstsein] daher die Glückseligkeit nicht notwendig, sondern als etwas Zufälliges ansehen und sie nur aus Gnade erwarten. (W3.450). Dieses Bewusstsein ist in Wirklichkeit der Glückseligkeit unwürdig, da seine Tugend nicht in der Lage ist, seine innere Natur, die Sinnlichkeit, zu beherrschen; seine Glückswürdigkeit wird gefordert, aber nicht erreicht. Daher wird auch postuliert, dass es um seiner ursprünglichen Unwürdigkeit willen die Glückseligkeit nur auf die Gnade Gottes hoffen kann. Der moralisch gesinnte Mensch denkt, es könne trotzdem wenigstens in seinem reinen Denken, also in der Bewusstheit über die reine Pflicht, glückswürdig sein. Es versteht sich in Kants Aussicht schon von selbst, dass sich das moralische Bewusstsein darum bemüht, festzustellen, ob die Realisierung des moralischen Endzwecks wirklich vollendet werden kann. Es will auf die Glückseligkeit als das Resultat dieser Handlung nicht verzichten. Die Folge davon ist, dass auch das moralisch unvollkommene Bewusstsein die Glückswürdigkeit verlangen darf und dass die Glückseligkeit ihm mit Recht zum Verdienst anzurechnen ist. Das Moralbewusstsein ist trotz seiner wirklichen Unwürdigkeit der Glückseligkeit deshalb würdig, weil es kraft des guten Willens der Gnade würdig ist. Daraus kann man schließen, dass das dritte Postulat mit dem religiösen Glauben (das Hegel mit der „Religion der Moralität“ bezeichnet) (W3.496) eng verwoben ist. 172 Dazu vgl. Schick (2009A), S. 290; Halbig (2008), S. 492. 144 2.4 Die Schranke der moralischen Vorstellung Dem moralischen Bewusstsein gilt sein wirklicher Zustand – sei es die äußere oder die innere Natur – streng genommen als „das Nichtmoralische“ (W3.450). Aber dieser reine Begriff der moralischen Pflicht zeigt sich in Wirklichkeit auch als ein besonderes Bewusstsein, das einer besonderen Pflicht gehorcht. Diese vollständige Einzelheit des wirklichen Bewusstseins führt zu einer Gegenstellung zu dem, was das moralische Subjekt ursprünglich beabsichtigte; daraus ergibt sich, dass auch das Subjekt als „das Nichtmoralische“ erwiesen wird, weil es sein Endziel nicht völlig erreichen kann. Der Mensch ist insofern in der Tat „das unvollkommne moralische Bewußtsein“ (W3.449). Wer die reine Pflicht und ihre Wirklichkeit miteinander vereinigen kann, der wird von dem Bewusstsein als das Absolute gedacht; diese Bezeichnung Gottes als des Absoluten folgt aus dem obigen dritten Postulat des moralischen Bewusstseins. Allein die mit dem dritten Postulat bezweckte moralische Vollkommenheit geschieht nur „in der Vorstellung des absoluten Wesens“ (W3.450), das dem Bewusstsein vollkommen scheint. Im ersten Postulat ist das geforderte Sein nicht in der Vorstellung des Bewusstseins enthalten, sondern es liegt außerhalb derselben. Im zweiten erfährt das für sich seiende Bewusstsein von der ewigen Verschiebung seiner Vollendung. Nun liegen die reine Pflicht und die Welt in der Vorstellung von Gott als dem an und für sich seienden Wesen. In der Vorstellung von dem Dasein Gottes hält das moralische Bewusstsein sogar seine objektive Wirklichkeit, die pflichtwidrig war, für (moralisch) vollkommen; das Bewusstsein sieht seine Gedankenwirklichkeit als reale Wirklichkeit an. Allerdings stehen das moralische Bewusstsein und seine Wirklichkeit in der moralischen Weltansicht wesentlich im widerstreitenden Verhältnis zueinander. Das Subjekt bemüht sich zwar darum, seine Schranken zu überwinden, und es erreicht endlich in der Vorstellung von dem absoluten Wesen seinen Höhepunkt. Hier entsteht jedoch erneut die folgende entscheidende Schranke für das Subjekt: Es kann in seiner moralischen Vorstellung seinen eigenen Begriff nicht erreichen; daher besteht seine höchste Bestimmung nicht in sich selbst. Dem reinen Bewusstsein ist in der Wirklichkeit „der Gegenstand seines wirklichen Bewußtseins noch nicht durchsichtig“, weil es bei jenem reinen Bewusstsein nur um einen „abstrakte[n] Gegenstand“ im Namen der reinen Pflicht geht (W3.451); das moralische Bewusstsein „verhält sich also nur denkend, nicht begreifend“ (W3.451). Mangels des begreifenden Wissens, das von Hegel als das absolute Wissen bezeichnet wird, geschieht die grundlegende Einheit des Bewusstseins mit seinem Gegenstand gar nicht. Dieser entscheidende Mangel 145 zeigt auf, dass der Gegenstand des moralischen Bewusstseins im Grunde ein Resultat der äußerlichen „Verbindung des Seins und des Denkens“ oder „ein seiender [Gegenstand], der zugleich nur gedacht“ (W3.451) ist; sein Denken liegt eo ipso in den vorstellenden Gedanken.173 Diese Form des vorstellenden Wissens setzt sich bei dem moralischen Bewusstsein durch; in seiner Vorstellung entwickelt sich die Dialektik der moralischen Vor- und Verstellung folgendermaßen: 1) Das moralische Subjekt sieht zunächst in seiner konkreten Handlung nur die der Pflicht entsprechende Wirklichkeit als seinen Zweck an; nur sein unverfälschtes Wissen macht seinen Gegenstand aus, den das wirkliche Bewusstsein für den Endzweck hält. Das moralische Bewusstsein sieht seine Wahrheit als Harmonie von Moralität und Wirklichkeit an; es nimmt an, dass es in Wirklichkeit diese Harmonie gibt. Das wirkliche Bewusstsein bezweckt nämlich mit seinem guten Willen die ganze Verwirklichung seines Wesens. 2) Aber diese Vollendung beruht nur auf seiner Vorstellung; es erfährt nämlich, dass ihm noch die Wirklichkeit als sein Anderssein entgegensteht. 3) Es fordert somit das Absolute, d. h. denjenigen Begriff, „der die Macht über den Gegenstand als solchen hat“ (W3.452), die nichts anderes als sein Anderssein ist. Was dem wirklichen Bewusstsein hiermit übrig bleibt, ist „die Nichtharmonie des Pflichtbewußtseins und der Wirklichkeit“ (W3.452); „es gibt kein moralisch vollendetes wirkliches Selbstbewusstsein“ (W3.452). Das moralische Bewusstsein bemüht sich, der reinen Pflicht vollständig angemessen zu sein. Die Wirklichkeit versagt schon dem Bewusstsein die vollendete Moralität; das moralische Bewusstsein muss deshalb in die Aporie geraten, wo sich zwei jeweils gültige Gesetze – d. h. es gebe ein moralisches Bewusstsein und es gebe zugleich keines – einander entgegengesetzt sind. Daraus lässt sich Folgendes erkennen: Um diese widerstreitenden Urteile zu schlichten, wird notwendigerweise noch ein Subjekt, das die Moralität vollenden könnte, gefordert, dieses Wesen ist jedoch jenseits des wirklichen Bewusstseins. Nur in der moralischen Vorstellung des Bewusstseins kann dieses Subjekt wirklich sein. In diesem Kontext lassen sich unter dem Wort „Vorstellung“ beide Intentionen verstehen, die allerdings eigentlich miteinander in Verbindung stehen. Die eine bedeutet nämlich, dass beide heterogene Elemente unvollkommen miteinander gemischt werden. In diesem Zusammenhang verwendet Hegel den Ausdruck der Vorstellung als den der „synthetische[n] Verknüpfung des selbstbewußten und des äußeren Daseins“; als „die synthetische Verbindung des Allgemeinen und Einzelnen oder das Vorstellen“. Die andere bedeutet, dass der Gegenstand der Vorstellung jetzt nicht mehr sinnlich-äußerlich ist, jedoch noch nicht zu begreifen ist. Dazu vgl. z. B.: „[D]ie Vorstellung [ist] noch die unüberwundene Seite, von der er [= der Geist] in den Begriff übergehen muß“. W3, S. 531; 503. Daraus lässt sich feststellen, dass die Vorstellung ein unvollkommenes Denken über die Synthesis ist, denn das vorstellende Wissen bedeutet noch nicht die begriffliche Einsicht darüber, was ein Gegenstand ist. 146 173 Es wird hierdurch der erste Satz, daß es ein moralisches Selbstbewußtsein gibt, hergestellt, aber verbunden mit dem zweiten, daß es keines gibt, nämlich es gibt eines, aber nur in der Vorstellung; oder es gibt zwar keines, aber es wird von einem andern [also von Gott] doch dafür gelten gelassen (W3.452). Das moralische Bewusstsein als Träger des reinen Zwecks zeigt sich in seinem wirklichen Handeln vielmehr als ein wirklich Unvollkommenes. Der Mensch ist unvollendet, weil er erstens von seiner objektiven Welt oder seinem sinnlichen Trieb auf gar keinen Fall unabhängig sein kann, und weil es zweitens immer in konkreten Umständen, d. h. in vielfältigen moralischen Beziehungen gefangen ist, wo es sogar in ratloser Situation eine Entscheidung treffen soll, durch die es gleichwohl in Verlegenheit geraten könnte. 2.5 Der vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung: Verstellung Das moralische Bewusstsein will das Moralgesetz durch sein Handeln realisieren; kraft seiner moralischen Zielsetzung braucht das Bewusstsein nämlich über seinen Gegenstand nicht hinauszugehen, weil seine Welt nur in seinem Inneren ist. Aber das moralische Subjekt erfährt, dass es jenseits seiner Grenze etwas gibt, was seinem Willen entgeht; sein Endziel des moralischen Vollzugs – mit Kants Formulierungen das Ideal des höchsten Guts – ist nichts anderes als ein „Gedankending“ (W3.462), d. h. die bloße Gedankenwirklichkeit. Der moralische Mensch fordert die Existenz Gottes; dieses absolute Wesen besteht aber ebenfalls nur in der Gedanken-Welt, denn dieser Begriff des Absoluten gründet sich auf die dem moralischen Subjekt eigene Weltansicht, sodass das Absolute nicht vom moralischen Subjekt unabhängig ist. Eine moralische Zielsetzung wird geradewegs an eine andere Stelle verrückt; dadurch wird ihre Gegenstellung völlig widerlegt. Jede Setzung steht demnach jeweils in Opposition zu einer anderen Stellung. „Die moralische Weltanschauung ist daher in der Tat nichts anderes als die Ausbildung dieses zum Grunde liegenden Widerspruchs nach seinen verschiedenen Seiten“ (W3.453). Daraus leitet Hegel her, dass die Postulate des moralischen Subjekts zusammen mit einer Reihe von Widersprüchen aufkommen. Wenn man auf die Dialektik 147 der moralischen Weltansicht zurückblickt, verschafft diese Rückschau uns m. E. eine Gesamtsicht über die folgende Reihenfolge der Entwicklung: Setzung: Das Bewusstsein verharrt auf seiner reinen Vorstellung der Pflicht; diese Vorstellung gilt ihm als sein Zweck, weil es von der Gediegenheit seiner Haltung ganz überzeugt ist. Das Subjekt nimmt diese Zielsetzung als das schlechthin allgemein Gültige an. Entgegensetzung: Allerdings ist die Eigenständigkeit der unverfälschten moralischen Gewissheit sogleich beeinträchtigt und verschwommen. Das moralische Subjekt erfährt mithin, dass seine anfängliche Einstellung vereitelt wird. Aufeinanderfolge von wiederholten Setzungen und deren Misserfolg: Das moralische Bewusstsein muss seine Ansicht zunichtemachen, um von Neuem einen anderen Versuch zu unternehmen; es legt nun die zweite Position aufs Neue fest, nachdem es die erste völlig umgestoßen hat. Jedoch muss sogar diese neue Stellung wieder zerstört werden; jeder erneute Versuch hat nämlich keinen Erfolg. Es wird also erwiesen, dass die Reihe der Unternehmungen des moralischen Bewusstseins vergebens ist. Sein unabwendbares Schicksal ist nämlich, dass es in der Tat keine endgültige Position geben kann; alle Setzungen müssen vielmehr gegeneinander kämpfen. Seine Stellungen sind überdies geradezu betrügerisch, weil es bei allem Versuch immer schon weiß, dass es eigentlich gar keine aufrichtige Haltung gibt. Das Bewusstsein setzt einen Moment fest, aber geht sogleich zum andern über; dadurch wird das erste aufgehoben. Sobald es nun das zweite aufstellt, verstellt es auch dasselbe wieder. Zugleich ist es sich dieser Situation auch bewusst, denn es geht von der Setzung zu der Entgegensetzung über. Damit bekennt aber das Bewusstsein, dass es ihm in der Tat mit keinem derselben Ernst ist. Diese Festsetzung ist auf sein Gegenteil bezogen, sodass der Widerspruch im ersten Moment, das keine Realität mehr hat, ihm bewusst ist. Das Subjekt geht zu jenem entgegengesetzten Moment über und macht dasselbe aufs Neue zu seiner Hauptsache, indem es das erste aufhebt. Es behauptet jetzt, dass die zweite Aufstellung das Wesentliche sei. Die Reihenfolge dieser Entwicklungen ist zum Scheitern verurteilt. Die Zielsetzung eines Subjekts steht geradewegs vor dem ihr entgegengesetzten Moment. Das Bewusstsein kann aber diese sich einander entgegengesetzten Momente nicht einheitlich begreifen; es kann den Widerspruch in ihm selbst gar nicht auflösen, sondern es flüchtet immer vor demselben. Es bleibt ihm nun nichts anderes übrig, als nur um von diesmaliger Befangenheit abzuweichen anders gesinnt zu sein, wodurch diese Gesinnung dennoch 148 wiederholt mit einem anderen Dafürhalten kollidieren muss. Diese willensschwache und selbstbetrügerische Haltung nennt Hegel die „Verstellung“ (W3.453). Mithilfe dieser Thematik intendiert Hegel die Demaskierung der moralischen Vorstellung, indem er ihre Schranken und auch ihre vorsätzliche Selbsttäuschung aufzeigt. Hegels Grundgedanke lässt sich folgendermaßen darstellen: Die moralische Vorstellung liegt in der Kette der Verstellung. Das Subjekt, das sich jenes Widerspruchs bewusst ist, versucht demselben zu entgehen, obwohl es in eine andere Stellung zu gelangen versucht. Aus dieser anderen Einstellung erfolgt ein Ü bergang zu dem ihr entgegengesetzten Moment, in dem darauf hingezielt wird, die Nichtigkeit des ersten Moments durch die Realität des zweiten zu ersetzen. Aber es tut dies nicht, sondern verhüllt den Blick auf seinen Grund für diese Widersprüchlichkeit. Seine Angst vor der Wahrheit verdeckt sogar seine Einsicht in diese Situation. Mit der Ausnahme seiner Ernsthaftigkeit täuscht es sich, indem es die Absicht hat, die eigene tatsächliche Unernsthaftigkeit vor sich zu verstecken. Die Bewusstheit über seine Tatsache, die Unfähigkeit zum Begreifen des wahren Grundes und die Furcht vor dem Urgrund: So sind die Ursachen der moralischen Verstellung. Und die Veränderung seiner Stelle (VerStellung), die Flucht vor der Wahrheit und Verdeckung dieses Tatbestandes: So sind die Momente der verstellenden Bewegungen. Das Bewusstsein beabsichtigt die Entgegensetzung des ersten Moments, weil es für das Bewusstsein keine Realität mehr gibt. Mit diesem Ü bergang ist zwar gemeint, dass der ideellen Abstraktheit des ersten Momentes das Reelle verschafft wird. Aber dieses Unterfangen ist eine vortäuschende Forderung; denn, damit das Bewusstsein die Wesenheit eines Moments behaupten kann, muss das moralische Bewusstsein die Wesenheit des entgegengesetzten Moments behaupten.174 Aus dem Obigen kann man eo ipso die Schlussfolgerung ziehen, dass die bewusste Verstellung als der jeweilige vorläufige Ausweg der moralischen Vorstellung erscheint. Das Bewusstsein flieht vor Tatsachen in sich zurück und findet hier seine Realität. Hegel führt in diesem Kontext das doppeldeutige Wort „vorgeben“175 an; er denkt, dass die von dem Nach der Auffassung von Schmidt hat das Wort verstellen drei verschiedene Nuancen: „(1.) an einen anderen Ort stellen, (2.) verdecken und (3.) […] Heucheln“. In Hegels Darstellungen „ist das um zu in (3) die finale Erläuterung des weil in (2), und beide erläutern die nur faktische Entgegensetzung in (1).“ Schmidt (1997), S. 251. 175 Dazu vgl. z. B.: „Das Wort vorgeben kann, nach den beiden Bedeutungen von vorgeben, zweifach gelesen 149 174 verstellenden Bewusstsein behauptete Wahrheit realiter „eine vorgegebene“ (W3.464) ist. Das Bewusstsein gibt nämlich vor, dass eine Wahrheit vor sich vorhanden ist. Aber dies ist eine Irreführung, weil es hier etwas, was nicht Tatsachen entspricht, als Grund vorgibt. Ü ber diese „Verstellung der Sache“ (W3.456) schreibt Hegel Folgendes: Es müßte sie [= seine Vorstellung] noch immer für seine Wahrheit ausgeben, denn es müßte sich als gegenständliche Vorstellung aussprechen und darstellen, aber wüßte, daß dies nur eine Verstellung ist; es wäre hiermit in der Tat die Heuchelei (W3.464). Dadurch, dass das Bewusstsein die „Welt der Verstellung“ beibehalten will, entsteht diese Heuchelei 176 , die auch als Reihenfolge der „schwindelnden Bewegung“ (W3.464; 454) bezeichnet wird. In diesen wiederholten Schwindeleien (Betrügereien) leidet das Bewusstsein nämlich unter Schwindel (Taumel). Hegel analysiert diese Heuchelei, und zwar in Rückblick auf den oben dargestellten Inhalt der moralischen Weltanschauung überhaupt. Die Verstellung des moralischen Bewusstseins lässt sich im Hinblick auf die obigen („2. 3 Die drei Postulate der moralischen Vorstellung“) Postulate wie folgt resümieren: <Verstellung im ersten Postulat> In Bezug auf die Annahme, dass es in Wirklichkeit ein moralisches Bewusstsein gibt, legt Hegel kritisch die Verstellungen des ersten Postulats (d. h. des „Endzweck[s] der Welt“ oder der „Harmonie der Moralität und der gegenständlichen Natur“) (W3.447) dar. Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Die Harmonie der Moralität mit der äußeren Natur wird bezweckt. => Dem wirklichen Bewusstsein erscheint aber diese Harmonie nicht. => Das Bewusstsein, das seinen moralischen Zweck verwirklichen will, wird als ein bloß einzelnes entpuppt, sodass seine Vorstellung der Glückseligkeit ebenfalls auf seine Besonderheit beschränkt wird. => Kraft dieses Mangels gibt es keine seinem Zweck angemessene Wirklichkeit, obgleich (zwecks jener Harmonie) das Endziel des Handelns verwirklicht werden soll. Daraus ergibt sich, dass das Bewusstsein dieses Postulat nicht ernst werden: als (1.) zuvor vorhanden und (2.) vorgetäuscht.“ Ebd., S. 264. 176 Die „Heuchelei“ bedeutet buchstäblich die Verstellung oder Vortäuschung. Die heuchlerische Handlung ist charakteristisch für die moralische Weltansicht. Diese Charakter wird im „Gewissen“, und zwar in Bezug auf die Seite des „Bösen“, noch einmal, aber eingehender thematisiert. 150 meint; durch das Handeln wird nämlich das negiert, was nur ein jenseitiges Ansichsein ist, sobald es verwirklicht wird. Die Verstellung der Sache: Die Disharmonie von Moralität und Wirklichkeit ist dem Bewusstsein per se nicht Ernst, denn in der Handlung scheint ihm diese Harmonie wirklich. => Die wirkliche Handlung ist nur eine Handlung des einzelnen Bewusstseins, also nur etwas Zufälliges oder Beliebiges, wohingegen der Zweck des reinen Bewusstseins der allgemeine Endzweck ist, indem es das höchste Gut als seinen Zweck anstrebt. Daraus folgt: „Weil das allgemeine Beste ausgeführt werden soll, wird nichts Gutes getan“ (W3.455); das moralische Bewusstsein beabsichtigt zwar nur die vollendete Verwirklichung der reinen Pflicht, aber jedes Handeln des einzelnen Bewusstseins ist trotz seiner guten Absicht als die Vollbringung der reinen Pflicht unmöglich, weil das Bewusstsein letztlich kein absolut Gutes ausführen kann. Ü berdies bezweckt die Vollbringung keine reine Pflicht, weil es hier um das Gegenteil der reinen Pflicht geht. Dem wirklichen Bewusstsein ist es daher mit der Verwirklichung der reinen Pflicht nicht Ernst. => Die vollendete Verwirklichung der reinen Pflicht wird folgendermaßen ausgedrückt: „[D]ie absolute Pflicht [soll] in der ganzen Natur ausgedrückt und das Moralgesetz [soll] Naturgesetz werden“ (W3.456); nach diesem Postulat sollen das Naturgesetz (als die Kausalität) und das Moralgesetz (als die Freiheit) gleich werden. Aber sofern diese Gleichheit nun als Endzweck der Welt gilt, kann das Bewusstsein nicht mehr mit seiner reinen Gesinnung für das Moralgesetz Ernst machen. => „Somit fällt das moralische Handeln selbst hinweg“ (W3.456), weil es nur durch die Annullierung seiner Gesinnung geschehen kann. Das moralische Handeln ist eigentlich der absolute Zweck; dieser Endzweck ist jedoch selbstwidersprüchlich, denn, soweit das Bewusstsein die Absicht hat, das höchste Gut auszuführen, wäre das moralische Handeln für es „überflüssig“ (W3.456). Aus der Selbstwidersprüchlichkeit des moralischen Handelns resultiert nämlich die Ü berflüssigkeit desselben. <Verstellung im zweiten Postulat> Sofern das moralische Bewusstsein seine Willensfreiheit haben soll, führt dies zum zweiten Postulat (d. h. des „Endzwecks[] des Selbstbewußtseins“ oder der „Harmonie der Moralität und des sinnlichen Willens“) (W3.447), also der Harmonie des reinen Bewusstseins mit seiner inneren Natur. 151 Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Das moralische Bewusstsein ist das reine Bewusstsein, das von dem Sinnlichen wie Neigung, Trieb ganz unabhängig sein soll. => Weil es aber seinen Zweck in die Tat umsetzen will, soll diese aufzuhebende Sinnlichkeit eher die „Mitte zwischen dem reinen Bewußtsein und der Wirklichkeit“ (W3.457) sein. => Die Sinnlichkeit soll um der Harmonie willen der Vernunft gemäß sein. Dem reinen Bewusstsein ist es jedoch nicht ernst mit dem Aufheben dieser Sinnlichkeit; denn nur durch seine Sinnlichkeit kann der Mensch seine Welt aufnehmen. Das zweite Postulat setzt zwar voraus, dass seinem reinen Bewusstsein das Sinnliche gemäß sein sollte, aber es soll diese Gemäßheit verweigern, um seinen reinen oder übersinnlichen Zweck zu verwirklichen. => Die gezielte Harmonie zwischen dem reinen Bewusstsein und seiner sinnlichen Willkür ist in der Tat jenseits des Bewusstseins gesetzt. In der Einheit, die durch die Vermischung der reinen Pflicht und ihrem Gegensatz entsteht, würde die Moralität vielmehr verletzt. Daraus ergibt sich, dass die moralische Vollendung dem Bewusstsein nicht ernst ist, solange es die Moralität für ewig unvollendet hält. Die Verstellung der Sache: Aus dem Vollzug des moralischen Bewusstseins ergeben sich der „Zwischenzustand“ der unvollendeten Moralität und das „Fortschreiten“ (W3.458) zur Vollendung. => Dieses Fortschreiten führt immer zum unvollendeten Zustand der Moralität. => Dem Bewusstsein ist es mithin nicht ernst mit der moralischen Vollendung, sondern vielmehr mit dem „Mittelzustande“, aber eigentlicher mit der „Nichtmoralität“; „[e]s ist nämlich nicht abzusehen, wie Glückseligkeit für dies moralische Bewußtsein um seiner Würdigkeit willen zu fordern ist“ (W3.459). => Die Glückseligkeit ist letztlich nur aus „Gnade“ zu erlangen und nach Zufall und Willkür zu erwarten; insofern geht es aber nicht um die reine Moralität, weil dieser Gnadenakt nur von Gott, nicht vom Menschen kommt.177 Hier gibt es nur einen willkürlichen Grund. Was mich glücklich machen würde, das wäre gut und, was nicht, das wäre schlecht. <Verstellung im dritten Postulat> Obgleich das moralische Bewusstsein nur das reine sein soll, ist die Moralität im moralischen Bewusstsein immer unvollendet. Die unvollendete Moralität ist für es so gut wie die „Immoralität“ (W3.460). Die Moralität entsteht also durch ein anderes Wesen als das wirkliche Bewusstsein, d. h. durch den heiligen Gesetzgeber der reinen Pflicht (W3.449). 177 Dann wäre es hier möglich, dass das Bewusstsein, ohne das Moralgesetz zu überlegen, glücklich ist, weil eine derartige Gnade „auch durch nichtmoralische Mittel (Kultus, Opfer) errungen werden“ kann. Siep (2000), S. 209. 152 Die Reihe der verstellenden Bewegungen: Die Moralität besteht im wirklichen Bewusstsein in einer Beziehung zu einem Anderen, aus der viele moralische Gebote geschehen. => Das reine Bewusstsein hält aber diese vielen Pflichten für unwesentlich. => Diese Pflichten könnten nur durch den heiligen moralischen Gesetzgeber oder das absolute Wesen geheiligt werden. => Das moralische Bewusstsein nimmt an, dass seine Pflicht wahr ist, weil sie sozusagen rein ist. Daraus resultiert, dass das, was ihm nicht heilig ist, auf gar keinen Fall heilig sein kann, denn das, was an sich nicht heilig ist, kann auch durch den heiligen Gesetzgeber nicht heilig sein. Also ist es dem Bewusstsein nicht damit ernst, „etwas durch ein anderes Bewusstsein, als es selbst ist, heiligen zu lassen“ (W3.460), sodass es ihm auch nicht damit ernst ist, dass dieser Gesetzgeber heilig ist. Die Verstellung der Sache: Dem hier postulierten Gesetzgeber (Gott) kann nur die reine Pflicht gelten. Aber das moralische Bewusstsein ist ein natürliches Bewusstsein, das von der Sinnlichkeit bedingt ist, obgleich in ihm die reine Vorstellung der Moralität allein gelten soll; der absolute Begriff der höchsten Moralität liegt daher in einem anderen Wesen, d. h. in der vollendeten Moralität. => Die reine Pflicht darf sich nur in der Natur verwirklichen. Aber das moralische Bewusstsein hat wesentlich eine negative Beziehung zu seinem Anderen; denn wenn es um seiner Vollendung willen eine positive Beziehung darauf hat, wird es unvollkommen. => Der heilige Gesetzgeber ist zwar als das moralische Wesen gesetzt, „weil es erhaben über den Kampf mit der Natur“ ist, doch er „steht nicht in einer negativen Beziehung darauf“, sondern es bleibt ihm „die positive Beziehung darauf übrig“ (W3.461), mit der das Bewusstsein Ernst machen könnte. => Die reine Moralität des heiligen Gesetzgebers ist einerseits vollständig getrennt von der Wirklichkeit, soll aber ebenso auf diese bezogen sein, weil es sonst auch in einer solchen Heiligkeit nur eine „bewußtlose, unwirkliche Abstraktion“ (W3.461) gäbe. Denn wenn der Begriff der reinen Moralität weder dem wirklichen Bewusstsein bewusst wäre, noch von ihm verwirklicht würde, so wäre dieser Begriff der Reinheit verschwunden, sodass Gott unwirklich wäre, weil er nicht bewusst ist; auch wenn er verwirklicht würde, wäre seine Würdigkeit aufgehoben. Mit der Verstellung geht es um konkrete Entwicklungen des „Synkretismus der Widersprüche, der in der moralischen Weltanschauung auseinandergelegt ist“ (W3.463). Die Weltansicht des moralischen Subjekts ist nämlich selbstwidersprüchlich; denn sie plagt sich fortwährend mit dem herum, „was als widersprechend erscheint“, sodass sie sich „in dessen Trennung und Wiederauflösung“, aber erfolglos „herumtreibt“ (W3.464). Diese Selbstwidersprüchlichkeit bedeutet, dass das moralische Bewusstsein, obgleich ihm der Widerspruch, der sich aus dem moralischen Vollzug ergibt, bewusst wird, an seiner 153 Zielsetzung festhalten will, ohne den Widerspruch grundlegend aufzulösen. In der Verstellung wird eine Stelle auf gänzlich verschiedene Weise gesetzt, zunächst als das Reelle, aber geradewegs als das Nichtige, sodass beide einander vollständig entgegenlaufende Bestimmungen zu einer Setzung gehören. Daraus kann natürlich sichtbar werden, dass es dem Bewusstsein mit der „Ungleichheit seines Vorstellens mit dem, was sein Wesen ist“ (W3.463), nicht ernst ist. Aus diesem Grund geht das verstellende Bewusstsein wegen seiner Widersprüchlichkeit unter, indem es seiner ursprünglichen Bestimmungen gemäß so in seinen Innenraum zurückkehrt, dass „das, was es als das absolute außer dem Bewußtsein Seiende aussagt, vielmehr in dem Selbst des Selbstbewußtseins eingeschlossen“ (W3.463) ist. Das reine Bewusstsein „flieht“ vor dem Widerspruch nämlich „mit Abscheu in sich zurück“ (W3.463 f.). Aus der gesamten Dialektik der moralischen Vor- und Verstellung lässt sich erweisen, dass die moralische Pflicht des Bewusstseins, die sich aus seiner Achtung für das Moralgesetz ergibt, nicht seiner Selbstwidersprüchlichkeit entgehen kann. Sein Ansatzpunkt für seine pflichtmäßige Tat beruht völlig auf seiner eigenen Ü berzeugung; indem die reine Pflicht unüberbietbar als die ihm bekannte Substanz gilt (weil es annimmt, dass die Pflicht nur um der Pflicht willen erfüllt werden soll), ist diese Substanz sein eigenes Bewusstsein. Das Subjekt der moralischen Weltansicht darf jedoch zugleich nicht mehr moralisch sein, denn dieser archimedische Punkt liegt de facto in seinem Jenseits. Deswegen ergibt sich für das Bewusstsein „das verstellende Spiel der Abwechslung“ (W3.466) der antinomischen Bestimmungen, dass es moralisch und zugleich nicht moralisch ist. Zwischen beiden Bestimmungen schwingt es wiederholt, aber trotzdem vergebens hin und her. Das moralische Bewusstsein entsagt trotz dieser Umstände seinem Ideal des höchsten Guts nicht; es bezweckt die vollkommene Realisierung des Moralgesetzes und damit den Genuss der Glückseligkeit. Dieses Ziel ist wohl unerreichbar, weil es über die antinomische Struktur, auf die die Reihe der moralischen Ansprüche folgt, selbstständig hinausgehen kann. Das moralische Bewusstsein erhofft und postuliert nichtsdestoweniger das Dasein noch eines anderen – aber eigentlicher allein wahrhaftigen – Ansichseins, d. h. den heiligen Gesetzgeber jenseits des Bewusstseins, der aus Nachsicht jenem moralischen (und zugleich nicht moralischen) Bewusstsein Glück gönnt; es postuliert einen Gesetzgeber, der das dann auch wirklich tut. Das bedeutet, dass das Bewusstsein die Verantwortung für die Auflösung der Aporie nicht auf sich nimmt, sondern dass es sich Hilfe von jenem Gesetzgeber erbittet. Seine Verlegung, d. h. sein „Hinaussetzen dessen, was es als notwendig denken muß, außer sich selbst“ (W3.464), verursacht endlich die Heuchelei. 154 Die moralische Weltvorstellung oder -anschauung geht nunmehr zu einer neuen Bewusstseinsgestalt, zum „Gewissen“, über, welches durch die Bewegungen aller vorherigen Geistesgestalten (der „Sittlichkeit“, der „Bildung“ und auch der moralischen Vor- und Verstellung) „in das einfache fürsichseiende Selbst des Geistes“ (W3.327) zurückgeht. Das für sich seiende Subjekt weiß und tut, und zwar „unmittelbar gewissenhaft“ (W3.464). Das Subjekt des Gewissens verweigert oder vielmehr „verschmäht“ (W3.464) die bloße moralische Weltansicht; in seiner unmittelbaren Gewissheit will das Subjekt des Gewissens die Schranke der moralischen Weltanschauung überwinden, die den Gegensatz zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand noch voraussetzt. Die moralische Weltvorstellung oder -anschauung geht zu einer neuen Bewusstseinsgestalt, zum „Gewissen“, über. 155 3. Das moralische Gewissen 3.1 Das Gewissen als die absolute Selbstgewissheit des moralischen Bewusstseins Bezüglich der Schranke der moralischen Vor- und Verstellung weist Hegel auf deren dualistische Weltansicht hin. Das moralische Bewusstsein ist zum einen überzeugt davon, dass die reine Pflicht restlos seinem Wesen entspricht; darum kommen das moralische Subjekt (als das Einzelne) und seine Substanz (als das universale Gesetz) in seiner Gewissheit zu einer Ü bereinstimmung miteinander. Aber es ist zum anderen offensichtlich, dass die beiden Momente, also die Besonderheit und die Allgemeinheit, in der letzten Instanz Gegenpole zueinander sind; an jenen moralischen Vollzug schließt sich immer der grundsätzliche Zwiespalt zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand oder zwischen der moralischen Tugend und der (inneren oder äußeren) Natur an; das Bewusstsein verfällt nämlich in den unauflösbaren Gegensatz zwischen dem einzelnen Fall des wirklichen Handelns und dem universalen Maßstab desselben. Dagegen wendet Hegel das Argument für das „Selbst des Gewissens“ (W3.465) ein. Das „Selbst“ fungiert jeweils in vorhergehenden Gestaltungen als der bloße Knotenpunkt, an dem jede Gestalt des Bewusstseins in ihre nächste Stufe übergeht. Die rechtliche „Person“ (W3.356) als das erste „Selbst“ des Geistes, die Hegel anhand des römischen Rechtszustands behandelt, folgte aus der altgriechischen Sittlichkeit; dieses Rechtssubjekt gelangt zum Geist des moralischen Gewissens.178 Zwischen dem Rechtssubjekt und dem Gewissenssubjekt traf das zweite „Selbst“ als das Subjekt des sich entfremdeten Geistes auf, der bei Hegel für die Zeit der „Bildung“ (die sowohl historisch sowohl dem Mittelalter als auch der Neuzeit zugeordnet wird) steht, es behauptete in dem letzten Teil dieses Abschnitts seine „absolute Freiheit“ (W3.431). Es gestattete keine andere Wirklichkeit als die von ihm vollzogene Tatsache, da das Subjekt meinte, die Manifestation seines einzelnen Freiheitsanspruchs sei gerade „allgemeine Wirklichkeit“ (W3.465). Daraus folgte aber, dass sich die Allgemeinheit, die sich das Subjekt anzueignen meinte, nur im Ausmaß seiner Einzelheit auswirkt; die vermeintliche Allgemeinheit entpuppte sich also als die bloße Besonderheit. Aus historischer Perspektive kann man diesen Bewegungsablauf des Subjekts wie folgt darstellen: „Das Rechtssubjekt – der bourgeois –, das politische Subjekt – der citoyen – und das Transzendentalsubjekt sind die Stufen des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, der Geschichte des Selbstbewußtseins der Freiheit.“ Falke (1996), S. 318. 156 178 Das Subjekt des Gewissens als das dritte „Selbst“ ist das Resultat der dialektischen Weiterentwicklung sowohl der Gestaltungen im ganzen Kapitel „Geist“ als auch des moralischen Geistes. Die vor- und verstellende Ausführung des moralischen Subjekts, das die Verwirklichung des moralischen Endzwecks erwartet, stützt sich auf den Gedanken, dass die reine Pflicht als sein Wesen notwendigerweise wirklich sein müsse. Jedoch wird sein Postulat der Harmonie bzw. Glückseligkeit noch auf das reine Denken beschränkt, sodass es unvermeidlich die „Trennung des Ansich und des Selbsts, der reinen Pflicht als des reinen Zwecks und der Wirklichkeit als einer dem reinen Zwecke entgegengesetzten Natur und Sinnlichkeit“ (W3.466) erfährt. Dagegen bewegt sich das Subjekt des Gewissens über solche externalisierte Phase hinaus wieder an den Ausgangspunkt der moralischen Zielsetzung zurück. Im Unterschied zum „Formalismus des Rechts“ (W3.357), in dem das erste „Selbst“ bestand, macht das moralische Gewissen auch in der Substanz seinen eigenen Vollzug geltend. Auch gegen „den leeren allgemeinen Willen“ (W3.466) der absoluten Freiheit, die zu der Zerstörung seiner Wirklichkeit verdammt ist, kann das Gewissen die positive Seite seines Vollzugs erfassen. Das Subjekt der moralischen Vor- und Verstellung muss nur „einen leeren Maßstab“, mit dem es die Aufrichtigkeit seiner Verpflichtung messen wollte, haben, weil dieser Maßstab, d. h. „die leere Pflicht“ (W3.466), immer seiner Natur zuwiderlaufen würde. Im Unterschied dazu ist das Subjekt des Gewissens zweifellos überzeugt, dass es selbst „das sich als Wesen wissende Selbst“ (W3.479) ist. Vom moralischen Standpunkt aus macht die Ü berzeugung, zum moralisch guten Handeln verpflichtet zu sein, den letzten Geltungsgrund aus, der für das einzelne Bewusstsein das allgemeine Prinzip der praktischen Vernunft ist; das Moralgesetz aber ist wesentlich der Gegenstand des Bewusstseins, d. h. das Jenseits außerhalb desselben. Im Unterschied zur Grundstimmung der ethischen Pflichtenlehre werden auf der Ebene der Gewissensethik die beiden antinomischen Bestimmungen gleichgesetzt, indem der Geist des Gewissens sowohl das Ansichsein als auch die Wirklichkeit in sich integriert.179 Das moralische Bewusstsein ist nun schlechthin davon überzeugt, dass seine Entscheidung allen Vorschriften von anderen Wesen ursprünglich vorausgeht; das Gewissenssubjekt ist nämlich nicht mehr ein Ansichsein außer seiner selbst, ebenso kein nur mehr negatives Fürsichsein. Das Bewusstsein handelt moralisch, und zwar nicht, weil ihm das Gesetz nicht geradewegs gebietet, sondern, weil aus dem Selbstentschluss des Bewusstseins diese Verpflichtung folgt; das Gesetz des moralischen Gewissens ist, wenn wir es als Gesetz benennen wollen, lieber Dazu vgl. z. B.: „[D]er Standpunkt des Gewissens wird geradezu als kritische Reaktion gegen die Verlagerung der Wirklichkeit des Guten in ein Jenseits des Wirklichen eingeführt.“ Schick (2009A), S. 287. 157 179 mit dem Gesetz des Herzens oder der Willkür zu betiteln. Darüber, wie die Pflicht oder das Gesetz dem Subjekt des Gewissens erscheint, schreibt Hegel Folgendes: Die Pflicht ist nicht mehr das dem Selbst gegenübertretende Allgemeine, sondern ist gewußt, in dieser Getrenntheit kein Gelten zu haben; es ist jetzt das Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht um dessen willen das Selbst ist (W3.469). Hegel denkt, „die Pflicht besteht in der Ü berzeugung des Gewissens von ihr“ (W3.470). Das Gewissen ergibt sich, insofern es ein moralisches Gewissen ist, zwar aus dem Begriff der Pflicht, aber dieses Pflichtgesetz ist nichts anderes als das Recht, das das moralische Fürsichsein als das Subjekt des Gewissens aus seiner authentischen Ü berzeugung annimmt; diese Pflicht ergibt sich nun aus seiner Ü berzeugung, dass man das Moralgesetz befolgen soll, nicht um der Pflicht willen, sondern weil das Gesetz aus der eigenen Selbstbestimmung des Bewusstseins resultiert. Die oben („2. Die moralische Vor- und Verstellung“) dargestellte Weltansicht des moralischen Bewusstseins, die den Standpunkt der bloßen Pflichtenlehre darstellt, liegt zwar in seiner absoluten Gewissheit; dieses Subjekt ist davon überzeugt, dass das ihm auferlegte Gesetz schon berechtigt sei, weil sogar dieses Gesetz von ihm selbst auferlegt worden ist. Allein die Gesetzgebung durch das moralische Bewusstsein ist, obwohl es sich absolut frei fühlt, Hegel zufolge noch nicht völlig autonom, soweit das, was das Subjekt aus moralischen Gründen tut, nur die Pflicht ist, der es schlechthin gehorchen soll. Der Standpunkt des Gewissens liegt hingegen nicht in dem Gefühl der Achtung für das Gesetz noch in der, sondern in seiner Ü berzeugung davon, dass das Subjekt sich nicht mehr nach dem Gesetz richtet, sondern das Gesetz umgekehrt nach dem Subjekt. Das Gesetz des moralischen Gewissens ergibt sich – obwohl es die Pflicht betrifft – keineswegs aus der einseitigen Vorstellung des bloßen allgemeinen Willen, der den einzelnen Willen nur unterdrückt, sodass der Mensch im Widerstreit zwischen der Pflicht und der Neigung leben muss; das Moralgesetz vom Standpunkt des Gewissens aus ist berechtigt, weil die Vorstellung der Pflicht gerade aus seiner freien (konkreter gesagt beliebigen, sogar willkürlichen) Entscheidung folgt, sodass der Mensch in der Harmonie mit seiner (inneren und äußeren) Natur leben kann. Ü ber diese Selbstbestimmung des subjektiven Willens oder über ihre Souveränität schreibt Hegel Folgendes: 158 [D]as Gewissen […] absolviert sich von jeder bestimmten Pflicht, die als Gesetz gelten soll; in der Kraft der Gewißheit seiner selbst hat es die Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und zu lösen (W3.476). Diese „Autarkie“ des moralischen Bewusstseins von sich selbst ist die höchste, aber äußerst extreme Gestalt, die das moralische Bewusstsein erreichen kann. Das Subjekt nimmt an, dass an die Stelle des obigen heiligen Gesetzgebers (W3.449) nun seine absolute Autonomie getreten sei. Das Gewissen ist kein mehr inhaltloser, leerer Gedanke; der Geist des Gewissens ist nämlich sowohl die den Inhalt ihrer Substanz selbstständig ausfüllende Person, als auch der den Inhalt seiner Freiheit erfassende Wille. Die entscheidende Kennzeichnung für das moralische Gewissen ist also ein „konkreter moralischer Geist“ (W3.466). Der Begriff der Moral ist grundsätzlich durch die Autonomie des subjektiven Willens gekennzeichnet. Die Autonomie des moralischen Bewusstseins ist zwar ein Beleg für den Standpunkt der neuzeitlichen Welt in der abendländischen Denkgeschichte, 180 der Folgendes besagt: „Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein“ (W7.204). Aber die Freiheit der moralischen Vorstellung liegt in dem Gefühl der Achtung für das Moralgesetz; das bedeutet noch nicht, dass das Subjekt selbst das Gesetz erschafft. In dieser moralischen Vorstellung „verhält sich der Wille noch zu dem, was an sich ist“ (W7.207), sodass dem Subjekt nach der Pflichtenlehre der Standpunkt des perennierenden Sollens nicht entgehen kann. Das Gewissen besteht hingegen in dem Selbstbewusstsein der Freiheit, das die zugespitzte Form der neuzeitlichen Subjektivität darstellt. Dieser Standpunkt des Gewissens erinnert uns, wie bereits von vielen anderen vorherigen Forschern angedeutet, besonders an die Fichtesche und Jacobische Ethik 181 , ganz zu schweigen von der Ä hnlichkeit zwischen den Formulierungen dieser Philosophen und der hegelschen.182 Dazu vgl.: „[D]ie Alten wußten nichts vom Gewissen“. W7, S. 302. Dazu vgl. Hirsch (1973), S. 253 f.; Falke (1987), S. 134 f.; Jürgensen (1997), S. 211; Köhler (1998), S. 214 f.; Iber (2002), S. 227. Zur Synopsis der hegelschen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen ethischen Leitideen vgl. Gram (1998), S. 313-330; Kohl (2003), S. 234-245. Entgegen dieser Ansicht ergibt sich allerdings die folgende Interpretation, dass auch die kantische Ethik den Begriff des Gewissens betreffe. Dazu vgl. Bal (2002), S. 220-222; Siep (2012), S. 218. 182 Als typische Beispiele für diese Ä hnlichkeit können gelten: Die Ähnlichkeit zwischen dem „Handeln nach seinem [= des Bewusstseins] inneren Gesetze und Gewissen“ bei Hegel und dem Handeln „nach deinem Gewissen“ bei Fichte oder die zwischen Hegels Darstellung über „das Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht um dessen willen das Selbst ist“, und Jacobis Begriff des Gesetzes, das „um des Menschen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen“. W3, S. 469 u. 486; Fichte, Werke, Bd. 4, S. 156; Jacobi, Werke, Bd. 3, S. 38. 159 180 181 Wenn man den Begriff des Gewissens bestimmt, so lässt sich dies folgendermaßen umschreiben: „Das wahrhafte Gewissen ist die Gesinnung, das, was an und für sich gut ist, zu wollen“ (W7.254). Das moralische Gewissen liegt einerseits weder in dem Formalismus des leeren Pflichtbegriffs (wie im kategorischen Imperativ) noch in dem abstrakten Ideal des höchsten Guts; die absolute Selbstgewissheit des Subjekts besteht andererseits nicht in der bloßen Besonderheit oder in dem eigennützigen Glücksstreben. Das moralische Gewissen bedeutet den Willen zum allgemeinen Guten, der auf der Reflexion des Subjekts beruht; das Subjekt will nämlich das unbedingte Gute vollziehen, das es selbst als die oberste Aufgabe ansieht. Das allgemeine Gute soll schlechthin vollzogen werden, und zwar nicht einfach, weil es die ihm auferlegte Pflicht ist, sondern weil das Subjekt selbst es erschafft. Die Gewissensethik liegt also weder in der Besonderheit des moralischen Zwecks noch in der Abstraktheit desselben, sondern betrifft die konkrete Bestimmung des handelnden Subjekts. Das Subjekt des Gewissens steht in einem konkreten „Fall“, der als „eine gegenständliche Wirklichkeit“ mit dem Bewusstsein konfrontiert wird, insofern das Subjekt den Fall bloß „auf unmittelbare konkrete Weise“ weiß (W3.466). Die Pflicht und das Gesetz haben, insofern sie zum Gewissen gehören, selbstverständlich die „Bedeutung des Fürsichseins“, weil das für das Bewusstsein Verpflichtende in der „unmittelbaren Einheit mit dem Fürsichsein“ (W3.469) bestehen bleiben kann. Der kritische Punkt, in dem das Gewissen von bisherigen Stellungen endgültig unterschieden wird, ist nämlich, dass das Subjekt des Gewissens bemüht ist, den Gegensatz zwischen Ansichsein [d. h. dem Gesetz als dem Gegenstand der Achtung] und dem Fürsichsein [d. h. der Selbstgewissheit des Subjekts] aufzulösen. Das Subjekt des Gewissens nimmt die ursprüngliche Harmonie von Pflicht und Natur an; es betrachtet folglich seine Pflicht als die aus seiner „eigene[n] Ü berzeugung“ (W3.468) festgesetzte Richtlinie des Handelns – deshalb eigentlicher als sein inneres Gesetz. Weil der Geltungsbereich seiner Stellung in seiner Gewissheit nicht mehr sich selbst entgegensteht, gehört zum Subjekt des Gewissens seine Substanz, die nichts anderes als „das in seiner Zufälligkeit Vollgültige“ (W3.465) ist; obgleich es der Bestimmung der Pflicht durchaus inne ist, kann es sich die konkrete, dennoch zugleich absolute Vollmacht für seine jeweilige Handlungsoption erteilen. Also ist das Gewissen die oberste Instanz der moralischen Entscheidungen. Die „absolute Befugnis“ (W3.475) des Gewissens, durch die es seinen einzelnen Vollzug bedenkenlos geradezu zur endgültigen Instanz des moralischen Handelns macht, beruht eben auf der vollkommenen Gewissheit von sich; auch hier tritt nämlich der „konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit“ (W3.82) auf. Das Ansichsein fließt in das Gewissen ein, und diese 160 Ü berzeugung überströmt das allgemeine Moralgesetz. Sein Handeln im einzelnen Fall gilt „einfach und unvermittelt“ (W3.467) am Ansatzpunkt, als das Allgemeingültige, das vom Subjekt gewährleistet wird, und zwar versehen mit dem folgenden Siegel: Das sei vom „Selbst“ getan oder hervorgebracht. Das Handeln als die Verwirklichung ist […] die bloße Umkehrung der Wirklichkeit als eines seienden Falls in eine getane Wirklichkeit, der bloßen Weise des gegenständlichen Wissens in die Weise des Wissens von der Wirklichkeit als einem vom Bewußtsein Hervorgebrachten (W3.466 f.). Diese Formulierung erinnert uns an den Fichte‘schen Begriff der Selbstsetzung in seiner Wissenschaftslehre. 183 Die konkrete Handlung des Gewissens ist keine der ihm bloße auferlegten Pflicht deckungsgleiche Vollziehung. Die oberste Angelegenheit des Gewissens ist nun das „konkrete Recht“ (W3.467), nicht einfach die obliegende Pflicht. Aus dem bis jetzt Gesagten lässt sich feststellen, dass die Ü berzeugung des Subjekts und das Recht desselben an die Stelle des Gesetzes und der Pflicht treten.184 Das (durch seine eigene Ü berzeugung entstehende) konkrete Recht des Gewissens ist nämlich das Alpha und das Omega im Bezug auf die letzte Instanz der Ethik. Eine große Scheidelinie zwischen der Pflichtenlehre und der Gewissensethik wird in diesem Zusammenhang dargestellt: Mit dem Gewissen ist eine grundsätzliche Ü berwindung der Schranke der moralischen Weltansicht gemeint. Falls das einzelne Bewusstsein in konkreten Umständen seine Pflicht befolgen soll, muss es in den Gegensatz zwischen der Pflicht und der (inneren oder äußeren) Natur geraten. Dadurch erfährt das einzelne Bewusstsein das Missverhältnis zwischen der Gesinnung und der Wirklichkeit; und es bemerkt letztlich die Verstellung der Sache, dass das Bewusstsein nicht mehr moralisch wäre, insofern es moralisch gut handeln will, oder ungekehrt, dass es nicht mehr moralisch handeln würde, insofern es moralisch gut sein will. Um auf dieses Schicksal zu reagieren, verstellt das vorstellende Bewusstsein seine Position, aber nur in eine andere Position vom Standpunkt derselben moralischen Vorstellung aus, durch die sich die immer fortwährende verstellende Bewegung von einer Stellung zu anderen ereignet. Je quälender das Bewusstsein prüft, welche unter vielen verschiedenen Pflichten echt ist, desto weiter entfernt sich die Vollendung der Moralität von ihm. Daher kann das Bewusstsein an 183 184 Dazu vgl. Schmidt (1997), S. 269. Dazu vgl. Schick (2009A), S. 288 ff.; Iber (2002), S. 226; Reuter (1977), S. 88 u. 97. 161 keiner Stelle der „hin- und hergehende[n] Ungewißheit“ (W3.467 f.) enthoben werden. Das Gewissen kehrt dagegen in sich zurück, sodass es eine „unwankend[e] Gewißheit“ (W3.467) besitzen kann. Das Subjekt des Gewissens zielt das Ansichsein in sich hinein, damit es keinen Widerstreit zwischen dem Bewusstsein und seinem Gegenstand geben könnte. Wie die „Dingheit überhaupt“ ihrerseits – im Abschnitt „Wahrnehmung“ – ihre „Eigenschaften“ ohne Lebenskraft, und ohne Beziehung aufeinander versammelte, so galt auch das moralische Bewusstsein nur als „positives allgemeines Medium“ (W3.95; 467), in dem viele verschiedene Pflichten jeweils als selbstständige, voneinander verschiedene Substanzen neutral zusammenbleiben, sodass das moralische Bewusstsein gegen das Resultat seiner Handlung indifferent ist. Das Gewissen ist hingegen das „negative Eins“, das in der selbstsicheren Ü berzeugung die Gleichgültigkeit gegen jene Substanzen von Grund auf so ausrottet, wie jene „Dingheit“ doch andererseits, sich auf entgegengesetzte Eigenschaften „beziehen[d]“, aber zugleich diese „negierend“, als „ausschließende Einheit“ (W3.467; 95) galt. Der Geist des Gewissens gibt sich indessen nicht lediglich mit der Negation seines Anderen zufrieden. Die Allgemeingültigkeit des Gewissens besteht darin, dass es die Zufälligkeit an seiner einzelnen Entscheidung vernichtet. Indem das Gewissen ein bestimmtes Negatives an sich selbst negiert, erreicht es ein bestimmtes Positives, das jedoch von ihm selbst wiederum negiert wird. Durch diese bestimmte Negation überwindet das Gewissen seine akzidentellen Momente; dieses erneuerte Resultat geht dennoch Mal für Mal in die Bestimmung des Gewissens zurück. Die Instanz, die die allgemeine Geltung im Handeln des Gewissens garantiert, liegt nicht in dieser oder jener jeweiligen konkreten Handlung, sondern darin, dass eine Entscheidung zu jeder Zeit bei jeder konkreten Handlung ausschließlich durch die Selbstgewissheit des Gewissens getroffen wird. Dass das Subjekt in jeder Situation des Handelns von sich überzeugt ist und etwas konkret beschließt, ist für das Bewusstsein der endgültige Grund der Wahrheit. Der Geist des Gewissens negiert zwar sein Anderes, aber bezeichnet sich als absolute Negation, genauer als die „sich auf sich beziehende Negation“ (W3.103). In diesem Sinne bezeichnet Hegel das Subjekt des Gewissens als das „absolute Selbst“ (W3.467). Das einzelne Bewusstsein selbst macht den „Inhalt des moralischen Tuns“ aus und seine eigene Ü berzeugung bildet die „Form desselben“ (W3.468); die Entscheidung des Gewissens selbst folgt keinesfalls aus dem leeren Formalismus der bloßen Pflichtenlehre. Wenn wir darauf einen Blick werfen, lässt sich erkennen, dass das Fürsichsein der Gehalt des Gewissens ist. 162 3.2 Der Gehalt des moralischen Gewissens 3.2.1 Die Momente für die Dialektik des Gewissens: das Fürsichsein, das Sein für Anderes und das Anerkanntsein Das Subjekt des Gewissens hat eine Macht, sich einen konkreten, zugleich in seiner Gewissheit verabsolutierten Inhalt zu geben. Der Standpunkt des Gewissens besteht darin, dass seine Vorstellung der Pflicht auf der konkreten, aber absoluten Ü berzeugung eines einzelnen Subjekts beruht. Während das Ansichsein für die moralische Vor- und Verstellung ihr alleiniger Inhalt ist, nimmt das Subjekt des Gewissens an, dass er vielmehr sein Fürsichsein ist. Das Subjekt des Gewissens soll den Gegensatz zwischen dem an sich seienden Gesetz und seiner für sich seienden Ü berzeugung auflösen; diese Vereinigung von beiden beruht auf der absoluten Selbstbestimmung des subjektiven (denkenden) Willens, d. h. auf dem Fürsichsein des moralisch gut gesinnten Menschen. Allein diese Pflicht, die sich anscheinend mit der Ü berzeugung des Subjekts deckt, kann nicht einfach mit dem Fürsichsein konform gehen. Soweit die Pflicht „um des Selbsts willen“ (W3.469) ist, hat sie auch noch die Bedeutung des bloßen Ansichseins, weil das „Selbst“ noch nicht zu dem allgemeinen Standpunkt gelangt ist. Die Dialektik des Gewissens besteht also darin, dass sich das Ziel der Gewissenshandlung mit dem allgemeinen Ethikmaßstab ausbalanciert, sodass sich die Ü berzeugung eines einzelnen Subjekts durch seinen Zusammenhang mit dem allgemein anerkannten Standpunkt verbindet. Das Subjekt des moralischen Gewissens ist ganz davon überzeugt, dass das von ihm selbst geschaffene Gesetz seine oberste Aufgabe sei; insofern ist aber dieses Gesetz noch das an sich seiende, also außerhalb seiner selbst seiende, Verpflichtende. Die Ü berzeugung des Gewissens liegt grundsätzlich in einer unauflösbaren Aporie, die aus dem „doppelten Anspruch auf Unmittelbarkeit und Authentizität einerseits, auf universale intersubjektive Verbindlichkeit andererseits“185 folgt. Diese Grenzerfahrung der Gewissensethik resultiert aus dem „Gegensatz der Einzelheit gegen die anderen Einzelnen“ (W3.484), ebenso auch aus dem Gegensatz des privat-höchsteigenen Bewusstseins mit seiner öffentlichallgemeinen Gültigkeit.186 Daraus lässt sich erkennen, dass das Subjekt des Gewissens in 185 186 Kreß (1996), S. 248. Dazu vgl. Siep (2000), S. 214; Halbig (2008), S. 502. 163 die folgende Aporie geraten muss: Soweit sein Fürsichsein (d. h. die absolute Selbstgewissheit des Gewissens) und sein Anderssein (d. h. die Pflicht oder das Gesetz als das Ansichsein) voneinander verschieden sind, kann es „das schlechthin Allgemeine“ (W3.469) nicht erreichen; genauer gesagt: Das Ansichsein und das Fürsichsein sind zwar miteinander identisch, jedoch zugleich voneinander unterschieden. Aus diesem Grund erweist sich das Ansichsein als das „Sein für Anderes“, d. h. „die Pflicht, die vom Selbst verlassen ist“ (W3.469). Aber diese Phase, in der das Ansichsein zum Sein für Anderes wird, ist andererseits darum „wesentlich“, weil diese an sich seiende Pflicht „nicht mehr bloß das abstrakte reine Bewußtsein ist“ (W3.469), in dem die moralische Vor- und Verstellung bestanden hat. Wenn die Pflicht nur als das selbstlose (also nur an sich seiende) Gesetz angesehen würde, hätte das für das Gewissen Verpflichtende in perpetuum „nur die Bedeutung gehaltloser Wesenheit überhaupt“ (W3.470). In der Dialektik des Gewissens erblickt man infolgedessen diese beiden, also 1) das Fürsichsein und 2) das Sein für Anderes. Die Dialektik des moralischen Gewissens erreicht endlich 3) das Anerkanntsein eines Fürsichseins von anderen, d. h. „das gemeinschaftliche Element der Selbstbewußtsein[e]“, in dem ein Subjekt des Gewissens den Augenblick „des Anerkanntwerdens von den anderen [Subjekten]“ (W3.470) erlebt. 3.2.2 Die absolute Selbstgewissheit des aus sich selbst bestimmenden Gewissens Das Gewissenssubjekt steht in dem Gegensatz zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes, der den Gegensatz zwischen der Besonderheit und der Allgemeinheit impliziert. „Das zum Handeln schreitende Gewissen bezieht sich auf die vielen Seiten des Falles“ (W3.472). Das Subjekt des Gewissens hält seinen Vollzug für allgemeingültig, sodass es versucht, „die vorliegende Wirklichkeit auf uneingeschränkte Weise zu umfassen und also die Umstände des Falles genau zu wissen und in Erwägung zu ziehen“ (W3.471). Aber diese Ü berzeugung wird als eine naive Vorstellung dekuvriert, sobald das Bewusstsein von der „Natur der Sache“ erfährt, dass „sein Vorgeben dieser gewissenhaften Erwägung aller Umstände nichtig ist“ (W3.472), sodass sein guter Wille ganz und gar das einzelnzufällige Sein betrifft. Das Gewissen gerät also in den Gegensatz zwischen der absoluten 164 Ü berzeugung des Einzelnen und der Vielfalt der Umstände. Aus der „Mannigfaltigkeit des Falls“ ergibt sich auch eine „Mannigfaltigkeit von Pflichten“ (W3.472), aber keine von dem Subjekt selektierte Maxime des moralischen Handelns kann der reinen Pflicht entsprechen. Das Bewusstsein nimmt zwar ungeachtet dieser Tatsache allemal an, dass seine Gesinnung auf „seiner reinen Ü berzeugung von der Pflicht“ (W3.472) beruht; dennoch soll es diesem einfältigen Dafürhalten zuwider in Wirklichkeit eine bestimmte Maxime auslesen. Obwohl das Subjekt des Gewissens aus seiner absolut-reinen Ü berzeugung einen bestimmten Leitsatz endgültig auswählen würde, wäre dieses Verpflichtende „so leer als die reine Pflicht“ (W3.472), die das Bewusstsein unter Anlehnung an die moralische Weltansicht erfüllen wollte. Daraus lässt sich auf einen Gegensatz zwischen der bestimmten Ü berzeugung des Einzelnen und der allgemeinen Begriff der Pflicht schließen. Der obige Gegensatz trat auch in der moralischen Vorstellung auf; auch die Antinomie der moralischen Weltansicht bezog sich auf jene zwei Modi des Gegensatzes. Man müsste demgemäß zugeben, dass uns das Gewissen keine konkretere Maxime als die reine Pflicht gebe. Aber der Standpunkt des Gewissens gibt uns eine ganz andere Lösung: Während sich die moralische Pflichtenlehre mit dem verstellenden Spiel zusammen endlich an ein anderes Wesen außer sich, den sog. heiligen Gesetzgeber wandte, kehrt die Gewissensethik in das Innere des Menschen zurück. Der Inhalt des Gewissens soll in der unmittelbaren Selbstgewissheit des Subjekts ausgewählt werden; seine innere Ü berzeugung beruht auf der sinnlichen Willkür, wie Trieb, Neigung. Die affirmative Inangriffnahme der Willkürethik, die eine dezidierende Attitüde des Einzelnen bedeutet, ist ein absolut-konkretes Kriterium für die Wirklichkeit des Handelns; nur diese sich dem Herzen erschließende Entscheidung führt ein Handeln aus dem Gewissen herbei.187 Die einzel-willkürliche Ü berzeugung des Gewissens bildet nun seinen „säkularen Höhepunkt“ 188 , d. h. die höchste Gestalt des WELTLICHEN GEISTES in der PHG. Auf dieser Willkür basierend versucht das Subjekt des Gewissens eine Lösung jenes Gegensatzes; das Bewusstsein ist davon überzeugt, dass seine Willkür der abstrakt-reinen Pflicht den konkreten, aber substanziellen Inhalt gibt, sodass es „jeden [Inhalt] an diese Form [= die Willkür] knüpfen und seine Gewissenhaftigkeit an ihn [= den Inhalt] heften kann“ (W3.473). Ein konkretes Handeln des Einzelnen, der in Beziehung zu anderen Diese Haltung lässt sich z. B. wie folgt bezeichnen: „ein intuitiver Akt“, „ein direkter Dezisionismus“ oder „sein Intuitionismus“. Siep (2000), S. 212; Halbig (2008), S. 500; Schick (2009A), S. 294. Diese intuitivunmittelbare Seite des Gewissens zeigt uns den engen Zusammenhang der hegelschen Gewissenslehre mit dem jacobischen Konzept auf. Falke (1987), S. 134 ff. 188 Eidam (2005), S. 81. 165 187 Einzelnen steht, könnte zwar aus einer anderen Sehweise beurteilt werden; aber abgesehen von der vielfältigen Beurteilung der Anderen ist dieser Einzelne ganz davon überzeugt, die Pflicht zu erfüllen. Dafür führt Hegel das folgende Beispiel, nämlich das Argument der „Vermehrung des Eigentums“ (W3.474) an: Ein Mensch (A) behauptet, seine Vermehrungshandlung müsse eine gerechte Pflicht sein – sei es vom Prinzip der Selbstliebe (d. h. aus der Neigung) aus oder um der Glückseligkeit der Mitmenschen willen (d. h. zum wohltätigen Zweck). Aber ein anderer Mensch (B) kann dieses Handeln für Betrug halten; denn diese Pflichterfüllung kann dann zur Gewalttätigkeit oder zum Unrecht führen, wenn jener (A) nur egoistisch, und zwar zu aggressiv gegen die anderen, seine Pflicht vollziehen wollte; selbst wenn diese Pflicht umgekehrt zu bescheiden erfüllt würde, könnte sie sich auch als Feigheit erweisen. Es wäre schlimmer, wenn sein Mitmensch (B) sich mit der Tapferkeit jenem (A) entgegengestellt hätte; denn diese würde den Wert der Handlung von jenem (A) selbst verletzen. Das Subjekt des Gewissens ist also davon überzeugt, dass Pflicht und Willkür, d. h. Ansichsein und Fürsichsein, ungetrennt und untrennbar in Verbindung gebracht werden. Daraus ergibt sich eine entscheidende Phase, in der anstelle der Ethik von Pflicht bzw. Gesetz nun die von Neigung bzw. Willkür tritt. 3.2.3 Der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Urteilenden Das Subjekt des Gewissens nimmt an, dass seine Ü berzeugung von sich allgemeingültig ist; es versucht nämlich seine äußerliche Bezogenheit zu annullieren, und zwar in Anlehnung an seine ungetrübte Selbstgewissheit, dass es nicht von den es selbst umfassenden konkreten Umständen abhänge; dadurch beruht der Inhalt des moralischen Handelns ausschließlich auf seiner eigenständigen Dezision. Die Frage, wie dieser Inhalt konkret und allgemeingültig sei, ist nachrangig; im Gegenteil besteht die höchste Instanz für das Gewissen darin, wie aufrichtig ein einzelnes Subjekt nach seiner Ü berzeugung eine Entscheidung trifft. Daraus folgt, dass die folgende Willkürlichkeit der Selbstbestimmung ans Licht kommt: Für das Subjekt des Gewissens ist jeder inwendige Inhalt vollgültig. Diese Vollgültigkeit führt dazu, dass der oben erwähnte Gegensatz zwischen einer bestimmten Pflicht und anderen Einzelheiten oder der Allgemeinheit überwunden wird. Um diesen Charakter des Gewissens zu erläutern, bringt Hegel ein Argument der „Handlung für das allgemeine Beste“ (W3.475) vor. Dieser Gedankengang entwickelt sich folgendermaßen: Das einzelne Subjekt des 166 Gewissens nimmt demgemäß an, dass es selbst von der allgemeinen Pflicht (wie dem allgemein Besten) schlechthin absolut frei sei. Der obige Gegensatz (der Pflicht gegen das Einzelne oder gegen das Allgemeine) ist trotzdem keinesfalls invariabel, weil, was ein Individuum tut, dem System des allgemeinen Guten zugutekommt. Das Leben eines Einzelnen ist davon abhängig, dass alle Einzelnen nach ihrer Glückseligkeit streben; in der Pflichterfüllung jedes Einzelnen besteht nämlich die allgemeine Pflicht. Also kann das Subjekt des Gewissens ohne diese „Erwägung und Vergleichung der Pflichten“ (W3.475) zu dem moralischen Entschluss kommen. Allein in dieser Selbstherrlichkeit des Fürsichseins schlummert auch ein anderer Punkt: Was das Subjekt des Gewissens eigentlich wollte, unterscheidet sich seiner Ü berzeugung entgegen von dem, was im konkreten Fall wirklich vollbracht worden ist; seine ursprüngliche Absicht muss nämlich unausweichlich den folgenden „Makel der Bestimmtheit“ haben: „Aller Inhalt steht darin, daß er ein bestimmter ist, auf gleicher Linie mit dem anderen“ (W3.474). Die hartnäckige Selbstbehauptung eines Subjekts „gilt“ – mit Formulierungen in der „Einleitung“ – „gerade soviel als ein anderes“ (W3.71), weil jeder Vollzug des Gewissens ganz in der Beliebigkeit steht. Indem alles, was das Subjekt des Gewissens tut, in einem besonderen Entschluss liegt, führt jeder beliebige Inhalt endlich zu einem Missverhältnis zwischen dem Leitsatz des Handelnden und seiner wirklichen Tätigkeit. Um diesen Gegensatz zu verdeutlichen, kontrastiert Hegel nunmehr die beiden Momente für diesen Gegensatz miteinander: Das „handelnde“ Subjekt (als das Moment der Besonderheit) und das dieses Handeln „anerkennende“ (W3.477) Subjekt (als das Moment der Allgemeinheit) polarisieren sich mit der Eigeninitiative, die ihm selbst jeweils immanent ist. Das eine beansprucht, indem es mit seiner echten Absicht handelt, seine eigene Ernsthaftigkeit, allein den Augen der anderen erscheint – wie der Behaviorismus besagt – die bloße Außenseite des Handelns, nicht seine innere Absicht. Dieser Gegensatz zwischen seiner absoluten Ü berzeugung von sich und seiner konkreten Pflichterfüllung wird wiederum als die folgende Heuchelei des Gewissens repräsentiert: Was ein handelndes Subjekt mit guter Absicht unternimmt, wird verstellt. Dieses Handeln hält das andere Subjekt nämlich sogar für böse. Aber auch das Urteilende wird ebenfalls als böse bezeichnet; denn insofern es ohne seine eigene affirmative Handlung nur das Handeln des Anderen beurteilen will, spiegelt es sein eigenes Sosein nicht wider, sondern es wird „nur das Selbst eines anderen [= des Handelnden] ausgedrückt“ (W3.478). Die Ernsthaftigkeit des Handelnden wird nicht anerkannt; auch das Urteilende verstellt gleichwohl nochmalig jene Verstellung des Handelnden. Insofern diese beiden Gegenpole 167 eigensinnig auf ihrem eigenen Blickwinkel insistieren, wird notwendigerweise die obige Heuchelei auf beiden Seiten simultan aufgedeckt. 189 Der Gegensatz zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes ist also nichts anderes als der Gegensatz zwischen dem handelnden Gewissen und dem urteilenden. 3.2.4 Die gegenseitige Anerkennung von Subjekten des Gewissens Der Geist des Gewissens steht, nachdem es den Gegensatz zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes erfahren hat, schließlich an der Schwelle zu seiner Vollendung. Die Vollendung des moralischen Gewissens liegt darin, die zwei Momente seinerseits, d. h. vom Standpunkt des moralischen Geistes aus, zu vereinigen. Die absolute Ü berzeugung des Subjekts macht den Gehalt des Gewissens aus; nur sie garantiert ihm selbst die Würdigkeit als die moralische Person. Aber dieses Fürsichsein muss andernteils auch das Sein für Anderes sein. Weil das Sein-Sollende als die an sich seiende Pflicht in einer unmittelbaren Selbstbezogenheit bleibt, arrangiert das Subjekt sich mit einem anderen, um sein wirkliches Dasein zu erhalten. Damit seine reine Vorstellung der Pflicht in der konkreten Wirklichkeit geltend gemacht werden kann, muss das Fürsichsein für den Scharfblick des anderen Bewusstseins durchschaubar sein. Dieser Sachverhalt stellt die Einheit zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes dar, aus der sich die „Selbstheit Aller“ oder das „allgemeine Selbstbewußtsein“ (W3.476; 478) ergibt. In dieser Phase gelangen die Subjekte des Gewissens „zur angeschauten Einheit ihrer selbst im Anderen“ (W3.491). Das allgemeine Charakteristikum dieser Einheit kann nicht in der externalisierten Handlung bestehen; denn, falls es sich so verhält, wäre der Inhalt maßgebend nur für das Fürsichsein. Damit die Zielsetzung eines Subjekts allgemeingültig sei, soll diese auch im Selbstbewusstsein der anderen Subjekte nachvollziehbar sein. Was dieser zweifachen Forderung entsprechen kann, das wird von Hegel als die „Sprache“ (W3.478) bezeichnet, durch die das Selbstbewusstsein des Gewissens sowohl für sich selbst als auch für das Andere sein kann. Das einzelne Bewusstsein artikuliert seine Ü berzeugung; demnach vernimmt das andere Bewusstsein die Ä ußerung jenes Bewusstseins; dadurch erkennt dieses 189 Dazu vgl. Speight (2008), S. 509. 168 Vernehmende die Aufrichtigkeit des Handelnden an. Die Seelen der beiden Seiten werden dementsprechend in eins gebracht. In diesem Zusammenhang bezeichnet Hegel die Sprache als das „Dasein des Geistes“ (W3.478); die Aufgabe der Sprache besteht nämlich darin, die subjektimmanente Selbstgewissheit und den transsubjektiven Geltungsbereich miteinander koexistent zu machen. Dass das Subjekt „als sich selbst aussprechende Individualität gewußt wird“ (W3.478), bedeutet für seinen Nachbarn keine oberflächliche Beobachtung über die Selbstbehauptung eines Bewusstseins, sondern das Wahrnehmen sowohl des Fürsichseins wie des Seins für Anderes. Das „Aussprechen“ des Subjekts ist schon „die wahre Wirklichkeit des Tuns und das Gelten der Handlung“ (W3.479), weil seine Ü berzeugung und deren Betätigung nur in der Sprache geltend gemacht werden können. Es ist unmöglich, dass sein Mitmensch das von jenem Subjekt gegebene Versprechen, dass seine Ü berzeugung wahrhaft ist, als Hin-und-her-Schwanken betrachtet; denn, wenn ein Subjekt eine so geartete Ungewissheit hätte, wäre es von Anfang an kein Gewissen. Das Aussprechen seiner Absicht ist unüberbietbar die explizite Manifestation des Rechten in seiner Ü berzeugung. Der Grund dafür ist Folgendes: Wer also sagt, er handle so aus Gewissen, der spricht wahr, denn sein Gewissen ist das wissende und wollende Selbst. Er muß dies aber wesentlich sagen, denn dies Selbst muß zugleich allgemeines Selbst sein (W3.480). Durch die Sprache des Gewissens wird die Beliebigkeit in seiner Willkürlichkeit überwunden; dadurch kann das einzelne Subjekt den Charakter der „Allgemeinheit“, die „in der Sprache wirklich ist“, erblicken (W3.481). Nun kommt das Subjekt des Gewissens an die Einheit zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes, an die Versöhnung der Einzelheit mit der anderen Einzelheit oder Allgemeinheit heran. Das Aussprechen des Subjekts ist demgemäß das Wahrzeichen für die gegenseitige Anerkennung der Subjekte. Durch dies Aussprechen wird das Selbst zum Geltenden und die Handlung [wird] zur ausführenden Tat. Die Wirklichkeit und das Bestehen seines Tuns ist das allgemeine Selbstbewußtsein; das Aussprechen des Gewissens aber setzt die Gewißheit seiner selbst als reines und dadurch als allgemeines Selbst; die anderen lassen die Handlung um dieser Rede willen, worin das Selbst als das Wesen ausgedrückt und anerkannt ist, gelten (W3.481). 169 Das sich selbst aussprechende Subjekt nimmt nun die Stelle der „Erhabenheit über das bestimmte Gesetz und jeden Inhalt der Pflicht“ (W3.481) ein. Indem es seinen beliebigen Inhalt zum allgemeinen Grundsatz des moralischen Handelns macht, nennt Hegel diese Fähigkeit zur Spontaneität oder Nomothesie des Subjekts aus seiner Willkür bzw. Tugend heraus die „moralische Genialität“190 oder die „göttliche Schöpferkraft“ (W3.481).191 Die hoheitsvolle Würde des Subjekts liegt darin, dass sein unmittelbares Wissen, d. i. sein intuitives Gewusstes, geradewegs für allgemeingültig gehalten wird; dadurch wird seine „innere Stimme“ als „göttliche Stimme“ (W3.481) angesehen. Sein Vollzug ist deswegen mit einem „Gottesdienst“ zu vergleichen, weil das Handelnde die Präsenz seiner „eigenen Göttlichkeit“ erblicken kann (W3.481). Aus seinem eigenen Aussprechen ergibt sich die authentische Offenbarung des universalen Bewertungsmaßstabs für das Handeln; denn das Wesen des Gewissens liegt nicht in seinem abstrakten Gedanken, sondern im Gemeinwesen oder im allgemeinen Selbstbewusstsein der moralischen Subjekte. Die Einheit seiner unmittelbaren Ü berzeugung mit den sich umfassenden Faktoren ist nämlich das Element der Intersubjektivität; seine Willkürhandlung wird, insofern sie Aussprechen ist, für göttlich gehalten. Das Gewissen ist zwar nichts anderes als die „tiefste innerliche Einsamkeit mit sich“ (W7.254); das Subjekt des Gewissens ist trotzdem davon überzeugt, dass es endlich über den Kreis seiner Subjektivität hinaus sei. Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflichkeit (W3.481). 190 In puncto dieses Begriffes können wir uns z. B. an Fichte bzw. Jacobi erinnern. Fichte nennt die Spontaneität oder Freiheit des Subjekts „Genie zur Tugend“. Dazu vgl.: „[A]lle diese äusseren Umstände haben keine Causalität auf ihn [= den Menschen]; sie wirken nicht in ihm und durch ihn, sondern er selbst ist es, der auf ihren Antrieb sich bestimmt. […] Man könnte es, nach Analogie mit einem vorzüglichen Grade der intellektuellen Fähigkeit, Genie zur Tugend nennen […] und wer zur Tugend erziehen will, der muss zur Selbständigkeit erziehen.“ Fichte, Werke, Bd. 4, S. 185. Jacobi bemerkt durch die Analogie zwischen der Tugend und der Kunst das „sittliche Genie“, das folgendermaßen dargestellt wird: „Tugend wäre eine freie Kunst; und wie das Kunstgenie, durch That, der Kunst Gesetze gäbe; so das sittliche Genie, dem menschlichen Verhalten“. Jacobi, Werke, Bd. 5, S. 417. 191 Siep zufolge ist diese Formulierung eigentlich bezogen auf die Romanfragmente von Novalis' Heinrich von Ofterdingen. Dazu vgl. Siep (2000), S. 212f.; Gram (1998), S. 320f. Gram erwähnt, dass Novalis in diesem Werk den Zusammenhang des Gewissens mit der künstlichen Meisterschaft beachtet, zumal er über Fichte und Jacobi hinaus dem Gewissen die tiefere Autorität gibt. 170 Die wahre Selbstanschauung seiner Göttlichkeit folgt daraus, dass das Handelnde seine „Einsamkeit“ – mit Hegels Terminus – aufhebt, sodass es eine Gemeinsamkeit zwischen seiner inneren Tiefe und dem Inneren von seinem Anderen (also die Einheit eines Fürsichseins mit dem Sein für Anderes) gewahrt. 192 In diesem Zusammenhang schreibt Hegel Folgendes: „[Der] einsame Gottesdienst ist zugleich der Gottesdienst einer Gemeinde“ (W3.481). Die Gründung der Gemeinde bedeutet die gegenseitige Anerkennung von Subjekten. Die Phase des Ü bergangs zu dem gemeinsamen Gottesdienst bedeutet die „Vollendung des Gewissens“ (W3.482). Der moralische Geist durchbricht erst im Gewissen die Rinde der bloßen Ichbezogenheit, sodass für uns ein allgemeines Element des gelungenen Zusammenlebens in der Neuzeit erscheint. In dem Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von Gewissenssubjekten erblickt Hegel eine Erscheinung der Religion, die aber noch nicht den Begriff der Religion selbst darstellt. [Das Subjekt des Gewissens] weiß die Unmittelbarkeit der Gegenwart des Wesens in ihm als Einheit des Wesens [d. h. des Ansichseins] und seines Selbsts [d. h. des Fürsichseins], sein Selbst also als das lebendige Ansich und dies sein Wissen als die Religion, die als angeschautes oder daseiendes Wissen das Sprechen der Gemeinde über ihren Geist ist (W3.482). Auch dem Gewissenssubjekt erscheint somit ein Element der Religion. Hegel drückt die Religion im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES als das „Sprechen der Gemeinde über ihren Geist“ aus; das Subjekt in der Gemeinde des Gewissens erreicht die Versöhnung zwischen dem Fürsichsein und dem Sein für Anderes, sodass sich hier eine Parusie des geistigen Wesens, das das Subjekt des Gewissens in sich enthält, also die unmittelbare „Gegenwart des Wesens“ ergibt. Aber das anhand des Gewissens dargelegte Moment der Religion wird von dem RELIGIÖ SEN GEIST selbst, der in dem Kapitel „Religion“ behandelt wird, unterschieden, denn der wahre Begriff der Religion wird von dem moralischen Bewusstsein selbst noch nicht durchschaut. Das „Sprechen“ des moralischen Bewusstseins „über“ die Religion ist noch nicht als der RELIGIÖ SE GEIST selbst zu betrachten, der dem religiösen Bewusstsein erscheint. 192 Hirsch (1973) denkt, dass Hegels Gedanke des Gewissens an diesem Punkt den (subjektivistischen) Gedanken von Fichte und Jacobi übertrifft. S. 255. 171 3.2.5 Die dialektische Bewegung des Gewissens Bis jetzt hat es sich um die notwendigen Momente der Dialektik des Gewissens – meines Wissens das Fürsichsein, Sein für Anderes und Anerkanntsein – gehandelt. Hegel versucht weiterhin die dialektische Bewegung der Gewissenshandlung wiederum auszuführen; es geht nämlich um die möglichen Gestalten der Gewissensentscheidung und -handlung. Den bisherigen Erörterungen 193 über die Gestalten des Gewissens sind schon Hegels Auseinandersetzung mit der Reihe der ethischen Leitideen in seiner philosophischen Gegenwart zu entnehmen. Vor allem vermöge der philologischen Deutungen ist uns eine vergleichende Untersuchung über die Wesensverwandtschaft hegelscher Formulierungen zu den Ausdrücken aus den Texten von Jacobi, Novalis, F. Schlegel usw. erst zugänglich.194 Die vorliegende Arbeit hat hingegen zum Ziel, eher auf die Bestätigung der Momente in der Reihe der Gestalten, also auf die Auflösung dieser Gestalten in jene Momente, zu achten, als auf die historischen Zusammenhänge, beruhend auf der Annahme, dass uns die Form der Inszenierung der dialektischen Bewegung der Gewissensgestaltungen – wie „ein modernes Drama“, das „analog zur griechischen Tragödie“ 195 ist, – d. h. diese Reziprozität von Gestalten und Momenten offenkundig, ist. Diese Schilderung über diese Umsetzung der „Szene[n]“ (W3.490) erklärt uns die Dialektik des Gewissens anschaulich: Jede Gestalt des Gewissens hat jeweils einen eigenen Charakter, derweilen hat sie als ein Gewissenssubjekt eine von jenen Gestalten zum Inhalt. Es handelt sich nunmehr um die Reihe der vielfältigen, nebeneinander bleibenden und nacheinander folgenden Unter-Gestaltungen des moralischen Gewissens: 1) die schöne Seele, 2) das böse Bewusstsein, 3) das Eingeständnis versus das harte Herz, 4) die Empörung und 5) die Verzeihung. Diese Aufeinanderfolge ermöglicht es, zum sinnreichen Verständnis für den Gehalt des Gewissens zu gelangen. 193 Dazu vgl. bes. Hirsch (1973); Falke (1987); Gram (1998); Iber (2001). Während z. B. Falke den ganzen Ablauf – von der schönen Seele zur Versöhnung mit dem Bösen – nur im Zusammenhang mit Jacobis Woldemar behandelt, betrachten die anderen Forscher (Hirsch, Gram, Iber usw.) mit Rücksicht auf das novalische Werk Heinrich von Ofterdingen die schöne Seele. Besonders bezieht Hirsch die jeweilige Gestalt jeweils auf verschiedene Autoren (das Gewissen – Jacobi und Fichte; die schöne Seele – Novalis; das Böse – F. Schlegel; das harte Herz – Hölderlin). Hegel selbst führt z. B. die schöne Seele direkt auf Jacobi zurück. Dazu vgl. W13, S. 313. 195 Siep (2012), S. 218. 172 194 3.2.5.1 Die erste Phase (Einleitung): die schöne Seele Die dialektische Bewegung des Gewissens beginnt mit dem Charakter der „schöne[n] Seele“ (W3.484). Die schöne Seele ist sowohl die Initialgestalt der Gewissensdialektik als auch das Paradigma für diese gesamte Dialektik.196 Sie wird von Hegel weiterhin als der Grundcharakter des subjektiven Willens bezeichnet, der sich – ohne über den überindividuellen Bezug nachzusinnen – zu seiner Welt verhält. Wenn wir uns an den obigen Entwicklungsgang des subjektiven Willens im Rahmen des moralischen Gewissens erinnern, lässt sich diese wie folgt mit zwei Stufen resümieren: Indem sich das Subjekt zu bestimmten Inhalten der Pflicht negativ verhält, ist es davon überzeugt, ganz frei von ihnen zu sein; indem es sich aber aus sich selbst entscheidet, hat es zugleich die positive Ü berzeugung davon, dass es sich nach Belieben den Inhalt gibt. Allein dieses Fürsichsein muss nach seiner Beliebigkeit anderen Subjekten ihre Autorität erlauben; seine eigene Ü berzeugung liegt nämlich nur in dem gehaltlosen Sein für Anderes. Sein rein selbstbezogener Gegenstand ist nur mit seinen Eigenbestimmungen versehen. Dieses Subjekt des Gewissens muss keinen affirmativ-konkreten Gehalt aufnehmen, denn sonst wäre seine Ungetrübtheit verschwommen. Hegel befasst sich in diesem Zusammenhang mit dem unglücklichen Bewusstsein im Rahmen des Gewissens. Das unglückliche Bewusstsein erschien bereits im Kapitel „Selbstbewußtsein“ als ein Motiv des beschränkten reinen Gedankens;197 dieses Wissen des Bewusstseins bemüht sich im Wesentlichen darum, ein jenseitiges Wesen (als das Absolute) zu erfassen, aber es erfährt, dass seine Bemühung verunglückt ist. Obgleich diese letzte Bewusstseinsgestalt im Kapitel „Selbstbewußtsein“ das Potenzial des absoluten Begriffes in sich enthält, kann es seiner Aufgabe nicht nachkommen, denn dieses erscheinende Wissen kommt noch nicht zur Einsicht in seine Wahrheit: in das geistige Wesen des Bewusstseins, das erst im absoluten Wissen endgültig expliziert wird. Diese Schönheit der Seele hängt ebenfalls mit der Unfähigkeit, die Kraft des Geistes 198 zu erkennen, zusammen. Die Handlung der schönen Seele wird in Wirklichkeit als eine tatlose Tat erwiesen, weil das Subjekt der schönen Seele beabsichtigt, dass nichts in seiner Gesinnung verändert wird, m. a. W. weil es „die Angst“ hat, „die Herrlichkeit seines Inneren durch Handlung und 196 Dazu vgl. Köhler (1998), S. 214. Dazu vgl. W3, S. 155 ff. Das Motiv des unglücklichen Bewusstseins tritt noch einmal in der einführenden Phase in die Offenbare Religion im Rahmen der gedanklichen Entstehungsgeschichte des Christentums auf. 198 Dazu vgl.: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Ä ußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszuarbeiten und sich zu verlieren getraut“. W3, S. 18. 173 197 Dasein zu beflecken“ (W3.483). Es „fehlt“ der unglücklichen schönen Seele also „die Kraft der Entäußerung“, d. h. „die Kraft, sich zum Dinge zu machen“ (W3.483). „Die kraftlose Schönheit“199 (W3.36) im Rahmen des Gewissens hat für Hegel die folgende Schranke: Der hohle Gegenstand, den es [= das Fürsichsein] sich erzeugt, erfüllt es daher nun mit dem Bewußtsein der Leerheit [des bloßen Ansichseins]; sein Tun ist [nur] das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert und, über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend, sich nur als verlorenes findet; - in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst (W3.484). An dieser Stelle fasst Hegel die grundlegende Schwäche der schönen Seele zusammen. Sie lässt sich m. E. mit dieser Gedankenlinie ausdrücken: Selbstherrlichkeit => Selbstverlust => Selbstverstellung. Die durchsichtige Reinheit ihres Inneren ist die ursprüngliche Aufgabe der schönen Seele; sie bezweckt, die Tiefe des Inneren zu erkennen. Aus ihrer Vorstellung der Selbstherrlichkeit im Inneren resultiert aber die Leerheit ihrer Bestimmung, denn, obgleich sie glaubt, dass sie selbst schön sei, wird sie als eine „wirklichkeitslose“ Seele (W3.491) entlarvt. Sie kommt somit in den Zustand des Selbstverlusts; was sie dafür tun kann, das ist nur eine Sehnsucht nach der absoluten Reinheit im Inneren, nämlich nach dem absoluten Handlungsverzicht. Aus ihrer „eigensinnigen Kraftlosigkeit“ (W3.483) ergibt sich nun die Selbstverstellung; sie gerät tatsächlich in eine „Verrücktheit“ (W3.491). Sie nimmt eine absolute Freiheit an, aber diese Annahme wird vorgetäuscht. Die von ihr aufgefasste Reinheit im Inneren betrifft nur das Wissen von sich selbst, nicht den Zusammenhang mit anderen Subjekten oder den überindividuellen Weltbezug. Daraus lässt sich erkennen, dass sie nur „in sehnsüchtiger Schwindsucht“ (W3.491) befangen ist, indem sie die „Eitelkeit aller Objektivität“ (W7.279) annimmt; ihre Sehnsucht impliziert nichts anderes als ihre Flucht vor der Wirklichkeit. Diese „absolute Innerlichkeit“200 des Gewissens wäre zwar der Grund der Selbstherrlichkeit, aber vielmehr „seine ärmste Gestalt“ und die „Armut, die seinen einzigen Besitz ausmacht“ (W3.482 f.). Seine absolute Selbstbehauptung aus seiner Ü berzeugung wird nämlich notwendigerweise zur Selbsttäuschung.201 In der „Vorrede“ der PHG wird diese „kraftlose Schönheit“ als die Unfähigkeit, „das Leben des Geistes“ oder die Kraft bzw. Tiefe desselben zu erfassen, dargestellt. Diese Auffassung ist m. E. der schönen Seele im Rahmen des Gewissens adäquat. 200 Köhler (1998), S. 212. 201 Dazu vgl. Reuter (1977), S. 92; Auinger (2003), S. 61 f. 174 199 Die schöne Seele tritt zum ersten Mal als das handelnde Bewusstsein auf, aber letztendlich ergibt sich, dass es sich bei dem Beurteilenden eben so wie bei dem Handelnden verhält. Sie hält nur an ihrer guten Absicht im Innern fest; dadurch behauptet sie ihren guten Willen, ohne den Zusammenhang desselben mit dem allgemeinen Willen zu berücksichtigen. Hegel drückt diese solipsistische Einstellung in seiner Rechtsphilosophie folgendermaßen aus: „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“; „der Zweck heiligt die Mittel“ (W7.258; 271). 3.2.5.2 Die zweite Phase (Steigerung): das Böse und die Heuchelei Für die zwar schöne, aber bloß gebrechliche Seele ist die Wirklichkeit des gelungenen Lebens nicht so leicht fassbar. Wenn das Subjekt des Gewissens auf seine absolute Gewissheit, auf deren Anerkanntsein insistiert, verfällt es doch in den Gegensatz zu anderen Einzelheiten oder zu der Allgemeinheit, weil das Fürsichsein und das Ansichsein noch nicht miteinander versöhnt sind. Unterdessen beobachtet ein anderes Subjekt den mit großen Anstrengungen verbundenen Umstand jenes Handelnden und sieht dann es, indem es von der Allgemeinheit seines Kriteriums ganz überzeugt ist, die moralische Absicht des Handelnden überhaupt als die böse an. Dieser innerlichen Bestimmung steht also das Element des Daseins oder das allgemeine Bewußtsein gegenüber, welchem vielmehr die Allgemeinheit, die Pflicht das Wesen [ist], dagegen die Einzelheit, die gegen das Allgemeine für sich ist, nur als aufgehobenes Moment gilt. Diesem Festhalten an der Pflicht gilt das erste Bewußtsein als das Böse, weil es die Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen ist (W3.485). Das böse Bewusstsein bedeutet freilich nicht die Boshaftigkeit des Gewissens; es bildet sich aus seiner wirklichen Unfähigkeit und Selbsttäuschung heraus. Hier tritt der Grundgegensatz zwischen dem Handelnden und dem Beurteilenden hervor. Jenes Bewusstsein ist der Meinung, dass es selbst schon sowohl das einzelne als auch allgemeine Bewusstsein sei; jedoch liegt für den Beurteilenden der Handelnde nur in der Ungleichheit zwischen dem, was in Wirklichkeit böse ist, und dem, was nur behauptet, gut zu sein. Das böse Bewusstsein kann seine Schranke insoweit nicht überwinden, als es in seinem eigensinnigen Fürsichsein befangen ist. 175 Das Bewusstsein des Bösen gehört zunächst dem Handelnden. Hier ist Folgendes vorausgesetzt: Das Beurteilende nimmt an, dass es selbst einen allgemeingültigen Maßstab für sein Urteil in sich enthält, während die Heuchelei des Handelnden entlarvt wird, soweit es davon überzeugt ist, dass sein Tun nichts anderes als das Ansichsein (d. h. das schlechthin Allgemeingültige, wie das Gesetz oder die Pflicht) sei. Der Zusammenhang des Gewissens mit dem Bösen lässt sich in Hegels Rechtsphilosophie wie folgt darstellen: Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren - böse zu sein. Das Gewissen ist als formelle Subjektivität schlechthin dies, auf dem Sprunge zu sein, ins Böse umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben beide, die Moralität und das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel (W7.260 f.). Das Fürsichsein wird hier als das Selbstbewusstsein, das in der formellen Subjektivität besteht, bezeichnet. Die „Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen“ (W3.485) wird hier als der Gegensatz zwischen seinem konkreten, aber besonderen Willen und dem an und für sich Allgemeinen ausgedrückt. Wie es sich bei der schönen Seele um die „Eitelkeit aller Objektivität“ (W7.279) gehandelt hat, hat das formelle Fürsichsein (indem es seine Reinheit im Inneren behauptet, d. h. indem es von der „Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen“ überzeugt ist) eine Möglichkeit, böse zu sein. Die gute Gesinnung für das Gute und das böse Bewusstsein haben daher eine ursprüngliche Gemeinsamkeit miteinander. Allein der Gegensatz zwischen dem Handelnden und dem Beurteilenden führt dazu, dass selbst jener Maßstab unsicher wird; insofern das Beurteilende im Gegensatz zu dem Bösen steht, ist das Kriterium ebenfalls so zufällig wie der Maßstab vom Handelnden.202 Wenn jenes auf seinem Gesetz, so will auch dieses auf seinem eigenen Gesetz beruhen. Daraus ergibt sich, dass, was das Beurteilende eigentlich bezweckt hat, also was „allgemein anerkannt sein soll“, eher „als ein Nichtanerkanntes zu zeigen“ ist, sodass es „dem anderen 202 In diesem Zusammenhang bemerkt Hegel in seiner Rechtsphilosophie die verschiedenen Stufen der extremen Spitze der formellen Subjektivität. Diese solipsistische Tendenz lässt sich zwar im Ganzen als die Heuchelei bezeichnen, aber sie wird in die folgenden Stufen aufgeteilt: a) das Handeln mit bösem Gewissen, b) die Heuchelei in ihrer engeren Bedeutung, c) den Probabilismus als den Grund für die Verkehrung des Guten ins Bösen oder des Bösen ins Gute, d) den Willen zum abstrakten Guten, e) die Ü berzeugung, welche etwas für recht hält, und f) die (romantische) Ironie. W7, S. 265-280. 176 das gleiche Recht des Fürsichseins einzuräumen“ hat (W3.487). Der Zwiespalt zwischen dem Handelnden und dem Urteilenden würde, ohne die Aussöhnung von beiden, die Kette des sog. schlechten Unendlichen verursachen. In diesem Zusammenhang gehört der heuchlerische Charakter auch zu dem urteilenden Bewusstsein. Insofern es – wie wir in der schönen Seele erblickt haben – nach der Selbstherrlichkeit im Inneren strebt, kann es davon nicht verschont werden. Es hat gut sich in der Reinheit bewahren, denn es handelt nicht; es ist die Heuchelei, die das Urteilen für wirkliche Tat genommen wissen will und, statt durch Handlung, durch das Aussprechen vortrefflicher Gesinnungen die Rechtschaffenheit beweist (W3.487). Das beurteilende Bewusstsein kann, insofern es sich ausschließlich negativ gegen das handelnde Bewusstsein verhält, demselben Schicksal wie sein Antipode nicht entgehen; es intendiert ernsthaft den Vollzug des allgemeinen Rechten, richtet sich aber nichtsdestoweniger in sein individuelles Interesse oder sein Vorurteil ein, und zwar ohne es zu merken. Daraus lässt sich Folgendes schließen: „Es kann sich keine Handlung [sogar keine scheinbar unparteiische Beurteilung] solchem [parteiischen] Beurteilen entziehen“ (W3.489), weil es nirgends eine vollkommen unparteiische Handlung gibt. Der Grundsatz der ethischen Pflichtenlehre (vor allem von Kant) hat also im Grunde keinen Erfolg, „denn die Pflicht um der Pflicht willen, dieser reine Zweck, ist das Unwirkliche“ (W3.489). Hegel versucht mit einem bekannten französischen Sprichwort diesen Umstand zu erklären: Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender, überhaupt in der Einzelheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu tun hat. So gibt es für das Beurteilen keine Handlung, in welcher es nicht die Seite der Einzelheit der Individualität der allgemeinen Seite der Handlung entgegensetzen und gegen den Handelnden den Kammerdiener der Moralität machen könnte (W3.489).203 Diese Formulierungen finden sich auch in Goethes Werk folgendermaßen: „Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen wissen.“ Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Werke, Bd. 6, S. 398. 177 203 Aus diesem Gedanken, dass es keine vollendete moralische Handlung für den Urteilenden gibt, resultiert, dass auch das beurteilende Bewusstsein, wie das handelnde, in einen unglücklichen Umstand verfällt; jenes ist sogar nichtswürdig, weil es entgegen dem handelnden, sogar ohne konkrete Handlung seine Beurteilungshandlung für echtes bzw. rechtschaffenes Handeln hält, und zwar, indem es vorgibt, dass seine Beurteilung selbst großartig sei. Ü ber die Heuchelei des Beurteilenden führt Hegel Folgendes aus: Dies beurteilende Bewußtsein ist hiermit selbst niederträchtig, weil es die Handlung teilt und ihre Ungleichheit mit ihr selbst hervorbringt und festhält. Es ist ferner Heuchelei, weil es solches Beurteilen nicht für eine andere Manier, böse zu sein, sondern für das rechte Bewußtsein der Handlung ausgibt, in dieser seiner Unwirklichkeit und Eitelkeit des Gut- und Besserwissens sich selbst über die heruntergemachten Taten hinaufsetzt und sein tatloses Reden für eine vortreffliche Wirklichkeit genommen wissen will. – Hierdurch also dem Handelnden, welches von ihm beurteilt wird, sich gleich machend, wird es von diesem als dasselbe mit ihm erkannt (W3.489). An dieser Stelle lässt sich beobachten, dass sowohl die Handlung als auch die Beurteilung durch die Heuchelei gekennzeichnet werden müssen. Hegel sieht diese Phase der Heuchelei als „die höchste Spitze der Subjektivität im moralischen Standpunkte“ (W7.265) an. Insofern das Subjekt des Gewissens an diesem absoluten (aber formellen) Fürsichsein festhält, lässt sich die Möglichkeit der gegenseitigen Anerkennung nicht beobachten. 3.2.5.3 Die dritte Phase (Höhepunkt): das Eingeständnis versus das harte Herz Das Subjekt des Gewissens, das sich selbst für das Gute, hingegen sein Anderes für das Böse hält, ist vielmehr zum Bösen geworden. Dies zeigt uns, dass vom Standpunkt des Subjektivismus nichts absolut gut, ebenso wenig absolut böse ist. Daraus lässt sich erkennen, dass auch das Böse eine unentbehrliche Stufe ist. Wie das Bewusstsein, das sich selbst für schlechthin recht hält, immerdar ins Böse umgewandelt werden kann, so kann auch das so Beurteilende böse werden; jedes moralische Subjekt kann sowohl böse als auch gut sein. Der Ü bergang zum Gedanken der „symmetrischen Gleichwertigkeit von gut und böse“204 bringt 204 Lütterfelds (2008), S. 106. 178 das Bewusstsein zur Einsicht in die Ebene der Interpersonalität. Die sich widerstreitenden Antipoden – als ob das eine der Täter und das andere der Richter wäre – können dementsprechend einen Versuch unternehmen, sich miteinander auszusöhnen. Das handelnde Bewusstsein macht zuerst den folgenden Versuch: Diese Gleichheit anschauend und sie aussprechend, gesteht es sich ihm [= dem Urteilenden] ein und erwartet ebenso, daß das Andere, wie es sich in der Tat ihm gleichgestellt hat, so auch seine Rede erwidern, in ihr seine Gleichheit aussprechen und das anerkennende Dasein eintreten werde (W3.489 f.). Aber die Versöhnung miteinander ist nicht so einfach realisierbar. Sein „Eingeständnis“ (W3.490): ich bin böse, ignoriert das andere Subjekt wissentlich, wie folgt murmelnd: aber ich bin nicht böse, sondern gut. Dieses „harte Herz“ hält alleinig an seinem Fürsichsein fest, indem es weder irgendeine „Gemeinschaft“ mit anderen noch „Kontinuität“ (W3.490) aufnimmt. Das harte Herz bringt den Konflikt zur Klimax durch sein halsstarriges Verhalten: „Hierdurch kehrt sich die Szene um“ (W3.490).205 3.2.5.4 Die vierte Phase (Umkehr): die Empörung Die obstinate Reaktion des Beurteilenden verursacht überraschenderweise eine abrupte Umkehrung der Situation. Das Handelnde steht dem Beurteilenden gegenüber; sein Eingeständnis, gleich wie ein religiöses Sündenbekenntnis, bezweckt de facto, seine unglückliche Grundstimmung zu besiegen. Das Handelnde erwartet aus tiefstem Herzen, dass sein freimütiges Bekenntnis günstig aufgenommen wird. Aber dadurch, dass sein Mitmensch sein Herz überhaupt nicht ausschütten will, fühlt jenes Bekennende sich verraten und, was es nun jenem Absagenden erwidert, ist daher endlich Ä rger. 205 Hegel bemerkt die Umkehrung der Szenen eben hier zwar explizit nur einmal, also scheint es, als ob er die gesamte Handlung in zwei Szenen aufgeteilt hätte. Aber das sämtliche Plot wird m. E. noch einleuchtender, falls wir sie nach impliziten Folgerungen noch mehr parzellieren. In der vorliegenden Arbeit wird die dialektische Bewegung des Gewissens demgemäß in fünf Phasen aufgeteilt. 179 Dasjenige, das sich bekannte, sieht sich zurückgestoßen und das Andere im Unrecht, welches das Heraustreten seines Innern in das Dasein der Rede verweigert und dem Bösen die Schönheit seiner Seele, dem Bekenntnisse aber den steifen Nacken des sich gleichbleibenden Charakters und die Stummheit […] entgegensetzt. Es ist hier die höchste Empörung des seiner selbst gewissen Geistes gesetzt (W3.490). Aus dieser Szene lässt sich aufzeigen, dass sowohl das harte Herz als auch die schöne Seele als das Beurteilende bezeichnet werden; das beurteilende Bewusstsein ist zwar der Meinung, es habe einen eigenen Universalmaßstab, aber es kann gar nicht ahnen, was und wie er wirklich ist. Alles, was es tun kann, ist entweder die Missbilligung gegen das konkrete Handeln vom Anderen oder die Verweigerung des Einvernehmens mit dem Anderen. Es ist ein niederträchtigeres Böses als das handelnde Bewusstsein; das beurteilende Bewusstsein verübt nämlich die „höchste Sünde“206, indem es, ohne tätig zu sein, die Tat von seinem Anderen verleumdet, sodass es seine Bestrebung um die Gemeinsamkeit ablehnt und schließlich seine Empörung hervorruft. Diese Phase fasst Hegel als die Klimax der Kollision zwischen den Subjekten auf. 3.2.5.5 Die letzte Phase (die nochmalige Umkehr und das Finale): die Verzeihung und die Versöhnung Die Situation des zugespitzten Konflikts, die als Empörung repräsentiert wird, kehrt sich dramatisch wieder um, und zwar durch das Urteil, das das harte Herz fällt. Seine eigensinnige Weltansicht zielt zwar auf „das harte Festhalten seines Fürsichseins“ (W3.491) ab; daraus erfolgt jedoch ein unheimliches Gefühl: Ich bin Nichts und nirgends, soweit niemand mich anerkennt. Dieser seelische Zustand bedeutet nicht nur den Konflikt mit anderen, sondern auch, dass es um ihn herum gar keine Grenze zu anderen Menschen hin noch eine Tür für irgendeine Begegnung mit ihnen gibt, nachdem das Beurteilende alle Möglichkeiten dafür schon vermieden hat. Aus seiner eigenen Besorgnis geht nun die „Verzeihung“ (W3.492) hervor, zu der das Handelnde durch sein Eingeständnis bereits aufforderte. Sie bedeutet die „selbstbewußte und daseiende Ausgleichung“ (W3.491 f.); die 206 Falke (1996), S. 327. 180 affirmative Aktion zielt auf das „Brechen des harten Herzens“ bzw. auf „seine Erhebung zur Allgemeinheit“ (W3.492) hin. Diese affirmative Handlung des Beurteilenden bedeutet wesentlich eine Wiederkehr zum Geständnis des Handelnden; jene Handlung ist gar keine „Erniedrigung, Demütigung, Wegwerfung im Verhältnisse gegen das Andere“, sondern ein Aussprechen über seine „Anschauung der Gleichheit des Anderen“ (W3.490) mit sich selbst. Für uns ist die folgende Einsicht klar gemacht: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben“ (W3.492). Wenn das Gewissenssubjekt als das harte Herz bleiben wollte, wäre es noch die schöne Seele, deren Vollzug wegen des abstrakten Gegensatzes von ihrem eigenen Bewusstsein und der ihr fremden Wirklichkeit entkräftet und hohl wird. Aus diesem Grunde müssen die Wunden – damit sie ohne Narben geheilt sein können – eigentlich für Hegel die Wunden des Geistes sein, nicht von dem beschränkten Fürsichsein. Wenn das Subjekt des Gewissens ganz davon überzeugt ist, dass der Mensch aus seiner Gemeinde, d. h. Gemeinschaft, in der die verschiedenen Subjekte des Gewissens miteinander vereinigt sind, nicht ausgeschlossen werden kann und soll, so kann der Geist des Gewissens seine wahre Wirklichkeit besitzen. Das Motiv der Heilung des Geistes ohne Narben gibt uns einen Faden, mit dem wir die Gewissenssubjekte in die Gemeinsamkeit mit anderen Gewissenssubjekten integrieren können.207 Die sich selbst dialektisch aufhebenden Subjekte erheben sich zum wahrhaftig allgemeinen Selbstbewusstsein. Das Handeln eines Subjekts, das von dem Beurteilenden als das Böse angesehen wurde, führt nun zum Bekenntnis durch die Selbstanschauung im Anderen; auch das Beurteilende hat durch die Selbstanschauung im Anderen von seiner harten Beharrlichkeit bereits abgelassen. Die Verzeihung desselben ist die „Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen“ (W3.492); es gibt dadurch sein nur abstraktes Fürsichsein auf. Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist (W3.489). 207 Dazu vgl. bes. Heidegren (1995), S. 363. 181 Diese „Versöhnung“ ist sowohl die gegenseitige Anerkennung aller moralischen Subjekte als auch das höchste Dasein des WELTLICHEN GEISTES – nicht allein als das des Gewissens. Das Konzept der anerkennenden Bewegung, das im Kapitel „Selbstbewußtsein“ auftrat, erhält durch verschiedene Gestaltungen derselben hindurch erst im Anerkennen zwischen dem Handelnden und dem Beurteilenden seine wahre Gestalt – diese wird von Hegel als der absolute Geist bezeichnet. Hegel schreibt über die Bedeutung der Versöhnung im Rahmen des Gewissens Folgendes: Das versöhnende Ja, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das darin sich gleich bleibt und in seiner vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewißheit seiner selbst hat; – es ist der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen (W3.494). Das Wissen von der rechten Pflicht ist nun kein bloß abstraktes Fürsichsein, das auf der „absolute[n] Diskretion“ zwischen sich und dem Anderen insistiert, sondern vielmehr sowohl die „absolut flüssige Kontinuität“ miteinander als auch „der sich gleichbleibende Charakter seines Sichselbstwissens“ (W3.490; 493). Die Einzelheit und die Allgemeinheit im Gewissen werden zu allen Momenten des absoluten Begriffs als der Idee der Wissenschaft, jedoch ist jede Seite ebenso schon jeweils der ganze Begriff, der sich in seiner Bestimmtheit auch als die Substanz entwickelt. In diesem Begriff erreicht das reine Selbstwissen „die indiskrete Kontinuität und Gleichheit des Ich = Ich“ (W3.494), d. h. die Versöhnung der Einzelheit mit anderen Einzelheiten oder mit der Allgemeinheit; daraus ergibt sich „das wirkliche Ich, das allgemeine Sichselbstwissen in seinem absoluten Gegenteile“ (W3.494). Hegel erblickt auch im moralischen Geist, genauer in der Schlussphase der Dialektik des Gewissens, eine Szene der Versöhnung im Rahmen des seiner selbst gewissen Geistes; diese Phase bedeutet nur die Versöhnung zwischen moralischen Subjekten, sodass hier der absolute Geist nur „mitten unter ihnen“, „die sich als das reine Wissen wissen“ (W3.494), erscheint. In der Gemeinde der Gewissenssubjekte ergibt sich, dass der Mensch das ihm selbst immanente Göttliche betrachtet. Weil ein Subjekt daher auf jeden Fall in seinem reinen Wissen das Wesen des Geistes ahnt, misst Hegel dem Zusammenhang des Gewissens mit der Religion große Bedeutung bei. Allein der Vollzug des Gewissens erreicht noch nicht endgültig den absoluten Begriff der Wissenschaft selbst, der das Endziel der PHG ist. Der Grund dafür ist, dass der Standpunkt 182 des Gewissens nur seiner eigenen Form nach – aber nicht dem Inhalt nach – mit dem absoluten Geist vergleichbar ist. Diese Form heißt die absolute Selbstgewissheit, die auf dem Fürsichsein des Gewissens beruht. Das Subjekt des Gewissens ist über den Standpunkt der moralischen Vor- und Verstellung hinaus in sich selbst zurückgekehrt; dadurch genießt es den Einblick in sein Wesen, indem es jede Außenseite negiert, sodass es eine Spitzenstellung im moralischen Geist einnimmt. Aber diese Vollendung des Gewissens impliziert vielmehr seinen Untergang (d. h. die volle Beendigung seiner Gültigkeit); in seinem höchsten Ort befindet sich auch der Grund, in den es selbst endlich zugrunde gegangen sein muss. Das Subjekt des Gewissens bleibt, soweit sein Fürsichsein im moralischen Vollzug herrscht, nämlich noch in der selbstbezogenen Position. In dieser Lage stößt die auf eine Innerseite konzentrierte Grundstimmung des Gewissens wiederum auf eine Barrikade an seiner egozentrischen Ebene. Das Bewusstsein ist „auf die Spitze seiner Extreme getrieben“ (W3.482), ohne den konkreten Inhalt seiner Gesinnung zu erringen. Die allerhöchste Stellung für das Gewissen sei höchstenfalls ein Gebiet, bis zu dessen Grenze, – nicht in dessen Innenbereich – das Fürsichsein hinaufsteigen könnte. Solange die eigene Vorstellung des Gewissens noch in der überzeugten Anschauung von sich liegt, d. h. noch nicht den absoluten Begriff selbst erlangt, ist es noch nur im einfachen „Begriffe seiner selbst“ oder im „zu Abstraktionen verflüchtigt[en]“ zugespitzten „Extreme“ versunken (W3.482). Auch die Einstellung des Gewissens verstrickt sich in der Schranke des moralischen Standpunkts, weil das Subjekt des Gewissens noch auf der moralischen Ebene steht. Das Gewissen liegt zwar an der höchsten Spitze des moralischen Geistes, jedoch ist es auch unleugbar, dass es nur eine andere – aber die letzte und höchste – Variante in der noch moralischen Einstellung ist. Die Bewegung des moralischen Geistes ereignet sich jetzt nur innerhalb des Bewusstseins, in dem es genauer gesagt nur noch die verstellende Bewegung gibt. Sofern er vor dem verstellenden Vorstellen in sich zurückkehrt, wird dieses nichts anderes als sein Anfangspunkt, d. h. als die moralische Weltansicht.208 Insofern sich das moralische Gewissen nur im Inneren des Bewusstseins bewegt, kann es noch nicht dem heuchlerischen Spiel entgehen. Das Gewissen erreicht nur seiner Form nach, d. h. aus seiner einzelnen Ü berzeugung, die absolute, göttliche Ebene, weil das Subjekt annimmt, dass es selbst zur absoluten Autonomie gelangen sei. Das Gewissen ist nämlich „dem Inhalte nach nichts anderes als was es in seiner Weltanschauung vorgestellt hat“; dadurch „wendet es sich nur gegen sein [eigenes] Vorstellen, aber noch nicht gegen dessen Wesen.“ Scheier (1996), S. 468. 183 208 B. Die Religion: das Moment der Versöhnung im Rahmen des religiösen Geistes – Lektüre des Abschnitts „VII. C. Die offenbare Religion“ 1. Hegels Begriff der Religion Es wird gesagt, dass in der Religion das Verhältnis des Menschen zum Absoluten, d. h. zur Grundlage für alles in der Welt, ausgeprägt wird; das gläubige Bewusstsein nimmt an, dass seine religiöse Weltanschauung prinzipiell auf dem Wissen vom Schöpfergott beruhe. Insofern wäre aber diese Gottesvorstellung ganz und gar ein bloß Gewusstes, d. h. der Gegenstand des Bewusstseins, der ihm gegenübersteht; sodann würde dieser Gegenstand einen Widerspruch bilden, denn er wäre auf den Standpunkt des Bewusstseins beschränkt, obwohl er für übersinnlich oder übernatürlich gehalten würde. In Hegels philosophischer Untersuchung der Religion bedeutet das menschliche Wissen von Gott nicht, dass man sich des Absoluten bewusst ist. Hegel versucht nicht, die Gottesbestimmung als den Schöpfungsakt der Natur zu behandeln; die Vorstellung von Gott ist ihm zufolge mit höchsten Bedürfnissen der Menschheit in jeder Phase der Kulturgeschichte eng verwoben. Im Kapitel „Religion“ bezeichnet Hegel die Religion nicht als das bloße „Bewußtsein des absoluten Wesens“, sondern als das „Selbstbewußtsein des Geistes“209, das „[d]er sich selbst wissende Geist“ oder „der sich als Geist wissende Geist“ (W3.495 f.) ist. Jede vor-religiöse Bewusstseinsgestalt, also die des WELTLICHEN GEISTES (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zum Kapitel „Geist“), liegt in der ontologisch-epistemologischen Abtrennung von Bewusstsein und Gegenstand. Erst auf dem Wissen des Geistes von sich selbst beruht die Religion; der RELIGIÖ SE GEIST (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion) Hegel führt in der kurzen Einleitung zum Kapitel „Religion“ die Reihe der vor-religiösen, aber einigermaßen jenseits- bzw. gott-gläubigen Bewusstseinsgestalten nacheinander auf: 1) der „Verstand“ als das erste Bewusstsein des Ü bersinnlichen in dem Gegenständlichen dieses Bewusstseins, 2) das unglückliche Bewusstsein, das sehr unter seiner Unfähigkeit leidet, den von ihm selbst anvisierten Gegenstand (als Göttliches im Jenseits) zu erreichen, 3) der sittliche Geist als das altgriechische Zutrauen zum göttlichen Gesetz, d. h. zur Nemesis oder schicksalhaften Notwendigkeit, 4) der „Glaube“ im reinen, aber noch nicht begrifflichen Denken bzw. dessen Widerlegung als die „Aufklärung“, 5) der Vernunftglauben, mit dem die vollendete „Moralität“ (das höchste Gut) bezweckt wird, und 6) die gegenseitige gutgläubige Anerkennung unter den Subjekten des Gewissens. Diese vor-religiösen Momente unterscheidet Hegel dadurch von der wahren Gestalt der „Religion“, dass in diesen bisherigen vor-religiösen Gestalten der jenseitigen bzw. gottesfürchtigen Überlegungen das Absolute nur „vom Standpunkte des Bewußtseins aus“ aufgenommen wird, während sich die „Religion“ als Selbstbewusstsein des Geistes darstellt. W3, S. 495-497. 184 209 impliziert zwei Augenblicke der Versöhnung zwischen dem Subjekt und der Substanz, also das Volksfest in der altgriechischen Welt und den Gottesdienst in der christlichen Gemeinde. Die Versöhnung im Rahmen des RELIGIÖ SEN GEISTES folgt daraus, dass das religiöse Bewusstsein in der Offenbarung des Absoluten zugleich sich selbst anschaut; seine Selbstanschauung in Gott 210 impliziert das Selbstbewusstsein des Geistes oder das Selbstverhältnis des Geistes, aber erscheint dem religiösen Bewusstsein selbst als das Verhältnis des menschlichen (also endlichen) Geist zum göttlichen (also unendlichen) Geist. Die Religion stellt nämlich unsere Beziehung zu Gott dar, m. a. W.: unser Bewusstsein der absoluten Wahrheit; Hegels „Begriff der Religion“, der wesentlich das Wissen des Geistes von sich selbst ist (W3.501), lässt sich dagegen nicht als ein einfaches Bewusstsein von dem Absoluten beschreiben, weil das Verhältnis des Menschen zu Gott vielmehr die Beziehung des Geistes auf den Geist bedeutet. In diesem Zusammenhang lassen sich die Grundzüge, die Hegels Religionsauffassung sowohl in der PHG als auch in seiner Religionsphilosophie impliziert,211 folgendermaßen darstellen: Erstens: Dass Hegel die Religion als die Selbstbeziehung des (absoluten) Geistes und nicht einfach als einen Glauben an den Schöpfergott erkennt, impliziert eine epochale Errungenschaft in unserer geistigen Bildungsgeschichte. Aus diesem Grunde bezeichnet Hegel die Religion als „die höchste, letzte Sphäre des denkenden Bewußtseins“ (V3.79); 210 Zum Verhältnis des menschlichen Gedankens von Gott als Geist zum Selbstbewusstsein Gottes vgl. Jaeschke (1998), S. 128 f. Und zum des Sich-Wissen des Menschen in Gott vgl. Kruck (2009), S. 59. 211 Um Hegels Begriff der Religion zu verstehen, ist es nötig, seine Darstellung im Kapitel „Religion“ mit seinen Deutungen der Religion in anderen Werken näher zu vergleichen. Es gibt die Behauptung, dass man in der PHG Hegels Aufschlüsse des Religionsbegriffes nicht finden kann. Jaeschke (1986), der das bedeutsamste Argument für diese Behauptung vertritt, denkt aufgrund der umfangreichen Analyse der hegelschen Religionsauffassung (also im Vergleich zur Darstellung in der Enzyklopädie oder sogar zu Jenaer Systemkonzeption), dass es sich in Hegels PHG um die Religion nur im Rahmen der Religionsgeschichte handelt. S. 199-208. Jaeschkes Begründung ist gewissermaßen stichhaltig; man kann zustimmen, dass sogar die Religionsgeschichte in der PHG, wie er angibt, ihrer Komposition in Hegels Religionsphilosophie nicht vollständig entspricht (denn in der PHG ist z. B. die „Religion der Zweckmäßigkeit“ in der römischen Welt nicht thematisiert; die natürliche Religion wird außerdem in der PHG als der „Begriff der Religion“ bezeichnet, während in seiner Religionsphilosophie der „Begriff der Religion“ im Rahmen der Einleitung zu den ganzen Darstellungen eingehend und ausführlich dargestellt ist). Auch Wagner (1971) arbeitet die Differenz der Darstellungs-Logik zwischen der PHG und der Religionsphilosophie heraus. S. 720 ff. Die vorliegende Arbeit aber beruht auf der Grundüberzeugung, dass die Darstellung der Religion zumindest mit der Religionsphilosophie im Grunde übereinstimmt. Auch die Position von Splett (1965) steht für diese Ü berzeugung. S. 52. Hegels Darstellung der Religion in der PHG stützt sich seinem Grundgedanken nach auf den wahren Begriff der Religion, dass Gott der absolute Geist oder das Selbstbewusstsein des Geistes ist. Hegels Bezeichnung der natürlichen Religion als des Begriffes der Religion hängt nicht direkt mit seinem Gedanken des Religionsbegriffes zusammen. Die natürliche Religion fungiert nämlich als der Begriff der Religion, solange sie als der Anfangspunkt der religiösen Bewusstseinsgestalt dargestellt wird; die natürliche Religion ist nämlich in der PHG durch den Begriff der Religion deswegen gekennzeichnet, weil die Darstellung der Religionsgestalten mit dieser Gestalt der morgenländischen Gottesvorstellung anfängt. 185 soweit der Glaube eine Form des menschlichen Wissens ist, kommt der glaubende Mensch zu der Einsicht in die ewige Wahrheit, indem er über die bloße Erscheinungswelt hinaus geht und seine Gedankenwelt in die Ebene des Unendlichen erhebt. 212 Hegel konzipiert die Religion nicht als die Lehre einer besonderen Konfession, sondern als die Gestalt des absoluten Geistes, weil sie ihrem Inhalt nach die absolute Bestimmung des Geistes betrifft. Diesen Punkt stellt Hegel in seiner Enzyklopädie folgendermaßen dar: „Die Religion, wie diese höchste Sphäre im allgemeinen bezeichnet werden kann, ist […] von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten“ (W10.366). Hegels Darlegung der Religion betrifft nicht einfach die bloße Beschreibung des religiösen Glaubens, sondern den absoluten Geist. Die Philosophie der Religion ist im Grunde als die spekulative Betrachtung des wahren Religionsbegriffs aufzufassen; insofern unterscheidet sich die Philosophie von der Religion, weil jene diese begreift. Aber die „höchste Sphäre“, die die Philosophie begreift, ist der absolute Geist, der eben der Begriff der Religion selbst ist. Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. - Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung [wie Kunst, Religion] und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt (W10.29). Die griechische Kunst-Religion, die christliche Religion und die Philosophie als Wissenschaft sind nämlich „nur verschiedene Seiten und Formen ebendesselben Inhalts [d. h. des absoluten Geistes]“ (W12.69). Die Bemühungen um das Absolute bezeichnet Hegel auch mit der Formel „der Erhebung des Geistes zu Gott“ (W10.354) – aber streng genommen mit dem Gedanken, dass Gott Geist ist, oder mit dem Selbstverhältnis des Geistes, also einfach nicht mit der bloßen „Erhebung der subjektiven Geistes zu Gott“213 –, die die Philosophie in der klassischen Neuzeit trotz ihrer konkreten Unterschiedenheiten durchdringt – wie Kant 212 Dazu vgl. W8, S. 150-152; V4a, S. 158 f. Hegel versucht z. B., seine Religionsauffassung von der ihm zeitgenössischen subjektivistischen wie folgt Auffassung zu unterscheiden: „In Ansehung der Ausgangspunkte dieser Erhebung [des Geistes zu Gott] hat Kant insofern im allgemeinen den richtigsten ergriffen, als er den Glauben an Gott aus der praktischen Vernunft hervorgehend betrachtet. Denn der Ausgangspunkt enthält implizit den Inhalt oder Stoff, welcher den Inhalt des Begriffs von Gott ausmacht. Der wahrhafte konkrete Stoff ist aber […] der Geist […]. Daß die in dieser Bestimmung geschehende Erhebung des subjektiven Geistes zu Gott in der Kantischen Darstellung wieder zu einem Postulate, einem bloßen Sollen herabgesetzt wird, ist die früher erörterte Schiefheit, den Gegensatz der Endlichkeit, dessen Aufheben zur Wahrheit jene Erhebung selbst ist, unmittelbar als wahr und gültig wiederherzustellen“ (W10.354). 186 213 die Thematik der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft behandelt.214 Der praktische Gesamtvollzug des objektiven Geistes, also Moral, Sittlichkeit usw., im Rahmen der neuzeitlichen Philosophie prägt eben im Begriff des christlichen Gottes seinen Gipfelpunkt aus; damit können sich das Offenbarsein der absoluten Wahrheit und das Prinzip des freien Selbstbewusstseins in der Neuzeit zusammenschließen. 215 Dieser Gedanke in der Neuzeit, der mit dem Begriff Gottes als des absoluten Geistes eng verwoben ist, wird also mit Hegel „in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht“, weil Gott als absoluter Geist „der erhabenste Begriff“ ist, der „der neueren Zeit und ihrer Religion angehört“ (W3.28). Der gedankliche Inhalt der Religion liegt nicht in der bloßen Erhebung des subjektiv-endlichen Geistes zum Absoluten als dem unendlichen Geist, sondern in dem Gedanken, dass Gott Geist ist; der Begriff der Religion impliziert also das Selbstbewusstsein des Geistes. Zweitens: Gott manifestiert sich, und damit kann der Mensch ihn anschauen, indem das Absolute dem Menschen offenbar wird. Gott ist nun nicht jenseitige Substanz, zumal er sich im Christentum, das sich auf die höchste Form der Offenbarungslehre gründet, direkt als ein einzelner Mensch, Jesus Christus – obgleich Hegel in der PHG diesen Namen nicht anführt –, offenbart, und zwar als ein Gottmensch. Wo Gott als dieser Mensch diesseits erscheint, und hiermit gesehen, gefühlt und gehört wird, dort ist das Absolute gegenwärtig ist. Diese Offenbarung des göttlichen Wesens ist trotzdem keine banale Erscheinung, denn der Mensch erreicht durch diese äußerste Herabsetzung Gottes vielmehr die höchste Wahrheit. Der gedankliche Inhalt der Offenbarung lässt sich so ausdrücken: „Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste“ (W3.553 f.). Die Offenbarung Gottes gelangt dadurch zu ihrem Gipfelpunkt, dass der Mensch, d. i. ein Gläubiger, sich auch als Geist erkennt. Weil das Verhältnis des Menschen zu Gott gerade die Beziehung des Geistes auf sich selbst ist, wird Gott dem Menschen nicht mehr fremd. Gott als Geist erscheint dem Menschen als Geist, hierdurch versöhnen Gott und Mensch sich miteinander. Es liegt wesentlich im Begriffe der wahrhaften Religion […], daß sie geoffenbart und zwar von Gott geoffenbart sei. […]; der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der absolute Geist, der […] sich selbst manifestiert (W10.372 f.). 214 Dazu vgl. I. Kant, Werkausgabe, Bd. 8, S. 645-879. Zur Thematik der von Kant versuchten immanenten Erweiterung der praktischen Vernunft zur Religion vgl. Metz u. Ruhstorfer (Hg.) (2008), Einleitung: Philosophische Perspektive (W. Metz), S. 11. 215 Dazu vgl. Metz (2008), S. 169 ff. 187 Hegels Ansicht kann dementsprechend zu diesem Satz unformuliert werden: Der Geist-Gott (also der unendliche Geist) ist für den Geist-Menschen (also den endlichen Geist) offenbar. Diese Zusammengehörigkeit zwischen dem endlichen Geist (Mensch) und dem unendlichen Geist (Gott) ist zuhöchst für die christliche Lehre kennzeichnend. Das Christentum, das Hegel „der absoluten Religion“ (W3.552) zuordnet, hat nämlich die Bestimmung zu diesem Punkt: „Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen Religion offenbar“ (W12.391). Die Auffassung der Offenbarung Gottes als des absoluten Geistes lässt sich als die folgende Einsicht ausdrücken: „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist“ (W3.554). Um das Offenbarwerden des Göttlichen aufzunehmen, wird nämlich das spekulative Wissen von dem Wesen des Geistes unabdingbar. Die Offenbarung liegt in dem Wissen des Menschen, dass Gott als Mensch erscheint. Der gläubige Mensch kann sich grundsätzlich im Medium der religiösen Gemeinde (oder in deren Gottesdienst) mit dem Absoluten versöhnen; wenn Gott Geist ist, nur insofern dieser Geist nur für den Geist ist, erscheint Gott für das gläubige Bewusstsein als derjenige, der in der Gemeinde gegenwärtig ist, sodass der Geist-Gott wesentlich für den Geist-Menschen offenbar ist. Der ewige Inhalt, dass Gott Geist ist, wird in der Religion in ihrem strengen Sinne, zuhöchst in der christlichen, der die absolute Wahrheit der Religion eigentümlich ist, ausgeprägt. Weil das gläubige Bewusstsein (soweit es mit dem Gottmenschen zusammen nicht lebte) Gott nicht unmittelbar anschauen kann, soll sein Wissen von Gott auf die höhere Ebene emporgehoben werden. Die absolute Wahrheit der christlichen Religion ist dadurch zu erreichen, dass der Mensch die Gegenwart Gottes in seiner inneren Tiefe erfassen kann, m. a. W. – mit Hegels Formulierungen in Jenaer Zeit – „den spekulativen Karfreitag […] wiederherstellen“ (W2.432) kann. Das spekulative Wissen der religiösen Wahrheit, das das Selbstbewusstsein des Geistes oder den sich selbst wissenden Geist impliziert, erschient dem religiösen Bewusstsein als die Offenbarung Gottes oder das Verhältnis des menschlichen zum göttlichen Geist. Drittens: Aber die religiöse Wahrheit ist zu tiefgründig, als dass sie in der eigentlichen Form des RELIGIÖ SEN GEISTES, also in dem vorstellenden Wissen, darzustellen wäre. In diesem Zusammenhang muss man den obigen Satz Hegels („Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar“) genauer deuten. Um den Begriff des Religion („Gott ist 188 Geist“) zu wissen, ist das spekulative Wissen zwar nötig, weil das glaubende Bewusstsein das Tiefste im Niedrigsten akzeptieren soll. Soweit das religiöse Wissen aber noch in der Form der Vorstellung besteht, erscheint dem Bewusstsein der Inhalt des Absoluten nur als Ansichsein des Geistes. Der Grund dafür ist Folgendes: Das glaubende Bewusstsein weiß nur, dass Gott uns seine Güte, Gnade usw. offenbart, aber nicht, was der Inhalt des absoluten Geistes ist; das Bewusstsein kann diesen Inhalt nur aufnehmen, aber nicht begreifen. Damit das religiöse Wissen spekulativ sein kann, muss es seine Grenze überschreiten, nämlich über die Form der Vorstellung hinausgegangen sein. Wenn der Gehalt des religiösen Glaubens vollends ausgelegt wird, ergibt sich ergo – mit Hegels Formulierungen – Folgendes: „[D]er religiöse Inhalt flüchtet sich […] in den Begriff“ (V5.174); die philosophische Auslegung des Geistes der Religion besteht nämlich darin, die wahre Bedeutung der religiösen Lehre zu begreifen. Indem man die Religion im begreifenden Gedanken erfasst, kann dieses Begriffene in seiner höchsten Form dadurch dargestellt werden, dass der Inhalt der Religion in Form der Vorstellung zwar in den Begriff aufgehoben wird, aber ihre ewige Wahrheit aufbewahrt, wie sie in der Vorstellung ist. Die Schranke der offenbaren Religion und ihre Ü berwindung lassen sich folgendermaßen darstellen: Ob er [= der Geist] aber in ihr [= in der offenbaren Religion] wohl zu seiner wahren Gestalt gelangt, so ist eben die Gestalt selbst und die Vorstellung noch die unüberwundene Seite, von der er in den Begriff übergehen muß, um die Form der Gegenständlichkeit in ihm ganz aufzulösen, in ihm, der ebenso dies sein Gegenteil in sich schließt. Alsdann hat der Geist den Begriff seiner selbst erfaßt, wie wir nur erst ihn erfaßt haben, und seine Gestalt oder das Element seines Daseins, indem sie der Begriff ist, ist er selbst (W3.502 f.). Man kann sich deswegen streng genommen nicht vermöge der Religion in ihrem engeren Sinne, sondern erst anhand ihrer philosophischen Betrachtung selbst mit der religiösen Wahrheit versöhnen. Die religiöse Manifestation des Absoluten muss sich für Hegel folgendermaßen zeigen: Die Einsicht, dass Gott als Geist nur im spekulativen Wissen erreichbar ist, besteht nicht in dem rein historischen Wissen, wie in der religiösen Begeisterung, im subjektiven Gefühl oder im Wunder; Hegels Gedanke vom spekulativen Wissen der religiösen Wahrheit impliziert kein bloßes unmittelbares Wissen des religiösen Bewusstseins, sondern das begreifende Erkennen Gottes (V3.71). Ü ber das Verhältnis zwischen der vorstellenden und dem begreifenden Wissen schreibt Hegel Folgendes: 189 [D]ie Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Dies, was hier der Vorstellung gegeben und was an sich das Wesen ist, in seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist die Aufgabe der Philosophie (W10.29 f.). Hegels Gedanke, dass Gott Geist ist, m. a. W.: dass der Begriff der Religion das Selbstbewusstsein des Geistes ist, kann also erst dann in seiner vollendeten Bedeutung verstanden werden, wenn die ewige Wahrheit der Religion einfach nicht in Form des vorstellenden Denkens, sondern im Begriff liegt. Hegels Lehre von der christlichen Religion befasst sich zwar mit der ursprünglichen Lehre von dem christlichen Gott, aber seine Betrachtung enthält mehr als die bloß historisch-faktische Glaubensbekenntnis (also sogar mehr als die lutherische) in sich; Hegels Prinzip der Christlichkeit liegt zwar in dem an sich seienden Wesen, das sich auf die Urkunde der christlichen Wahrheit, d. h. auf die Bibel, gründet, aber der Kerngedanke der christlichen Wahrheit ergibt sich Hegel zufolge aus der philosophischen Re-Formation, also aus dem spekulativen Wissen des Religionsbegriffs, das die Lehren der Konfessionen (die aus der Reformation hervorgegangen sind) voraussetzt, aber mehr als dieselben umfasst. Die begreifende Betrachtung des RELIGIÖ SEN GEISTES geht aus dem Begriff der Religion hervor; dieser Begriff aber kann sich erst durch den gesamten Bildungsgang des religiösen Bewusstseins vollenden. Die von Hegel entworfene „Vollendung der Religion“ (W3.497) setzt den Bildungsprozess des Geistes zu seiner wahren Entfaltung (d. h. von dem Prozess: der abstrakte Zustand des Geistes => seine Anderswerdung oder Entfremdung => die Aufhebung seines Andersseins oder seine Rückkehr zu sich)216 voraus. Diese Dialektik der geistigen Bewegung treten Hegels Darstellung der drei Religionsgestalten und seine Darlegung der Trinität vom christlichen Gottesbegriff hervor.217 Die Vollendung der Religion liegt darin, dass der RELIGIÖ SE GEIST seine vollendete Gestaltung dadurch erringt, dass sich die vor-christlichen Gestalten (die natürliche Religion und die Kunstreligion) und die vor-religiösen (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zu dem Kapitel „Geist“) als miteinander versöhnt darstellen. Insofern der gläubige Mensch den 216 Dazu vgl. W3, S. 28; 38 f. und W10, S. 9-32. Hegel denkt, „daß Gott dies ist, als lebendiger Geist sich von sich zu unterscheiden, ein Anderes zu setzen und in diesem Anderen mit sich identisch zu bleiben, in diesem Anderen die Identität seiner mit sich selbst zu haben.“ V5, S. 234. Aus diesem Gedanken der Entwicklung des Gottesbegriffes (als absoluten Geistes) folgt Hegels Deutung der traditionellen christlichen Lehre, insbesondere der Lehre von der Liebe Gottes. 190 217 wahren Begriff der Religion im Begriff erfasst, d. h. er „in der Weltgeschichte zu dieser Versöhnung kommt“ (V5.269), wird diese vollendete Religion aufgehoben, mit anderen Worten: Sie hört auf, eine religiöse Gestalt zu sein, indem der Geist über die Form der Vorstellung hinausgegangen und in den begreifenden Gedanken übergegangen ist. Diese Versöhnung impliziert, dass der wahre Begriff des RELIGIÖ SEN GEISTES in der Weltgeschichte völlig entfaltet ist. Der Geist der Weltgeschichte wird in dem ganzen Prozess des erscheinenden Wissens vonseiten der religiösen Wahrheits-Gestalten dargestellt, die das Bewusstsein in seiner höchsten Form erreicht. In diesem Zusammenhang enthält Hegels Darstellung der drei Religionsgestalten einen entscheidenden Punkt: Der Verlauf der drei religiösen Formen in der PHG stellt sowohl die Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES als auch eine weltgeschichtliche Implikation dar, die paradigmatisch für Hegels folgende geschichtsbezogene Betrachtungen ist: [Der wahre Begriff der christlichen Religion] muß also in dem Selbstbewußtsein der Menschen, im Geiste an sich, im Weltgeiste so vorhanden, der Weltgeist sich so gefaßt haben […]. Dies sich so Fassen ist aber die Notwendigkeit als der Prozeß des Geistes, der in den vorhergehenden Stufen der Religion, zunächst der jüdischen, der heidischen [also griechischen und römischen] sich darstellte […]. So ist die Weltgeschichte die Darstellung dieser Wahrheit als Resultat im unmittelbaren Bewußtsein des Geistes (V5.80). Der Entwicklungsgang der Religionsgestalten liegt in dem Prozess, den Unterschied zwischen der Reihe der real existierenden Religionen und ihrem Begriff, mit Hegels Formulierungen zwischen dem Bewusstsein des Geistes und dem Selbstbewusstsein desselben, vonseiten des RELIGIÖ SEN GEISTES aufzulösen (W3.501); die Bewegung der religiösen Bewusstseinsgestalten richtet sich im Ganzen auf den Prozess der „Menschwerdung des göttlichen Wesens“, der „Menschwerdung Gottes“ (W3.545; 505) oder der „Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“ (V5.6), d. h. auf den denkerischen Zugang des menschlichen zum göttlichen Geist. Der Begriff der Religion, dass sie wesentlich das absolute Wissen des Geistes von sich ist, macht den Ansatzpunkt des religiösen Bewusstseins aus, der aber zugleich als sein Endziel vorausgesetzt worden ist, das aber in der Anfangsphase der Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES schrittweise entfaltet wird. Seine wesentliche Bestimmung, dass er sich durch seine ganze Entwicklung vollenden kann, ist nichts anderes als ein Keim zu seinem vollendeten Werden oder noch eine seiner 191 Entwicklungsstufen, solange er noch nicht zu seiner Vollendung gelangt ist. Die Momente der religiösen Bewegung bestehen deswegen aus der Reihe der besonderen Gestalten des RELIGIÖ SEN GEISTES, die als solche noch nicht in ihrer vollendeten Form bestehen. Nachdem sich der RELIGIÖ SE GEIST in der PHG eingangs von der Vergöttlichung der Naturerscheinungen (in der natürlichen Religion) bis zu der Vermenschlichung Gottes vermittels der Kunstgebilde (in der Kunstreligion) zog, gestaltet er sich als das Christentum, d. i. als die auf der Christlichkeit beruhende Religion. Die beiden vor-christlichen Religionsgestalten beschreibt Hegel zunächst wie folgt: Die erste Wirklichkeit desselben [= des RELIGIÖ SEN GEISTES] ist der Begriff der Religion selbst oder sie als unmittelbare und also natürliche Religion; in ihr weiß der Geist sich als seinen Gegenstand in natürlicher oder unmittelbarer Gestalt. Die zweite aber ist notwendig diese, sich in der Gestalt der aufgehobenen Natürlichkeit oder des Selbsts zu wissen. Sie ist also die künstliche Religion [also die Kunstreligion]; denn zur Form des Selbsts erhebt sich die Gestalt durch das Hervorbringen des Bewußtseins, wodurch dieses in seinem Gegenstande sein Tun oder das Selbst anschaut (W3.502). Die natürliche Religion liegt in dem Glauben an die fürchterliche und unverständliche Macht im Natürlichen. Die erste Form des RELIGIÖ SEN GEISTES ist nämlich nur der „Begriff“ der Religion, sofern der Entwicklungsgang des religiösen Begriffes mit der unmittelbaren Gestalt beginnt. In dieser morgenländischen Religion erscheint das Göttliche, das dem Gläubigen schlechthin fremd ist, sodass hier die Versöhnung zwischen dem Bewusstsein und dem Absoluten noch nicht zum Vorschein gekommen ist; man findet zwar auch hier mehr oder weniger den Prozess der Menschwerdung Gottes, streng genommen ergibt sich aber nur die Vergöttlichung der Natur; die eigentliche Menschwerdung Gottes fängt mit der Baukunst vom Künstler an; in dem von sich produzierten Werk – nicht in dem Natürlichen überhaupt – schaut der Mensch sein Wesen an; die Selbstanschauung des einzelnen Menschen als eines Individuums im allgemeinen oder über-individuellen Werk ist konstitutiv für Hegels Begriff der Sittlichkeit. In der altgriechischen Kunstreligion entsteht der erste Augenblick der bedeutsamen Versöhnung im RELIGIÖ SEN GEIST; im Volksfest218 wird das göttliche Wesen dem Polisbürger offenbart, wobei sich seine Andacht in die Siep (2000) bestimmt diesen Kultus als die typische Gestalt „des politisch-religiösen Gesamtkunstwerks der griechischen Kultur“. S. 229. 192 218 Begeisterung und seine Hingabe in den Selbst-Genuss verwandelt. Hegel nennt die Kunstreligion, die der altgriechischen Sittlichkeit angehört, „die absolute Kunst“ (W3.514); denn die zweite Form der Religion entspricht seinem Begriff der Kunst, dass sich in dem Kunstwerk die absolute Geistigkeit des Menschen dadurch widerspiegelt, dass man die Rinde der zufälligen Naturerscheinungen abschält219, sodass das menschliche Bewusstsein in seinem Werk zur Anschauung der Parusie des Absoluten gelangt. Die christliche Religion wird auch als die absolute Religion bezeichnet, insofern sich Gott als der absolute Geist offenbart. Die Kunstreligion ist die Religion der absoluten Kunst, soweit der absolute Geist in der Gestalt der Kunst oder in der Form der Anschauung ausgedrückt werden soll; die höchste Wahrheit der Religion liegt nicht in der Kunst, sondern er selbst ist die Christlichkeit. Die christliche Religion wird in der Religionsphilosophie als die „vollendete“ Religion angesehen; sie umfasst nämlich die beiden vorherigen Momente, genauer die Formen der „bestimmten“ Religion, die sich mit der natürlichen Religion und mit der Kunstreligion deckt. Die christliche Religion, d. h. die dritte Form der Religion in der PHG, wird nicht nur als die höchste Religionsgestalt, sondern auch als die höchste der Bewusstseinsgestalten dargestellt; sie setzt wohl die zwei vor-christlichen Gestaltungen des RELIGIÖ SEN GEISTES voraus, aber sie schließt auch alle vorherigen Gestaltungen des WELTLICHEN GEISTES in sich ein. Das absolute, göttliche Wesen gestaltet sich im Christentum für und durch das religiöse Bewusstsein, denn Gott wird erkennbar, indem er dem Gläubigen offenbar ist; was für das Bewusstsein wahrnehmbar wird, das ist ganz und gar als ein sinnliches Dasein nicht einfach im üblichen Sinne, sondern als der absolute Geist, der als aufnehmbar zu charakterisieren ist, bestimmt. Ein bloß unirdisch-himmlisches Absolutes befriedigt das religiöse Bewusstsein nicht mehr. Diese Eigenschaft, göttlich zu sein, liegt nicht darin, dass diese Gottheit von dem religiösen Bewusstsein bloß allegorisch auf etwas ihm Fremdes übertragen werden darf; sie ist vielmehr gleichsam die Parusie des Absoluten, indem das Göttliche in der Erscheinung anwesend ist. Diese allerhöchste Ausformung des RELIGIÖ SEN GEISTES nennt Hegel die offenbare Religion: Die dritte [= Wirklichkeit des RELIGIÖ SEN GEISTES] endlich hebt die Einseitigkeit der beiden ersten [d. h. der natürlichen Religion und der Kunstreligion] auf; das Selbst ist ebensowohl ein 219 Dazu vgl. W13, S. 127 ff. 193 unmittelbares, als die Unmittelbarkeit Selbst ist. Wenn in der ersten der Geist überhaupt in der Form des Bewußtseins, in der zweiten des Selbstbewußtseins ist, so ist er in der dritten in der Form der Einheit beider; er hat die Gestalt des Anundfürsichseins; und indem er also vorgestellt ist, wie er an und für sich ist, so ist dies die offenbare Religion (W3.502). Die offenbare Religion kommt aus einer tiefgründigen Vermittlung heraus, und zwar zwischen der „Unmittelbarkeit“ (bzw. dem natürlichen Göttlichen) und dem „Selbst“ (oder dem künstlichen Göttlichen), d. h. zwischen der Substanz des RELIGIÖ SEN GEISTES und dem Subjekt desselben. Die letzte Gestalt der Religion bildet bei Hegel die Synthesis der Substanzialität des Absoluten und der Subjektivität desselben. Hegels philosophischer Leitgedanke, den er in der „Vorrede“ zur PHG äußert, lautet: Man hat „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen“ (W3.23). Die Wahrheit der offenbaren Religion liegt im Subjekt, in dem die Substanz nicht verschwunden ist. Aus diesem Entwicklungsgang ergibt sich die „Vollendung der Religion“; diese bedeutet sowohl die vollendete Verwirklichung des Religionsbegriffes, dass Gott Geist ist, als auch die volle Beendigung der Form des religiösen Wissens: der Vorstellung. Der Begriff der Religion, dass Gott Geist ist, erscheint dem Bewusstsein als der Gottmensch und dadurch entstehen die Vorstellung der Menschwerdung Gottes bzw. der Versöhnung des Menschen mit dem göttlichen Wesen und die Gründung der Gemeinde. Aber das wahre Wissen von Gott ist grundsätzlich erst im begreifenden Wissen, nicht im vorstellenden, erreichbar. Wo die Religion in ihrer Vollendung steht, muss der Geist also „in den Begriff übergehen“ (W3.503), um in dieser Form des begreifenden Denkens den absoluten Geist auszuprägen; sodann erreicht das Bewusstsein das absolute Wissen. Soweit der Begriff der Religion noch in der Vorstellung des glaubenden Bewusstseins besteht, hat der absolute Geist die Form des Ansichseins; das heißt: Der an und für sich seiende Geist erscheint dem Bewusstsein nur als das Ansichsein. Indem das Bewusstsein wissen kann, was der absolute Geist an und für sich ist, gelangt es zum absoluten Wissen, in dem das Bewusstsein zur Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Versöhnung im moralischen Gewissen (d. h. der Versöhnung in der Form des Fürsichseins) und der Versöhnung in der offenbaren Religion (d. h. der in der Form des Ansichseins) (W3.579) kommt. 194 2. Der gedankliche Boden für die offenbare Religion 2.1 Die Entäußerung der Substanz Hegel erfasst den gedanklichen Inhalt des Christentums, das sich daraus ergibt, dass der RELIGIÖ SE GEIST die ihm angemessene Gestalt erlangt; sie gilt eben als die letzte und höchste Stufe des religiösen Bewusstseins, sodass in ihr der wahre Begriff der Religion vollkommen manifestiert wird. Die natürliche Religion und die Kunstreligion machen nämlich den gedanklichen Boden für die offenbare Religion; also lässt sich dies derart ausdrücken, dass der Geist der Religion von der altmorgenländischen Welt (in der natürlichen Religion) aus durch das altgriechischen Welt (in der Kunstreligion) und schließlich zum christlichen Prinzip hingeführt wird; die offenbare Religion ist die Synthesis der altorientalische Substanzialität und der griechischen Subjektivität. Zur gedanklichen Basis der christlichen Religion in der PHG zählt aber (neben des RELIGIÖ SEN GEISTES) auch der WELTLICHE GEIST (von dem Kapitel „Bewußtsein“ bis zum Kapitel „Geist“); denn Hegels These des christlichen Wahrheit, die im Grunde auf der ursprünglichen Urkunde der von seinem Stifter aufgebauten Lehre beruht, setzt weltgeschichtlich den ganzen Bildungsprozess des menschlichen Geistes (einschließlich des Hegel selbst zeitgenössischen philosophischen Gedankens) voraus. Daraus ergibt sich, dass es sich dabei nicht allein eindimensional um die Grundlage für die Herausbildung der christlichen Religion handeln soll. Die philosophischen Ü berlegungen darüber, welche Bewandtnis es mit dem „Boden für eine höhere geistige Welt“ (W12.386) oder mit der „Inkubation des offenbaren Geistes“220 hat, sind nämlich dynamisch beschaffen. Deshalb kann man erkennen, dass – wenn man den Gedankengang zum Christentum in der PHG mit Hegels Bezeichnung „Knoten“ und „Bund“ (W3.500 f.) 221 vergleicht, in der offenbaren Religion vorherige gedankliche Knotenlinien, also sowohl im vor-religiösen oder WELTLICHEN Geist als auch in den zwei Gestalten des religiösen Bewusstseins, d. h. in der natürlichen Religion und in der Kunstreligion, in einem philosophischen Bund, d. h. Bündel, gleichzeitig und parallel auftreten. In der Zwischenzeit der Gedankengeschichte nähert sich das erscheinende Wissen allmählich seiner wahren Ebene an. Erst durch diese graduelle Selbstentwicklung des Geistes entsteht ein scheinbar abrupter Sprung zu einer gänzlich neuen Periode, wie von 220 221 Scheier (1986), S. 591. Dazu vgl. den Teil I, C. 2. 5. „Religion: der absolute Geist in Form der Vorstellung“. 195 Hegel als ein „qualitativer Sprung“ benannt, der in der „Vorrede“ folgendermaßen klargemacht wird: [W]ie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht - ein qualitativer Sprung - und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet [...]. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt (W3.18 f.). Inzwischen wird das Bewusstsein, das die Geburt der neuen Welt (obwohl sie sich noch nicht deutlich zeigt) vor Augen hat, unvermeidlich von dem „Leichtsinn“ und von der „Langweile“ ergriffen, soweit die Entfremdung des Geistes nicht vollständig überwunden ist. Es erfährt sogar mit Schmerz, dass die bisherigen substanziellen Stützen nicht mehr für das Bewusstsein einen Anspruch der Wahrheit und Verbindlichkeit erheben können, und dass seine Hoffnung auf die Geburt der neuen Periode trotzdem noch nicht verwirklicht ist. Diese Situation drückt im Allgemeinen die Zweischneidigkeit der Ü bergangsperiode aus. Die Aufgabe der PHG liegt darin, darzulegen, wie „Leichtsinn“ und „Langweile“ überwunden werden. Der Ü berwindungsprozess geschieht dadurch, dass der sittliche Geist durch seine SelbstEntäußerung endlich zu seiner Wahrheit gelangt. Hegels Darstellung der offenbaren Religion beginnt mit dem folgenden Satz: Durch die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten (W3.545). Daraus lässt sich folgern, dass die sittliche Kunstreligion den Boden für die Herausbildung der christlichen Religion ausmacht. Aber es ist an dieser Stelle m. E. auf zwei Punkte sorgfältiger zu achten: Der eine ist zunächst die Präposition: „[d]urch“. Die christliche Religion ist einesteils einen bestimmten Zeitraum (d. h. nach der altgriechischen Zeit in der Weltgeschichte) hindurch 196 aufgetreten. Die offenbare Religion ist erst an demjenigen Zeitpunkt notwendig, wo alle Gestaltungen in der Kunstreligion hinfällig werden. Indem der RELIGIÖ SE GEIST nämlich durch die Kunstreligion völlig hindurchgegangen ist, ist er „über“ den Geist der Kunstreligion „hinaus“ (W3.514), sodass die offenbare Religion zum Vorschein kommt. Der zweite Punkt ist Hegels Formulierungen: der „aus der Form der Substanz in die des Subjekts getreten[e]“ Geist. Der RELIGIÖ SE GEIST ist nämlich über die Form der Substanz hinausgetreten und bereits in die Form des Subjekts hineingetreten. Die Kunstreligion hat zwar schon die Substanz sich in das Subjekt verwandeln lassen. Die Kunstreligion charakterisiert Hegel nämlich als die Religion der Subjektivität im Unterschied zur orientalischen Anschauung des Absoluten als Substanz. Die sittliche Gesinnung in der altgriechischen Welt war aber das unerschöpfliche Vertrauen, das der Polisbürger seinem Gemeinwesen entgegengebracht hat. Dieses Ethos ist nun verschwunden; der Geist geht über seine Substanz hinaus, sodass er in seiner Subjektivität sein absolutes Wesen sieht. Der Geist in der antiken Welt ist bei Hegel streng genommen selbstlos; die Ursache dafür ist entweder die Furcht vor der überwältigenden Substanz oder das reflexionslose Vertrauen zu ihr. In den Gestaltungen der natürlichen Religion (insbesondere im „Lichtwesen“ als ihrer ersten Stufe) war „das schöpferische Geheimnis“ (W3.505) dem Bewusstsein schlechthin fremd. Dieses Göttliche heißt „das furchtbare [Wesen] der Naturmacht“ (GW8.280), deren Furchtbarkeit aus dem Abstand zwischen der Substanz und dem Subjekt resultiert; 222 dadurch war das Selbstbewusstsein „in der furchtbaren Substanz“ (W3.545) noch nicht gesichert. Sogar die Subjektivität der Kunstreligion ist noch nicht subjektiv. Die antike Sittlichkeit liegt darin, dass sich das sittliche Volk in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz glückselig fühlt. Der griechische Staatsbürger ist vereinigt mit dem göttlichen Wesen und in Harmonie mit dem Prinzip des Gemeinwesens; dementsprechend tritt die freie menschliche Gestalt in den griechischen Götter-Statuen heraus. Er konnte sich jedoch als ein einzelnes Subjekt der Reflexion nicht auffassen. Der Geist der sittlichen Religion in der griechischen Welt beruhte nämlich nur auf der Sitte, d. i. auf der Gewohnheit, aber nicht auf seiner besonnenen, selbstbewussten Reflexion; das frühe Bewusstsein der Sittlichkeit, etwa die Gesinnung von Antigone, war voller Zuversicht, dass ihre „unbefangene Sittlichkeit“, die gleichwohl noch nicht im Standpunkt der Moralität besteht (W12.137), sogleich die ewige Wahrheit sei; das Mitglied des sittlichen Gemeinwesens wird daher als das selbstlose 222 Dazu vgl. Häußler (2008), S. 377. 197 Selbst entpuppt, das „an die furchtbare unbekannte Nacht des Schicksals“ (W3.495) fraglos glaubte. Allein der explizite Entwicklungsprozess der vorchristlichen Religionsgestalten ist zeitgleich die Abfolge der impliziten Umgestaltung zur Selbstbewusstwerdung des Geistes. Der Ü bergang von der blinden Ehrfurcht vor der Naturmacht bis zum „Leichtsinn“ des Bewusstseins ist nämlich als Prozess der Menschwerdung Gottes zu betrachten. Dieser Anthropomorphismus geschah schon in der natürlichen Religion, aber eigentlicher in der Kunstreligion, indem der „geistig[e] Arbeiter“ (W3.512) durch seine Tätigkeit die ihm eigene Gestalt der Gottheit herstellt hat. Diese eigentliche Menschwerdung macht „den Kreis der Hervorbringungen der Kunst“ (W3.548) aus. In dem Kunstgebilde meinte das sittliche Bewusstsein, es sehe bei den Gottesgebilden das, was es selbst ist. Aber in dem „geistigen Kunstwerk“ als der letzten Stufe der Kunstreligion kamen die „Entvölkerung des Himmels“ und die „allgemeine Auflösung der gestalteten Wesenheit“ (W3.540; 542) vor; dadurch hat sich für das Bewusstsein die wirkliche Ohnmacht seines Gottes aufgetan. Das Bewusstsein der „Komödie“ (im Abschluss der Kunstreligion) sprach aus: Das Selbst ist das absolute Wesen (W3.545). Dieses letzte Bewusstsein in der Kunstreligion hat alles Vertrauen zur furchtbaren und geheimnisvollen Substanz zerstört, indem das „Selbst“ sein absolutes Recht in Anspruch genommen hat. Die Subjektivität des Geistes bildet nun die Basis für das Wesentliche in der Welt; diese Wesenhaftigkeit besteht ausschließlich im Zutrauen zu sich bzw. in der Selbstgewissheit. Der in der Form des Subjekts bestehende Geist ist unter diesen Umständen das einzelne „Selbst“, das zugleich seine Gesinnung zu seinem Substrat macht. In diesem Zusammenhang lässt sich die Gesamtbewegung der beiden vor-christlichen Religionen folgendermaßen ausdrücken: Der RELIGIÖ SE GEIST geht von der extremen Substanzialität des absoluten Wesens (im „Lichtwesen“ als der ersten Gestalt der natürlichen Religion) zu der ebenfalls extremen Subjektivität desselben (in der „Komödie“ als der letzten Gestalt der Kunstreligion) über; dieser Entwicklungsgang wird von Hegel als die Menschwerdung Gottes bezeichnet, die zur Entäußerung oder Depotenzierung der Substanz führt, indem der Geist auf die zugespitzte Ebene der Subjektivität gelangt. Wir (also vom Standpunkt der Wissenschaft aus) können also in der Ausbildungsgeschichte der vorchristlichen Religionen den notwendigen Ü bergang in die Form des Subjekts erblicken; 198 der gesamte Entwicklungsgang des RELIGIÖ SEN GEISTES impliziert gleichwohl den (für das Bewusstsein selbst) „bewußtlos[en]“ (W3.549) Ü bergang vom selbstlosen „Selbst“ zum Selbstbewusstsein des Subjekts. 223 Diesen Umstand nennt Hegel die „Entäußerung der absoluten Substanz“ oder „ihr Werden zum Selbstbewußtsein“ (W3.548 f.). 2.2 Die Entäußerung des Selbstbewusstseins Die Struktur des Ü bergangs von der natürlichen Religion zu der Kunstreligion ist nicht einfach eindimensional; sie ist nicht einfach als die lineare Bewegung, also der bloße Ü bergang von Substanz des Absoluten zum Subjekt desselben, anzusehen. Oberflächlich scheint zwar es, als ob es stufenweise erst die Geltendmachung der Substanz, dann deren Untergang und endlich den allmählichen Aufgang des selbstbewussten Subjekts gäbe. Aber die absolute Selbstgewissheit des Subjekts (also der obige Eigensinn des Komödiendarstellers: „Das Selbst ist das absolute Wesen“) bringt das Bewusstsein in eine komplett andere Phase. Die Entmachtung der Substanz bedeutet vom spekulativen Standpunkt aus also zugleich die „Entäußerung des Selbstbewußtseins“ (W3.549); je mehr das Bewusstsein von sich selbst gewiss wird, desto mehr wird die des Geistes von seiner Substanz geschwächt. Die Entäußerung der Substanz führt zur Entäußerung des Selbstbewusstseins. Die beiden Entäußerungen verlaufen also aus dem spekulativen Blickwinkel vielmehr parallel; die Entkräftung der Substanz bedingt jedoch geradezu die Entkräftung des Selbstbewusstseins, weil die Substanz die Grundlage für den selbstbewussten Geist bildet. Durch den Entwicklungsgang der beiden vorchristlichen Religionen entsteht die absolute Religion, deren Wahrheit in dem Subjekt liegt, in dem die Substanz ebensosehr aufbewahrt ist. Nachdem sich die Kunstreligion in der „Komödie“ vollendet hat, kommt zum religiösen Bewusstsein die Einsicht in die Entlastung der Furchtbarkeit bzw. Rätselhaftigkeit; die Entäußerung der Substanz wird allerdings nun mit der Substanz- bzw. Haltlosigkeit belastet. Die Hervorhebung des Subjekts, die mit der Entäußerung der absoluten Substanz zusammenfällt, wirkt sich darauf aus, dass, indem jedes absolute Wesen außerhalb des Bewusstseins hinfällt, ihm „nichts in der Form des Wesens gegenübertritt“ (W3.545). Daraus Dazu vgl.: „Religionsgeschichtlich ist mit dem unbewußten Übergang zum Selbstbewußtsein klarerweise der Schritt von der natürlichen zur Kunst-Religion gemeint.“ Schmidt (1997), S. 400. 199 223 folgt sogleich, dass der Geist „sein Bewußtsein“, genauer seinen Gegenstand, „verloren“ (W3.545) hat. Dadurch, dass sich die Substanz ihrer Wesenheit entäußert, gibt es für das Bewusstsein überhaupt keine gegenständliche Substanzialität. Das leichtsinnige Subjekt, das sich an der Selbstgewissheit erfreute, erfährt sogleich, dass alle Hoffnungen auf das glückselige Leben vielmehr gescheitert sind, weil die Haltlosigkeit des subjektorientierten Geistes dieses schicksalhafte Erlebnis bedingt. Ü ber diesen Umstand schreibt Hegel: Indem also das Vertrauen gebrochen, die Substanz des Volks in sich geknickt ist, so ist der Geist, der die Mitte von bestandlosen Extremen war, nunmehr in das Extrem des sich als Wesen erfassenden Selbstbewußtseins herausgetreten. Dieses ist der in sich gewisse Geist, der über den Verlust seiner Welt trauert und sein Wesen, über die Wirklichkeit erhoben, nun aus der Reinheit des Selbsts hervorbringt (W3.514). Dieser substanzlose Zustand ereignet sich folgendermaßen: Der wackere Ausspruch des Selbstbewusstseins: „Das Selbst ist das absolute Wesen“ bedeutet einerseits, dass das religiöse Bewusstsein restlos verschwunden ist, da es keine Substanz mehr im Bezug auf die Religion gibt. Wo es keine Substanz in der Außenwelt gibt, da gibt es auch keinen Gott, an den das Bewusstsein glauben könnte. Das „Selbst“, das unumgänglich den schmerzhaften Substanzverlust erlebt, stößt einen Seufzer aus, dass „Gott gestorben ist“ (W3.547). Weil nach der Vollendung der Kunstreligion ihr eigenes Religionsgebilde nicht mehr beherrschend ist, kann man sagen, dass der RELIGIÖ SE GEIST in der nach-kunstreligiösen Welt in den „nichtreligiösen“ (W3.545) Geist, der „die götterlose Welt“ (W12.139) darstellt, zerfallen ist. Dass der sittliche Geist, also der wirkliche Geist in der griechischen Welt, verloren gegangen ist, bedeutet nicht nur den Tod der griechischen Götter sondern auch den „Tod des sittlichen Lebens“ (W7.511), den Hegel in der altrömischen Epoche erblickt. Nach dem Untergang der sittlichen Welt entsteht das einzelne Bewusstsein, das fest auf sein Wesen vertraut. Jedes Bewusstsein will seine Freiheit in seiner Außenwelt geltend machen; es will, um seinen freien Willen zu verwirklichen, zunächst von seinem Anderen als ein rechtliches freies Subjekt anerkannt werden. Dieses Subjekt wird als die rechtliche „Person“ im römischen „Rechtszustand“ dargestellt, die zwar sagt, „das Selbst als solches, die abstrakte Person ist absolutes Wesen“ (W3.546). Allerdings ist dieser Rechtsanspruch, dass jede Person dazu berechtigt sei, etwas zu besitzen und sich anzueignen, wie bereits 200 gesagt, vergebens, denn es gibt auch die Möglichkeit, nichts zu besitzen und sich anzueignen. Die eigenständige Herrschaft des Kaisers in der römischen Welt ist des Weiteren vielmehr ein Beleg für die tatsächliche Abhängigkeit der Persönlichkeit. Der Volksgeist in der sittlichen Welt ist dadurch gescheitert, dass die ontologische Grundlage für ihre Subsistenz „entsittlicht“ (W12.349) ist. In diesem entsittlichten Rechtszustand kann die Sittlichkeit nicht mehr vorhanden sein; demgemäß bleibt nun bestenfalls das „geistlose Gemeinwesen“ oder der „gestorbene Geist“ (W3.355) übrig. Mit diesem Untergang der griechischen Sittlichkeit fällt der Untergang der Kunstreligion zusammen. Das Bewusstsein in der nachkunstreligiösen Welt ist nicht mehr in der Lage, die lebendige Einheit mit dem absoluten Wesen zu erleben. Das Bewusstsein in der nachsittlichen Welt hofft, dass seine Würde in der Form des reinen Gedankens – als „Stoizismus“ und „Skeptizismus“ im Kapitel „Selbstbewußtsein“ – unangetastet bestehen bleiben kann. Der Anspruch darauf, im reinen Gedanken frei zu bleiben, stürzt um der tatsächlichen Substanzlosigkeit willen wie ein Kartenhaus ein. Die dieser römischen Welt entsprechende Religionsgestalt wird zwar in der PHG nicht explizit dargestellt; im Kapitel „Selbstbewußtsein“ kommt neben der obigen hellenistischen philosophischen Gestaltungen nur das unglückliche Bewusstsein vor. Aber in der Religionsphilosophie wird hingegen die römische Religion, die mit der Religion der „Zweckmäßigkeit“ oder des „Verstandes“ bezeichnet wird, in aller Ausführlichkeit behandelt (V4a.95 ff.; 397 ff.; 579 ff.). Also darf niemand meinen, dass der Geist in der römischen Welt außerhalb der Religion stehe, weil auch die Substanzlosigkeit in der römischen Welt par excellence konstitutiv für den Entwicklungsgang des RELIGIÖ SEN GEISTES ist. Dessen Erlebnis über den Selbstverlust bringt ihn zur höheren religiösen Reflexion; die Entäußerung des Selbstbewusstseins macht einen anderen gedanklichen Boden für die neue Religion aus. Der Inhalt der Entäußerung wurde schon im Kapitel „Selbstbewußtsein“ bzw. „Geist“ – im Kontext des Untergangs der antiken Sittlichkeit – dargestellt. Während die dortige Darstellung jedoch den nur an sich notwendigen, also unbewussten Ü bergang zum Verfall der Sittlichkeit betraf, ist das Selbst an dieser Stelle nun für sich, also darüber bewusst, wie und warum es sich so verhält. Die Entäußerung des Selbstbewusstseins besteht in dem Wissen über das „tragische Schicksal“, dass aus der Entäußerung der Substanz der „Verlust“ des glückseligen Lebens und der ihm nachfolgende „Schmerz“ (W3.547) resultieren. Dieses tragische Bewusstsein ist m. E. nicht einfach als das Bewusstsein des Helden in der „Tragödie“, das dem glücklichen Bewusstsein in der „Komödie“ vorherging, zu verkennen. Das Bewusstsein in der Tragödie beruht noch auf 201 dem Zutrauen zu der Substanz; davon ausgehend glaubt es, die Versöhnung zwischen dem „Selbst“ und dem „Wesen“ sei immer möglich. Dieses Bewusstsein stellt selbstverständlich das sittliche Bewusstsein dar. Im Gegensatz dazu bedeutet das Wissen von dem tragischen Schicksal in der nachsittlichen Welt, dass die Glückseligkeit des sittlichen Lebens nun verschwunden ist. Diese ganze Abfolge der Bewusstseinsentwicklung in dieser Phase lässt sich wie folgt beschreiben: das Bewusstsein in der Tragödie => das Bewusstsein in der Komödie => das tragische Bewusstsein, das zur Einsicht in das Schicksal des kunstreligiösen Bewusstseins kommt. Das Wissen über diesen Verlust und Schmerz ist also durchwegs das Wissen über den Selbstverlust. Aus dem obigen lässt sich folgern: Das „Selbst“ ist sich nun seiner Lage bewusst; dieses Selbst-Bewusstsein fühlt sich traurig, da ihm etwas Schicksalhaftes widerfahren ist. Es weiß, dass sein Leben nicht vom Glück begünstigt ist und auch dass es so ungeschickt ist, dass sein Vollzug missglückt ist. Das sein Unglück wissende „Selbst“ kann man das unglückliche Bewusstsein (Im Abschluss des Kapitels „Selbstbewußtsein“), aber eigentlicher das „unglückliche Selbstbewußtsein“ (W3.547) nennen. 224 Das unglückliche Bewusstsein impliziert, dass die Anschauung des absoluten Wesens verloren gegangen ist. Dieses Moment des verunglückten Bewusstseins fungiert in der Geburtsphase der offenbaren Religion als das eine Grundmoment, das sich aus der Entäußerung des Selbstbewusstseins ergibt. Das unglückliche Selbstbewusstsein weiß, dass die Person doppelsinnig – sei es im „unmittelbaren“ oder rechtlichen Sinne (bei der römischen Welt) oder im „vermittelten“ oder „gedachten“ Sinne (bei der hellenistischen Philosophie) – ihren Wert vollständig verloren hat und dass die Vollziehung seines Willens vielmehr als den vollkommenen Verlust desselben bedeutet (W3.547); das unglückliche Selbstbewusstsein ist „dieser seiner bewußte Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich“ (W3.547). Sein schmerzhafter Ü berblick darüber, dass die griechische Sittlichkeit durch den Tod der olympischen Götter verunglückt ist, bedeutet gleichfalls die Einsicht in das Verlorengehen des heiteren, angenehmen Kunstgenusses, durch den sich das Bewusstsein mit seinem Wesen versöhnte. Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ bezeichnet Hegel dieses „Selbst“ als das unglückliche Bewusstsein. Der Ausdruck des unglücklichen Selbstbewusstseins trat in der PHG außer an dieser Stelle schon einmal im Abschnitt „beobachtende Vernunft“ als erster Abschnitt im Kapitel „Vernunft“ auf. W3, S. 260. Warum es zwischen dem unglücklichen Bewusstsein und dem unglückliche Selbstbewusstsein einen bedeutsamen Unterschied gibt, lässt sich folgendermaßen erläutern: Das erste wurde im Grunde „als Gestalt der substanzlosen Bewegung“ (392) dargestellt, das letzte liegt hingegen im noch tieferen Sinne. Dieses Selbstbewusstsein ist nämlich nicht nur an sich unglücklich, sondern weiß auch für sich, dass es an sich so ist, sodass es zur Selbstentäußerung führt. Um diesen Punkt des verunglückten Bewusstseins zu betonen, benutzt Hegel die Redewendung unglückliches Selbstbewusstsein. 202 224 [Also] ist das Vertrauen in die ewigen Gesetze der Götter, wie die Orakel, die das Besondere zu wissen taten, verstummt. Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, so wie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist, die Tische der Götter ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtsein nicht die freudige Einheit seiner mit dem Wesen zurück (W3.547). Der Augenblick der herrlichen Versöhnung bei der Kunstreligion, also die „Religion der schönen Kunst“ (W10.368), ist nun hinfällig; in den Kunstwerken ist nämlich die Kraft des Geistes nicht mehr erkennbar. Das Kunstwerk selbst war für das sittliche Bewusstsein das Symbol für sein glückliches Schicksal, das ihm seine Schutzgöttinnen, d. h. die Musen, reichten. Diese Werke der Kunstreligion wurden sozusagen als „schöne Früchte“ (W3.547), i. e. als ein Paradigma für „die schöne Sittlichkeit“ (W12.138), veranschaulicht. Aber die schönen Gebilde der Kunstreligion sind nunmehr vergänglich; jene Früchte sind nicht mehr lebendig, weil sie nur die Relikte der vergänglichen Herrlichkeit sind. Ü ber die Werke der Kunstreligion schreibt Hegel folgendermaßen: Sie sind nun das, was sie für uns sind, - vom Baume gebrochene schöne Früchte: ein freundliches Schicksal reichte sie uns dar, wie ein Mädchen jene Früchte präsentiert; es gibt nicht das wirkliche Leben ihres Daseins, nicht den Baum, der sie trug, nicht die Erde und die Elemente, die ihre Substanz, noch das Klima, das ihre Bestimmtheit ausmachte, oder den Wechsel der Jahreszeiten, die den Prozeß ihres Werdens beherrschten (W3.547 f.). Diese vom Baume gebrochenen Früchte sind nämlich von der substanziellen Grundlage für die Samenreife, d. i. von organischen Pflanzenteilen, von den Naturkräften und von der Umwelt, abgebrochen worden. Dementsprechend ist auch die Wirklichkeit des sittlichen Lebens nicht mehr gegenwärtig, sodass es nur die Erinnerung an eine solche vergangene Wirklichkeit gibt; die Kunsterfahrung ist kein mehr „gottesdienstliche[r]“ Genuss, sich in die sittliche Welt „hineinzuleben“, sondern eher gibt es die bloß „äußerliche“ Beschäftigung, nur die vergangene Wirklichkeit „in sich vorzustellen“ (W3.548). Die Glückseligkeit des sittlichen Lebens bedeutet die Erinnerung an das vergangene Glück. 203 Der „Gedanke der vergangenen Kunst“ 225 liegt im Wissen über den doppelsinnigen Verlust des – also sowohl WELTLICHEN als auch RELIGIÖ SEN – GEISTES. Das Wissen des nachsinnenden Bewusstseins setzt sich von dem reflexionslosen „Wohlsein“ (W3.544) des Bewusstseins, die Kunstwerke zu genießen, deutlich ab. Dieses „Selbst“, das in der Komödie ausgedrückt wird, vollzog eine endgültige Entäußerung der Substanz, doch es ist sich gänzlich dessen unbewusst, dass sich seine Substanz für seine Gewissheit von sich geopfert hat; das unglückliche Selbstbewusstsein, das von seinem tragischen Schicksal (also von der Tatsache, dass Gott tot ist) weiß, ist sich hingegen durch und durch der Tatsache bewusst, dass es die ganze Verlorenheit des Wesens gibt. Also kann man sagen, dass dieses Wissen um seinen Status quo aus der Entäußerung des Selbstbewusstseins folgt. Das Bewusstsein in der Komödie und das verunglückte Selbstbewusstsein bestehen freilich in demselben Weltzustand. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass das erste unbewusstglücklich, das zweite bewusst-unglücklich ist. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass sich aus dem zweiten ein qualitativer Sprung zur neuen Ebene des Geistes ergibt. 2.3 Die Entstehung der offenbaren Religion Aus der obigen zweifachen Entäußerung ergibt sich die letztendlich-allerhöchste Weltreligion; diese Entäußerungsgeschichte ist daher die Vorgeschichte der christlichen Religion. Daran lässt sich eine noch tiefere Einsicht in den Inhalt der offenbaren Religion ablesen; sie bildet einesteils die Synthesis der natürlichen Religion und der Kunstreligion, aber andernteils die höchste Synthesis des vorchristlichen RELIGIÖ SEN GEISTES und des nachsittlichen WELTLICHEN GEISTES, sodass man den Grund dafür feststellen kann, warum Hegel die Religion als „die einfache Totalität“ ausdrückt, die „den ganzen Ablauf“ der vorreligiösen Bewusstseinsgestalten voraussetzt (W3.498). Davon ausgehend analysiert Hegel die Entstehungsgeschichte der offenbaren Religion, die realiter in der römischen Welt entstanden ist, mit diesen beiden Momenten: dem glücklichen Bewusstsein (als dem Müller (2004) S. 240. Hier geht es um Hegels These vom „Vergangenheitscharakter der Kunst“. Ebd. S. 241. In seiner Kunstphilosophie erwähnt Hegel hinsichtlich dieser Thematik Folgendes: „Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können. [...] Die schönen Tage der griechischen Kunst […] sind vorüber“. W13, S. 24. Seine berühmte – trotzdem nirgends in seinen Schriften explizit formulierte – Thematik vom „Ende der Kunst“ ist, wie Jaeschke (1982) beweist, erst „im Kontext ihres Verhältnisses zur Religion zu erörtern“. S. 184. Der Untergang der sittlichen Religion führt im Hinblick auf die Ä sthetik zur Einsicht der Vergangenheit der (klassischen) Kunst(-form). 204 225 Leichtsinn des Komödiendarstellers), das zum Untergang der sittlichen Welt führt, und dem unglücklichen Bewusstsein (als dem tragischen Schicksal, dass die olympischen Götter gestorben sind), das in dem römischen „Rechtszustand“ lebt und aus dem sich die hellenistische Philosophie ergibt. Die Erinnerung an die einstige Glückseligkeit ist gleichbedeutend mit Hegels nachdenklicher Retrospektive darauf, warum der Geist der sittlichen Kunstreligion verloren ist. Gleichwohl ist diese Reminiszenz nicht einfach als Heimweh nach dem Vergangenen anzusehen. Die Diagnose, dass die schönen Früchte vergänglich sind, verkörpert geradewegs Hegels praktisch-philosophische Bemühung darum, auf der Ebene des christlichen Prinzips das glückliche Leben zu erneuern.226 Mit diesem Zusammenhang versucht Hegel, den Inhalt der obigen Erinnerung denkerisch umzudeuten. Die Erinnerung bleibt nicht im Rahmen der Rückschau auf die Vergänglichkeit, sondern besteht „im reinen spekulativen Wissen“ (W3.554). Dadurch kann man die beiden Bewegungen der Entäußerung – sei es diejenige der Substanz oder die des Selbstbewusstseins – als dialektisch, doch – nicht bloß im „negativ-vernünftige[n]“, sondern ebenso sehr im „positiv-vernünftige[n]“ Sinne (W8.168) – als spekulativ interpretieren. Diese Spekulation bringt uns zu dem Gedanken des sich selbst wissenden, also selbstbewussten, Geistes. Die nachsittliche Epoche bedeutet nicht bloß das Ende der schönen Sittlichkeit, sondern eigentlicher die Schwelle zum neuzeitlichen Gedanken. Der Ü bergang der griechischen Sittlichkeit zur offenbaren Religion besteht darin, durch die spekulative Umkehrung, welche die substanzlose Reflexion des Bewusstseins (in der „Bildung“) und die absolute Gewissheit des Subjekts (in der „Moralität“) erneuert, (erst anhand der spekulativen Ü berlegung des christlichen Prinzips) die Substanzialität des Geistes erringen, und zwar ohne auf die Subjektivität desselben zu verzichten. Zusammengefasst: Durch den philosophischen Sinneswandel der Erinnerung erweist sich der neuzeitliche Geist als der substanziell-subjektive Geist. Von der Notwendigkeit dieses Ü bergangs ausgehend bemerkt Hegel mit Emphase eine drastische Umkehrung des Perspektivs: Das unglückliche Selbstbewusstsein, das über sein Dazu vgl.: „Die Kunstreligion, die allein auf die Antike zu verweisen scheint, ist zugleich eine Figur, die erst in der Moderne gedacht und entfaltet werden kann.“ Müller (2004), S. 237.; „Hegel beschreibt mit seinen poetisch-nostalgischen Wendungen kaum das Bewußtsein des frühen Christentums, sondern eher das seiner Zeit […] Offenkundig schreibt er seiner eigenen Philosophie die Aufgabe zu, auf dem Boden des Christentums, der Erfüllung des Begriffs der Religion, die glückliche griechische Religion durch eine begreifende Erinnerung neu zu beleben.“ Siep (2000), S. 235. 205 226 tragisches Schicksal weiß, steht höher als das glückliche Bewusstsein der schönen Kunstreligion. [Denn] wie das Mädchen, das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist als die in ihre Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfaßt, so ist der Geist des Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, mehr als das sittliche Leben und Wirklichkeit jenes Volkes (W3.548). Der Geist des tragischen Schicksals versenkt sich in seine innigste Tiefe, und zwar mit seinem „selbstbewußten Auge“. Das Wissen von sich ist ein Kernpunkt für den Ü bergang zum neuen Geist (W3.19). Hegel proklamiert diese Diagnose in seiner Kunstphilosophie mit dem folgenden Satz: „Der Gedanke und die Reflexion hat [sic!] die schöne Kunst überflügelt“ (W13.24). Der Grund dafür ist, dass sich aus der Reflexion des Selbstbewussteins das Wissen der subjektiven Reflexion ergibt. Diese philosophische Einsicht des neuzeitlichen Geists nennt Hegel die „Er-Innerung“ (W3.548), also die denkerische Verinnerlichung. Das Selbstbewusstsein erinnert sich auf der spekulativen Ebene nun an die bisherigen Bewegungen der Entäußerung. In seinem tiefsten Inneren reift seine Reflexion in sich endlich zum spekulativen Rückblick auf den schon in der Welt gewesenen Geist. Der Schlusspunkt der Entäußerung der Substanz ist eben der Ansatzpunkt der Entäußerung des Selbstbewusstseins, allerdings ist er in der Tat auch der Ausgangspunkt des christlichen Prinzips. 227 Die beiden Böden für den neuzeitlichen Geist verschmelzen denkerisch miteinander, hiermit sind sie als die geistesgeschichtliche Vorarbeit für die Entstehung des Christentums zu interpretieren. Alle Bedingungen seines [= des neuzeitlichen Geistes] Hervorgangs sind vorhanden, und diese Totalität seiner Bedingungen macht das Werden, den Begriff oder das ansichseiende Hervorgehen desselben aus (W3.548). Die eine Bedingung ist die Bewegung der Entäußerung der Substanz, die andere ist die der Entäußerung des Selbstbewusstseins. Die beiden machen zwar jeweils einen eigenen 227 Zu dieser Janusköpfigkeit vgl. z. B. Scheier (1986), S. 589-591. 206 eingeschlossen-eigenständigen „Kreis“ (W3.548) aus. Sie taten sich dem erscheinenden Bewusstsein anscheinend eindimensional auf, aber die Einseitigkeit von beiden wird dadurch überwunden, dass sie zu notwendigen Momenten des neuen Geistes werden. Ü ber diese beiden Bedingungen – die Kunstreligion (in der altgriechischen Welt) und die rechtliche oder gedankliche Persönlichkeit (in dem römischen „Rechtszustand“ und in der hellenistischen Philosophie) – schreibt Hegel Folgendes: [Die sittliche Religion und die nachsittliche Welt] machen die Peripherie der Gestalten aus, welche erwartend und drängend um die Geburtsstätte des als Selbstbewußtsein werdenden Geistes umherstehen; der alle durchdringende Schmerz und Sehnsucht des unglücklichen Selbstbewußtseins ist ihr Mittelpunkt und das gemeinschaftliche Geburtswehe [sic!] seines Hervorgangs (W3.549). Wenn man diese Situation mit der Drehbewegung228 eines Körpers in der Physik vergleicht, lässt sich Folgendes sagen: Diese Peripherien sind mit dem Vektor der Kreisbewegung vergleichbar; denn sie sind die Resultante, d. i. die Summe, von der Zentripetalkraft (bestehend aus dem unglücklich-bewussten „Selbst“) und der Zentrifugalkraft (aus dem glücklichen-unbewussten „Selbst“). Ein eingeschlossener Kreis wird nun zur Peripherie der gedanklich hochrangigen Gestalt, die sich ebenso kreisförmig, aber auf der höheren Stufe bewegt. Der Kreis des unglücklichen Selbstbewusstseins liegt zwar in der Bestimmung, unaufhörlich, doch immer vergebens die Geburt des neuen Geistes (W3.19) herbeizusehnen. Indem sich das Selbstbewusstsein an diese Peripherie erinnert, muss der neue Geist offenbar werden. Das traurige, doch nüchterne Selbstbewusstsein, das den Dreh- und Angelpunkt dieser Bewegung ausmacht, will um jeden Preis auf die Geburt der neuen Religion hinaus. Dieser ganze Prozess wird durch die spekulative „Er-Innerung“ (W3.548) begrifflich erfasst. Das unglückliche Selbstbewusstsein beschränkt sich nicht einfach auf die eine bestimmte Phase, etwa die hellenische Philosophie und die jüdische Religion; es gelangt während der gesamten Herausbildung der offenbaren Religion in der PHG auf die noch höhere Stufe. Weil die christliche Religion weiterhin alle dem Kapitel „Religion“ vorangegangenen Gestaltungen voraussetzt, reihen sich die bisherigen Erfahrungen des Bewusstseins in einer 228 Bei Drehbewegungen bewegt sich der Körper kreisförmig. Diese Kreisbewegung folgt aus irgendeinem Ergebnisvektor als der Summe zweier sich gegenseitig widersprechender Vektoren: Der erste ist die Zentripetalkraft, welche zum Mittelpunkt der Bewegung hin gerichtet ist, der andere die (nur theoretisch vorausgesetzte) Zentrifugalkraft, welche nach außen, d. h. vom Mittelpunkt direkt weg fliehen will. 207 neuen Abfolge auf. Daher kann man sagen, dass zur Peripherie der Gestalt das unglückliche Selbstbewusstsein – neben der Kunstreligion oder des Rechtszustandes – die zwei letzten Abschnitte des Kapitels „Geist“, die von der Bildung zur Moralität reicht.229 Obgleich das Christentum kurz nach der Auferstehung Christi entstand, ist seine Lehre dem damaligen Weltzustand noch nicht angemessen. Der Geist muss somit die harte geistige Arbeit übernehmen, den Inhalt der Christlichkeit zu erringen. Der Grund dafür ist Folgendes: Das Geschäft der Geschichte ist nur, daß die Religion als menschliche Vernunft erscheine, daß das religiöse Prinzip, das dem Herzen der Menschen inwohnt [sic!], auch als weltliche Freiheit hervorgebracht werde […]. Für diese Verwirklichung ist jedoch ein anderes Volk oder sind andere Völker berufen, nämlich die germanischen. Innerhalb des alten Roms selbst kann das Christentum nicht seinen wirklichen Boden finden (W12.405 f.). Wenn alle Bedingungen endlich vorhanden sind, so tritt das Christentum „in die Existenz“230; nachdem es zur Religion von Völkern Europas wurde, wird es zur Weltreligion. 229 Dazu vgl. Scheier (1986), S. 592ff.; Appel (2007), S. 158. In dem Kapitel „Hervorgang der Sache in die Existenz“ in der Wesenslogik stellt Hegel die Erinnerung an die Bedingungen der unmittelbaren Sache bzw. die selbstbewusste Einsicht in den Grund der Sache, d. h. die Bedingung, wodurch die Sache gesetzt ist, dar. Die Sache als das unmittelbare Evenement ist in der Tat schon gewesen, bevor sie existiert. Durch die „Erinnerung der Bedingungen“ lässt sich erkennen: Eine „Sache geht aus dem Grunde hervor.“ Das Ansichsein der Sache besteht in ihrem Grund, und die Existenz derselben besteht darin, dass der Grund selber „zu Grunde gegangen“ ist. Eine Sache existiert also erst durch die Reflexion darüber, dass ihr Grund die Sache bedingt hat und welche Bedingungen sie gesetzt haben. W6, S. 119-122. 208 230 3. Der Gehalt der offenbaren Religion 3.1 Das Selbstbewusstsein des Geistes Der selbstbewußte Geist wird von Hegel auch mit dem neuen Geist (W3.15; 19) bezeichnet, welcher durch die Darstellung des erscheinenden Wissens rechtfertigt wird. Er ist nicht zur Welt gebracht, ehe die reine und ewige Idee der christlichen Religion spekulativ dargelegt wird. Hegel denkt, dass ihr wahrer Inhalt dadurch ausgeführt wird, dass sich die „Entäußerung der Substanz“ und die „Entäußerung des Selbstbewußtseins“ auf spekulative Weise zusammenschließen, ohne dass die beiden Seiten entzweigerissen werden. Für Hegel hängt die Genesis des absoluten Geistes mit der zweifachen Entäußerung folgendermaßen zusammen: Die Entäußerung der Substanz, ihr Werden zum Selbstbewußtsein drückt den Übergang ins Entgegengesetzte, den bewußtlosen Übergang der Notwendigkeit oder dies aus, daß sie [= die Substanz] an sich Selbstbewußtsein ist; umgekehrt die Entäußerung des Selbstbewußtseins dies, daß es [= Selbstbewusstsein] an sich das allgemeine Wesen ist, oder – weil das Selbst das reine Fürsichsein ist, das in seinem Gegenteile bei sich bleibt – dies, daß für es es ist, daß die Substanz Selbstbewußtsein und eben dadurch Geist ist (W3.549 f.). Hegel erläutert hier unmissverständlich den Geistes-Begriff durch den SelbstbewusstseinsBegriff.231 Das Selbstbewusstsein entäußert sich, ohne sein reines Fürsichsein zu verlieren. Dieses Beisichsein des Geistes in seinem Anderen impliziert sein Wesen, d. h. die Freiheit; insofern ist der Geist in jedem Fall potenziell sowohl die Substanz als auch das Subjekt. Die Entäußerung der Substanz impliziert den Ü bergang zu ihrer Gegenseite, d. h. dem Selbstbewusstsein, das aus der vollendeten Kunstreligion resultiert; mit anderen Worten: Die Substanz enthält die Potenz des Selbstbewusstseins in sich, soweit das Absolute seine Subjektivität in der Substanzialität aufbewahrt. Die Entäußerung des Selbstbewusstseins liegt partout nicht in dem folgenden Sinne: Sein Selbstwert gehe direkt verloren und er verflache ins Banale; diese Entäußerung scheint zunächst, dass das Selbstbewusstsein seinen eigenen Wert verlieren würde, sodass es zur „Dingheit“ degradiert würde, aber diese Entäußerung ist nicht als Selbstverlust anzusehen, weil es kraft seiner Entäußerung realiter zum „allgemeinen Selbst“ wird, das sich durch die Versöhnung mit anderen Subjekten 231 Dazu vgl. Kakuschke (1955), S. 136; Pannenberg (1984), S. 151. 209 gerade als „das allgemeine Wesen“ erweist (W3.549). Diese Entäußerung wird nämlich „für und durch das Selbstbewußtsein selbst“ bewältigt; während die Entäußerung der Substanz unbewusst vollzogen wird, entäußert sich das Selbstbewusstsein „mit Bewußtsein“ (W3.545) seiner Selbstständigkeit. Aus dieser bewussten Selbst-Entsagung kommt das Selbstbewusstsein zu der Einsicht, dass es an sich die Substanz ist; für und durch es selbst erscheint das absolute Wesen als das Selbstbewusstsein. Die Substanz ist nicht mehr im Jenseits ansässig, sondern entsteht aus dem Vollzug des Selbstbewusstseins. Diese wahre Subjektivität, die in der Substanzialität besteht, ist konstitutiv für den menschlichen Geist. Solange er sich nunmehr gedanklich zu seinem Anderen verhält, wird auch für das Bewusstsein diese Identität mit seinem Anderssein offenkundig.232 Dem Selbstbewusstsein ist sein Gegenstand überhaupt sowohl „Sein“ als auch „Selbst“, weil er geradezu das „geistige Wesen“ ist (W3.550). Es scheint für das Selbstbewusstsein, dass das, was er an sich ist, „aus dem Begriffe entspringen“ (W3.550) müsse. 233 Er ist demnach bis jetzt als das unmittelbar gegebene Jenseits, gleichsam als die bloße Substanz aufgetreten. Diese Substanz wird von nun an als das Selbstbewusstsein gestaltet; „durch das Erkennen des unmittelbaren Bewußtseins“ ist für uns „der sich selbst wissende Geist entsprungen“ (W3.550 f.). Aber der christliche Gott, der das Wesen des Geistes in sich enthält, liegt wesentlich darin, dass das, was er für das Selbstbewusstsein ist, und das, was er für uns ist, in eins integriert werden; indem die Substanz an sich als auf das Selbstbewusstsein bezogen erscheint, muss der Unterschied zwischen dem Sein für uns und dem Sein für das Bewusstsein aufgehoben werden. Es ist für uns von Belang, den Ü bergang des Bewusstseins zum selbstbewussten Geist darzustellen; es ist aber unleugbar, dass dieser Ü bergang des Bewusstseins ausschließlich durch den eigenen Vollzug des natürlichen Bewusstseins ermöglicht wird, denn dieser Ü bergang des Bewusstseins ist nichts anderes als die Entfaltung seines geistigen Wesens. Aus der Vereinigung des „unmittelbare[n] Ansich des Geistes“ mit seinem „denkenden Ansich“, m. a. W. aus der der „seiende[n] Notwendigkeit“ mit dem „Erkennen der Notwendigkeit“ (W3.551) entsteht der neue Geist. Das Selbstbewusstsein hat nun „sich zu denjenigen Momenten erhoben, welche zum Begriff des Geistes gehören, und zum Bedürfnis, 232 Dazu vgl. O'Donohue (1993), S. 391. Bezüglich dieses Punkts ist es die dialektische Bewegung des Bewusstseins bzw. seine Erfahrung in der „Einleitung“ der PHG erinnern. Für das Bewusstsein ist der neue Gegenstand „durch eine Umkehrung des Bewußtseins selbst“ entsprungen, indem das Bewusstsein annimmt, dass der eine Gegenstand als das Ansich nur das „Für-es-Sein“ ist. Das Bewusstsein weiß doch nicht klar, wie ihm selber der neue Gegenstand entstanden ist, während für uns „hinter seinem Rücken“ die Notwendigkeit des Übergangs begriffen wird. W3, S. 79 f. 210 233 diese Momente auf eine absolute Weise zu fassen“ (W12.387). Der Stufengang des erscheinenden Wissens ist das „Werden der angeschauten Notwendigkeit“ (W3.551). Die Bildungsgeschichte im Umfeld dieser Vereinigung ist für Hegel mit der Entstehungsgeschichte des Christentums eng verwoben.234 Soweit der Geist als das Absolute in der Gestalt des Selbstbewusstseins explizit wird, ist das Fürsichsein des Geistes oft einfach zu verkennen; das könnte dann passieren, wenn „das Selbstbewußtsein einseitig nur seine eigene Entäußerung erfaßt“ (W3.550). Hegel distanziert sich deutlich von dieser „Schwärmerei“ (W3.550). Diese unwesentliche Bedeutung des Gegenstandes ist mit dem „Kleid“ vergleichbar, das allerdings „die Blöße der Erscheinung nicht bedeckt“ (W3.550). Hegels Kritik an dieser psychologischen Ü bertragung des Bewusstseins ist nichts anderes als seine unwiderrufliche Kritik an der romantischen Tendenz.235 3.2 Die Dialektik des religiösen Geistes und die Entstehung der offenbaren Religion Es zeigt sich, dass der Geist der offenbaren Religion aus dem „unglückliche[n] Selbstbewußtsein“ (W3.547) kommt. Der Vereinigungsprozess, die Entäußerung des Subjekts und die Entäußerung der Substanz ineinander zu integrieren, drückt auch den Gesamtvollzug aus, die Einseitigkeit an den zwei vorherigen Religionen aufzuheben. Die beiden vorausgegangenen Religionen hatten ihrerseits jeweils die Extremposition, nämlich das „Lichtwesen“ und die „Komödie“; jenes ist das Extrem der Substanzialität, und diese das Extrem der Subjektivität. Dieses lässt sich wie folgend formulieren: Der erste Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES (in der ersten Phase der natürlichen Religion): Die Substanz ist das absolute Wesen. Sie ist das Subjekt, nicht bloß im satzstrukturalen Sinne, ebenso auch im ontologischen Sinne. Die absolute Substanz ist aber dem Bewusstsein noch fremd. Der zweite Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES (in der letzten Phase der Kunstreligion): Das Subjekt ist das absolute Wesen. Das Selbst spricht an, dass es selbst die absolute Grundlage für alles Dasein ist, das Wesen ist hingegen sowohl zum grammatischen Prädikat, als auch 234 235 Dazu vgl. Kakuschke (1955), S. 163. Dazu vgl. Appel (2008), S. 293.; Schmidt (1997), S. 401; Müller (2004), S. 241. 211 zum belanglosen Akzidens heruntergestiegen. Folglich lässt sich aber für den Menschen gar keine wesensmäßige Sache übrig, sodass sich das unglückliche Selstbewusstsein dieser Situation bewusst ist. Die Bewegung der offenbaren Religion beginnt mit dem unglückliche Selbstbewusstsein, das annimmt, dass die Aussage der Figur in der Komödie als die einseitig anthropomorphisierte Ä ußerung (also das Selbst sei das absolute Wesen) tatsächlich seine Wesens- oder Substanzlosigkeit erweist. Hier ergibt sich entscheidend die Bewegung der Umkehrung, denn der Satzgegenstand (das „Selbst“) geht zum Prädikat hinab und der Satzaussage (das absolute Wesen) geht zum Subjekte hinauf. Der Satz der christlichen Religion heißt nun so: Das absolute Wesen ist das Selbst. Dieser dritte Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES scheint mit dem ersten gleichbedeutend, solange er anscheinend nur als die direkte Negation des zweiten Satzes zu verstehen ist. Diese Umkehrung ist dennoch nicht einfach als die Wiederholung des ersten Satzes zu verstehen. Das absolute Wesen der natürlichen Religion wird hier nicht so restauriert, wie es existierte. Vielmehr wird diese Substanzialität des göttlichen Wesens restauriert, indem die Quintessenz der Kunstreligion zugleich beibehalten wird. Der Ü bergang der Kunstreligion zur offenbaren Religion muss nämlich durch die Dialektik der „bestimmte[n] Negation“ (W3.74) durchgeführt werden. In diesem dritten Satz ist die Substanz auf das grammatische Subjekt (das absolute Wesen) zurückgeführt worden, doch auch das „Selbst“, das nun das Prädikat ist, soll trotzdem nicht seine Substanzialität verlieren. Also wird die Substanz nun als der selbstbewusste Geist aufgefasst: Dieses ist die reine und ewige Idee der Christlichkeit. Diese Idee wird nachvollziehbar, wenn diese Umkehr spekulativ erfasst wird.236 In den zwei Sätzen bleiben das Subjekt und das Prädikat, oder das Wesen und das Selbst, im unproportionierten Verhältnis zueinander; in der ersten These (in der natürlichen Religion) war das Wesen dem Selbst an Macht überlegen, während in der zweiten (in der Kunstreligion) das Selbstbewusstsein für schlechthin überwiegend gehalten wurde. Diese zweifache Einseitigkeit soll überwunden werden; dieses Einseitigsein besteht in der gewöhnlichen, positiv-verständigen Satztheorie, wodurch – z. B. in Aussagen wie Gott ist allwissend, allgütig usw. – das Subjekt als Wesen, das Prädikat als Akzidens aufgenommen wird, und zwar mit der Voraussetzung, dass Subjekt und Prädikat fest voneinander getrennt sind. Aber der Satz ist Hegel gemäß als das Spekulative zu denken, also nicht durch das „geistlose Ist“ (W3.568), welches die wahre Vereinigung von beiden verhindert. 237 Sie ist nichts 236 237 Dazu vgl. Scheier (1986), S. 588 ff. Dazu vgl.: „[D]as durch diese Begriffsbewegung gewährleistete Ineins der gegenseitigen Setzung und 212 anderes als die „dialektische Bewegung des Satzes selbst“ (W3.61). Das Subjekt ist zum Prädikat übergangen, zugleich dieses zu jenem. Der Kernpunkt liegt in der positivvernünftigen Natur, die ganz von dem Subjekt und dem Prädikat durchdrungen ist. Der Akzent liegt nun sowohl auf dem Subjekt wie auch auf dem Prädikat.238 Die beiden Seiten, d. i. die Entäußerung der Substanz und die des Selbstbewusstseins gehen also gleichzeitig zu ihrer Gegenseite über; hieraus ergibt sich, dass daraus „die Vereinigung und Durchdringung beider Naturen hervorgeht, in der beide mit gleichem Werte ebenso wesentlich als auch nur Momente sind“ (W3.546). Der dritte Satz des RELIGIÖ SEN GEISTES ist meines Wissens folgendermaßen umzuformulieren: Das absolute Wesen ist das Selbst, insofern das Selbst ebenso das absolute Wesen ist, und die Substanz ist das Subjekt, insofern das Selbstbewusstsein sowohl Substanz als Subjekt ist. Die Aussage, die Substanz ist das Subjekt, erinnert uns an die folgende Ä ußerung: „Es kommt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ (W3.22 f.).239 Aus diesem Grunde lässt sich feststellen, dass die Gestalt der offenbaren Religion die letztendlich-allerhöchste Gestalt des Bewusstseins ist und dass in der offenbaren Religion der Geist schon seinen Inhalt erreicht. Die spekulative Bedeutung des Satzes, dass die Substanz das Subjekt sei, ist ergo durch die offenbare Religion zu verstehen.240 Sofern das Selbst der archimedische Punkt des christlichen Geistes ist, d. h., sofern dieser dritte Satz „für und durch das Selbstbewußtsein selbst zustande gebracht wird“ (W3.545), kann die Substanz als göttliches Wesen auch Subjekt sein. Das Selbstbewusstsein ist an sich, gleichsam seiner Natur nach, das allgemeine Wesen, weil dieses Wesen nur für und durch das Bewusstsein selbst als Selbstbewusstsein existiert; die Substanz ist für es Selbstbewusstsein, und durch es erst Geist. Dieser Geistes-Begriff meint die Substanz, aber als Selbstbewusstsein, welches „das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung“ ist, und er ist das absolute Wesen, welches simultan darin liegt, „in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten“ (W3.552). Das bedeutet, dass das Selbstbewusstsein durch seinen Negation von Subjekt und Prädikat wird das statische ist verhindert.“ Heede (1975), S. 281. 238 Dazu vgl. Wohlfart (1981), S. 172. 239 Dieser Gedanke findet sich außer in der „Vorrede“ nur in der offenbaren Religion (W3, S. 546; 550; 552) und im absoluten Wissen (W3, S. 582; 585; 587). 240 Dazu vgl. Frey (1973), S. 132. 213 eigenen Vollzug das Absolute in sich reflektiert, sodass es das jenseitige Wesen als die auch für es selbst wahre Wirklichkeit existieren lässt. Dass das „Selbst“ das absolute Wesen sei, soll das Wesen als solches der Ertrag der selbstbewussten Tätigkeit sein. Dieses Produkt des Selbstbewusstseins muss jedoch danach die Depotenzierung seiner Wesensmäßigkeit zur Folge haben, wie in der Entäußerung der Substanz angedeutet; dass das „Selbst“ als absolutes Wesen erscheint, drückt sogleich seine aus seiner Endlichkeit resultierende Schranke aus. Denn diese Anwesenheit besagt, dass das „Selbst“ nicht das unbedingte Absolute ist. Diese spekulative Umkehr, die so auch im dritten Satz formuliert ist, fängt mit der Entäußerung des Selbstbewusstseins an. Sie soll trotzdem nicht die abstrakte Rückkehr zur selbstlosen Substanz sein, wie in der natürlichen Religion hingewiesen. Daher ist es ein einzigartiger Weg, dass sich die Substanz als der selbstbewusste Geist selbst darstellt; das absolute Wesen muss das „Selbst“ sein, und zwar das konkrete Selbstbewusstsein als das sinnliche Existierende. In diesem Dasein soll die Absolutheit des Wesens explizit und sichtbar werden. Das Beisichsein in seinem Anderen, wodurch sich die Substanz als das Selbstbewusstsein für und durch es selbst offenbart, ist charakteristisch für das Wesen des Geistes, d. h. für seine Freiheit. [Dieses sich dynamisch, flüssig bewegende Wesen ist] die Substanz, insofern sie in ihrer Akzidentalität ebenso in sich reflektiert, nicht dagegen als gegen ein Unwesentliches und somit in einem Fremden sich Befindendes gleichgültig, sondern darin in sich, d. h. insofern sie Subjekt oder Selbst ist (W3.552). Das Selbstbewusstsein des Geistes hat seine Substanz nicht verloren. Sofern sich das Selbstbewusstsein „mit Bewußtsein aufgibt“, d. h., sofern das Selbst zugleich bewusst auf seinen Wert verzichtet, wird das Selbstbewusstsein „in seiner Entäußerung erhalten“ und es zeigt sich als das „Subjekt der Substanz“, welches ontologisch mit der Substanzialität erfüllt ist (W3.545). Obgleich es „durch seine Aufopferung die Substanz als Subjekt hervorbringt“, erweist sich dieses Subjekt als „sein [= des Selbstbewusstseins] eigenes Selbst“ und das Selbstbewusstsein hat also „das Bewußtsein derselben [= der Substanz]“ nicht verloren (W3.546). Dieser Geistes-Begriff ist die höchste Bestimmung der Religion, wodurch die zwei einseitigen Gestaltungen, d. i. die selbstlose Substanzialität (in dem Ansatzpunkt der natürlichen Religion als der Religion des Bewusstseins) und die haltlose Gewissheit des 214 Selbst (in dem Endpunkt der Kunstreligion als der Religion des Selbstbewusstseins) denkerisch aufgehoben werden (W3.502).241 In der offenbaren Religion zeigt sich der Geist, der für das religiöse Selbstbewusstsein erkennbar ist. Substanz und Subjekt werden hier, durch die gegenseitige Entäußerung miteinander vereinigt, sodass die Substanz einerseits das Subjekt, andererseits das reine Selbstbewusstsein das Wesen als allgemeines Selbstbewusstsein ist. Diese gleichzeitig geschehende gedoppelte Umkehrung ist eben die Grundstruktur der Bewegung des RELIGIÖ SEN GEISTES. Der christliche Gott tritt für das religiöse Selbstbewusstsein als der Vermittler dieser zweifachen Bewegung auf; er ist weder die als furchtbare Macht gedachte Naturerscheinung noch das von dem Menschen hervorgebrachte Produkt, vielmehr erscheint er dem Selbstbewusstsein als „ein wirklicher einzelner Mensch“ (W3.552), genauer gesagt erscheint er in der Gestalt von Jesus Christus als Gottmensch. 242 Dieses Wesen, das „Fleisch“ (W3.567) wird, ist sowohl Gott als auch Mensch, daher ist in der Form seiner Erscheinung sein absoluter Inhalt aufbewahrt. Diese Menschwerdung Gottes ist vom bisherigen Anthropomorphismus deutlich zu unterscheiden. Der christliche Gottmensch gestaltet sich wohl als ein menschlicher Körper, aber er impliziert auch den absoluten Geist, welcher sowohl als das allgemeine Wesen wie auch als das Subjekt gedacht wird. Dieser Mensch ist auch ein Mittler zwischen Substanz und Subjekt, zwischen Gott und dem gläubigen Bewusstsein. Diese Existenz Gottes ist ein Beleg dafür, dass Gott und Mensch wesentlich „dasselbe“ sind, und auch ein Grund dafür, wie diese „Einheit“ von dem Menschen „angeschaut wird“ (W3.553). 3.3 Die Offenbarung Gottes Der absolute Geist manifestiert sich, sofern er als der christliche Gott für das Bewusstsein offenbar wird. Im Kapitel „Geist“ wurde zwar der absolute Geist schon erwähnt (W3.329; 407; 410; 481; 493); der Inhalt des Geistes wurde als das Ganze in der objektiven Welt, d. h. als Gemeinwesen von Individuen dargestellt. Aber der christliche Geist besteht weder in dem unmittelbar-reflexionslosen Vertrauen, noch in der Flucht in das Jenseits des Wirklichen, noch im Extrem der subjektiven Gewissheit. 241 242 Dazu vgl. Wohlfart (1981), S. 170; Scheier (1986), S. 590; Auinger (2003), S. 130. Dazu vgl.: „Christus ist erschienen, ein Mensch, der Gott ist, und Gott, der Mensch ist“. W12, S. 392. 215 In der christlichen Religion hat Gott sich geoffenbart, das heißt, er hat dem Menschen zu erkennen gegeben, was er ist, so daß er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimes ist (W12.27). Diese Parusie scheint die Wiederkehr der mystischen Offenbarung im lebendigen Kunstwerk als der zweiten Gestalt der Kunstreligion deswegen zu sein, weil das Wesen für das Bewusstsein erkennbar wird. Ü ber diese Offenbarung in der Kunstreligion schreibt Hegel Folgendes: [D]as Mystische ist nicht Verborgenheit eines Geheimnisses oder Unwissenheit, sondern besteht darin, daß das Selbst sich mit dem Wesen eins weiß und dieses also geoffenbart ist. Nur das Selbst ist sich offenbar, oder was offenbar ist, ist es nur in der unmittelbaren Gewißheit seiner. In dieser aber ist durch den Kultus das einfache Wesen gesetzt worden; es hat als brauchbares Ding nicht nur das Dasein, das gesehen, gefühlt, gerochen, geschmeckt wird, sondern ist auch Gegenstand der Begierde und wird durch den wirklichen Genuß eins mit dem Selbst und dadurch vollkommen an dieses verraten und ihm offenbar (W3.526 f.). In diesem Kultus fühlte sich das Individuum vereinigt mit dem göttlichen Wesen und dadurch glücklich. Die Offenbarung Gottes verbleibt hingegen nicht einfach in einer solchen Befriedigung aus der Vereinigung von dem „Selbst“ und dem „Wesen“, denn das christliche Selbstbewusstsein geht über die unmittelbare Einswerdung hinaus zu dem Wissen von sich über, dass das Wesen eben sein Wesen ist. Diese Offenbarung stellt sich als die Parusie des Wesens wie folgt dar: Dem Bewußtsein ist in seinem Gegenstand dann etwas geheim, wenn er ein Anderes oder Fremdes für es ist und wenn es ihn nicht als sich selbst weiß. Dies Geheimsein hört auf, indem das absolute Wesen als Geist Gegenstand des Bewußtseins ist; denn so ist er als Selbst in seinem Verhältnisse zu ihm; d. h. dieses weiß unmittelbar sich darin, oder es ist sich in ihm offenbar (W3.552) Der entscheidende Punkt, an dem sich der Geist der christlichen Religion von bisherigen Gestaltungen scheidet, ist, dass der absolute Geist nun in der Form des Selbstbewusstseins besteht. Das bedeutet, dass „der absolute Geist sich die Gestalt des Selbstbewußtseins an sich und damit auch für sein Bewußtsein gegeben“ hat (W3.551). Der Geist erscheint anderen 216 Subjekten als das Selbstbewusstsein, das zugleich als das absolute Wesen erscheint. Dass Gott als Mensch erscheint, besagt nun, dass Gott als ein wirklicher Mensch, Jesus von Nazaret, existierte. 243 Für die „unmittelbare Gewißheit“, die das „glaubende Bewußtsein“ hat, wird die „Göttlichkeit“ sinnlich so aufgenommen, wie es sie „sieht und fühlt und hört“ (W3.551).244 Der Inhalt des Glaubens ist weder erdachtet noch hergestellt; dass Gott als ein einzelner, dieser Mensch diesseits erscheint, dies ist entscheidend dafür, dass die offenbare Religion als „der Glaube der Welt“ (W3.551), also der Glaube, den die Welt hat, erwiesen wird, während es bislang stets den Glauben an die Ü berirdischen gab. Der „Glaube der Welt“, der trotzdem gar nicht so banal, eher umso tiefer wird, lässt sich folgendermaßen ausdrücken: „Vollendung der Realität zur unmittelbaren Einzelheit – der schönste Punkt der christlichen Religion; erst die absolute Verklärung der Endlichkeit zur Anschauung gebracht“ (V5.49). Damit ein gläubiger Mensch seinen Glauben für wahrhaft hält, soll er irgendeine konkrete, sinnliche Erscheinung zur Bewährung erhalten, wodurch Gott und Mensch sich miteinander versöhnen können.245 Gott impliziert nun „die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes“, wodurch er als „das Selbst aller“ erscheint, indem diese Tiefe „zu Tage herausgetreten“ ist (GW8.280 f.). Der Gott in der christlichen Religion ist auch der Wendungspunkt des weltgeschichtlichen Prinzips, das „das Heil der Welt“ (W12.386) impliziert, weil der Mensch erkennen kann, dass er als solcher schlechthin frei ist. Die christliche Lehre liegt in dem folgenden Prinzip der menschlichen Freiheit: [D]ie Sklaverei ist im Christentum unmöglich, denn der Mensch ist jetzt als Mensch nach seiner allgemeinen Natur in Gott angeschaut; jeder Einzelne ist ein Gegenstand der Gnade Gottes und des göttlichen Endzwecks: Gott will, daß alle Menschen selig werden. Ganz ohne alle Partikularität, an und für sich hat also der Mensch, und zwar schon als Mensch, unendlichen Wert (W12.403 f.). Durch die Erfahrung des gegenwärtig anwesenden Gottes wird die Vorstellung der menschlichen Freiheit bewahrheitet; im äußerst unmittelbaren Dasein ergibt sich die 243 Dazu vgl. Küng (1970), S. 263 ff. Dazu vgl.: „Die christliche Religion nennt Hegel die offenbare Religion schlechthin, weil erst in ihr Gott selber offenbar geworden sei, und zwar durch die Menschwerdung Christi. Indem Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, wurde er im Endlichen offenbar. Das schwindende geistige Erkenntnis- und Anschauungsvermögen des Menschen wurde kompensiert, indem Gott als Mensch der sinnlichen Anschauung der Menschen sichtbar wurde“. Dellbrügger (1998), S. 326. 245 Dazu vgl. Bialas (1993), S. 110; Klimatsakis (1997), S. 228. 217 244 allerhöchste, ungetrübte Seele. Diese reine Seele macht simultan die fundierte Grundlage für das gemeinschaftliche Prinzip aus. In der antiken Welt fühlte das Bewusstsein sich glücklich in der direkten Einheit mit der wirklichen Substanz. Im Gegensatz dazu sucht das religiöse Bewusstsein in der Ebene der Allgemeinheit seine innerliche Befriedigung.246 Darüber führt Hegel Folgendes aus: [Die antikgriechische] Sittlichkeit ist die unreflektierte Gewohnheit; das christliche Prinzip ist aber die für sich stehende Innerlichkeit, der Boden, auf dem das Wahrhafte aufwächst. Eine unreflektierte Sittlichkeit kann nunmehr gegen das Prinzip der subjektiven Freiheit nicht stattfinden. Die griechische Freiheit war die des Glücks und des Genies; sie war noch durch Sklaven und durch Orakel bedingt; jetzt aber tritt das Prinzip der absoluten Freiheit in Gott auf. Der Mensch ist jetzt nicht mehr im Verhältnis der Abhängigkeit, sondern der Liebe, in dem Bewußtsein, daß er dem göttlichen Wesen angehört (W12.404). Die Menschwerdung Gottes, die von dem Anthropomorphismus in den früheren Religionen prinzipiell zu unterscheiden ist, drückt das essenzielle Charakteristikum des Christentums aus. Der anthropomorphisierte Gott in der Kunstreligion lässt sich mit Schillers Formulierungen folgendermaßen ausdrücken: Da die Götter menschlicher noch waren, Waren Menschen göttlicher.247 Die in der griechischen Religion erreichte Versöhnung kann Hegel mit der Anschauung bezeichnen, „für welche die ganze Natur belebt und voll Götter [sei]“ (W14.114); so menschlich die olympischen Götter waren, so göttlich waren Menschen. Allerdings bedeutet dieser Anthropomorphismus eine bloße Versöhnung des Menschen mit den Göttern, die gleichwohl noch nicht zu seiner wahren Form (die als der Gottmensch selbst bezeichnet werden soll) gelangt ist. Die „Klage“ (namens Schillers) über den „Untergang des 246 Bialas (1993), S. 111. F. Schiller, Die Götter Griechenlandes, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 169. Bei Schiller ist dies aber Ausdruck seiner Anerkennung der griechischen Welt, der er – anders als Hegel – einen Vorzug vor der christlichen gibt. Ü ber die Bedeutung dieser Formulierungen legt Hegel in seiner Kunstphilosophie dar, damit er sich mit einer von den ihm zeitgenössischen Tendenzen, also einigermaßen mit der Nostalgie – wie Schillers – nach dem klassischen Griechentum auseinandersetzt. W14, S. 113 ff. 218 247 klassischen Altertums“ ergibt sich für Hegel aus der Einsicht in den Gegensatz zwischen der lebendigen Fantasie in der antiken Welt und dem Verfahren der „Verstandesabstraktionen“ in der Aufklärung (W14.113 ff.). Dagegen denkt Hegel, dass Schiller selbst schließlich Folgendes zugeben musste: „[D]ie griechischen Götter hätten ihren Sitz nur in der Vorstellung und Phantasie“ (W14.115). Aus diesem Grunde stellt er den Mangel an der Offenbarung in der Kunstreligion folgendermaßen dar: Dem Anthropomorphismus der griechischen Götter fehlt dadurch das wirkliche menschliche Dasein, das leibliche wie das geistige. Diese Wirklichkeit im Fleisch und Geist bringt erst das Christentum als Dasein, Leben und Wirken Gottes selber herein. Dadurch ist nun diese Leiblichkeit, das Fleisch […] zu Ehren gebracht und das Anthropomorphistische geheiligt worden (W14.112). Das christliche Prinzip liegt nämlich nicht in der bloßen Antithese der altgriechischen Gottesauffassung, also nicht einfach in der deistischen Weltansicht der Aufklärung, sondern in der wahren Synthesis von beiden, „den Geist zur höheren Freiheit und Versöhnung mit sich selbst kommen zu lassen“, die „die Griechen nicht kannten“ (W14.115). Im Unterschied zu dem Anthropomorphismus im alten Griechentum schreibt Hegel über die wahre Bedeutung des christlichen Gottes Folgendes: Das Christentum hat den Anthropomorphismus viel weiter getrieben; denn der christlichen Lehre nach ist Gott nicht ein nur menschlich gestaltetes Individuum, sondern ein wirkliches einzelnes Individuum, ganz Gott und ganz ein wirklicher Mensch […]. [D]amit Gott als Geist sei, dazu gehört sein Erscheinen als Mensch, als einzelnes Subjekt […]. In der christlichen Anschauung nämlich liegt die unendliche Bewegung, sich bis zum Extrem des Gegensatzes hinzutreiben und erst als Aufhebung dieser Trennung in sich zur absoluten Einheit zurückzukehren. In dies Moment der Trennung fällt das Menschwerden Gottes, indem er als wirkliche einzelne Subjektivität in den Unterschied gegen die Einheit und Substanz als solche tritt, in dieser gemeinen Zeitlichkeit und Räumlichkeit die Empfindung, das Bewußtsein, den Schmerz der Entzweiung durchmacht, um durch diesen ebensosehr wieder aufgelösten Gegensatz zur unendlichen Versöhnung zu kommen (W14.23 f.). 219 Die Menschwerdung Gottes entsteht auch im Christentum, aber hier offenbart sich der anthropomorphisierte Gott. Das göttliche Wesen existiert nun „wesentlich und unmittelbar“ (W3.552),248 gleichsam als subjektiv-substanzieller Geist. Worin das Wesen des absoluten Geistes „endgültig und abschließend“ und deshalb „ein für allemal“ offenbar ist, da fungiert die Religion als seine letztendlich-wahrhafte Gestalt.249 Gott ist Geist, der in einem einzelnen (trotzdem auf der allgemeinen Bestimmung beruhenden) Individuum verankert ist; daher wird er als Gottmensch selbst bezeichnet. Die im Christentum gedachte Menschwerdung ist eben ein Beleg dafür, dass Hegel das Christentum die absolute Religion nennt. Der Gegenstand des andächtigen Bewusstseins ist nicht ein ihm fremdes Anderes; er hat vielmehr die Gestalt des Selbstbewusstseins als eines einzelnen Menschen.250 Hierdurch ist der Gott als ein Mensch durchgängig für andere Menschen erfassbar. Diese anthropomorphisierte Gottheit ist nicht nur trivial, gleichsam nicht einfach als ein zufälliges Geschehen aufzunehmen, denn diese Parusie Gottes bedeutet keine einfache Inkarnation Gottes.251 Die offenbare Religion besteht nicht bloß in dem Bewusstsein von Gott in der menschlichen Gestalt; der christliche Gott ist nicht allein ein zu glaubender Gegenstand des gläubigen Bewusstseins. Das Verhältnis des christlichen Bewusstseins zu seinem Wesen ist nicht das Verhältnis zu seinem Anderen. Das Bewusstsein Gottes bedeutet nicht nur, dass das Bewusstsein sich des göttlichen Wesens (gleichsam als seines Anderen) bewusst ist; dieses Verhältnis muss vielmehr im Grunde ein sich auf sich selbst beziehendes Verhältnis bedeuten. Die offenbare Religion, in der „das Wesen als Geist gewußt“ wird, ist also „sein [= des göttlichen Wesens selbst] Bewußtsein über sich, Geist zu sein“ (W3.552). Hiermit manifestiert sich diese „Natur Gottes, reiner Geist zu sein“ (W12.391). Das geistige Wesen Gottes verursacht auch das Selbstbewusstsein des andächtigen Menschen. Der Gläubige hat schon ein Selbstbewusstsein, das sich dessen bewusst ist, dass es selbst ebenso Geist ist. Der glaubende Geist und der zu glaubende Geist sind alle Geist; „der Geist ist nur Geist, insofern er für den Geist ist, und in der absoluten Religion ist es der absolute Geist“ (W10.373). Die Offenbarung oder das Offenbarsein des göttlichen Wesens bewährt sich durch die Beziehung des Geistes auf sich selbst. Somit wird das Wesen dem Bewusstsein nicht mehr fremd, sodass in der Offenbarung Gottes der Geist in seinem wahren Dazu vgl.: „Der absolute Geist erscheint im konkreten Selbstbewußtsein, und diese unmittelbar äußere Erscheinung ist ihm so innerlich, so wesentlich, daß er in ihr seinen Selbstbezug besitzt“. Schmidt (1997), S. 403. 249 Wagner (1971), S. 193. 250 Dazu vgl. Jaeschke (1986), S. 215. 251 Dazu vgl. Jaeschke (1983), S. 64; Suda (2002), S. 254 f. 220 248 Sinne verwirklicht wird. Daraus lässt sich dieser Gedanke der göttlichen Offenbarung folgendermaßen umformulieren: Der Geist-Gott ist für den Geist-Menschen offenbar. In diesem Zusammenhang muss akzeptiert werden, dass die Offenbarung in der christlichen Religion zwei Bestandteile hat. Erstens: „Das endliche Bewußtsein weiß Gott“, weil „Gott sich in ihm weiß“ (V5.178). Die christliche Religion wird die „geoffenbarte“ Religion genannt, denn sie wird von Gott „geoffenbart“, sodass „Gott sich selbst dem Menschen zu wissen gegeben hat, was er ist“ (V5.179); insofern wird sie als „eine positive Religion“ bezeichnet, weil Gott „dem Menschen von außen gekommen, ihm gegeben worden ist“ (V5.179). Zweitens: Die christliche Religion ist die Offenbarungsreligion, da ihre Idee „als göttliche Selbstoffenbarung“ (V5.199) betrachtet wird. Unser Bewusstsein Gottes impliziert dementsprechend das Selbstbewusstsein Gottes.252 Aus diesen zwei Seiten lässt sich Folgendes festhalten: Im Christentum ist das vollkommene Erkennen von Gott erreichbar, aber dieses Wissen des gläubigen Bewusstseins resultiert aus der Dynamik des göttlichen Wesens, das sich selbst im Menschen manifestieren will. Diese zweifache Bestimmung ist das Spezifikum der Offenbarung im hegelschen Sinne. Die Offenbarung Gottes hat keinen supranaturalen Charakter, da der Kontakt des Menschen mit dem göttlichen Wesen in der sinnlichen Erfahrung aufrechterhalten wird. Diese Bestimmung erinnert uns an das Konzept Fichtes, dass der absolute Geist in aller Regel auf die sinnliche Gewissheit des Bewusstseins zu reduzieren ist. 253 Aus diesem Grunde verbietet es sich weiterhin nicht unbedingt, die positive Offenbarung mit einzubeziehen, weil der Mensch zunächst und zumeist hierdurch das Wissen von Gott erreichen kann. Diese Bestimmung ist auch kennzeichnend für die Konzeption Kants, die ursprünglich aus der Offenbarung der Heiligen Schrift im Sinne Luthers hergeleitet ist; die Offenbarung besteht Kant zufolge in dem positiven Glauben, in dem die historische Tradition oder die biblische Autorität beherrschend ist. Jedoch kann man in Hegels Offenbarungstheorie die begriffsgeschichtliche Kontinuität und Diskontinuität mit der Position von Kant und Fichte Dazu vgl.: „Religion als diese Beziehung des (einzelnen) Geistes auf den Geist ist somit das, was die religiöse Tradition als Beziehung auf Gott aussagt. [...] Insofern also wäre Religion – als Bewußtsein Gottes – Bewußtsein des Geistes. Doch wäre ein solcher Gedanke von Gott bloß der Gedanke eines Objekts. Sofern das Gewußte nur gewußt wird als eines, das mir gegenübersteht, kann es gerade nicht ein Absolutes sein – es wäre ja vielmehr ein durch mich Begrenztes. Weil dieses vermeintlich Andere aber nichts anderes ist als mein Wesen – sofern ich nämlich Geist bin -, ist mein Verhältnis zu ihm ebensosehr sein Verhältnis zu sich selbst und mein Bewußtsein von Gott ebensosehr das Bewußtsein Gottes von sich: Selbstbewußtsein Gottes.“ Jaeschke (1998), S. 128 f. 253 Dazu vgl.: „Der Begriff einer Offenbarung ist nemlich ein Begriff von einer Erscheinung in der Sinnenwelt, welche der Qualität nach unmittelbar durch göttliche Causalität bewirkt seyn soll“. Fichte, Werke, Bd. 5, S. 140. 221 252 aufspüren. Die positive Bestimmung ist für Hegel nicht einfach als das schlechthin Abzulehnende zu verstehen, das schließlich als Ganzes auf den Vernunftglauben zurückgeführt sein soll; Offenbarung und Vernunft wirken denkerisch zusammen. In diesem Zusammenhang divergiert der hegelsche Begriff der Offenbarung von dem Begriff Fichtes; Gott erscheint nicht bloß als sinnliches Dasein. Hegel betont gewiss wie Kant die vernünftigen Ü berlegungen über die Offenbarung. Durch seine Geistes-Konzeption setzt sich die hegelsche Offenbarung freilich vom reflexionsphilosophischen Konzept ab. Kant bezweckt grundsätzlich, dass der moralische Vollzug des Menschen durch das Dogma der positiven Religion nicht verfälscht wird. Kant ist der Ansicht, Vernunftglaube sei der Kerngedanke der Religion, wohin die philosophischen Ü berlegungen über die historisch-positiven Religionsphänomene kommen sollen. Kant zufolge hängen Offenbarungsglauben und Vernunftglauben durch die Entwicklung der sichtbaren Kirche (d. h. der Gemeinde) miteinander zusammen, deren zeitlich-empirische Entfaltung die Geschichte der Idee der Freiheit von der ganzen Menschheit ist.254 Damit ist die Einheit von Religion und Moral (bzw. Sittlichkeit) auf der Ebene der Vernunft gemeint. An diesem Punkt nimmt Hegel die gleiche Position ein. Die Religionsphilosophie in der klassischen Neuzeit ist (einschließlich derjenigen Fichtes und auch Hegels) in toto mit ihrer geschichtsphilosophischen Gesamtüberzeugung eng verschränkt, indem die Freiheit als die oberste Idee in der Wirklichkeit zustande gebracht werden soll. Es ist bestimmt unbestreitbar, dass Kant und auch Fichte die Geschichte der Verwirklichung der Freiheit ins Auge fassen, jedoch die vollkommen realisierte Idee für diese – mit Hegel – Reflexions- bzw. Bewusstseinsphilosophen gar nicht durch die allmähliche Entwicklung erreichbar ist. Demgegenüber wird der Gehalt der Religion in Hegels Philosophie durch die geschichtlichen Religionsgestalten immerwährend konkret realisiert; Hegel denkt, dass die Offenbarung durch die Vernunft nicht ersetzt werden soll. Der Geist „wird gewußt als Selbstbewußtsein und ist diesem unmittelbar offenbar, denn er ist dieses selbst“ (W3.553). Hier gibt es den einschneidenden Punkt der Veränderung, wo der Anthropomorphismus in der Kunstreligion mit dem tiefen Geistes-Begriff vollendet wird. Der Inhalt der christlichen Religion ist, dass der Mensch an sich, gleichsam seiner Natur nach „Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit in ihm selbst“ (W12.403) ist. Indem sich dieses „Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur“ offenbart, tritt das 254 Dazu vgl., I. Kant, Werkausgabe, Bd. 8, S. 751 ff. 222 Prinzip „der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit“, d. h. die „Versöhnung“ des Menschen mit Gott (W7.511), zutage. Aus dem Obigen lässt sich die Offenbarung Gottes erkennen, dass das Absolute als ein Mensch existiert, der aber als Geist aufzufassen ist. Dies ist der wahrhafteste Ausdruck der christlichen Offenbarung. Dieser christliche Geist wird als der wahre und ewige Geist der Religion verstanden, denn er ist „zugleich seiender Gegenstand, und dieses Sein hat ebenso unmittelbar die Bedeutung des reinen Denkens, des absoluten Wesens“ (W3.553). Indem das Absolute als ein Mensch existiert, erreicht das göttliche Wesen nun trotz der äußersten Herabsetzung seinen Gipfelpunkt: Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste. Daß das höchste Wesen als ein seiendes Selbstbewußtsein gesehen, gehört usf. wird, dies ist also in der Tat die Vollendung seines Begriffes; und durch diese Vollendung ist das Wesen so unmittelbar da, als es Wesen ist (W3.553 f.). Dass das Offenbarsein für einen Einzelnen die allumfassende Wesenheit mit sich bringt, hieraus resultiert anschließend, dass die ganz unmittelbare Gewissheit des einzelnen Bewusstseins sogleich zu der höchsten Wahrheit gelangt. Das unmittelbare Bewusstsein wird hier erneut interpretiert; sie ist nicht mehr einfach abstakt oder vorgetäuscht, eher nun – trotz ihrer Schlichtheit bzw. Unbedecktheit – am reichsten, konkretesten und wahrhaftesten. Diese Denkweise, die Hegel die „absolute“ oder „reine Abstraktion“ (W3.553) nennt, folgt daraus, dass das Wesen als Geist gewusst wird. Dieses Denken besteht, wie schon erwähnt, in der Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES. Gott ist Gott ist also hier offenbar, wie er ist; er ist so da, wie er an sich ist; er ist da, als Geist. Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist, und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion (W3.554). Die in der christlichen Religion gedachte Menschwerdung Gottes ist der entscheidende Grund dafür, warum das Christentum weltgeschichtlich die absolute, vollendete Religion ist. 223 Dass Gott als Geist offenbar ist, führt zu der „Freude“ des Selbstbewusstseins, „im absoluten Wesen sich zu schauen“ (W3.554). Die christliche Religion ist charakteristisch dafür, dass das Absolute dem gläubigen Menschen offenbar ist; Hegels Grundprinzip der Christlichkeit liegt zwar darin, dass Gott Geist ist. Diese Daseinsweise Gottes ist allerdings dem begreifenden Denken als dem absoluten Wissen nicht angemessen; das religiöse Bewusstsein bedeutet nämlich das Bewusstsein von seinem Anderen, sodass sich das göttliche Wesen gleichfalls als der Gegenstand des Glaubens gestaltet. Insofern der Begriff der Religion in dem Gefühl oder der Vorstellung besteht, ist der gläubige Mensch noch nicht in der Lage, den ursprünglichen Zusammenhang von Menschen und Gott begrifflich zu erfassen. Die offenbare Religion impliziert den wahren Inhalt des absoluten Geistes, aber sie bleibt noch in der Form des vorstellenden Wissens; der Geist in der Form der Vorstellung ist „noch nicht das zu seinem Begriffe als Begriffe gediehene Selbstbewußtsein desselben“ (W3.556). Wenn der Geist der christlichen Religion bereits zu seiner Wahrheit, also zu dem absoluten Wissen, gelangt, liegt sein Begriff schon in der „Form des Denkens selbst, des Begriffes als Begriffes“ (W3.555). Dies aber folgt erst aus der Vollendung der Religion. Nach der Vorstellungswelt der christlichen Religion entsteht die Offenbarung durch die Ankunft des Gottmenschen, also durch die Geburt Christi. Diese Phase stellt Hegel als die gedankliche Bedingung für die Entstehung des auf dem neuzeitlichen Prinzip erneuten, i. e. selbstbewussten Geistes dar. Nachdem Gott als ein einzelner Mensch (Jesus von Nazareth), dem glaubenden Menschen offenbar geworden war, wurde der Gottmensch als das erscheinende Absolute gerühmt, aber der Gläubige kam nicht zur Einsicht, dass er selbst auch Geist ist, denn er schaute noch nur auf die oberflächliche Seite des Offenbarseins. Falls der Mensch den Gott bloß als den Gegenstand des Glaubens betrachtet, erscheint dieser Gott einzigartig als das Absolute. [Insofern] ist der Geist in der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins dieses einzelne Selbstbewußtsein, dem allgemeinen entgegengesetzt; er ist ausschließendes Eins, das für das Bewußtsein, für welches es da ist, die noch unaufgelöste Form eines sinnlichen Anderen hat […] Dieser einzelne Mensch also, als welcher das absolute Wesen offenbar ist, vollbringt an ihm als Einzelnem die Bewegung des sinnlichen Seins. Er ist der unmittelbar gegenwärtige Gott (W3.555). 224 Weil das Bewusstsein sich nicht für den Geist hält, sind das Göttliche und das Menschliche noch nicht denkerisch vereinigt worden; die Gottheit ergibt sich daher aus der Zusammensetzung von Gott und Mensch (Gott als Geist + Mensch als Bewusstsein), noch nicht aus ihrer spekulativen Totalität (Gott als Geist = Mensch als Geist).255 Die Identität des Sinnlichen (oder des Diesseits) mit dem Ü bersinnlichen (oder dem Jenseits), der Anschauung mit dem Denken oder der Besonderheit mit der Allgemeinheit, ist zwar der wahrhafte Inhalt der offenbaren Religion. Diese Momente der Einheit geschehen jedoch für das Bewusstsein noch durch historische, biblische Beispiele, d. h. durch die Vorstellung des Bewusstseins. In der religiösen Vorstellung geschieht nämlich die unvollkommene „synthetische Verbindung“ (W3.558) von Sinnlichkeit und Denken; die Vorstellung ist „nur oberflächlich in das Element des Denkens getaucht“ und „mit der Natur des Denkens selbst nicht in eins gesetzt“ (W3.556).256 Der unmittelbar gegenwärtige Gott, Jesus Christus, ist vergänglich, weil er auch Mensch ist; nachdem er tot ist, kann niemand ihn anderweitig wahrnehmen. Aber sein Tod wird zur Dimension des Denkens erhoben; dieser Tod ist nun keine direkte, abstrakte Negation seiner Gegenwart, keine bloße Vergangenheit, sondern ist mit dem Perfekt seiner Gegenwart vergleichbar, denn jenes Faktum der Vergangenheit ist nicht abstrakt annulliert, sondern vielmehr als das „zeitlos vergangene Sein“ (W6.13) konserviert.257 Die Gegenwart Gottes (d. h. Gott ist) ist zunächst vergänglich (d. h. Gott war), jedoch ergibt sich hier eine Umkehr des Gedankens; das religiöse Bewusstsein kommt nämlich zur Einsicht in das „Gewesensein“ Gottes (W3.555) (d. h.: Gott ist gewesen). Das Bewußtsein, für welches er [= der Gottmensch] diese sinnliche Gegenwart hat, hört auf, ihn zu sehen, zu hören; es hat ihn gesehen und gehört; und erst dadurch, daß es ihn nur gesehen, gehört hat, wird es selbst geistiges Bewußtsein, oder wie er vorher als sinnliches Dasein für es aufstand, ist er jetzt im Geiste aufgestanden (W3.555 f.). Dazu vgl.: „Der GOTT+MENSCH (Vorstellung) stirbt, um als GOTT=MENSCH (Geist) aufzuerstehen“. Schöndorff (1982), S. 561. 256 Zu dieser Thematik z. B. vgl. Schöndorff (1982), S. 551. 257 Diese Situation verhält sich gleich zu der spekulativen Er-Innerung. In seiner Wesenslogik erläutert Hegel das „Wesen“ nicht als die direkte Negation des Seins. Dazu vgl. Hegels Bemerkung vom „caput mortum der Abstraktion“. W8, S. 231. Er führt dazu das folgende Beispiel mit dem Verb „sein“ an: „Was nunmehr die sonstige Bedeutung und den Gebrauch der Kategorie des Wesens anbetrifft, so kann hier zunächst daran erinnert werden, wie wir uns im Deutschen beim Hilfszeitwort sein zur Bezeichnung der Vergangenheit des Ausdrucks Wesen bedienen, indem wir das vergangene Sein als gewesen bezeichnen. Dieser Irregularität des Sprachgebrauchs liegt insofern eine richtige Anschauung vom Verhältnis des Seins zum Wesen zugrunde, als wir das Wesen allerdings als das vergangene Sein betrachten können, wobei dann nur noch zu bemerken ist, daß dasjenige, was vergangen ist, deshalb nicht abstrakt negiert, sondern nur aufgehoben und somit zugleich konserviert ist.“ W8, S. 232. 225 255 Nach dem Tod des Gottmenschen hört der gläubige Mensch zwar auf, ihn zu sehen oder zu hören, aber Gott lebt in den Gedanken des Menschen fort, insofern auch der gläubige Mensch ein „geistiges Bewußtsein“ hat. Der Ü bergang der Gegenwart Gottes in das GeWesen-Sein Gottes wird nicht einfach als das Nichtsein Gottes verstanden. Das Gewesensein Gottes bedeutet eben „das geistige Auferstehen“ (570) desselben. Der gläubige Mensch ist indessen noch an das vorstellende Bewusstsein gebunden; insofern nimmt das Bewusstsein an, dass es von seinem Gegenstand, dem absolut Ewigen, schlechthin different ist. Das Bewusstsein, das diese ontische Differenz voraussetzt, verlangt nun eine dritte Entität, um diese beiden miteinander zu vermitteln: die religiöse Gemeinde.258 Der gläubige Mensch glaubt, dass es sich in diesem religiösen Gemein-Wesen mit Gott versöhnen kann. Die Geburt, der Tod und die Erstehung Gottes sowie in der Folge die Gründung der Gemeinde sind die Heilsgeschichte der offenbaren Religion. Hegel denkt, dass der Gehalt des christlichen Gedankens begrifflich erfasst werden soll. Aber das religiöse Bewusstsein erfasst, weil die Ungleichheit mit dem Gott dadurch noch nicht spekulativ aufgehoben ist, jeden Moment der Heilsgeschichte solcherart, dass dieser schlechthin geschehen ist. Diese Form des Vorstellens macht die Bestimmtheit aus, in welcher der Geist in dieser seiner Gemeine seiner bewußt wird. Sie ist noch nicht das zu seinem Begriffe als Begriffe gediehene Selbstbewußtsein desselben; die Vermittlung ist noch unvollendet. Es ist also in dieser Verbindung des Seins und Denkens der Mangel vorhanden, daß das geistige Wesen noch mit einer unversöhnten Entzweiung in ein Diesseits und Jenseits behaftet ist. Der Inhalt ist der wahre, aber alle seine Momente haben, in dem Elemente des Vorstellens gesetzt, den Charakter, nicht begriffen zu sein, sondern als vollkommen selbständige Seiten zu erscheinen, die sich äußerlich aufeinander beziehen (W3.556). Die Lehre des Christentums impliziert den in der Form der Vorstellung stehenden Inhalt des selbstbewussten Geistes. Der christliche Gott muss zu seiner Wahrheit gelangen, die darin liegt, dass „der wahre Inhalt auch seine wahre Form für das Bewußtsein erhalte“, um „seine Anschauung der absoluten Substanz in den Begriff zu erheben“ (W3.556). Die Vollendung der christlichen Religion ergibt sich nämlich erst aus dem absoluten Wissen des Geistes, in dem der Inhalt der offenbaren Religion begrifflich erfasst wird. Freilich geht es in dem 258 Dazu vgl. Kruck (2009), S. 59-62. 226 Kapitel „Religion“ nur darum, wie der Gehalt der christlichen Lehre, d. h. der absolute Geist, im vorstellenden Wissen zu erreichen ist. Dieser Punkt wird nun anhand der christlichen Lehre der Trinität erörtert. 3.4 Die Lehre der offenbaren Religion: Gott ist Geist 3.4.1 Die triadische Struktur des christlichen Gottes Das göttliche Wesen in der christlichen Religion bleibt weder nur in der übernatürlichen Transzendenz (in der natürlichen Religion), noch erscheint es als das vom Menschen Eingebildete (in der Kunstreligion). Der christliche Gott erscheint hingegen dem Menschen, und zwar als die Substanz, die zugleich als ein wirkliches Subjekt da ist; der vollendete Begriff der Religion liegt darin, dass Gott als Geist aufgefasst wird. Es ist nämlich der Ansatzpunkt des christlichen Glaubens, einen einzelnen Menschen als das göttliche Wesen (d. h. den Gottmenschen) zu erkennen, und dadurch sich vereinigt mit dem absoluten Wesen zu fühlen. Das Bewusstsein muss den Entfaltungsgang des absoluten Geistes durchwandern, in dem die christliche Lehre der Trinität für den Inhalt des absoluten Geistes charakteristisch ist. Das heißt: „Gott wird nur so als Geist erkannt, indem er als der Dreieinige gewußt wird“ (W12.386). Diese Dreieinigkeit der Göttlichkeit wird im Umfeld der offenbaren Religion als die ursprüngliche Einheit von drei Personen (Gott Vater, Gott der Sohn und Heiligem Geist) angesehen. 259 Hegel versucht aber, die christliche Lehre durch seine spekulative Deutung zu erfassen.260 Der Kernpunkt der christlichen Lehre lässt sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen formulieren: Der Geist-Mensch kann sich erst, insofern er in der Geist-Gemeinde, d. h. mit 259 Dazu vgl. Ruhstorfer (2008), S. 140-146. Dazu vgl. z. B. Dooren (1969), S. 96. Hegel verwendet bei konkreten Darstellungen nicht explizit die üblichen christlichen Worte, wie Adam, Christus. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch die jeweils angemessenen Ausdrücke ergänzt, um die christlichen Lehre zu analysieren. Die triadische Struktur, die die Momente der christlichen Offenbarung in sich enthält, findet sich wohl nicht ausschließlich hier; auch in dem philosophischen Gesamtsystem Hegels, also in seiner Enzyklopädie, zeigt sie sich topologisch. Es ist selbstverständlich, dass sein Gesamtsystem der philosophischen Wissenschaft dem dreifachen Aufbau der logischen Idee entspricht. Der Logos als die logischmetaphysische Idee entwickelt sich nämlich zuerst als das reine Insichsein der Idee, dann als das Außersichsein der Idee und letztlich als die Rückkehr der Idee zu sich. Diese drei Momente der Idee machen die bekannte Triade von Logik, Natur und Geist aus. Dazu vgl. z. B. W10, S. 17 ff. 227 260 anderen gläubigen Menschen, zusammen da ist, mit dem Geist-Gott versöhnen. Diese Natur des göttlichen Wesens lässt sich folgendermaßen ausdrücken: Der Geist ist Inhalt seines Bewußtseins zuerst in der Form der reinen Substanz oder ist Inhalt seines reinen Bewußtseins. Dies Element des Denkens ist die Bewegung, zum Dasein oder der Einzelheit herunterzusteigen. Die Mitte zwischen ihnen ist ihre synthetische Verbindung, das Bewußtsein des Anderswerdens oder das Vorstellen als solches – Das dritte ist die Rückkehr aus der Vorstellung und dem Anderssein oder das Element des Selbstbewußtseins selbst. – Diese drei Momente machen den Geist aus (W3.557). Die Dialektik des Geistes in der christlichen Religion formuliert Hegel in drei Momenten um: 1) das Wesen als reines Denken, 2) sein Anderswerden als einzelnes Dasein und 3) seine Rückkehr zum Wesen als dem allgemeinen Selbstbewusstsein. Insofern der absolute Geist dem religiösen Bewusstsein erscheint, tut sich die offenbare Religion hervor. Der hier offenbarte Gott besteht in der Form der Vorstellung. Die Vorstellung macht die Mitte zwischen dem reinen Denken und dem Selbstbewußtsein als solchem aus und ist nur eine der Bestimmtheiten; zugleich aber, wie sich gezeigt, ist ihr Charakter, die synthetische Verbindung zu sein, über alle diese Elemente ausgebreitet und ihre gemeinschaftliche Bestimmtheit (W3.558). Die Vorstellung stellt sich als das zweite Moment des Geistes dar, soweit das gläubige Bewusstsein das göttliche Wesen selbst (also das obige reine Denken – sei es der Form nach die reine Substanz oder dem Inhalt nach das reine Bewusstsein) auffassen soll, um eine Anschauung von Gott zu haben. Aus diesem vorstellenden Gedanken des Bewusstseins ergibt sich die anfängliche Aufnahme des Gottesbegriffes; mit der Vermittlung des menschlichen Bewusstseins mit dem göttlichen Wesen beginnt die religiöse Ü berzeugung. Insofern ist die Vorstellung das eine, genauer zweite, Moment des Geistes. Aber diese „synthetische Verbindung“, die gleichwohl anders als die denkerische Aufhebung ist, macht zugleich den gemeinsamen Charakter des christlichen Glaubens aus, der wesentlich in der Form des vorstellenden Wissens besteht. Diese religiöse Vorstellung in ihrer weiteren Bedeutung (also als der Grundcharakter der christlichen Religion) besteht aus den obigen drei Momenten, also 1) dem reinen Wesen (als dem noch abstrakten Allgemeinen), 2) seinem 228 Anderswerden (als dem Besonderen) und 3) seiner Rückkehr zu sich (als dem konkreten Allgemeinen). Diese Weise der Dreieinigkeit Gottes ist der Ausdruck der christlichen Wahrheit vonseiten Gottes. Aber es gibt auch die Trinität Gottes vonseiten des Menschen; die Wahrheit der Religion kann das gläubige Bewusstsein dadurch nachvollziehen, dass sie ihm offenbar wird. Die Offenbarung Gottes ereignet sich durch die Geschichte der Menschwerdung Gottes, in der 1) die Geburt Christi, 2) sein Kreuzestod und 3) seine Auferstehung und Himmelfahrt geschildert werden. Die Heilsgeschichte geschah deswegen im Bewusstsein nicht nur desjenigen, der den Gottmenschen einst persönlich sinnlich anschaute, sondern auch derer, die diese Heilsgeschichte vorstellen. Der Verlauf dieser Offenbarung lässt sich aber unter einem noch weiteren Blickwinkel folgendermaßen darstellen: 1) Der Gott in sich als „das einfache sich selbst gleiche ewige Wesen“ (W3.558), 2) seine Entäußerung, aus der sich die Erscheinung des Gottesmenschen ergibt, sodass der Mensch die Passion Christi anschaut, und 3) die Versöhnung Gottes mit dem Menschen, die also die Verklärung Christi und dadurch die Gründung der religiösen Gemeinde bedeutet, aber die im die denkerische Aufhebung der religiösen Wahrheit, d. h. die Erhebung des Glaubens in das begreifende Denken des Geistes, impliziert. Dieser Verlauf lässt sich wie folgt umschreiben: 1) das Wesen als Ansichsein, 2) sein Fürsichsein als das Anderssein des Wesens und 3) sein Fürsichsein als Beisichsein in seinem Anderen. Das an sich seiende Absolute wird als ein einzelnes Fürsichsein als Gottmensch vergegenständlicht. Gott „schaut nur sich selbst in seinem Fürsichsein an“, aber er ist dadurch „in dieser Entäußerung nur bei sich“ (W3.559). Daraus lässt sich erkennen, dass die zwei Weisen der Trinität Gottes miteinander eng verwoben sind.261 3.4.2 Gott im reinen Denken und sein Anderswerden Gott ist zunächst als die Substanz im reinen Denken, die nur für uns erfassbar ist. Diese Gottheit ist auch als der vorweltlich-präexistente Logos, als die Basis, die das Christusgeschehen erst möglich macht, zu interpretieren. Aber dieses absolute Wesen in 261 In diesem Zusammenhang handelt es sich um die zwei Weisen der Trinität, also die immanente und die ökonomische Trinität. Aber die beiden beruhen wesentlich auf dem gleichen gedanklichen Boden. Zu der These der Identität zwischen den beiden vgl. Rahner (1967), S. 327 ff. 229 seiner einfachen Bestimmtheit geht notwendigerweise zu seinem Anderssein über; denn das nur sich selbst gleiche Wesen wäre ein leeres Wort, wenn es nur in dem Moment des reinen Denkens liegen würde (W3.558). Gott muss daher seinen abstrakten Zustand überwinden, insofern Gott Geist ist. Die abstrakte Bestimmtheit des göttlichen Wesens führt zur immanenten Dialektik des Geistes, dessen Negativität den Grund für den Ü bergang zu seinem Anderssein bildet. Das einfache Wesen aber, weil es die Abstraktion ist, ist in der Tat das Negative an sich selbst, und zwar die Negativität des Denkens oder sie, wie sie im Wesen an sich ist; d. h. es ist der absolute Unterschied von sich oder sein reines Anderswerden (W3.559). Das Anderswerden des Wesens bedeutet, dass das Wesen vergegenständlicht wird; damit wird das geistige Wesen Gottes im vorstellenden Gedanken erfasst. Der gläubige Mensch nimmt also an, dass „das ewige Wesen sich ein Anderes erzeugt“ (W3.559). Als diese Erzeugung kann man die Geburt Christi denken. Dieses göttliche Geschehen ist eine bedeutsame Tatsache für das religiöse Bewusstsein. Hegels Gedanke, dass Gott Geist ist, wird mit dem Begriff Nous oder Logos deutlicher gemacht: [Das göttliche Wesen] ist das Wort, das ausgesprochen den Aussprechenden entäußert und ausgeleert zurückläßt, aber ebenso unmittelbar vernommen ist, und nur dieses Sichselbstvernehmen ist das Dasein des Wortes. So daß die Unterschiede, die gemacht sind, ebenso unmittelbar aufgelöst, als sie gemacht, und ebenso unmittelbar gemacht, als sie aufgelöst sind (W3.559). Für das gläubige Bewusstsein ist dieser Logos nicht vollauf zu begreifen, weil es noch nicht zum vollkommenen Wissen von sich gelangt ist. Nach christlicher Vorstellung ist freilich die Vermittlung von Mensch und Gott möglich, denn die Kluft zwischen beiden kann durch das „Anerkennen der Liebe“ überbrückt werden; die Liebe Gottes ist sein „Anschauen seiner selbst im Anderen“ (W3.561), wodurch der Unterschied zwischen und seinem Anderen aufgelöst wird. Die göttliche Wahrheit ist hiermit als Gottes Liebe verstanden, sodass sich die Einheit zwischen dem Jenseits und dem Diesseits vonseiten des Bewusstseins ergibt.262 Dazu vgl.: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und 230 262 Allerdings besteht hier noch der Mangel hinsichtlich der Form; also soll die Lehre der Liebe durch die spekulative Einsicht überprüft werden. Gott als das einfache Wesen ist der Geist im Element des reinen Denkens; aber sein Wesen muss mit dem Menschen versöhnt werden. Das Prinzip der göttlichen Liebe ist als der Grund seiner Anderswerdung oder seiner Welt-Erschaffung zu verstehen.263 Weil Gott zu seiner Heilsgeschichte übergegangen ist, ist das religiöse Bewusstsein davon überzeugt, dass die Einheit von Gott und Mensch wesentlich die Wahrheit Gottes ist. Weil das göttliche Wesen als Ansichsein, um seine Abstraktheit zu überwinden, zu seinem Anderswerden führt, wird in der Lehre von der christlichen Religion angenommen, dass es sich durch das Prinzip der Liebe für das Bewusstsein vergegenständlicht. Was diese Anderswerdung Gottes ist, legt Hegel dar: In dem Element des vorstellenden Bewusstseins haben die drei Momente des Wesens im reinen Denken nun jeweils ein „substantielles Dasein“, sodass sie jeweils „Subjekte“ werden (W3.561). Das Anderswerden Gottes wird von dem religiösen Bewusstsein als die Parusie Gottes aufgefasst; Gott entäußert sich seines an sich seienden Wesens, sodass sich die Entstehung der endlichen Welt ereignet. Dieser Prozess der Anderswerdung geschieht in folgender Weise: 1) die Schöpfung der Natur, 2) der Naturzustand des Menschen bzw. sein Bösewerden, 3) die Leidensgeschichte Christi und 4) die Erlösung der Menschheit durch das Wissen von der göttlichen Wahrheit. Jedes dieser Momente hat seinerseits seine eigene Selbstständigkeit, aber jedes Geschehnis ergibt sich ursprünglich durch die Liebe Gottes. 3.4.3 Die Schöpfung der endlichen Welt Gott erschuf diese Welt und erschafft sie ewig. Die „Schöpfung und Erhaltung der Welt“ enthält nämlich die „[r]äumliche Bestimmung, wo der ewige Gott sei“ (V5.24) in sich. zu besitzen“ (W14.155); „[wenn] in der christlichen Religion Gott als die Liebe gewußt wird, […] so ist damit gleichfalls ausgesprochen, daß der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität an sich überwunden ist […] So wie nun die Religion und der religiöse Kultus in der Ü berwindung des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität besteht, ebenso hat auch die Wissenschaft und näher die Philosophie keine andere Aufgabe als die, diesen Gegensatz durch das Denken zu überwinden“ (W8.351). 263 Dazu vgl.: „[D]er Geist stellt sich als sein Anderes sich gegenüber und ist aus diesem Unterschiede Rückkehr in sich selbst. Das Andere in der reinen Idee aufgefaßt ist der Sohn Gottes, aber dies Andere in seiner Besonderung ist die Welt, die Natur und der endliche Geist: der endliche Geist ist somit selbst als ein Moment Gottes gesetzt. So ist der Mensch also selbst in dem Begriffe Gottes enthalten, und dies Enthaltensein kann so ausgedrückt werden, daß die Einheit des Menschen und Gottes in der christlichen Religion gesetzt sei“ (W12.392). 231 Die erschaffene Welt ist die Natur als Außersichsein der Idee, das, noch „der Innerlichkeit ermangelnd, passiv oder Sein für Anderes ist“ (W3.561); diese Welt ist der physische Boden für andere Geschöpfe. Auf diesem Territorium tritt ein Mensch auch als ein Geschöpf Gottes auf. Die Vermittlung Gottes mit dem Menschen fängt ab diesem Zeitpunkt mit diesem ersten Menschen, Adam, zusammen an; dieser Naturmensch in der endlichen Welt eröffnet die „wahrhafte Geschichte des endlichen Geistes“, die auch als die „ewige Geschichte des Menschen“ (V5.29; 42) bezeichnet wird. Diese liegt der gesamten nachfolgenden Erlösungsgeschichte zugrunde, die von der Menschwerdung Gottes durch die Geschichte des religiösen Gemeinwesens hindurch und bis zum Wissen vom Weltgeist wandert. Darüber schreibt Hegel Folgendes: Alles Wahre fängt in seiner Erscheinung, d. h. in seinem Sein, von der Form der Unmittelbarkeit an. Dieser Begriff muß also in dem Selbstbewußtsein der Menschen, im Weltgeiste so vorhanden [sein] (V5.80). Das einzelne Subjekt, als erschaffenes, ist „noch nicht Geist für sich; es ist also nicht als Geist; es kann unschuldig, aber nicht wohl gut genannt werden“ (W3.562); dieser erste Mensch erkennt nämlich noch nicht, was gut oder böse ist.264 Er wurde „durch das Pflücken vom Baume des Erkenntnisses des Guten und [des] Bösen“ endlich „aus dem Zustande des unschuldigen Bewußtseins, aus der arbeitslos sich darbietenden Natur und dem Paradiese, dem Garten der Tiere, vertrieben“ (W3.562) – so lautet die Darstellung des Sündenfalls. Weil der erste Mensch Adam mit Tieren zusammenlebte, wurde er als „der bloß natürliche Mensch“ bezeichnet, weil es sich schickte, „sein natürliches Glück“ (W12.389) zu haben und mühelos mit Gott und anderen Tieren zusammenzuleben. Aber dieser Naturmensch schlug in den für sich seienden Geist um. Es gibt das Gute und das Böse, soweit sie erkannt werden; die Sünde vom Menschen, aus der sich ergibt, dass der Mensch nun zum Verlassen des Paradieses gezwungen ist, bestehen deshalb nur in dem „Gedanke[n] des Guten und [des] Bösen“ (W3.562). Es ist aber bei Hegels Deutung der ursprünglichen Geschichte des Sündenfalls zu beachten, dass er die Sündhaftigkeit des Menschen in Betracht zieht, um ein Auge auf den geistesphilosophischen Sinn des Bösewerdens zu werfen. Das Böse ist Hegel zufolge nicht Dazu vgl.: „Die Unschuld aber, als Mangel sowohl des Guten als des Bösen, ist gleichgültig gegen beide Bestimmungen, weder positiv noch negativ“ (W6.72). 232 264 bloß als die Privation des Guten zu interpretieren, sondern es hat denselben Selbstwert wie das Gute: „Das Böse besteht in dem Beruhen auf sich gegen das Gute; es ist die positive Negativität“ (W6.72). Auch das Böse hat wie das Gute eine ontologische Positivität; um der Abgrenzung des Bösen vom Guten willen kann auch das Gute vorhanden sein; wo es das Gute gibt, da gibt es auch das Böse und, falls es dem Bewusstsein noch an dem Bösen mangeln würde, wäre das Gute ebenso wenig sichtbar. Aber das Böse ist vor allem das Grundmotiv dazu, das Selbstbewusstsein von dem Naturzustand zu befreien. Indem der Zustand des unmittelbaren, reflexionslosen Bewusstseins zum Wissen von der Ungleichheit zwischen sich selbst und dem Anderen übergeht, „so erscheint das Böse als das erste Dasein des in sich gegangenen Bewußtseins“ (W3.562). Diese Phase ist hinsichtlich der religiösen Lehre wohl als die Sünde zu verstehen, aber sie ist sowohl die Geburtswehe des selbstbewussten Geistes als auch der wahrhafte Ansatzpunkt der Vermenschlichung des Menschen.265 Hegels teleologisches Argument über das Böse findet sich nicht bloß hier, sondern auch in seinem enzyklopädischen System, in dem stufenweise der Geist jeweils seine Einseitigkeit überwindet, um seine Absolutheit zu erreichen.266 Solange die Erkenntnis des Guten und des Bösen „der aus der Unmittelbarkeit herkommende oder bedingte Gedanke“ ist, führt sie dazu, dass die Einheit zwischen dem Menschen und dem Gott direkt zerstört wird, „weil die Gedanken des Guten und des Bösen schlechthin entgegengesetzte [sind] und diese Entgegensetzung noch nicht aufgelöst ist“ (W3.562). Diese Vorstellung über den Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen hat zur Folge, dass die beiden jeweils als das selbstständige Dasein im religiösen Denken vorgestellt werden. Insofern das unmittelbare Dasein in den Gedanken umschlägt und das Insichsein teils selbst Denken, teils das Moment des Anderswerdens des Wesens damit näher bestimmt ist, so kann das Bösewerden weiter rückwärts aus der daseienden Welt hinaus schon in das erste Reich des Denkens verlegt werden (W3.563). Dazu vgl.: „Das Erkennen als Aufhebung der natürlichen Einheit ist der Sündenfall, der keine zufällige, sondern die ewige Geschichte des Geistes ist. […] Der Sündenfall ist daher der ewige Mythus [sic!] des Menschen, wodurch er eben Mensch wird“ (W12.389). 266 Die Thematik des Bösen fungiert als das Leitmotiv des Ü bergangs in die Dialektik der begriffsnotwendigen Entwicklung. Zu Hegels spekulativer Interpretation des Ursprung des Bösen vgl. W7, S. 261-265 und zu seiner Teleologisierung des Bösen vgl. Hermanni (2002), S. 220 ff. 233 265 Das Reich des Bösen kommt nämlich vor, wie das des Guten; man denkt aber, dass das Böse vorher entstanden sei, weil „schon der erstgeborene Lichtsohn, als in sich gehend, es sei, der abgefallen, aber an dessen Stelle sogleich ein anderer erzeugt worden [sei]“ (W3.563). Der erste Eingeborene sei Luzifer, den J. Böhme schon erläutert hat. Es ist am Sohn, an der Bestimmung des Unterschieds, daß die Fortbestimmung zu weiterem Unterschied fortgeht, daß der Unterschied sein Recht erhält, sein Recht der Verschiedenheit. Diesen Übergang am Moment des Sohnes hat Jakob Böhme, wie schon gesagt, so ausgedrückt, daß der erste Eingeborene, Luzifer, der Lichtträger, das Helle, das Klare gewesen, aber sich in sich hineinimaginiert, d. i. sich für sich gesetzt habe, zum Sein fortgegangen und so abgefallen sei. Aber unmittelbar sei an seine Stelle getreten der ewige Eingeborene (V5.218). Dieses Lichtträger-Argument bedeutet, dass das Element des Bösen vor der Geschichte der Menschheit zum Wesen Gottes gehörte, obgleich nach seinem Abfall von Gott sogleich der andere, aber dieser ewige Eingeborene, also Jesus Christus, an seine Stelle trat. Hegel versucht, die herkömmliche christliche Lehre spekulativ aufzuheben. Es ist aber noch zu überlegen, was Hegel mit seiner philosophischen Einsicht in die Christlichkeit meint. Das Argument von Böhme ist von geläufigen Lehren deutlich zu unterscheiden. Böhme vertritt die Meinung, dass „Gott alles ist“, indem er sich darum bemüht, „das Böse im Guten, den Teufel in Gott zu fassen“ (W20.105). Hegel akzeptiert aber Böhmes Argument nicht gänzlich, weil Böhme aus Hegels Sicht die Ausdrucksformen der Vorstellung, wie das Abfallen oder der Sohn Gottes, nicht vollkommen überwinden kann, sodass das Element der Vorstellung und das des begrifflichen Gedankens chaotisch miteinander vermengt sind. Die Folge davon ist, dass man die bestimmte Anzahl des göttlichen Wesens annimmt. Aber es ist Hegel zufolge „gleichgültig“, „dem einfachen Gedanken des Andersseins im ewigen Wesen noch eine Mannigfaltigkeit anderer Gestalten beizuordnen“ (W3.563); es ist nämlich im Grunde belanglos, ob die Momente des Anderswerdens Gottes als „Viereinigkeit“, als „Fünfeinigkeit“ oder anders ausgedrückt werden (W3.563). Es ist ergo unbefriedigend, eine gewisse Zahl zu nennen und einen bestimmten Unterschied zu beachten, da dieser Versuch in die schlechte Unendlichkeit geraten muss. 267 Hegel geht nicht darauf ein, ob die Dazu vgl.: „[…] indem teils das Unterschiedene selbst ebensosehr nur Eines ist, nämlich eben der Gedanke des Unterschiedes, der nur ein Gedanke ist, als er dieses Unterschiedene, das zweite gegen das erste ist, – teils aber, weil der Gedanke, der das Viele in Eines befaßt, aus seiner Allgemeinheit aufgelöst und in mehr als drei oder vier Unterschiedene unterschieden werden muß, – welche Allgemeinheit gegen die absolute Bestimmtheit des abstrakten Eins, des Prinzips der Zahl, als Unbestimmtheit in der Beziehung auf die Zahl selbst erscheint, 234 267 Bestimmtheit der gewissen Anzahl (Dreieinigkeit, Viereinigkeit, Fünfeinigkeit usw.) richtig ist oder nicht. Hegel selbst erwähnt zwar die triadische Struktur des göttlichen Wesens, behauptet aber, dass die begriffliche Totalität nicht mit der abstrakten Allgemeinheit verwechselt werden sollte. Es geht nicht darum, ob die Momente als dreieinig gezählt werden oder nicht, sondern vielmehr darum, was Hegel mit der Dreieinigkeit meint, die durch die philosophische Einsicht erhellt werden soll. Der Gedanke des Gegensatzes zwischen dem Guten und dem Bösen wird als das vorweltlich-präexistente Wesen im reinen Denken angenommen. Aber diese beiden (scheinbar selbstständigen) Momente des Anderswerdens Gottes sind bereits vollzogen; das Böse erscheint als „das Insichgehen des natürlichen Daseins des Geistes“ und das Gute tritt als „ein daseiendes Selbstbewusstsein“ auf (W3.564). Das Böse und das Gute im Menschen werden als das „Selbst“, wie Adam und Christus, charakterisiert.268 Das „Selbst“ ist auf einer Seite als das Dasein des Bösen, das dem göttlichen Wesen nicht angemessen ist, verstanden; das böse Bewusstsein wird nämlich „als ein dem göttlichen Wesen fremdes Geschehen“ (W3.564) angesehen. Es ist somit für das gewöhnliche Bewusstsein unbegreiflich, das Böse in diesem Wesen selbst zu erfassen; dadurch muss das gläubige Bewusstsein ein solches Dasein des Bösen als den „Zorn“ (W3.564) Gottes auffassen. Diese Eigenschaft macht die grundlegende Triebfeder der Geschichte der Menschheit aus, aus der sich Hegels Theodizee-Konzept ergibt. Aber das andere Selbst tritt nunmehr auf; es ist, als der ewig-einzigartige Sohn Gottes vorgestellt, der einzelner Mensch, der zugleich sich selbst als das göttliche Wesen weiß. Die Großmütigkeit des Gottmenschen besteht in der „Selbsterniedrigung“ seines Wesens, „das auf seine Abstraktion und Unwirklichkeit Verzicht tut“ (564). Indem dieses höchst gute Dasein Gottes in der Geschichte der Menschheit existiert, ergibt sich ein Wendepunkt in der Bildungsgeschichte des Geistes; das tiefste Wesen liegt nämlich in der „Spitze der Entäußerung“ (V5.28), d. h. in der höchsten „Entfremdung des göttlichen Wesens“ (W3.564), welche die Verwirklichung des an sich seienden Gottes in dem konkreten Dasein ist. so daß nur von Zahlen überhaupt, d.h. nicht von einer Anzahl der Unterschiede die Rede sein konnte, also hier überhaupt an Zahl und ans Zählen zu denken ganz überflüssig, wie auch sonst der bloße Unterschied der Größe und Menge begrifflos und nichtssagend ist“ (W3.563 f.). Zu dem Verhältnis von der schlechten Unendlichkeit und der wahrhaften vgl. W8, S. 198-203. 268 Dazu vgl. Schöndorff (1982), S. 557. 235 3.4.4 Geburt, Tod und Auferstehung Christi Die Entfremdung oder Entäußerung des göttlichen Wesens als die Vergegenständlichung desselben bedingt die wahrhafte Vereinigung zwischen dem einzelnen „Selbst“ und dem absoluten Wesen im reinen Denken. Diese Offenbarung Gottes ergibt sich aus der Entstehung des selbstbewussten Geistes, welche erst durch die spekulative Erinnerung an die zweifache Entäußerung des Geistes erreichbar ist. Für das religiöse Bewusstsein gilt das Erscheinen dieses Geistes als die Geburt des Gottmenschen; die Trinitätslehre besteht in der folgenden Vorstellung: Gott der Sohn sei aus der Einheit von „Mutter“ (als der Wirklichkeit) und „Vater“ (als dem Ansichsein) geboren (W3.550), wobei die spekulative Vereinigung von jenem Selbstbewusstsein und dieser Substanz mit dem Gedanken der Jungfrauengeburt verstanden wird.269 Die ganze Menschheit, als Nachfahr von Adam, steht immerwährend zwischen dem Guten und Bösen. Das gläubige Bewusstsein hält dafür, dass es wesentlich nicht so wie der Gottmensch beschaffen sei. Ihm scheint der Vereinigungsversuch vom Guten und Bösen unvollkommen, da es nicht völlig zum Guten gelangen kann. Das wirkliche „Selbst als der Glaubende sieht sich selbst als „noch leere Mitte“ zwischen beiden Momenten an, welche nur die „bloße Gemeinschaftlichkeit der beiden“ (W3.565) bedeutet. Insofern das Gute und das Böse als komplett selbstständige Wesen gedacht sind, bleibt der Ü berbindungsversuch dieses Gegensatzes im Inneren des Menschen bei allen Anstrengungen immer vergeblich. Die Bewegung der Vereinigung zwischen dem Guten und dem Bösen besteht, wie schon gesagt, wesentlich in der spekulativen Einsicht in die Notwendigkeit der gedoppelten Entäußerung des Geistes. Die wahrhafte Vereinigung von beiden wird jedoch für das Bewusstsein zunächst ausschließlich als „ein freiwilliges Tun“ des Gottmenschen (W3.565), gleichsam als ein außergewöhnliches Christusgeschehen vorgestellt; das göttliche Wesen leiste wortwörtlich einen freiwilligen Verzicht auf sein Fürsichsein, um sich selber mit Gott in sich zu versöhnen, aber auch, um hiermit alle Menschen sich mit dem absoluten Wesen versöhnen zu lassen. Seine Aufopferung hat alle Zeugen schockiert, weil sie ihnen „ein unbegreifliches Geschehen“ (W3.566) scheint. Das christliche Bewusstsein hat den Tod des Gottmenschen angeschaut. Weil die Offenbarung des Gottmenschen im Prinzip das Resultat der Entäußerung des einfachen Wesens Gottes (als des ersten Moments des absoluten Wesens) war, bedeutet dieser Tod des Gottmenschen eben das zweite Anderswerden des ersten Anderswerdens Gottes; aus diesem 269 Dazu vgl. Küng (1970), S. 263. 236 Grund wird sein Tod als der nochmalige Tod Gottes bezeichnet, denn der Gottmensch selbst ist durch die Entäußerung des Gottes in sich entstanden. Der Tod Christi zeigt dem Bewusstsein, dass das erste Anderssein des Gottes in sich (also der Gottmensch) durch das zweite Anderswerden (durch seinen Tod) denkerisch aufgehoben wird. Denn in dieser Bewegung stellt es [= Gott als absolutes Wesen] sich als Geist dar; das abstrakte Wesen ist sich entfremdet, es hat natürliches Dasein und selbstische Wirklichkeit; dies sein Anderssein oder seine sinnliche Gegenwart wird durch das zweite Anderswerden zurückgenommen und als aufgehobene, als allgemeine gesetzt; dadurch ist das Wesen in ihr sich selbst geworden; das unmittelbare Dasein der Wirklichkeit hat aufgehört, ein ihm fremdes oder äußerliches zu sein, indem es aufgehobenes, allgemeines ist; dieser Tod ist daher sein Erstehen als Geist (W3.565 f.). Aus seinem Tod folgt das „geistige Auferstehen“ (W3.570), weil sich dadurch die Möglichkeit der Versöhnung des absoluten Wesens mit dem menschlichen Bewusstsein offenbart. Diese Phase führt Hegel in seiner Religionsphilosophie folgendermaßen aus: [I]n dem natürlichen Tode [wird] die Endlichkeit als bloß natürliche zugleich verklärt, aber hier auch […] das Kreuz verklärt, das in der Vorstellung Niedrigste [...] – dieses verkehrt zum Höchsten […]. So ist das für das Niedrigste, Verachtetste Geltende zum Höchsten gemacht. Hier liegt der unmittelbare Ausdruck der vollkommenen Revolution gegen das Bestehende, in der Meinung Geltende (V5.65). An den Tod Christi schließen sich seine Auferstehung und Verklärung an; diese bleiben nicht bloß als eine historische Tatsache; ob diese wirklich geschah oder nicht, ist auch kein wesentliches Thema. Der entscheidende Punkt ist dafür vielmehr, dass dieses Geschehen das Bewusstsein dazu bewegt, den Tiefsinn des absoluten Begriffs zu erfassen. Deshalb wird es als die vollkommene Revolution in der Weltgeschichte bezeichnet. Das Bewusstsein, das Gott sieht, hört usw., spricht nun aus, dass es selbst ihn gesehen, gehört usw. habe. Dieses Ge-Wesen-Sein des religiösen Denkens, wodurch der Gehalt der Gegenwart bewahrt wird, gibt dem erscheinenden Bewusstsein einen dezisiven Anlass zum Ü bergang des Bewusstseins zum absoluten Geist. Hegel stellt diese Umstände wie folgt dar: 237 Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden. – Der Verlauf bleibt aber nicht hier stehen, sondern es tritt nun die Umkehrung ein; Gott nämlich erhält sich in diesem Prozeß, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben: Es wendet sich somit zum Gegenteil. – Die Auferstehung gehört ebenso wesentlich dem Glauben an: Christus ist nach seiner Auferstehung nur seinen Freunden erschienen; dies ist nicht äußerliche Geschichte für den Unglauben, sondern nur für den Glauben ist diese Erscheinung. Auf die Auferstehung folgt die Verklärung Christi, und der Triumph der Erhebung zur Rechten Gottes schließt diese Geschichte, welche in diesem Bewußtsein die Explikation der göttlichen Natur selbst ist (V5.247). In diesem Zusammenhang lässt sich sagen, dass dieser Tod des Todes und die Auffahrt Christi am substanziellsten und essenziellsten unter den Phasen der Entäußerung Gottes seien. 270 Hierdurch zeigt Gott sich als Geist, und zwar „als dies Negative des Negativen“ oder „als versöhnter“ (68). 3.4.5 Das Versöhnungsgeschehen des Geistes in der Gemeinde Das Christusgeschehen – wie Tod und Auferstehung – ist der entscheidende Zeitpunkt für den christlichen Glauben, weil dadurch der selbstbewusste Geist nicht bloß als ein einzelnes „Selbst“, sondern eher als „allgemeines Selbstbewußtsein“ erscheint (W3.566); das göttliche Wesen als ein Einzelnes wird hiermit das absolute Wesen. Der Geist ist nunmehr gegenwärtig im Selbstbewusstsein des Menschen, und zwar ebenso wesentlich als auch unmittelbar. Der Geist ist also in dem dritten Element, im allgemeinen Selbstbewußtsein gesetzt; er ist seine Gemeinde (W3.568). Dazu vgl.: „Hegels konzentrierte Darlegungen seiner theologischen Auffassung in der philosophischen Gesamtkonzeption seiner Phänomenologie des Geistes zeigt aber eindeutig, daß [keine Menschwerdung Gottes, vielmehr] Tod und Auferstehung Christi für ihn in der Mitte des theologischen und christologischen Geschehens stehen“. Schöndorff (1982), S. 550. 238 270 Durch die wirkliche Gründung einer Gemeinde kehrt das religiöse Selbstbewusstsein aus der Vorstellung als dem zweiten Moment des göttlichen Geistes in das dritte Moment, quasi in das „Selbst“, das zugleich im allgemeinen Wesen besteht, zurück. Im Christentum ist Gott als Geist offenbar; Gott gilt nämlich für das religiöse Selbstbewusstsein als Gott. Der GeistGott ist sonach wesentlich und unmittelbar in der Gemeinde, und Gott ist nur sofern wahrhaft wirklich Geist, als er in der Gemeinde, d. h. in der Gemeinsamkeit von Geist-Gott und GeistMenschen ist.271 Die Gemeinde ist die Gemeinde Gottes und zugleich auch die Gemeinde des Menschen, weil hier die beiden miteinander versöhnt sind; in dieser Gemeinde geschieht also die „Versöhnung des Geistes mit sich selbst“ (W3.570). Während im Kapitel „Geist“ der WELTLICHE GEIST die Vermittlung mit sich erreichte, so ereignet sich diese Versöhnung auf der Ebene des RELIGIÖ SEN GEISTES, im Sinne der wahrhaften Totalität. Die Gemeinde beweist sich also für das religiöse Selbstbewusstsein als „ein wirkliches, gegenwärtiges Leben im Geiste Christi“ (W12.397); daraus ergibt sich das allgemeine Selbstbewusstsein. Wie schon erörtert, wurde das Böse in Gott nie und nimmer anerkannt, also wurde es ausgesprochen, dass die Entstehung des Bösen nur als ein Abfall vom Gott aufzufassen sei. Gottmensch wurde außerdem als Personifikation der Identität von göttlicher und menschlicher Natur gedacht, anders als der Mensch, der zwischen dem Guten und dem Bösen schweben muss. Allein wenn das Böse de facto dem an sich seienden göttlichen Wesen selbst fremd wäre, wäre Gott nur ein leeres Wort, nicht ein wahrhafter Logos. Soweit Gott als der absolute Geist im eigentlichen Sinne zu verstehen ist, werden das Gute und das Böse als an sich voneinander ungetrennt und untrennbar gedeutet. Aber für das gläubige Bewusstsein geht es nur um die „Versöhnung des göttlichen Wesens mit dem Anderen überhaupt“, d. h. mit dem „Bösen“ (W3.567), also nicht um die Versöhnung des absoluten Wesens mit sich selbst oder um das Verhältnis des Geistes zu sich selbst. Diese Versöhnung besteht darin, dass das Gute und das Böse an sich dasselbe sind. Aber das Wissen davon beruht, falls auf „eine ungeistige Weise“ aufgenommen, auf dem entscheidenden „Mißverständnis“ (W3.567), als ob die beiden, schlechthin getrennt, durch das Christusgeschehen miteinander eins würden. Nach dem geläufigen Verstand seien die beiden, sofern sie voneinander unterschieden, also außerhalb der Einheit, sind.272 Aber die Ausdrucksformen des abstrakten Gedankens – wie dasselbe und nicht dasselbe, die Identität und die Nichtidentität – müssen überwunden werden; daraus resultiert das spekulative Wissen. In einer konkret-dynamisch entwickelten Einheit miteinander enthält jedes „sein 271 272 Dazu vgl. Dellbrügger (1998), S. 345; Kohl (2003), S. 276. Dazu vgl. Ringleben (1977), S. 215 f. 239 Anderes in ihm“ als „sein eigenes Moment“ (W5.158) in sich. „Indem das Böse dasselbe ist, was das Gute, ist eben das Böse nicht Böses noch das Gute Gutes, sondern beide sind vielmehr aufgehoben“ (W3.567). Diese „geistige Einheit“ ermöglicht die wahrhafte Versöhnung, indem sie der „Allgemeinheit des Selbstbewußtseins“ zugehört; diese „Bewegung der Gemeinde“ zeigt, dass der „gestorbene göttliche Mensch“ in vollem Maße „das allgemeine Selbstbewußtsein“ (W3.568) ist. Damit das einzelne Bewusstsein freilich dieses Wissen von der Allgemeinheit erreichen könnte, soll es aufhören, ein vorstellendes Bewusstsein zu sein, um „sich zum Geiste zu erheben“ (W3.569). Dadurch entsteht die Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES. Indem das „Selbst“, wie schon gesagt, in sich geht, wird es erst böse. Aber diese böse Seite, die „das natürliche Dasein und das einzelne Fürsichsein“ darstellt, ist „schon an sich“ gegeben (W3.569). Indem das vorstellende Bewusstsein nämlich aus seiner „Natürlichkeit“ in sich zurückkehrt, wird das an sich seiende Böse jetzt als das „daseiende Bösewerden“ (W3.569) vorgestellt. Aus diesem Grunde wird das Böse im vorstellenden Bewusstsein als der „natürliche Geist“ (W3.569) benannt, welcher sich durch die Ü berzeugung von seiner Natürlichkeit zum Geist erheben kann. Dieser Geist, der gewissermaßen in seiner Natürlichkeit besteht, muss von der Sinnlichkeit in die wahrhafte Geistigkeit übergehen. Ein Bösewerden im Element des allgemeinen Selbstbewusstseins muss das „Werden des Gedankens des Bösen“ (W3.569) sein, sodass sich zwar das „Absterben der Sünde“ ergibt, aber religionsphilosophisch gesehen erst die wahrhafte „Versöhnung des Geistes mit sich selbst“ (W3.570) geschieht. Der Gedanke der Christlichkeit besagt in der Form der Vorstellung, dass „durch das Geschehen der eigenen Entäußerung des göttlichen Wesens, durch seine geschehene Menschwerdung und seinen Tod das göttliche Wesen mit seinem Dasein versöhnt ist“ (W3.570). Diese Versöhnung kommt erst durch den Ü bergang zum allgemeinen Selbstbewusstsein zustande; durch die Gründung der Gemeinde wird die Bedeutung des Todes Gottes denkerisch aufgehoben. Der „Tod des Mittlers“ wird nun „von dem Nichtsein dieses Einzelnen verklärt“, die „Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemeine lebt, in ihr täglich stirbt und aufersteht“ (W3.571), ist also erreichbar; der Gott-Geist erstirbt und ersteht zugleich im täglichen Leben des religiösen Selbstbewusstseins. Was täglich tot ist, das ist nicht irgendein wirkliches Leben, sondern nur das natürliche Dasein des „Selbst“, das vorhin das Ansichsein des Bösen genannt wurde. Aus dem „Tod des Mittlers“ ergibt sich die Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES. Also ist das Göttliche nunmehr nicht einfach mit dem sich fremden Wesen; es steht nicht mehr dem gläubigen Bewusstsein gegenüber. Gott ist 240 vielmehr mit seinem eigenen Wesen versöhnt, weil er als wirkliches „Selbst“ offenbar gewesen, der Mensch eben so Geist ist; der geistige Gott ist durch die geistige Gemeinde mit dem geistigen Menschen vermittelt. Allein es ist zu beachten, dass wir das Geschehen des göttlichen Wesens, d. h. den geschichtlichen Ablauf der Versöhnung von Gott und Mensch, nicht einfach durch die Reduzierung auf die historischen Tatsachen, gleichsam durch das einstmalige Leben Christi erfassen sollten. Der christliche Glaube steht, insofern er die Religion ist, in der Form des vorstellenden Gedankens; die ewige und absolute Wahrheit der christlichen Lehre kann man nur vom spekulativen Standpunkt aus, also in Anlehnung an den begreifenden Gedanken der obigen Dialektik des Geistes, erfassen. Christus ist nicht bloß als eine historische Person aufzufassen, also dass er z. B. Wunder wirkte oder als moralischer Lehrer seinen Schülern ein Vorbild gab; denn der gedankliche Inhalt des Christentums ist nicht in dieser „geistlose[n] Erinnerung“ an den „Ursprung als das unmittelbare Dasein der ersten Erscheinung“ (W3.557), sondern durch die spekulative Er-Innerung erreichbar. Die ökonomische Trinität Gottes kann also, solange sie von jener Form der sinnlichen Anschauung bzw. Vorstellung nicht entbunden ist, dem Schicksal der „Vergangenheit und Entfernung“ (W3.556) nicht entgehen. 241 C. Der Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion in der Phänomenologie des Geistes 1. Der Ü bergang von der griechischen Sittlichkeit zu dem moralischen Gewissen Um den Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion anhand der PHG zu betrachten, muss man zunächst die Darstellung des erscheinenden Wissens im Kapitel „Geist“ verdeutlichen; dadurch wird die Struktur des Ü bergangs des sittlichen Geistes (in der altgriechischen Welt) zum moralischen Geist (in der neuzeitlichen Welt) erkennbar. Die kurze Einleitung zum Kapitel „Geist“ (W3.324 ff.) widmet sich vorzugsweise der Erörterung des Sittlichkeitsbegriffs. Das resultiert wohl in erster Linie aus Hegels Absicht, Leser zum Einblick in den ersten Abschnitt in diesem Kapitel (also in die „Sittlichkeit“) einzuführen. Der hier ausgeführte Begriff der Sittlichkeit aber erlaubt es uns, die gesamte Dialektik des Kapitels „Geist“ einheitlich aufzufassen; der gesamte Bildungsgang im Kapitel „Geist“, der vom Geist in seinem unmittelbaren Bewusstsein („Sittlichkeit“) durch den Geist in seiner abstrakten Entfremdung („Bildung“) endlich zum Geist in seiner absoluten Selbstgewissheit („Moralität“) reicht, kann als die Entstehungsgeschichte des neuzeitlichen Subjekts bezeichnet werden; der „Geist“ behandelt nämlich einen Augenblick des sittlichen Lebens in der antiken Welt, dessen Untergang, die sukzessive Befreiung von der Entfremdung und die Autonomie des moralischen Subjekts in der Neuzeit. Was der „Geist“ in der PHG impliziert, das macht für Hegel das Grundprinzip des gelungenen Zusammenlebens aus. Dieses Prinzip des Gemeinwesens, also der gegenseitigen Anerkennung von Individuen oder der Versöhnung eines Einzelnen mit einem anderen bzw. mit dem Allgemeinen, entdeckt Hegel wohl im alten Griechentum. Die neuzeitliche Sittlichkeit kann man noch nicht in der PHG finden; aber im Rahmen des moralischen Gewissens (im Abschluss des Kapitels „Geist“) und weiterhin der offenbaren Religion (im Abschluss des Kapitels „Religion“) behandelt Hegel die Formen der Versöhnung. Die Betrachtung der beiden Versöhnungsformen in der PHG erlaubt es uns, Hegels Lehre der neuzeitlichen Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie genauer und umfänglicher zu deuten. Hegel fängt im Kapitel „Geist“ damit an, auf den Begriff der „Sittlichkeit“ einzugehen. Aber bereits im Kapitel „Selbstbewußtsein“ geschah eine Gleichsetzung zwischen dem Ansichsein und dem Sein für Anderes; „die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das 242 Bewußtsein ist sich selbst das Wahre“ (W3.137). Die Wahrheit dieser Gewissheit besteht in dem Folgenden: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein“ (W3.144). Diese Verbindung eines Subjekts mit einem anderen Subjekt impliziert Folgendes: Die beiden „anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend“ (W3.147). Hier wurde (aber nur für uns) das sittliche Prinzip als das Phänomen der „Verdopplung des Selbstbewußtseins“ bezeichnet; „der Begriff des Geistes“, der auch den absoluten Begriff der Wissenschaft impliziert, wird ausgedrückt: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (W3.144 f.). Der Inhalt des Geistes hat die gegenseitige Anerkennung von Individuen, m. a. W. die Versöhnung des Einzelnen mit anderen oder mit dem Allgemein dargestellt. Aber mit seiner Bewahrheitung war dieser Begriff noch nicht völlig zu verwirklichen, sodass die Gleichsetzung zwischen dem Ansichsein und dem Sein für Anderes für das Bewusstsein noch nicht sichtbar war. Auch das Individuum in der sittlichen Welt erkennt um seines unwandelbaren Zutrauens zu „seiner einfachen Wahrheit“ (W3.327) willen das eine bestimmte Gesetz unter den gegensätzlichen Sittengesetzen an. Lapidar ausgedrückt: Im Kapitel „Selbstbewußtsein“ wird das Prinzip der Anerkennung, noch nicht konkret entfaltet, dargestellt. Im Kapitel „Vernunft“ erschien darüber hinaus für uns die sittliche Substanz; sie impliziert das Prinzip des sittlichen Lebens in einem Volk, das besagt, dass ein Individuum „in der Selbständigkeit des Anderen die vollständige Einheit mit ihm anzuschauen“ (W3.264) hat. Das geistige Phänomen der Sittlichkeit wird aber erst im Kapitel „Geist“ dem Bewusstsein offenbar. Das von dem sittlichen Prinzip gestützte Gemeinwesen wird „[als der] Grund und Ausgangspunkt des Tuns Aller und [als] ihr Zweck“ (W3.325) angesehen; dieser Grund ist zugleich das „durch das Tun Aller und Jeder“ erzeugte Werk, genauer das „allgemeine Werk“ von jedem einzelnen Individuum (W3.325). Die sittliche Substanz ist das Werk der einzelnen Individuen; jedes Individuum glaubt, dass sich sein Wille in seinem Gemeinwesen widerspiegelt, obgleich sie zugleich eine eigene, von dem Individuum unabhängige Ordnung hat. Hegel stellt den Geist als „das sich selbst tragende, absolute reale Wesen“ (W3.325) dar; die sich selbst tragende Substanz oder das absolute Wesen gehört nicht allein (wie im Kapitel „Vernunft“) zu einem Einzelnen (d. h. zu dem Subjekt der gesetzgebenden Vernunft), sondern ist in der Welt schon realisiert. Die sittliche Substanz bildet die Grundlage für das reale Leben des Bewusstseins, durch das ihm die objektive Wirklichkeit des vernünftigen Prinzips sichtbar wird. Die Gestaltungen, die zum Kapitel „Geist“ gehören, sind dementsprechend alle jeweils „Gestalten einer Welt“ (W3.326). Jede Gestaltung, die 243 geschichtlich jeweils einer bestimmten Welt zugeordnet wird, ist alles in allem ein in der bestimmten Epoche vorhandenes Institutions- oder Gesinnungssystem; zu ihm hat der Mensch in dieser Epoche ein festes Zutrauen, sodass die Existenz des Sittlichen für das Bewusstsein als das absolute reale Wesen oder als „der ganze Geist“ (W3.329) anerkannt wird. Das sittliche Gemeinwesen ist kein bloßes Eingebildetes, sondern „existiert und gilt“ (W3.329). Der wahre oder sittliche Geist in dem ersten Abschnitt des Kapitels „Geist“ stellt das zu einer bestimmten (also in diesem Fall der griechischen) Welt gehörende Prinzip der Sitten bzw. der Normativität dar, das bei den alten Griechen als das absolute reale Wesen galt; der sittliche Geist bedeutet sowohl die sittliche Substanz, die in der Welt verwirklicht worden ist, als auch die sittliche Wirklichkeit, in der die Gesinnung des einzelnen Bewusstseins die Grundbestimmung seiner Welt repräsentiert. Das erste geschichtliche Phänomen der Vereinigung der Individualität mit der Allgemeinheit wird als „das sittliche Leben eines [d. h. des griechischen] Volks“ (W3.326) bezeichnet. Der Grundcharakter der alten Sittlichkeit liegt allerdings darin, dass jedes Polismitglied mit Sicherheit, ohne tiefe Ü berlegungen, von der Geltung seines Gemeinwesens ganz überzeugt ist. Das griechische Ethos ist nichts anderes als „die unmittelbare Gewißheit des realen sittlichen Seins“ oder als „das sichere Vertrauen zum Ganzen“ (W3.328; 347). Hegel denkt nämlich, dass die alten Griechen ihre ethische Gesinnung für das unbedingt Wahrhafte halten; das Bewusstsein des Griechen beruht für Hegel auf der einfachen Ü berzeugung, dass seine Gesinnung schlechthin und fraglos wahr sei. Aus diesem Grunde sieht er diese traditionelle Sittlichkeit als den Geist des noch unmittelbaren Bewusstseins an, weil der sittliche Geist noch „in seiner einfachen Wahrheit“ (W3.327) liegt. Hegel analysiert den Sinn und die Grenze des altgriechischen Prinzips, und zwar (anders bei seiner Geschichtsphilosophie) anhand von Figuren aus dem griechischen Mythos. Die familiäre Pietät gilt z. B. für Antigone als die oberste Pflicht; diese Obliegenheit des Bürgers wird gegenüber dem Staatsgesetz nebensächlich. Diese Gesinnung ist allerdings de facto von einem unreflektierten, also einseitigen, Urteil bestimmt; die Alten halten dieses Gesetz für „ewig“, obgleich von diesem Gebot „niemand weiß, von wannen es erschien“ (W3.520). Hegel ordnet zwar diesen Charakter explizit nur dem Gesetz der unteren Welt als dem göttlichen Gesetz von Antigone zu, aber auch das Gesetz von Kreon, d. h. das Gebot zur Befolgung des menschlichen Staatsgesetzes, gehört zu diesem unreflektierten Ethos. Aus der Tat, die reinen Herzens ist, ergibt sich die „Notwendigkeit des furchtbaren Schicksals, welche das göttliche wie das menschliche Gesetz […] in den Abgrund seiner Einfachheit verschlingt“ (W3.342); aus dem eigenen Vorsatz des tätigen Menschen folgt 244 nämlich, dass das Handelnde „seine Schuld anerkennen“ (W3.348) muss, wie König Ö dipus, der sich die Augen ausstach. Hegel bezeichnet das Prinzip der griechischen Familien- bzw. Staatsbildung als „die unbefangene Sittlichkeit“ (W12.137); diese Unbefangenheit liegt für Hegel tatsächlich darin, dass der Geist der griechischen Sittlichkeit – mit dem Titel dieses Abschnitts „Sittlichkeit“ –„in seiner einfachen Wahrheit“ befangen ist. Diese Dissonanz zwischen der subjektiven Gesinnung und der objektiven Ordnung kann man auch in den nachfolgenden Phasen, also im Abschluss des wahren Geistes erblicken: der Gegensatz zwischen dem rechtlichen Individuum und der formellen Allgemeinheit im römischen Rechtszustand, d. h. die Enteignung der eigenen Selbstständigkeit vonseiten der rechtlichen Persönlichkeit, die aus dem „Formalismus des Rechts“ (W3.357) folgt. In dem zweiten Abschnitt des Kapitels „Geist“ („Bildung“) lassen sich forthin die Erscheinungen der Abwechslung von dem Ansichsein eines Vollzugs und dem Sein für Anderes desselben beschreiben; der jeweilige Wahrheitsanspruch stößt sich unvermeidlich an einem anderen, den das andere Bewusstsein behauptet. Die Erscheinungen der Entgegensetzung in dem sich entfremdeten Geist heißen also: Der Konflikt zwischen dem Guten und dem Schlechten, zwischen der Staatsmacht und dem Reichtum, zwischen dem edelmütigen und dem niederträchtigen Bewusstsein und zwischen dem Glauben und der reinen Einsicht, zwischen der Aufklärung und dem Aberglauben in der Epoche der Aufklärung und zwischen dem allgemeinen Willen und dem einzelnen Willen in der Französischen Revolution. 273 Der Abschnitt „Bildung“ stellt im Ganzen den Prozess der sukzessiven Befreiung von der Entfremdung dar. Besonders im Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben und in der absoluten Freiheit der Französischen Revolution kann der Geist seine Entfremdung nicht vollständig überwinden; erst der Geist der „Moralität“ besteht nicht in der Entfremdung, sondern in der Selbstgewissheit von sich selbst. Die „moralische Weltvorstellung“ am Anfang des letzten Abschnitts des Kapitels „Geist“ („Moralität“) liegt in dem Gegensatz zwischen dem Sein-Sollenden und dem wirklich Seienden, sodass das moralische Bewusstsein umgehend die „Verstellung der Sache“ (W3.459) erleidet. Die Welt des moralischen Geistes im Rahmen des Gedankens von Kant und Fichte ist wohl ein „Gedankending“ (W3.462), das im Grunde zu der Vorstellung des moralischen Subjekts gehört; diese Welt ist auch auf die sinnliche Welt bezogen, denn die moralische Vorstellung soll auch in der Natur entfaltet werden, um die vollendete Moralität zu sein. Aus dem Kontext der Vollendung der Moralität ergibt sich die „Religion 273 Dazu vgl. Auinger (2003), S. 31 ff. 245 der Moralität“ (W3.496); das absolute Wesen wird nämlich postuliert, damit man den Gegensatz zwischen dem Sollen und dem Wirklichen auflösen kann. Das moralische „Gewissen“, das Hegel als die letzte Phase des weltlichen Gesamtgeistes auffasst, ergibt sich aus der folgenden Forderung: Das moralische Subjekt soll, um seine absolute Selbstständigkeit zu behaupten, eine noch höhere (also die letztendliche) Instanz der moralischen Entscheidung finden; dieser Anspruch der moralischen Souveränität besteht nicht in seinem Gefühl der Achtung für das (allgemeingültige) Moralgesetz (das das Subjekt selbst als individuelles gleichwohl nicht erschaffen hat), sondern in seiner absoluten Selbstgewissheit. Ausdrücke wie „die moralische Genialität“, die „göttliche Stimme“ und ein „einsamer Gottesdienst“ implizieren die Souveränität des Gewissenshandelns und urteils oder „die Heiligkeit der moralischen Wesenheit“ (W3.481; 447). Die Dialektik des Gewissens liegt ebenfalls in dem Prozess, den Gegensatz zwischen der subjektiven oder individuellen und der objektiven oder intersubjektiven Seite, d. i. zwischen der Selbstgewissheit vom Subjekt und der (seinem Gemeinwesen zugeordneten) allgemeinen Normativität, aufzulösen. Diese Dialektik wird von Hegel zwar mit dem Konflikt zwischen dem handelnden und dem urteilenden Gewissen bezeichnet, aber diese Entgegensetzung führt endlich zur Verzeihung und Versöhnung, also zum „Moment des Anerkanntwerdens von den anderen [Subjekten]“ (W3.470). Diese Phase der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten stellt Hegel im Zusammenhang mit der „Gemeinde“, also des Gemeinwesens in der moralischen Welt, folgendermaßen dar: [D]er einsame Gottesdienst [d. h. die absolute Selbstgewissheit des Gewissens-Subjekts] ist zugleich wesentlich der Gottesdienst einer Gemeinde, und das reine innere sich selbst Wissen und Vernehmen geht zum Momente des Bewußtseins fort. Die Anschauung seiner ist sein gegenständliches [oder objektiven] Dasein, und dies gegenständliche Element ist das Aussprechen seines Wissens und Wollens als eines Allgemeinen (W3.481). Der einsame Gottesdienst im Inneren des Gewissens muss nämlich in den Gottesdienst einer Gemeinde, in der „nicht nur die Anschauung des Göttlichen [außer dem Menschen], sondern die Selbstanschauung desselben [innerhalb seiner]“ (W3.580) für uns erkennbar ist, übergehen. In der Gemeinde des Gewissens lässt sich der Zusammenhang der Moralität mit der Religion oder der Ü bergang des Gewissens „zum Gottesgedanken“ 274 zeigen; diese 274 Jaeschke (1986), S. 210. 246 Versöhnung im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES, der die vorreligiösen Gesamtgestalten des Bewusstseins (von dem Kapitel „Bewußtsein“ zum Kapitel „Geist“) umfasst, zeigt einen Augenblick der gegenseitigen Anerkennung von Subjekten auf, aus dem sich „der erscheinende Gott mitten unter ihnen“ (W3.494) ergibt. Dieser Begriff Gottes besteht nicht außerhalb der Selbstgewissheit des Subjekts, sodass man den Anschluss des W ELTLICHEN GEISTES an den RELIGIÖ SEN GEIST verstehen kann. Diese zugespitzte Form der Versöhnung im Rahmen des WELTLICHEN GEISTES impliziert, dass der moralisch gut gesinnte (aber zugleich in seiner absoluten Autonomie beruhende) Mensch – mit Hegels Formulierungen in seiner Geschichtsphilosophie – „das Gefühl der wirklichen Versöhnung des Geistes in ihm selbst und ein gutes Gewissen in ihrer Wirklichkeit, in der Weltlichkeit, erlangt“ hat (W12.488). Allein der Standpunkt des vollendeten Gewissens enthält für Hegel noch nicht den wahren Begriff der Religion in sich. Der entscheidende Unterschied zwischen der Moral und der Religion liegt nämlich darin, dass Hegels Religionsbegriff das Selbstbewusstsein des Geistes oder das Wissen des Geistes von sich selbst impliziert. Der Geist des Gewissens (das dem sich selbst gewissen Geist zugeordnet wird) ist zwar ein „bei sich seiendes Selbstbewußtsein“ (W3.497), aber noch nicht das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes, sondern nur das des endlichen Geistes, der als das Gewissenshandeln oder -urteil erscheint. Das Subjekt des Gewissens ist zwar – obgleich das Gewissen eigentlich in der unverfälschten Ü berzeugung von sich selbst liegt – zur gemeinsamen Ebene erhoben; damit werden jedoch eigene innere Schwierigkeiten an dem moralischen Gewissen in keiner Weise aufgelöst, denn die eigene Ebene des Gewissens ist streng genommen subjektivistisch, sodass die moralische Gesinnung im Grunde nur für das Innere des einzelnen Bewusstseins gilt. Der in der „Gemeinde“ des Gewissens erscheinende „Gott“ impliziert nur die Souveränität der Moralität, also noch nicht den Zusammenhang des Endlichen mit dem Unendlichen, der mit dem Absoluten im Rahmen der Religion vollzogen worden ist. Es ist demgemäß offensichtlich, dass Hegel diese Form der Versöhnung von den Subjekten zu der Versöhnung auf der Ebene des WELTLICHEN GEISTES zählt, der weiterhin zum absoluten Geist übergehen muss. Aus diesem Kontext relativiert Hegel in dem letzten Kapitel „Das absolute Wissen“ wie folgt die Vollendung des Gewissens: Die in der Gemeinde des Gewissens gelungene Versöhnung liegt nur „in der Form des Fürsichseins“ des Geistes, das deswegen die „Form freier Wirklichkeit“ (W3.579; 497), also den konkreten Austragungsort der gemeinsamüberindividuellen Geltung, noch nicht umfasst. Hegels Gedanke, dass „die Religion die 247 Vollendung des Geistes ist“, impliziert, dass sich aus der Vollendung des WELTLICHEN GEISTES der RELIGIÖ SE GEIST aufschließt, in dem die „Form des Ansichseins“ des Geistes eingeschlossen ist (W3.499; 579). 248 2. Die Versöhnung zwischen dem weltlichen und dem religiösen Geist Mit dem religiösen Bewusstsein kann man den Inhalt des absoluten, also sich selbst wissenden Geistes oder das Selbstbewusstsein des Geistes, erreichen. Hegels Religionsbestimmung, dass Gott Geist sei, impliziert, dass der Gottesbegriff als das Absolute die Beziehung des Endlichen auf das Unendliche zum Inhalt hat (W3.28; 497 ff.; 552). Die in der PHG skizzierte Geschichte der Religion handelt von dem Entfaltungsgang des wahren Religionsbegriffs, der für Hegel die Reihe der höchsten menschlichen Interessen in der ganzen Weltgeschichte durchdrungen hat; in dieser geschichtlichen Darstellung wird Hegels Gedanke wie die Menschwerdung Gottes, die Versöhnung des Menschen mit dem göttlichen Wesen usw. thematisiert. Im Kapitel „Religion“ manifestiert sich ein größerer Umfang als die Geschichte des WELTLICHEN GEISTES, die wohl im Kapitel „Geist“ eingehend anhand der Thematik der „Gestalten einer Welt“, aber auch in noch vorherigen Gestalten (z. B. in dem nachklassischen Gedanken der „Freiheit des Selbstbewußtseins“ im Kapitel „Selbstbewußtsein“) sporadisch thematisiert worden ist; der Weltgeist in der PHG ist nämlich ein umfangreicherer Begriff als der WELTLICHE GEIST, der von dem „Bewußtsein“ bis zum „Geist“ reicht. Der RELIGIÖ SE GEIST ergibt sich also daraus, dass „der wirkliche Weltgeist [d. h. der WELTLICHE GEIST] zu diesem Wissen von sich gelangt ist“ (W3.551). Der Geist der Weltgeschichte vollendet sich folglich erst mit der Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES zusammen; der wahre Begriff der Religion kann erst dann erfasst werden, wenn der Weltgeist zu seiner Vollendung gelangt ist. Hegels Gedanke, dass „die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt“ (W10.371), impliziert dementsprechend, dass die Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES mit dem vollendeten Entfaltungsgang des WELTLICHEN GEISTES übereinstimmt; dieser enge Zusammenhang von beiden liegt darin, dass „der wirkliche [also WELTLICHE] Geist so beschaffen ist wie die Gestalt, in der er sich in der Religion anschaut“ (W3.504). Erst wenn der Entfaltungsgang des WELTLICHEN GEISTES durch die Dialektik des RELIGIÖ SEN GEISTES denkerisch ergänzt wird, ist der Weltgeist im Rahmen der PHG ersichtlich. „Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist [d. h. der RELIGIÖ SE GEIST] seine Vollendung erreichen“ (W3.585). Sofern die Weltgeschichte die menschliche Bestimmung zur Freiheit betrifft, ist die Reihe der Religionsgestalten mit der Verwirklichung des Freiheitsbegriffs eng verwoben. In Hegels Darstellungen der drei religiösen Gestalten – der natürlichen Religion, der 249 Kunstreligion und der offenbaren Religion – kann man deshalb die geschichtlichen Momente der verwirklichten Freiheit erblicken, die die höchste Instanz der menschlichen Interessen darstellen. Die natürliche Religion in der altmorgenländischen Welt, deren wirklicher Geist noch nicht im Kapitel „Geist“ auftrat, expliziert nicht direkt die menschliche Freiheit, „weil ihr wirklicher Geist ohne diese Versöhnung ist“ (W3.505). Die Kunstreligion wird hingegen mit der „Religion des sittlichen Geistes“, der den wirklichen Geist der altgriechischen Volksreligion bildet (W3.512 f.), bezeichnet. In der olympischen Götterwelt, d. h. in der Gottesvorstellung der alten Griechen, spiegelt sich „der Geist des sittlichen Volkes“ (W3.520) oder seine sittliche Gesinnung wider. Das sittliche Volk erfährt im Kultus, dass seine „Hingabe“ und sein „Genuß“ eines werden (W3.523 ff.); dadurch fühlt es sich mit den Göttern versöhnt, indem ihm selbst die Gottheit des Absoluten offenbar ist. Dieses Offenbarsein ist konstitutiv für das sittliche Leben, weil das sittliche Volk „seinen [Stadt-]Staat und die Handlungen desselben als den Willen und das Vollbringen seiner selbst weiß“, sodass es sich „in seiner Substanz anerkannt“ (W3.525) fühlt. Die offenbare Religion ergibt sich aus der (in der Religion entstandenen) höchsten Synthesis von der altorientalischen Substanzialität und der altgriechischen Subjektivität; mit anderen Worten: Die letzte Gestalt des religiösen Bewusstseins bedeutet „die Gestalt des Anundfürsichseins“, d. i. die Vereinigung zwischen dem Bewusstsein oder Ansichsein und dem Selbstbewusstsein oder Fürsichsein (W3.502; 545 ff.). Die Freiheit in der Religion ist nun zu ihrer höchsten Form gelangt; die Offenbarung Gottes oder die Menschwerdung Gottes macht den „Inhalt der absoluten Religion“ (W3.552) aus. Dieser Inhalt lässt sich religiös gesehen als die „Versöhnung des göttlichen Wesens mit dem Anderen überhaupt“, aber in ihrer spekulativen Bedeutung als die „Versöhnung des Geistes mit sich selbst“ (W3.567; 570) ausdrücken. Hegel bezeichnet den Austragungsort dieser Versöhnung als die „Gemeinde“; hier erreichen Individuen in einem Gemeinwesen der Vorstellungswelt das allgemeine Selbstbewusstsein und dadurch schauen sie sich einen Beweis für ihre Freiheit an. Die „Gemeinde“ oder „Gemeine“ kann man an einigen Orten der PHG, konkreter gesagt in dem mediävalen Glauben, in der Aufklärung, in dem Gewissen und in dem dritten Element des Gottesbegriffes unter Anlehnung an die Lehre der offenbaren Religion (das in der Religionsphilosophie dem „Reich des Geistes“ entspricht) finden (W3.396; 407 ff.; 481 f.; 557 f.; 566 ff.). Hegel verwendet den Ausdruck, um die Einheit zwischen dem absoluten (aber zunächst abstrakten) Wesen und dem (an die Absolutheit) glaubenden oder (die Allgemeinheit) suchenden Bewusstsein, darzustellen. Die „Gemeinde“ wird also von 250 Hegel als die Erscheinung des Gemeinwesens – sei es religiös oder moralisch – betrachtet, sodass sie als das grundsätzliche Moment des sittlichen Lebens fungiert. Daraus lässt sich erkennen, dass Hegels Gedanke der Sittlichkeit im engen Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion verstanden werden muss. Im Wesentlichen aber erscheint erst in dem Kapitel „Religion“ der absolute Geist, der impliziert, dass die Erscheinung der Substanz de facto nichts anderes als das geistige Verhältnis des Bewusstseins zu seinem Gegenstand, genauer die Beziehung des Geistes auf sich selbst ist (als das absolute Wissen des Geistes von sich selbst). Die Religion geht der Darstellungsordnung nach dem absoluten Wissen voraus; denn ihr absoluter Inhalt impliziert schon den Inhalt des endgültigen Wissens des Geistes. Allein Hegel stellt trotz der spekulativen Tiefe der Religion Folgendes fest: Die Religion ist zwar die höchste Bewusstseins-Gestalt, aber noch nicht die wahrhafteste Geistes-Gestalt (W3.574); der Geist als das Absolute im Rahmen der Religion erscheint nur für uns, wie er an sich ist, aber nicht für das gläubige Bewusstsein selbst. Die Religion überhaupt, also selbst die christliche Religion, hat eine noch zu überwindende Schranke: die „Form der Vorstellung, des Andersseins für das Bewußtsein“, sodass „die Bestimmung des eigentlichen Bewusstseins des Geistes nicht die Form des freien Andersseins hat“ (W3.580; 497). Hegels Angabe über die Religion als die letzte Gestalt des Bewusstseins impliziert ihre doppelte Natur, die dem Kapitel „Geist“ seinen eigentümlichen Rang innerhalb der gesamten Architektonik der PHG gibt. Die Religion erschließt einesteils den Weg zum absoluten Wissen, weil sie selbst den Inhalt des absoluten Geistes ausmacht. Ihr Wesen wird durch Hegels Feststellung in seiner „Selbstanzeige“ deutlich konstatiert. Hier berührt Hegel diesen Punkt: Die „letzte Wahrheit“ des erscheinenden Wissens findet sich nicht nur „in der Wissenschaft [d. h. in der Philosophie des Absoluten]“, sondern auch „in der Religion“ (W3.593). Andernteils aber muss die Religion eine noch endliche Gestalt des Bewusstseins sein, weil ihr Geist seiner Form nach „das Kleid seiner Vorstellung“ trägt (W3.497); insofern der sich selbst wissende Geist noch in der Religion steht, hat er sich noch nicht vollendet. Mit dem „Kleid“ kann man ebenso die offenbare Religion vergleichen; es gibt auch das „Kleid der offenbaren Religion“. 275 Der Geist der christlichen Religion ist noch auf die Form der Vorstellung beschränkt. Das heißt: Diese Form führt dazu, dass das religiöse Bewusstsein, wenn es den Begriff des absoluten Geists bzw. dessen Werden erfassen will, 275 Appel (2007), S. 155. 251 auf den „aus der natürlichen Zeugung hergenommenen Verhältnisse[n]“ – wie Vater, Mutter, Geburt, Tod – (W3.550) oder auf der Reihe der Vorstellungen in Anlehnung an die räumlichzeitliche Dimension beruhen muss. Die Religion ist gewiss die allerhöchste Bewusstseinsgestalt, aber noch eine Gestalt des Bewusstseins, die nicht in der wahrhaftesten Geistesgestalt, also in der Form des begreifenden Wissens steht. Diese unüberschreitbare Schranke enthält die Religion in sich, die an der letzten Schwelle zum absoluten Wissen des Geistes steht, aber noch nicht zu dem begreifenden Wissen selbst gelangt ist. Die Religion ist also nicht mehr mit der sinnlichen Gegenwart noch mit dem subjektiven Gefühl verbunden und beherbergt ihrem Inhalt nach den absoluten Geist, aber sie gelangt trotzdem ihrer Form nach noch nicht zu der wahrhaften Gestalt des Geistes, d. h. zu dem Begriff. Der absolute Geist in der Form der Vorstellung – das macht also für Hegel den Gehalt des religiösen, zuhöchst christlichen Bewusstseins aus. Die Versöhnung in der christlichen Gemeinde ist noch unvollkommen, soweit sie in der Form der Vorstellung besteht. Aus diesem Grunde gerät das religiöse Bewusstsein in eine Aporie: Obwohl es sich als ein absolutes Wesen behaupten will, bewährt dies sich nur in seinem Selbstbewusstsein. Solange ihr Inhalt prinzipiell in der Form der Vorstellung verankert ist, mangelt dieser Gemeinde des Selbstbewusstseins „das Bewußtsein über das, was sie ist“ (W3.573). Dass das Wesen für das religiöse Bewusstsein noch in der Form des ihm vorgestellten Seins liegt, ist der Grund dafür, dass das religiöse Wissen nicht in dem begreifenden Denken besteht. Deshalb lässt sich sagen, dass Hegels Religionsbegriff sozusagen zwei Dimensionen hat: den real existierenden Glauben einerseits und die spekulative Deutung desselben andererseits, m a. W. die „Dualität von geoffenbartem und vernunftbegründetem Gottesgedanken“.276 In diesem Zusammenhang schreibt Hegel Folgendes: Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist; aber diese ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst (W3.585 f.). Das Christentum als die Offenbarungsreligion zeigt dem gläubigen Menschen zwei Wege auf, um zur Versöhnung zwischen Mensch und Gott zu gelangen: die christliche Lehre, die sich ursprünglich aus den Worten der Weisheit, also aus den Heiligen Schriften, ergeben hat, 276 Jaeschke (1998), S. 117. 252 und der Gottesdienst, der den Angehörigen einer Gemeinde ein unverfälschtes Gefühl der Versöhnung gibt. Aber die geschichtlichen Existenzformen des christlichen Glaubens und die begreifende Betrachtung der christlichen Offenbarung sind voneinander zu unterscheiden. In seiner Auslegung der offenbaren Religion fasst Hegel ihren Inhalt als den absoluten Geist auf, den der gläubige Mensch nicht im begreifenden Gedanken erfassen kann. Dieser absolute Inhalt liegt noch im Schlummer, sofern er sich nur in der Form des religiösen Wissens, d. h. des Glaubens oder des vorstellenden Denkens, gestaltet. Das Absolute ist für das Bewusstsein noch ein Gegenstand, der ihm gegenübersteht, sodass die Wahrheit in der Religion noch nicht seiner Gewissheit gleich ist. Daraus lässt sich erkennen: Der Geist der Gemeinde ist […] getrennt von seinem religiösen [Bewusstsein], das zwar es ausspricht, daß sie an sich nicht getrennt seien, aber ein Ansich, das nicht realisiert oder noch nicht ebenso absolutes Fürsichsein geworden (W3.574). Daraus ergibt sich, dass die Versöhnung in der offenbaren Religion als Vorstellung bleibt, also noch nicht die Gegenwart der Versöhnung gewusst wird. Soweit diese „Handlung einer fremden Genugtuung“, also die stellvertretende Genugtuung, dem gläubigen Bewusstsein „als eine Ferne der Vergangenheit erscheint“, muss seine Versöhnung nur „als ein Fernes der Zukunft“ (W3.573 f.) angesehen werden. [Die Versöhnung, die sich der gläubige Mensch in der Gemeinde, also in dem allgemeinen Selbstbewusstsein, vorstellt,] ist daher in ihrem Herzen, aber mit ihrem Bewußtsein noch entzweit und ihre Wirklichkeit noch gebrochen. Was als Ansich […] in ihr Bewußtsein tritt, ist die jenseits liegende Versöhnung; was aber gegenwärtig [… ist], ist die Welt, die ihre Verklärung noch zu gewarten hat. Sie ist wohl an sich versöhnt mit dem Wesen […]. Aber für das Selbstbewußtsein [des gläubigen Menschen] hat diese unmittelbare Gegenwart noch nicht Geistsgestalt (W3.574). Das Christusgeschehen wird in der Tat vergänglich, weil die Heilsgeschichte nur in ihrem historischen Sinne verstanden ist; die Versöhnung mit dem Absoluten wird von dem vorstellenden Bewusstsein folglich nur eschatologisch gedacht, weil die Wirklichkeit als die noch in etwas Niedriges oder Schlechtes versunkene irdische Welt gilt, deren Verklärung man noch zu erwarten hat. 253 Daraus lässt sich folgern, dass die höchste Wahrheit des Geistes nicht in der bloßen zeitlichen Vorrangigkeit liegt. Der Gesamtgang der „Religion“ ist demnach als der Prozess zu verstehen, in dem sich der wahre Inhalt des RELIGIÖ SEN GEISTES allmählich verwirklicht, wodurch das Bewusstsein zur Einsicht in das, was der absolute Geist ist, kommt. Hier ist aber der nochmalige und abschließende Ü bergang der Bewusstseinsgestalt (zum Wissen des Geistes in seiner wahren Form) notwendig. Ü ber das Verhältnis zwischen zwei Gestalten des absoluten Geistes stellt Hegel Folgendes in der Enzyklopädie fest: [D]urch die christliche Religion ist die in sich selber unterschiedene eine Natur Gottes, die Totalität des göttlichen Geistes in der Form der Einheit geoffenbart worden. Diesen in der Weise der Vorstellung gegebenen Inhalt hat die Philosophie in die Form des Begriffs oder des absoluten Wissens zu erheben, welches, wie gesagt, die höchste Offenbarung jenes Inhalts ist (W10.32). Die völlige Ü berwindung der religiösen Form fällt ergo mit der „Vollendung der Religion“ (W3.497) zusammen. Diese endgültige Vollendung des RELIGIÖ SEN GEISTES liegt darin, „das, was er ist, seine Substanz, vollkommen zu wissen“, sodass er endlich „seine reine, von seiner Erscheinung im Bewußtsein befreite Gestalt“ (W3.589 f.) erringt. Mit der spekulativen Einsicht in die offenbare Religion kann Hegels These der Absolutheit des Geistes vollständig bewiesen werden, weil der Inhalt der christlichen Religion den absoluten Geist in sich birgt. Die philosophische Betrachtung über die Heilsgeschichte bedingt die wahre Deutung der Weltgeschichte; die spekulative Vereinigung von beiden expliziert die wahre Wissenschaft. Der wahre Inhalt der christlichen Religion, den Hegel begreifen will, ist eben der wahre Inhalt seiner Philosophie selbst. Der RELIGIÖ SE GEIST und der WELTLICHE GEIST sind im Kapitel „Geist“ noch abgesondert; deshalb sollen sie sich miteinander vereinigen. Diese Trennung zwischen den religiösen Bewusstseinsgestalten und den vorreligiösen Bewusstseinsgestalten steht im Gegensatz zu seinem Wesen, dass sich die beiden aus ein und demselben Geist ergeben; insofern ist das Bewusstsein dazu fähig, weder das Wesen der Welt noch sein eigenes Wesen zu wissen. Die Versöhnung als die Vollendung der offenbaren Religion bedeutet also, dass das Wissen des Geistes von sich selbst erst in seiner wahren Wirklichkeit steht. Es ist für das Selbstbewusstsein offensichtlich, dass der in der Form der Vorstellung erschienene Geist eben sein wahrer Inhalt ist. Dieser Punkt ist gedanklich zu verstehen, denn hier wird der RELIGIÖ SE GEIST mit dem WELTLICHEN GEIST zusammen gedacht. Daraus lässt sich 254 erkennen, dass der RELIGIÖ SE GEIST noch insofern die Versöhnung im WELTLICHEN GEIST voraussetzen muss, als dieser sich als noch außerhalb von jenem bestehend erweist. Für das höchste religiöse Bewusstsein soll ergo noch der absolute Geist offenbar sein; aus diesem Grunde ist der Geist der offenbaren Religion noch der endliche Geist. Um der Vollendung der Religion willen wird nämlich die „Verbindung zwischen der Erfahrung des Gewissens und seinem Ermöglichungsgrund in der (offenbaren) Religion“277 dringend benötigt. Hegel stellt diesen Punkt folgendermaßen dar: Wie uns der Begriff des Geistes geworden war, als wir in die Religion eintraten, nämlich als die Bewegung des seiner selbst gewissen Geistes, der dem Bösen verzeiht und darin zugleich von seiner eigenen Einfachheit und harten Unwandelbarkeit abläßt, oder die Bewegung, daß das absolut Entgegengesetzte sich als dasselbe erkennt und dies Erkennen als das Ja zwischen diesen Extremen hervorbricht, – diesen Begriff schaut das religiöse Bewußtsein, dem das absolute Wesen offenbar [ist], an und hebt die Unterscheidung seines Selbsts von seinem Angeschauten auf (W3.572). Diese Synchronisation von dem Religiösen und dem Weltlichen ist eben der Punkt, den der neuzeitliche Geist durch die Erinnerung an seine Entäußerung erreicht. Seit dieser Phase schließen sich die Weltgeschichte und die Religionsgeschichte miteinander zusammen. Aus der Vollendung der Religion folgt, dass der Geist seine vollendete Gestaltung erringt, weil die Religion bereits als die Totalität das Ganze ihrer vorherigen Gestalten bildet. Der RELIGIÖ SE GEIST und der WELTICHE GEIST stellen sich in dem letzen Kapitel der PHG als miteinander versöhnt dar, indem das absolute Wissen des Geistes von sich selbst den WELTLICHEN GEIST und den RELIGIÖ SEN GEIST summa summarum abdeckt. Diese wahrhafteste Gestalt des Geistes liegt – mit Hegels Formulierungen – darin, „sein Selbstbewußtsein mit seinem Bewußtsein auszugleichen“ (W3.583). [Denn die] Versöhnung des Bewußtseins mit dem Selbstbewußtsein zeigt sich hiermit von der gedoppelten Seite zustande gebracht: das eine Mal im religiösen Geiste, das andere Mal im Bewußtsein selbst als solchem [insbesondere im moralischen Gewissen]. Sie unterscheiden sich beide so voneinander, daß jene diese Versöhnung in der Form des Ansichseins, diese in der Form des Fürsichseins ist […]. Die Vereinigung beider Seiten ist […] es, welche diese Reihe der 277 Appel (2007), S. 156. 255 Gestaltungen des Geistes beschließt; denn in ihr kommt der Geist dazu, sich zu wissen, nicht nur wie er an sich oder nach seinem absoluten Inhalte, noch nur wie er für sich nach seiner inhaltslosen Form oder nach der Seite des Selbstbewußtseins, sondern wie er an und für sich ist (W3.579). Diese Versöhnung erschien schon zweimal: erstens in der zugespitzten Stellung des WELTLICHEN GEISTES (d. h. im moralischen Gewissen) und danach in der letzten Phase des RELIGIÖ SEN GEISTES (d. h. in der offenbaren Religion). Weil diese Formen der Versöhnung jeweils an das eine Moment für die wahre Versöhnung (d. h. an die Form des Fürsichseins bei der Moral und an die Form des Ansichseins bei der Religion) gebunden sind, bedarf das endgültige Wissen des Geistes eben einer wiederholten Versöhnung zwischen den beiden Versöhnungsgestalten.278 Das absolute Wissen bildet einesteils die Wahrheit der offenbaren Religion, aber andernteils die höchste Synthesis des RELIGIÖ SEN GEISTES und des vorreligiösen oder WELTLICHEN GEISTES. In diesem letzten Kapitel gelangt das Bewusstsein also zum absoluten Wissen, mit dem das Bewusstsein die Offenbarung des absoluten Begriffs beobachtet. Die Aufgabe der vollkommenen Versöhnung zwischen dem Bewusstsein des Gewissens und dem der offenbaren Religion übernimmt das absolute Wissen als die spekulative Wissenschaft. Die Vollendung der Religion, d. i. die Vereinigung zwischen dem WELTLICHEN GEIST und dem RELIGIÖ SEN GEIST, ist aus der Perspektive des enzyklopädischen Systems mit dem Zusammenhang zwischen dem objektiven Geist und dem absoluten Geist zu vergleichen; der Ü bergang des Weltlichen zum Religiösen entspricht dem Ü bergang des objektiven zum absoluten Geist. 278 Zu der endgültigen Dialektik der Versöhnung anhand des absoluten Wissens vgl. Auinger (2003), S. 9 ff.; 146 ff. 256 TEIL III: Die Sittlichkeit im Vergleich zu dem enzyklopädischen System " [...] so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angefü hrt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort [...]. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun." - Luther auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521 257 A. Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System 1. Geist und Freiheit Hegels Wissenschaft der Logik (W5 f.) ist als die Wissenschaft des reinen Logos oder als die philosophische Prinzipienwissenschaft zu fassen; in dieser spekulativen Wissenschaft offenbart sich ihm zufolge die in der Sache selbst immanente Notwendigkeit. Unter Anlehnung an die Methodik der philosophischen Wissenschaft, deren Standpunkt – Hegels Jenaer Systemkonzept nach – aus dem Bildungsgang des Bewusstseins in der PHG resultieren soll, wird das enzyklopädische System konstruiert, das aus der (kleinen) Logik (die den Kernpunkt der Wissenschaft in Form der reinen Idee behandelt) (W8) und aus der Realphilosophie (in der die „Natur“ und der „Geist“ erfasst werden) (W9 f.) besteht. Insofern jede Disziplin innerhalb der Realphilosophie (der m. E. die „begriffene Geschichte“ in der PHG entspricht)279 – auf der spekulativen Methode beruht, prägt sie sich alles in allem als philosophische Wissenschaft – sei es die Naturphilosophie, die Kunstphilosophie, die Religionsphilosophie usw. – aus. <Hegels System (aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft)> (W8-10) I Die Wissenschaft der Logik (die logische Idee in ihrem Insichsein) II Die Naturphilosophie (das Außersichsein der Idee) Die Philosophie des Geistes (die Rückkehr der Idee zu sich) A. Anthropologie: die Seele III Die Realphilosophie 1. Der subjektive Geist B. Die Phänomenologie des Geistes: das Bewusstsein C. Psychologie: der Geist A. Das Recht 2. Der objektive Geist: Rechtsphilosophie B. Die Moralität C. Die Sittlichkeit 279 Dazu vgl. den TEIL I, D. 3. „Die begriffene Geschichte“. 258 a. Der theoretische Geist b. Der praktische Geist c. Der freie Geist A. Die Kunst 3. Der absolute Geist B. Die geoffenbarte Religion C. Die Philosophie Hegels Terminus „Geist“ hat zwar theologische Wurzeln, denn er kommt von dem Ausdruck „der Heilige Geist“, der die dritte Person in der christlichen Dreieinigkeit ist. Dieser „Geist“ ist aber nicht einfach im Hinblick auf die Tradition der christlichen Lehre zu deuten; er wird von Hegel als die Anlage zum menschlichen Wissen bzw. Handeln (der subjektive Geist), und damit als das Selbstprodukt vom Menschen, und zwar in dem von sich bewirkten Bereich (der objektive Geist), und als die affirmative Offenbarung des Absoluten oder des Grundes für alles Seiende (der absolute Geist) verstanden. Hegels Realphilosophie liegt in der Grundeinsicht, dass die Natur zu dem Geist übergehen muss. Die systematische Stellung des Geistes lässt sich wie folgt ausdrücken: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit und damit deren absolut Erstes er ist“ (W10.17). Der Darstellungsordnung nach folgt der Geist zwar aus der Natur; er setzt nämlich sie voraus. Der Geist, der aus der Natur resultiert, macht aber nach der logischbegrifflichen Bestimmung nach die Wahrheit der Natur aus; er wird als der wahre Grund dessen, aus dem sich der Darstellungsordnung nach die Folge ergibt, dargestellt. Das Geistige, das nach dem Entwicklungsgang der logischen Idee von der Natur abgeleitet wird, ist für uns, also vom Standpunkt der philosophischen Wissenschaft aus, nichts anderes als das Erste, das die begriffliche Grundlage für die Natur ausmacht. Der subjektive Geist (W10.38-302) wird von Hegel durch die „Seele“, das „Bewußtsein“ und wiederum den „Geist“ in seiner engeren Bedeutung gekennzeichnet; die „Psychologie“ als die Lehre vom „Geist“ im engeren Sinn betrifft den theoretischen Geist (also die „Intelligenz“) und den praktischen Geist (also den „Willen“). Der objektive Geist (W10.303-365), der im Ganzen auch mit der Rechtsphilosophie bezeichnet wird, fängt mit dem Resultat dessen, „was vorhergeht“ (W7.30), d. h. des subjektiven Geistes, an. Wie Hegel in seiner Logik die Wesenslogik als „die genetische Exposition des Begriffes“ (W6.245) oder als die logische Voraussetzung der Begriffslogik auffasst, so geht der Rechtsbegriff „seinem Werden nach“ aus seiner Voraussetzung, also aus dem subjektiven Geist, hervor (W7.30 f.). Daraus lässt sich formulieren, dass die Lehre vom subjektiven Geist „die genetische 259 Exposition“ des objektiven Geistes ist, weil der objektive Geist „seinem Werden nach“ den subjektiven Geist voraussetzt. Hegels „Philosophie des Geistes“ behandelt den Werdegang des Geistesbegriffes (d. h. der „Freiheit“ 280 ) zu seiner Offenbarung. Der „freie Geist“ weiß sich als frei, indem er die Freiheit in seinem Gegenstand bestätigt; er existiert grundsätzlich als freier Wille, denn die Freiheit ist eben „eine Grundbestimmung des Willens (W7.46). Ü ber den Rechtsbegriff, der die Explikationsform des freien Geistes bedeutet281, schreibt Hegel Folgendes: Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht (W7.46). Daraus lässt sich der Zusammenhang von Geist, Freiheit und Willen folgendermaßen zusammenfassen: (Prämisse 1) Die Substanz des Geistes ist die Freiheit. (Prämisse 2) Die Freiheit existiert nur als Wille. (Prämisse 3) Das „Dasein des freien Willens“ ist das „Recht“ (W7.80). (Konklusion) Also beruht das Recht auf dem freien Geist. Der Schlusspunkt des subjektiven Geistes oder der Anfangspunkt des objektiven Geistes, m. a. W. der freie Geist, ist nicht bloß als Wille zu betrachten; denn der Wille ist nur dann frei, wenn er sich zum Denken erhebt. Damit der freie Geist freier Wille sein kann, soll er seine Freiheit wissen, sodass er in der Lage ist, sich selbst in seiner Wesentlichkeit zu wissen, indem er sich sein geistiges Wesen, seine Freiheit, in seinem eigenen Vollzug ausprägt. Daraus lässt sich feststellen, dass „der Wille nur als denkende Intelligenz wahrhafter, freier Wille ist“ (W7.72).282 Dazu vgl.: „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit“. W12, S. 30. 281 Dazu vgl. W10, S. 25; 300 f. 282 Dazu vgl.: „Dieser Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken; der Weg des Willens, sich zum objektiven Geiste zu machen, ist, sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhalt zu geben, den er nur als sich denkender haben kann.“ W10, S. 288. Und noch: „Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, 260 280 Der freie Geist wird auch als „der Begriff des absoluten Geistes“ (W10.301) bezeichnet. Die Freiheit des Geistes impliziert nämlich, dass er sich von dem bloß subjektiven Einbilden und auch von der Objektbezogenheit befreit und sich endlich zu seiner „Manifestation“ oder „Offenbarung“ selbst entwickelt (W10.25 ff.); der absolute Geist (W10.366-417), welcher das Resultat des objektiven Geistes ist, macht zugleich den wahren Grund für den Rechtsbegriff aus. Diese Position Hegels bildet den grundlegenden Begriff der Freiheit. Hegels Lehre vom objektiven Geist, um die es sich auch bei seiner Rechtsphilosophie eingehend handelt, befasst sich im Ganzen mit dem Rechtsbegriff. Der objektive Geist wird demgemäß als freier Wille bezeichnet, der bezweckt, „seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren“ (W10.303). In Hegels Rechtsphilosophie, seiner philosophischen Wissenschaft des Rechtsbegriffs, soll man das Recht nicht ausschließlich in seiner strengen Bedeutung unter Anlehnung an den bloßen Rechtsformalismus, wie das gesetzliche, positive Recht, verstehen. Wenn wir hier [also in der Rechtsphilosophie] vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte (W7.90 f.). Hegels philosophische Untersuchung des Rechts betrifft nämlich nicht bloß das Privatrecht im juristischen Sinne, d. h. die Gesetzmäßigkeit des bürgerlichen Rechtsanspruchs im Privatleben, sondern die vernünftige Verwirklichung des freien Willens vom Menschen. Dieser Begriff des Rechts ist nämlich für die menschliche Freiheit selbst relevant. Wenn das Verhältnis der Rechtsphilosophie mit der Geschichtsphilosophie angeht, lässt sich Folgendes darstellen: Wie Hegels Lehre vom objektiven Geist, seine Rechtsphilosophie, anhand der Grundlinien detailliert dargelegt worden ist, so ist seine Lehre von der „Weltgeschichte“, die im objektiven Geist ihre Stelle (W10.347-365) einnimmt, in den Grundlinien ganz kurz (W7.503-512) dargelegt worden. Hegel hat aber auch einige bis ins Detail gehende Kollegien 283 über die „Philosophie der Weltgeschichte“ gehalten; diese Vorlesungen enthalten die detaillierten Ausführungen zur „Weltgeschichte“. Weil Hegels sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens“. W7, S. 46 f. Zu dem Zusammenhang von Freiheit, Denken und Bildung vgl. Vieweg (2010), S. 14-19. 283 Eduard Gans hat kurz nach Hegels Tod ein Buch gemacht, für das er als Quellen die Reihe der Nachschriften sowie Hegels eigenhändige Manuskripte benutzt hat. Danach wurde diese Edition von anderen (Karl Hegel, Georg Lasson und Johannes Hoffmeister) ausgearbeitet. Mehrere Nach- bzw. Mitschriften aus Vorlesungen wurden außerdem veröffentlicht und werden es noch. 261 „Philosophie der Weltgeschichte“ systematisch dem objektiven Geist zugeordnet ist, so lässt sich sagen, sie hat als eine Disziplin der philosophischen Wissenschaft ihre systematische Stellung; seine Geschichtsphilosophie (z. B. W12), die Reihe seiner Vorlesungen über die Philosophie der „Weltgeschichte“, beruht auf demselben Prinzip wie die „Weltgeschichte“ innerhalb der Rechtsphilosophie. <Der objektive Geist im System> Der objektive Geist in der Heidelberger Enzyklopädie (1817) Die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) Der objektive Geist in der Berliner Enzyklopädie (1827/1830) I. Das Recht I. Das abstrakte Recht I. Das Recht II. Die Moralität II. Die Moralität II. Die Moralität III. Die Sittlichkeit III. Die Sittlichkeit III. Die Sittlichkeit 1. Die Familie 1. Die Familie 2. Die bürgerliche Gesellschaft 2. Die bürgerliche Gesellschaft 3. Der Staat 3. Der Staat 1. Das einzelne Volk 3.1 Das innere Staatsrecht 3.1 Das innere Staatsrecht 2. Das äußere Staatsrecht 3.2 Das äußere Staatsrecht 3.2 Das äußere Staatsrecht 3. Allgemeine Weltgeschichte 3.3 Die Weltgeschichte 3.3 Die Weltgeschichte Die „Weltgeschichte“ wird nicht als die Geschichte eines bestimmten Volkes (wie bei deutschen oder französischen Geschichte) oder eines bestimmten Faches (wie bei Religions-, Kunstgeschichte usw.), sondern durch die „allgemeine Weltgeschichte“ (W10.347) gekennzeichnet. Die allgemeine Weltgeschichte bedeutet die Geschichte der allgemeinen Verwirklichung des Weltgeistes; die Untersuchung der Weltgeschichte anhand des enzyklopädischen Systems liegt konkreter gesagt darin, den Gesamtprozess der „wahrhaften Gestaltung des sittlichen Lebens“, d. h. der Ausbildung des Staats, darzulegen (W7.436). Weil die Sittlichkeit des Staats der wesentliche Gegenstand der Rechtsphilosophie ist, lässt sich feststellen, dass Hegels Geschichtsphilosophie und seine Darstellung der „Weltgeschichte“ innerhalb der Grundlinien einen und denselben Standpunkt zu ihrer Grundlage machen. In der „Vorrede“ zu den Grundlinien behandelt Hegel die wahre „Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit“ (W7.24). Hier lässt sich beschreiben, dass die Aufgabe der Philosophie in der Rechtfertigung der folgenden „Überzeugung“ besteht: „Was vernünftig ist, das ist 262 wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (W7.24 f.). Eine philosophische Untersuchung hat zunächst etwas Bekanntes, also mit Hegel, nur „das was ist“ (W7.26), zu ihrem Gegenstand, jedoch muss sie ihn begreifen anders als sonstige Bemühungen. Die philosophische Methodik, die ursprünglich in der Logik entwickelt worden ist,284 lässt sich als „spekulative Erkenntnisweise“ (W7.12) ausdrücken; das begreifende Wissen liegt darin, „das was ist“ selbst, also den Inhalt im systematischen Zusammenhang des Ganzen, durch die Notwendigkeit der Sache selbst zu begreifen. In der philosophischen (deshalb wissenschaftlichen) Untersuchung ist der Inhalt insofern an die Form „gebunden“, als sie sich nicht beliebig ihren Inhalt ausdenkt, sondern „in allen und jeden Einzelheiten die logische Fortleitung nachzuweisen“ hat, sodass sie „dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form“ (W7.14) gewährleisten kann. Die zwei Belege für die Wissenschaftlichkeit der PHG, die in dem ersten Teil der vorliegenden Arbeit („I. Die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie des Geistes“) dargelegt worden ist, d. h. die Vollständigkeit der abzuhandelnden Bewusstseinsgestaltungen und die Notwendigkeit des Ü bergangs (von einer vorherigen Gestalt zur nachfolgenden) bzw. Zusammenhangs (miteinander), lässt sich auch in Hegels folgender Einsicht erblicken: Die wahre philosophische Erkenntnis liegt in der „Notwendigkeit eines Begriffs“, mit dem man „die Notwendigkeit der Sache“ (W7.31) – wie sie in Wirklichkeit ist, und zwar in ihrer Ganzheit – erfassen kann. Die philosophische Perspektive liegt ergo in der folgenden Einsicht, dass „nichts wirklich ist als die Idee“ (W7.25). Die Vernunft ist eben die Idee sowohl im menschlichen Bewusstsein als auch in der Wirklichkeit, m. a. W.: Die wahre Organisation des überindividuellen Zusammenlebens übernimmt die Garantie für die Freiheit eines Individuums. Diese Einsicht lässt sich als „die Versöhnung mit der Wirklichkeit“ (W7.27) beschreiben. Die Vernunft ist ihrer Form nach das begreifende Wissen, und ihrem Inhalt nach die „Notwendigkeit der Sache“; diese „Einheit der Form und des Inhalts“ lässt sich als „die philosophische Idee“ (W7.27) bezeichnen. Die Rechtswissenschaft […] hat daher die Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriffe zu entwickeln oder, was dasselbe ist, der eigenen immanenten Entwicklung der Sache selbst zuzusehen (W7.30). Dazu vgl.: „Die Methode, wie in der Wissenschaft der Begriff sich aus sich selbst entwickelt […], ist hier gleichfalls aus der Logik vorausgesetzt“ (W7.84). 263 284 In der wissenschaftlichen Betrachtung wird der Staat als „die Architektonik seiner Vernünftigkeit“ oder gleichsam als „eine Hieroglyphe der Vernunft“ (W7.19; 449) betrachtet. Der Staat steht, auf dieser Vernünftigkeit beruhend, in der Welt, dadurch wird er als die „wirkliche Vernünftigkeit“ (W7.424) oder das Vernünftige in der Welt dargestellt. Nur der Staat als sittlicher garantiert nach Hegel, insofern das Recht des Einzelnen in einer gut organisierten (Staats-)Verfassung verankert ist, dem Staatsbürger die Freiheit; eben für die wahre Integration des Staats ist das staatstragende Selbstbewusstsein des Individuums, d. h. die sittliche Gesinnung unentbehrlich (W7.412 f.). Hegel wendet die in seiner Logik dargestellte Struktur des Begriffs auf den Gegenstand der Rechtsphilosophie an; deswegen besteht auch der ganze Verlauf seiner Rechtsphilosophie prinzipiell in dem logischen Schluss des Willens, d. h. im Entwicklungsgang der Idee des Rechts: 1) die „Allgemeinheit“, die aber nur der abstrakte Begriff oder die Abstraktion von jeder Bestimmung ist, 2) die „Besonderheit“, also der Gegensatz zwischen dem Begriff und seinem besonderen Dasein, und 3) die „Einzelheit“, also die konkrete Allgemeinheit oder die Einheit von dem Begriff und seinem Dasein (W7.49-57). Dieser logische Entwicklungsgang des Begriffs (als des absoluten Prinzips desselben, was eine Sache in Wahrheit oder Wirklichkeit ist) ist von der Darstellung des bloß historischen Verlaufs zu unterscheiden ist. Als Beispiel dafür kann man Folgendes anführen: De Staat setzt die bürgerliche Gesellschaft voraus, obwohl sie sich im real-zeitlichen Rahmen später als er, genauer erst in der Neuzeit, herausbildete; die Familie ist gleichfalls zwar der logischen Darstellungsordnung nach die Folge der Moralität, entstand aber historisch gesehen früher als diese beiden.285 Wie der Geist (der aus der Natur folgt) der logischen Bestimmung nach die Wahrheit der Natur ist, so geht die bürgerliche Gesellschaft zu ihrer Wahrheit, dem Staat, über, obgleich dieser der Darstellungsordnung nach jene voraussetzt. Die Aufgabe der Geschichtsphilosophie liegt der rechtsphilosophischen Einsicht („Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“) entsprechend zwar in der wissenschaftlichen Rechtfertigung der folgenden Ü berzeugung, dass „die Vernunft in der Welt und ebenso in der Weltgeschichte geherrscht habe und herrsche“ (W12.23). Bei Hegels Rechtsphilosophie als die gesamte Lehre vom objektiven Geist handelt es sich um Dazu vgl.: „Diese Entwicklung der unmittelbaren Sittlichkeit [d. h. der Familie] durch die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft hindurch zum Staate […] ist der wissenschaftliche Beweis des Begriffs des Staats […] [, weil] im Gange des wissenschaftlichen Begriffs der Staat als Resultat erscheint, indem er sich als wahrhafter Grund ergibt. […] [Dagegen:] In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste, innerhalb dessen sich erst die Familie zur bürgerlichen Gesellschaft ausbildet […]“ (W7.397f.); „[d]ie bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt“ (W7.339). 264 285 die Darstellung des logischen Entwicklungsgangs des Rechtsbegriffs, des freien Geistes. Seine Geschichtsphilosophie behandelt den Prozess zur real-zeitlichen Verwirklichung des Freiheitsbegriffs. Die geschichtsphilosophische Begründung der obigen Ü berzeugung ist dadurch möglich, dass man den historischen Entwicklungsgang des Weltgeistes im begreifenden Wissen erfasst. Die begreifende Betrachtung der „Weltgeschichte“ wird aber zugleich als Schilderung der real-zeitlichen Entwicklung des Weltgeistes gedacht; denn sie lässt sich im Grunde als „die Auslegung des Geistes in der Zeit“ (W12.96 f.) beschreiben. Die Geschichtsphilosophie hat somit den anderen Zusammenhang zwischen der realzeitlichen Entwicklung und logisch-begrifflichen Bestimmung als die Rechtsphilosophie; in der Philosophie der „Weltgeschichte“ sind Begriff und Geschichte zu einem Ganzen zusammengeschlossen. Wer seinen Blick auf den von Hegel gedachten Zusammenhang des Systems mit der „Weltgeschichte“ richtet, kann seinen Grundgedanken über die Geschichte also folgendermaßen feststellen: Die „Weltgeschichte“ wird von Hegel zwar der Rechtsphilosophie zugeordnet, aber sie spielt bei seiner gesamten Philosophie eine große Rolle. Hegels Lehre der „Weltgeschichte“ hat nämlich diese systematische Stellung: Die allgemeine Weltgeschichte befindet sich im Ü bergang vom objektiven in den absoluten Geist. Im Zusammenhang mit der Weltgeschichte behandelt Hegel die Geschichte der Kunst, der Religion, der Philosophie sowie die Bildungsgeschichte des Bewusstseins zur Wissenschaft in der PHG, insbesondere die wirkliche Geschichte anhand des Kapitels „Geist“ und des Kapitels „Religion“. Wie bereits festgestellt, beginnt Hegels Rechtsphilosophie mit dem Begriff des freien Geistes, als des Schlusspunkts des subjektiven Geistes, wobei die Freiheit das Wesen des Gesamtgeistes bildet, sodass sich sagen lässt, dass der freie Geist das Potenzial des absoluten Geistes in sich enthält. Hegel sieht den Begriff der Freiheit bzw. des freien Willens nicht bloß im Rahmen des rein subjektiven Moralgesetzes; die menschliche Freiheit liegt gleichwohl ebenso wenig in dem Gebiet des ganz und gar öffentlichen Zwangsgesetzes. Der objektive Geist betrifft im Ganzen die konkrete Realisierung des Freiheitsbegriffs. Der Freiheitsanspruch von einem moralisch gut gesinnten Subjekt muss in unserer konkreten Lebenswelt verwirklicht werden. Das Recht des wissenden und handelnden Individuums wird dadurch anerkannt, dass das Interesse des Einzelnen mit dem Zweck des Gemeinwesens versöhnt wird; das Recht eines Individuums wird nämlich durch die Instanz der überindividuellen Geltung, zuhöchst durch den Staat, anerkannt. Der Staat bezweckt, dem besonderen Interesse seines Mitgliedes Geltung zu verschaffen, sodass der Staatsbürger das 265 allgemeine Interesse als ein für alle gemeinsames Werk aufnimmt. Nur in dieser sittlichen Substanzialität kann die Freiheit eines Menschen bestätigt werden, sein gelungenes Leben ist demgemäß mit dem Geist eines bestimmten Volks eng verbunden. Der Volksgeist macht die Grundlage für die Gesamtgesinnung des Staatsbürgers aus. Der Staat, d. h. die letzte Instanz im Bezugsrahmen des Zusammenlebens, ist bei Hegel von der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft grundverschieden. Anders als diese Sphären des Privatlebens, vereinigt der Staat den allgemeinen Willen und den besonderen Willen miteinander; der Staatsbürger fühlt sich daher verpflichtet, die durch den Staat auferlegte Pflicht zu erfüllen, damit kann der Mensch sein Recht in diesem Gemeinwesen geltend machen. „Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, daß das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert“ (W7.430). Im Staat als dem Ganzen sind nämlich die individuelle Freiheit und das überindividuelle Zusammenleben optimal aufeinander abgestimmt, indem er als das von seinen Angehörigen selbst Gewollte anerkannt wird. Allein man muss eine Grenzelinie zwischen diesem sittlichen Ganzen und den Gestalten des absoluten Geistes erblicken; der Staat ist nichts anderes als der Geist eines Volks in einer Welt. Dieses eine bestimmte Volk entwickelt sich lediglich in der objektiven Wirklichkeit. Jedes Volk hat zwar seinerseits eine Geschichte, die zeigt, wie es seinen Freiheitsbegriff verwirklicht hat. Seine Entwicklung wird jedoch auf eine bestimmte, also auf ein Gebiet oder einen Zeitraum begrenzte, Kondition beschränkt. Denn jeder Volksgeist ist „ein bestimmter Geist“, der „nach der geschichtlichen Stufe seiner Entwicklung bestimmt“ wird (W12.73). Jedem besonderen Volk wird deswegen weltgeschichtlich ein besonderes Prinzips zugeordnet; jeder Volksgeist hat neben der kulturellen Eigentümlichkeit auch seinen eigenen geographischen, klimatischen und ethnologischen, sozusagen einen endemischen Charakter, sodass die ganze Geschichte eines bestimmten Volks überhaupt nicht in der Weltgeschichte thematisiert wird. Der bestimmte Volksgeist, da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, hat nach dieser Naturseite das Moment geographischer und klimatischer Bestimmtheit; er ist in der Zeit und hat dem Inhalte nach wesentlich ein besonderes Prinzip und eine dadurch bestimmte Entwicklung seines Bewußtseins und seiner Wirklichkeit zu durchlaufen (W10.347). 266 Weil ein Staat die einem bestimmten Volksgeist eigentümliche Gestalt ist, fungiert jeder Staat als ein besonderes Individuum, wenn man ihn im Verhältnis zu anderen betrachtet; ein Staat muss nämlich versuchen, die gegenseitige Anerkennung der freien staatlichen Souveränität, also ein Zusammenleben mit anderen, zu erringen. Alle real existierenden Staaten sind, wie alle Individuen in ihrer objektiven Wirklichkeit, auf ihre Verhältnisse zueinander beschränkt. Sie sind, um ihrer Besonderheit willen, notwendigerweise gleichfalls auf eine bestimmte zeitliche und örtliche Kondition beschränkt.286 Der Staat ist nur dann allgemeiner Geist, wenn jedes besondere Volk auf dem sittlichen Ganzen beruht; er wird nämlich nur dann als allgemeiner Geist angesehen, wenn er im Rahmen der Weltgeschichte betrachtet wird. Die Wirklichkeit des Weltgeistes liegt in dem menschlichen Streben nach der Freiheit und in der Reihe der Gebilde aus diesem Vollzug. Der Weltgeist expliziert sich allerdings im menschlichen Bewusstsein nicht gänzlich; jedes Individuum glaubt, dass er sich auf eine unbegreifliche Weise in seinem Schicksal ergibt, in dem aber der Weltzweck bewirkt wird. In Bezug auf die Staaten manifestiert sich das Absolute negativ, indem auch sie einem endlichen Schicksal übergeben sind; selbst welthistorische Reiche – sei es das orientalische, das griechische, das römische oder selbst das germanische Reich (W7.509) – müssen untergehen. In diesem Zusammenhang ist die Weltgeschichte als das „Weltgericht“ (W10.347) zu bezeichnen. Hegel erläutert die Hauptmomente der Weltgeschichte und den endgültigen Vereinigungsort von beiden wie folgt: Es sind zwei Momente, die in unseren Gegenstand [d. h. in die Weltgeschichte] eintreten; das eine ist die Idee [des Weltgeistes hinter dem menschlichen Bewusstsein], das andre sind die menschlichen Leidenschaften [als zweckmäßiges Handeln vom Menschen]; das eine ist der Zettel, das andre der Einschlag des großen Teppichs der vor uns ausgebreiteten Weltgeschichte. Die konkrete Mitte und Vereinigung beider ist die sittliche Freiheit im Staate (W12.38). Hegel behauptet, dass „nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist“ (W12.38). Das besondere Interesse des Individuums ist für uns, also vom Standpunkt der Philosophie der Weltgeschichte aus, mit der Idee eng verwoben; die Geschichte des 286 Hegel ist skeptisch, ob der ewige Frieden unter den Staaten in einem Völkerrecht festgelegt werden kann. Denn der wahre Begriff eines Volkes ist nicht z. B. in der Gründung der „Heiligen Allianz“, als dem auf dem „Wiener Kongress“ geschaffenen System, sondern begrifflich in der Lehre vom absoluten Geist, aber geschichtlich in der allgemeinen Weltgeschichte aufzufassen (W7.405 f.). 267 menschlichen Handelns ist die Geschichte der Verwirklichung der Idee. Aus dem ganzen Vollzug des menschlichen Willens ergibt sich, dass die Idee der Freiheit in unserer objektiven Welt verwirklicht wird; in dem sittlichen Staat ist die zugespitzte Form der Freiheit erblickbar. Das ist der Hauptgedanke der Weltgeschichte, der namentlich durch den Ausdruck der „List der Vernunft“ (W12.49) kenntlich gemacht wird. Das Geschäft des Weltgeistes stellt im Grunde auch den Prozess zum Wissen des Geistes von sich dar. Durch die Arbeit der Weltgeschichte kommt der Geist nämlich an die Schwelle zu seiner Wahrheit hin. Der objektive Geist geht nun in den absoluten Geist über. Der bisherige Gesamtvollzug des Geistes ist an sein weltliches Dasein gebunden, der absolute Geist weiß hingegen, dass er erst seine Wahrheit erreicht. Dieses Wissen des Geistes von seinem Wesen wird als der absolute Geist dargestellt. Der Weltgeist vollzieht sich jedoch noch in der objektiven Wirklichkeit. Der Begriff der Freiheit ist im objektiven Geist auf die von Außen gegebene Bedingung bezogen; die Freiheit im objektiven Geist bedeutet die Freiheit in der Form der Realität des Geistes oder die „Freiheit als vorhandene Notwendigkeit“ (W10.32). Solange dieser Freiheitsbegriff nur im Kontext der äußerlichen Notwendigkeit aufgefasst wird, ist er hier noch nicht im wahren Sinne zu realisieren. Der objektive Geist kommt noch nicht zu der Einsicht in seinen wahren Begriff, obwohl er schon einen Begriff des absoluten Geistes impliziert. Aus dem oben gesagten Verhältnis des objektiven Geistes zum absoluten Geist muss man Folgendes beachten: Der Weltgeist ist zwar auch der allgemeine Geist in der Wirklichkeit eines Volks, aber die Arbeit der Weltgeschichte bringt den Geist zu einer höheren, endgültig wahren Stufe, auf der sich sein Prozess zum Wissen von sich vollendet. Das Wissen des Geistes von sich, m. a. W. die Befreiung des Geistes bedeutet, dass das menschliche Subjekt selbst zum wahren Wissen von seinem Wesen gelangt ist. Denn der absolute Geist ist nicht als eine von dem menschlichen Denken absolut unabhängige Substanz, sondern als das dem Menschen restlos Offenbare zu verstehen. Zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen hinsichtlich des Freiheitsbegriffs gibt es einen grundlegenden Unterschied. Hegel setzt nämlich bezüglich dieses Zusammenhangs zugleich noch einen ausdifferenzierten Punkt voraus, dass der freie Geist zwar ein Begriff des absoluten Geistes, aber streng genommen nur ein Begriff desselben ist (W10.301). Ü ber die Endlichkeit des objektiven Geistes schreibt Hegel Folgendes: 268 Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr (W10.303). Dementsprechend wird der objektive Gesamtgeist von Hegel zwar als „die absolute Idee“, aber genauer als das Potenzial derselben, die nur an sich seiend ist, charakterisiert. Die Freiheit wird auf der Stufe des objektiven Geistes „zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet“ (W10.303); insofern ist er nicht zu der Einsicht in sein Wesen gelangt. Der Ü bergang vom Volksgeist (durch den Weltgeist hindurch erst) in den absoluten Geist impliziert nicht einfach die Ü berwindung seiner Endlichkeit, sondern zugleich den Ü bergang zur wahren Explikation seines Begriffs, zur Unendlichkeit des Geistes. Insofern der absolute Geist nichts anderes als diese Explikation seines Freiheitsbegriffs ist, besagt er die Einheit von Notwendigkeit und Freiheit oder von Zweck und dessen Vollzug. Die Vollendung des geistigen Prozesses liegt darin, dass der „Begriff“ des Geistes seine „Realität“ in sich selbst enthält, indem dieser Begriff „die desselben würdige Gestalt“ erringt (W10.366). In der Totalität der bisherigen Bemühungen ist die Lehre vom absoluten Geist begriffen. Die Triadik des absoluten Geistes, also die Kunst, die Religion und die philosophische Wissenschaft, haben ihre eigene Form, die von der Form des Staats verschieden ist, zu ihrem Prinzip; sie sind nur verschiedene Seiten und Formen ein und desselben Inhalts. In der Kunst, der Religion und der Philosophie offenbart sich das Absolute affirmativ, daher gibt es die Beseligung durch die Kunst und die Religion sowie die höchste Versöhnung durch die Philosophie. Bereits in seinen Jenaer Schriften behandelt Hegel die Kunst, die Religion und die philosophische Wissenschaft zuerst im Hinblick auf den allgemeinen Geist, danach wird in seiner PHG die Religion, die aus der orientalischen, griechischen und christlichen Religion besteht, als die höchste Bewusstseinsgestalt dargestellt. In der Heidelberger Enzyklopädie gehören zum absoluten Geist „die Religion der Kunst“, „die geoffenbarte Religion“ und „die Philosophie“, aber erst mit ihrer zweiten Fassung wird diese Triadik fertig gestellt. In der PHG und der Heidelberger Enzyklopädie wird die Kunst offensichtlich als eine Gestalt der Religion angesehen; es scheint hingegen später, dass die Kunst endgültig als ein eigenständiges Gebiet anzusehen ist. Wenn man trotzdem Hegels System vom absoluten Geist überprüft, lässt sich Folgendes erkennen: Die Kunst wird nach wie vor – zumindest in 269 den von Hegel selbst publizierten Werken – der Religion zugeordnet. In der PHG wird die Sittlichkeit als ein zeitweilig-augenblickliches, aber gedanklich idealisiertes Bild des antiken Griechentums dargestellt. Diese antike Sittlichkeit bedeutet das Prinzip des Zusammenlebens, in dem der Polisbürger „in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz lebt“, sodass die Kunstreligion in der PHG eben die „Religion des sittlichen Geistes“ ist (W3.513). Die griechische Religion ist die Kunst selbst und die griechische Kunst ist die Religion selbst. Die altgriechische Religion entwickelt sich nämlich in der Kunstform, gleich „wie in einem schönen Kunstwerke das Sinnliche das Gepräge und den Ausdruck des Geistigen trägt“ (W12.137). Die frühe Sittlichkeit des alten Griechentums wird demgemäß von Hegel als die „schöne Sittlichkeit“ (W12.138) bezeichnet. Überhaupt taten die Griechen alles fürs Ö ffentliche und Allgemeine, in welchem jeder seinen Genuß, seinen Stolz, seine Ehre fand. In dieser Ö ffentlichkeit nun ist die Kunst der Griechen nicht bloß ein Schmuck, sondern ein lebendiges, notwendig zu befriedigendes Bedürfnis (W14.429). Also denkt Hegel, dass in der altgriechischen Welt nicht bloß die Religion, sondern auch alle anderen geistigen Gebilde als Kunstwerk, als das Eigenwerk vom sittlichen Volk, gerühmt werden. Seit der zweiten Auflage der Enzyklopädie (in Berlin) ist an die Stelle der griechischen Kunst-Religion die „Kunst“ getreten. Aber auch hier kann man Hegels Gedanken der ursprünglichen Gemeinsamkeit von Kunst und Religion287 finden; denn die altgriechische Kunst wird noch als die „Religion der schönen Kunst“ (W10.368) dargestellt. Das Kapitel „Religion“ in der PHG, das auch die Kunstreligion behandelt, und das Kapitel „Das absolute Wissen“ entsprechen den drei Gestalten des absoluten Geists im enzyklopädischen System – die Kunst, die Religion und die Philosophie. 287 Um die eigenständigen Beschäftigungen mit der Kunst geht es zwar erst in mehrmals gehaltenen Vorlesungen über die „Ästhetik“. Aber im Rahmen des enzyklopädischen Systems behandelt Hegel die Kunst immer, indem er sie in die Thematik der Religion einbezieht. Dazu vgl.: „[D]ie Lehre von der Kunst ist in den von Hegel selbst publizierten Werken keine eigenständige Ä sthetik (wie etwa in den Vorlesungen über Ä sthetik), sondern ein Teil der Religionsphilosophie.” Hösle (1987), S. 599. 270 <Die Triade vom absoluten Geist> Phänomenologie des Geistes (1807) Heidelberger Enzyklopädie (1817) Berliner Enzyklopädie (1827/1830) - Die Kunstreligion - Die Religion der Kunst - Die Kunst - Die offenbare Religion - Die geoffenbarte Religion - Die geoffenbarte Religion - Das absolute Wissen - Die Philosophie - Die Philosophie Die Vollendung der Religion im Rahmen der PHG, d. i. die Versöhnung zwischen dem WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) und dem RELIGIÖ SEN GEIST (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion), ist mit der Versöhnung zwischen dem objektiven Geist und dem absoluten Geist im Rahmen der Enzyklopädie zu vergleichen; der Ü bergang des weltlichen Bereiches zur Religion entspricht dem Ü bergang des objektiven Geistes zum absoluten Geist. Der objektive Geist ist zwar deutlich von der obigen Triadik des absoluten Geistes zu unterscheiden; denn dieser Weltgeist ist im Grunde nichts anderes als Volksgeist jeweils in einer bestimmten geschichtlichen Welt. Dennoch wird es von Hegel auch nicht geleugnet, dass jeder weltgeschichtliche Vorgang die Reihe von Bemühungen des Menschen zum „absoluten, vernünftigen Endzweck der Welt“ (W12.25) ausdrückt; deshalb spiegelt sich jeder Augenblick der wahren Versöhnung zwischen dem objektiven Geist und dem absoluten Geist in der jeweiligen Wirklichkeit des Weltgeistes wider. 271 2. Die Harmonie von Staat und Religion aus dem enzyklopädischen System 2.1 Hegels Kritik an den fehlerhaften Religionsauffassungen Hegels Gedanke des Verhältnisses von Staat und Religion ist für die systematische Untersuchung seiner Philosophie von Belang; denn dieses Verhältnis macht einen Knotenpunkt und zugleich Trennungspunkt zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist aus; das Verhältnisses von Staat und Religion ist deswegen während Hegels ganzer Zeit eins seiner philosophischen Hauptthemen. Man muss sagen, dass ein Hauptgedanke seine Ü berlegungen zu dieser Thematik, allmählich entwickelt und oft revidiert, – trotz ihrer Verschiedenheit voneinander288 – völlig durchdringt. Hegel denkt, dass Missverständnisse hinsichtlich dieses Themas aus Fehldeutungen der beiden Bereiche – also des Staats und der Religion – folgen. Also ist es nötig, zunächst vielfältige fehlerhafte Ansichten darüber auszuführen; um zur wahrhaften Einsicht in das Verhältnis von Religion und Staat zu kommen, muss man für Hegel diese beiden nämlich in dem – philosophisch entwickelten – Begriff erfassen können. Aus der geläufigen Sicht der Religion wird sie als Herzenstrost für unser vergängliches irdisches Leben empfohlen; überdies meint man, sie könne uns den Weg zur endgültigen Befriedigung in unserer Seele zeigen. Aber man täuscht sich in seinen solchen Erwartungen, wenn man glaubt, mit der so gedachten Religion jede Misere in dieser Welt auflösen zu können. Denn insofern die Heiligkeit und die Weltlichkeit für grundverschieden 288 Schon in Hegels Frühschriften vor der PHG kann man seinen Gedanken über diese Thematik finden. Hegels Position ist dadurch gekennzeichnet, dass es in seinen Texten neben seiner Konzeption der Unabhängigkeit des Staates von der Religion auch seine Kritik an der Auffassung gibt, dass der Staat eine den Angehörigen fremde Macht sein solle. W1, S. 9-103 u. 582-602; W2, S. 470 f. Hegels Ausdruck der „[s]ynthetische[n] Verbindung des Staats und der Kirche“ (GW8.283) in seinen Jenaer System-Konzeptionen kündigt seinen Gedanken des engen Zusammenhangs des objektiven mit dem absoluten Geist an. In der PHG und Heidelberger Enzyklopädie wird diese Thematik nicht explizit dargestellt, während Hegel in seiner Berliner Zeit dieses Verhältnis eingehend thematisiert. Interessanterweise hat dieses Thema keine feste Stellung innerhalb von dem enzyklopädischen Systems. Hegel sagt zunächst in seinen Grundlinien Folgendes: „Das innere Staatsrecht“ ist der Ort, in dem Hegel diese Thematik, mit dem Titel „das Verhältnis des Staats zur Religion“ (W7.415) bezeichnet, erörtert. Und in der zweiten Fassung der Enzyklopädie (1827) kann man innerhalb des Abschnittes „Der absolute Geist“, genauer am Ende des Kapitels „Kunst“ folgende Kennzeichnung finden: „Ihr Verhältnis zum Staat“ (GW19.396), wohingegen Hegel in ihrer dritte Fassung (1830) das Thema „das Verhältnis von Staat und Religion“ (W10.355) am Ende der „Weltgeschichte“, also zwischen dem objektiven und absoluten Geist, behandelt. Es gibt Behauptungen, dass man sogar auch in einem Werk Hegels Schwanken in Bezug auf das Verhältnis des Staates zur Religion erblicken könne. Dazu vgl. Alvarez-Gomez (2004); Jaeschke (2009B); Schick (2009B). Aber es gibt, trotz Hegels mehr oder minder ambivalenten Stellungen, was diese Beziehung des Staates auf die Religion betrifft, zumindest innerhalb des enzyklopädischen Systems bzw. der davon abgeleiteten (rechts-, geschichts- und religionsphilosophischen) Schriften Hegels eine kohärente Perspektive, die im Ganzen „die ursprüngliche Harmonie von Religion und Staat“ (GW19.396) besagt. Zu dem diesbezüglichen Argument vgl. Karásek (2009). 272 voneinander gehalten werden, oder mit Hegels Formulierungen in seiner Religionsphilosophie – insofern unser Leben in „eine Anzahl Werktage“ und „einen Sonntag“ (V3.11), d. h. in eine profane Angelegenheit und eine Gottseligkeit, aufgeteilt wird –, ist sie nicht in der Lage, die Erwartungen zu erfüllen. Im Alltagsleben ist unsere Glaubensgesinnung zwar eine übergeordnete, unter Umständen die oberste Instanz unserer praktischen Entscheidung, dennoch führt nur dieses religiöse Ethos nicht ohne Weiteres zum gelungenen Leben, weil die Religion selbst überhaupt nicht geradewegs unseren Lebensraum verändern kann. Dadurch entsteht sogar eine atheistische, deistische, pantheistische oder zumindest die historische – oder mit dem nachhegelschen Terminus – positivistische Einstellung, die uns oft zur Frage führt, ob die Religion deswegen belanglos sei, weil Gott Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens sei. Die einseitige Sichtweise der Religion wird besonders in der Religionsphilosophie anhand der zwei typisch falschen Religionsverständnissen, d. h. anhand der subjektiven „Frömmigkeit“ und der formellen „Erkenntnis“ (V3.16), eingehend thematisiert. Hegels Abwertung des so gearteten unphilosophischen Religionsbegriffs ist mit seiner Abschätzung der unbegründeten Methodiken hinsichtlich der Rechtsphilosophie eng verwoben. In der „Vorrede“ zu den Grundlinien teilt Hegel sie in die zwei Arten auf: Die eine ist die „Unzulänglichkeit der Formen und Regeln“ der Formallogik (W7.12), die andere sind „formlos hin- und hergehenden Betrachtungen“ (W7.13). Unter jener unzureichenden Form versteht Hegel die bloß formelle „Verstandeserkenntnis“, während er unter dieser Formlosigkeit die Behauptung derjenigen versteht, die der Ansicht sind, dass die Wissenschaft nicht erkannt, sondern „gefühlt“ werden solle (W7.12). Aus diesen Positionen geht hervor, dass alle wissenschaftlichen Bemühungen im Bezug auf den Zweck des Staats fehlschlagen. Insofern würde der Begriff der Freiheit selbst angefochten. Aus dieser Fehldeutung des Staats folgt notwendigerweise, dass man den Begriff der Religion verkennt der in Wirklichkeit eine mit dem Begriff des Staats gemeinsame Grundlage, d. h. den freien Geist, in sich enthält. Die fehl geleitete „Frömmigkeit“ aus dem subjektiven Gefühl und die formelle Erkenntnis unter Anlehnung an das formal-logische Denken, diese beiden Tendenzen sind die entscheidenden Ursachen für das folgende Missverständnis des Zusammenhangs zwischen der Religion und dem Staat, auf das Hegel uns hinweist: 273 Fehldeutung 1: Religion und Staat seien völlig auseinandergefallen. Fehldeutung 2: Die Religion stehe über den Staat oder sie stehe ihm gegenüber. Diese Fehldeutungen beruhen beide grundsätzlich auf der These der Trennung von Religion und Staat, also auf der Annnahme, dass sie unverträglich miteinander seien, d. h. die Religion von dem Staat entfernt sei oder ihm gegenüber überlegen sei. 1) Was die erste Fehldeutung anbelangt, müssen wir zunächst eine große, historische Tendenz zur fortschreitenden Säkularisierung berühren; diese Tendenz hat bekanntlich zur Einsicht in das unantastbare Recht des Menschen als solchen, und damit zur Toleranz oder Gewissensfreiheit geführt. Schon im mittelalterlichen Glauben kann man Hegel zufolge die Trennung des Weltlichen vom Heiligen betrachten. Diese Trennungsthese besagt dass, dass der Staat sich selbst keine religiösen Gebote mehr zu erteilen brauche, sodass er keines kirchlichen Beistandes mehr bedürfe; er könne nämlich selbständig die Rechte der Bürger garantieren, und zwar ohne die Wirksamkeit des intellektuellen Reichs anzuerkennen. Diese Position folgt aus der bloßen Ahnung, dass die Religion als absolute Wahrheit und der Staat als eine Angelegenheit des profanen Interesses voneinander unterschiedlich seien. Außerdem hänge auch der praktische Vollzug des Einzelnen nicht notwendigerweise von der Existenz Gottes selbst, sondern vom Prinzip der menschlichen Freiheit als des freien Willens ab; inzwischen bewege sich der Staat mit fester Absicht in Richtung auf die Befreiung von der Religion. Daraus könnte man feststellen, der Staat ziele nämlich darauf, die Welt zu entheiligen, dadurch werde die Religion allmählich in den privaten Bereich unseres Lebens, genauer gesagt nicht nur in die alltägliche, profane Lebenswelt, sondern auch in die Innenwelt der absolut unwandelbaren Wahrheit innerhalb des Seelenlebens, zurückgezogen. So denkt man, dass Staat (Weltlichkeit) und Religion (Heiligkeit) endgültig auseinandergefallen seien. Aber Hegel kritisiert diese Trennungsthese. Diese Ansicht hat für Hegel diese folgenden Probleme: Es kann zunächst verdächtig scheinen, daß die Religion vornehmlich auch für die Zeiten öffentlichen Elends, der Zerrüttung und Unterdrückung empfohlen und gesucht und an sie für Trost gegen das Unrecht und für Hoffnung zum Ersatz des Verlustes gewiesen wird. Wenn es dann ferner als eine Anweisung der Religion angesehen wird, gegen die weltlichen Interessen, den Gang und die Geschäfte der Wirklichkeit gleichgültig zu sein, der Staat aber der Geist ist, 274 der in der Welt steht, so scheint die Hinweisung auf die Religion entweder nicht geeignet, das Interesse und Geschäft des Staats zum wesentlichen ernstlichen Zweck zu erheben, oder scheint andererseits im Staatsregiment alles für Sache gleichgültiger Willkür auszugeben (W7.416). Das weltliche Reich bedarf paradoxerweise eben um seiner selbst willen eines ihm genau entgegengesetzten Punkts; wie die Religion aus dem Bereich der Ö ffentlichkeit herausgetreten, so ist auch dem Staat kein Zutritt zur Innigkeit des individuellen Bewusstseins gewährt. Dieser Begriff des Staats, der immer von dem Gewissen und der Gesinnung des Einzelnen auseinandergefallen ist, wird von Hegel bloß als „die bürgerliche Gesellschaft“ bezeichnet; sie ist nichts anderes als der „Not- und Verstandesstaat“, d. h. ein äußerlicher Bund zwischen den Bürgern, die nur davon abweichen, dass öffentliche Angelegenheiten ihrem eigenen Privatwohl zuwiderlaufen (W7.340; 423 f.). Somit kann das Individuum nicht zur Einsicht in die „wirkliche Vernünftigkeit“ in seinem Gemeinwesen kommen, sodass ihm vielmehr der „Verlust der Sittlichkeit“ widerfahren ist, indem die nur „relative Totalität“ zwischen den Individuen erscheint (W7.338 ff.). 2) Die zweite Fehldeutung hat in der These der Trennung von Staat und Religion geschlummert. Der geschichtliche Entwicklungsgang der germanischen Welt, die von ihm weltgeschichtlich der letzten und höchsten Phase zugeordnet wird, hängt mit dem Entwicklungsgang des Verhältnisses zwischen dem freien Selbstbewusstsein und der Autorität aus Kirchenlehre, also zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen, zusammen. 289 In der zweiten Periode der germanischen Welt, d. h. im Mittelalter, sieht Hegel den Gegenstand zwischen dem Staat und der Religion finden; in diesem Zeitalter konnten die beiden sich einander überhaupt nicht gleichgültig sein, sondern standen sich gegenüber. Man könnte denken, diese Fehldeutung könne zwar widerlegt werden, wenn sich die Kirche darum bemühe, ihre Heiligkeit sogar das Gebiet der Weltlichkeit zu durchdringen. Diese Meinung aber folgt aus dem Missverständnis der These, dass „die Religion die Grundlage des Staats sei“ (W7.415); man soll die These der Fundierung des Staats in der Religion nicht mit der Annahme verwechseln, dass er nur innerhalb der Religion einen Sitz habe. Wenn Staat und Religion – trotz der Annahme der Unterschiedenheit voneinander – miteinander vermengt werden, und damit nicht angemessen voneinander ausdifferenziert werden, so ergibt sich neben der Pervertierung der sittlichen Idee sogar die Verfälschung des Religionsbegriffes. Diese Verwirrung stützt sich oft darauf, dass die religiöse Gesinnung 289 Dazu vgl. die Anm. 23 im Teil I, D. 4: „Der selbstbewusste Geist als der neue Geist“. 275 endgültig an die Stelle der scheinbar mangelhaften Staatsverfassung treten könnte. Aber daraus ergibt sich paradoxerweise die Meinung, dass Religion und Staat unvereinbar miteinander seien, weil dieser Gedanke (die Religion solle als schlechthin gültig angesehen werden, während der Staat bloß etwas Flüchtiges sei) ursprünglich vorausgesetzt worden ist. Wenn die Religion auf einer nicht genügend überlegten Kirchenlehre beruht, aber der Gläubige – sei er Kleriker oder Laie – trotzdem ganz davon überzeugt ist, dass es außerhalb seiner Kirchengemeinde nirgends in der Welt das universal Gültige gebe, wenn nämlich ein unüberlegter Geist der Religion nur dem bloßen Dogma folgen würde, könnte die Kirche – wie sie es z. B. bei Giordano Bruno und Galileo Galilei getan hat – die Freiheit der Wissenschaft und des Gedankens unterdrücken (W7.426). Infolgedessen wären sowohl die öffentliche Ordnung als auch das Gewissen des Staatsbürgers einer großen Gefahr ausgesetzt. Diese Fehldeutung der Religion hat in Bezug auf unser Staatsleben zwei Nebeneffekte: Der eine ist die Position derjenigen, die glauben, dass die Religion die oberste Instanz im Bezug auf die Geltung eines wirklichen Staats sei, indem sie „den Gesetzen Stabilität verschafft“ (W10.361). Wenn man meint, die Religion beherrsche direkt das Staatsgeschäft in unserem Leben, würde diese Religion nichts anderes tun als für die Theokratie im orientalischen Despotismus plädieren. Hegel hat in seiner Zeit persönlich die Behauptung derjenigen gehört, die der Ansicht sind, dass die Konfessionsspaltung eben ein Zeichen für das Unglück im öffentlichen Leben und deshalb die Einheit des Staats mit einer bestimmten (also katholischen) Kirchengemeinde nötig sei. Diese restaurative Tendenz bedeutet nichts anderes als ein unüberbietbares Beispiel dafür, wie die Fehldeutung der Religion die Sittlichkeit des Staats gefährdet. Unter dem zweiten, aber schlimmeren Nebeneffekt versteht Hegel die Ansicht des Einzelnen in Anlehnung an seine subjektive Ü berzeugung, dass gar kein objektives Gesellschafssystem seinem Gewissen zuwider sein solle. Der Fürsprecher dieser Stellung behauptet Folgendes: „[D]em Gerechten ist kein Gesetz gegeben; seid fromm, so könnt ihr sonst treiben, was ihr wollt, – ihr könnt der eigenen Willkür und Leidenschaft euch überlassen“ (W7.418). Er ist der Meinung, „daß der gute Wille darin bestehen soll, daß er das Gute will“, denn er denkt, „der Zweck heiligt die Mittel“ (W7.269; 271). Diese subjektive Ü berzeugung, dass die moralische Gesinnung aus einem frommen Herzen unfehlbar und unantastbar sei, entwickelt sich bis zur Polemik gegen den Staat oder die „Feindschaft gegen das öffentlich Anerkannte“ (W7.15) weiter. Hegel tituliert die beiden – die theokratische Instrumentalisierung des Staats und die subjektivistische Polemik gegen ihn – insgesamt mit dem „Fanatismus“ (W7.50; 418). Der Unterschied der ersten von den zweiten besteht nur im Folgenden: Die fanatische Gesinnung 276 vonseiten der theokratischen Regierung liegt nur insofern im Schlummer, als sich ein politischer Konflikt innerhalb ihrer selbst noch nicht ereignet (W10.358). Aus der fanatischen Unüberlegtheit geht hervor, dass die subjektive Freiheit oder deren Vollziehung im Staatsleben unterdrückt und verdorben wird. Diese Tendenz der religiösen Despotie ist mit dem politischen Fanatismus verwoben; was die politische Durchsetzung des öffentlichen Interesses angeht, werden als Beispiele des fanatischen Vollzuges von Hegel vor allem die Erfahrungen der Französischen Revolution, d. h. die Enthauptung des Königs, der gewaltsame Sturz der Regierung und die sog. jakobinesche Schreckenszeit, angeführt. Diese historischen Ereignisse scheinen zwar nur die politische Angelegenheit zu sein, weil die Französische Revolution aufzeigt, wie tragisch es ist, dass der Anspruch der absoluten Freiheit, ohne das Gefüge unseres Zusammenlebens vernünftig umzubauen, nur die völlige Zerstörung der beständigen Welt verursacht hat (W3.440 f.). Hegel denkt im Grunde, dass die Polemik gegen die beständige Verfassung nämlich in dem schlechten Begriff der Religion liegt; deshalb kann man sagen, dass Hegels Kritik an dieser Revolution eben nicht die Kritik an der politischen Revolution selbst, sondern nur die Kritik an der fanatischen Gesinnung selbst ist. Diese Kritik ergibt sich grundsätzlich aus seiner Kritik am Katholizismus als der „Religion der Unfreiheit“ (W10.359). Die Französische Revolution hatte in ihrer ersten Phase zwar den Katholizismus selbst bekämpft, aber dieser Kampf selbst beruhte auf dem Prinzip des Katholizismus. Der Revolution als der politischen Umgestaltung muss nach Hegel eben die Reformation als die Befreiung des Gewissens vorausgehen. In diesem Zusammenhang schreibt Hegel Folgendes: Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben (W10.360). Hegel behauptet nämlich, dass ein beschränkter Begriff der Religion in einem Staat zum Scheitern der politischen Revolution führt, obwohl die bürgerliche Revolution von der Religion ganz unabhängig zu sein scheint. Die politische Befreiung ist für Hegel ohne die moralische und zugleich religiöse Befreiung nicht entstanden (W12.535). 290 Die Das Gewissen macht – sei es moralisch oder religiös – die geistige Grundlage für den gesamten praktischen Vollzug des Menschen in der Neuzeit aus..“ 277 290 Fehldeutung der Religion bedingt direkt den Fanatismus der politischen Durchsetzung und zerstört dadurch die Sittlichkeit des Staats. 2.2 Hegels These über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit dem religiösen Gewissen Hegel kritisiert, wie in dem letzten Abschnitt dargestellt, die typischen Fehldeutungen des Verhältnisses von Staat und Religion. Die wahre Deutung der Beziehung von beiden lässt sich hingegen wie folgt ausdrücken: 1) Der Staat beruht seinem Begriff nach auf der Religion. 2) Die Religion muss um ihrer Existenz in der objektiven Welt willen ausschließlich in dem so in sich fundierten Staat ihren wahren Sitz haben. 3) Dieses Komplementärverhältnis von beiden setzt aber voraus, dass die Religion bereits in Anlehnung an ihren wahren Begriff errichtet worden ist, sonst würde sie die Sittlichkeit des Staats verderben. Staat und Religion sollen also weder als voneinander getrennt noch als miteinander vermischt angesehen werden, sondern das Verhältnis von beiden muss als „die ursprüngliche Harmonie“ (GW19.396) betrachtet werden. Diese Harmonie lässt sich nicht einfach als eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Lebensformen, sondern als die „vollkommene Durchdringung“ (W7.30) bezeichnen. Die Versöhnung des Weltlichen mit dem Religiösen ist Hegel zufolge von der Reformation ausgegangen (W12.414 f.; 504). Die Religion fungiert als „das Bewusstsein der absoluten Wahrheit“ und macht insofern die „Substantialität“ des Staats aus (W10.355); daher kann man alles, was dem wahren Freiheitsbegriff in einem Gemeinwesen gemäß ist, deswegen anerkennen, weil das Individuum „Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt“ (W10.355), oder umgekehrt, weil der schlechte Gottesbegriff zum schlechten Staatsbegriff führt. Daraus folgt, dass Religion und Staat, was die Existenz des freien Willens betrifft, sich zueinander wie das Innere und das Ä ußere verhalten. Man soll jedoch nicht außer Acht lassen, dass alle beide nichts anderes als Gestalten des Geistes sind, der als solcher durch eine Totalität gekennzeichnet wird. Also kann man in jeder geistigen Gestalt bereits eine Vereinigung des Inneren und des Ä ußeren finden; Religion und Staat enthalten nämlich jeweils die beiden Seiten, das Innere und das Ä ußere, in sich. In diesem Zusammenhang wird der Staat eben durch die Gesinnung des Staatsbürgers unterstützt und das so in dieser sittlichen Tugend von seinen Gliedern fundierte (ebenfalls 278 sittliche) Ganze kann eine seinem Begriff gemäße Verfassung haben. Aber für Hegel ist diese sittliche Sinnesart des Einzelnen im Staat grundsätzlich mit seiner Glaubensgesinnung eng verwoben. Aus diesem Grunde lässt sich Hegels folgende Angabe hinsichtlich des Verhältnisses von Sittlichkeit und Religion verstehen: Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Gesinnung und diese auf der religiösen. […] Beides ist untrennbar; es kann nicht zweierlei Gewissen, ein religiöses und ein dem Gehalte und Inhalte nach davon verschiedenes sittliches, geben (W10.355 f.). Die staatliche Ordnung oder gesetzliche Geltung expliziert das religiöse Selbstbewusstsein des Einzelnen, das bereits in seiner Vergewisserung über sich selbst impliziert ist. Sein Glauben an das Absolute und das Gewissen des Subjekts von sich selbst sind inhaltlich gesehen unzertrennlich. Hegel denkt selbstverständlich, dass – wie in seiner Rechtsphilosophie ausgeführt – das moralische Gewissen eine entscheidende Schranke hat. Ü ber die scharfe Abgrenzung zwischen der Moralität und der Sittlichkeit schreibt er Folgendes: In den moralischen Standpunkt, wie er in dieser Abhandlung [also in den Grundlinien] von dem sittlichen unterschieden wird, fällt nur das formelle Gewissen; das wahrhafte ist nur erwähnt worden, um seinen Unterschied anzugeben und das mögliche Mißverständnis zu beseitigen, als ob hier, wo nur das formelle Gewissen betrachtet wird, von dem wahrhaften die Rede wäre, welches in der in der Folge erst vorkommenden sittlichen Gesinnung enthalten ist (W7.256). Die neuzeitliche Zeit ist für Hegel durch das „Recht der subjektiven Freiheit“ (W7.233) gekennzeichnet. Das Gewissen des neuzeitlichen Subjekts, also sein Innerstes, ist die oberste Instanz seiner Entscheidungen dafür, wie es leben soll. Diese Selbstbestimmung des neuzeitlichen Subjekts wird auch mit der moralischen Freiheit bezeichnet (W10.312); der moralische Standpunkt bildet nämlich – sei es die Pflichtenethik oder Gewissensethik – das weltgeschichtliche Prinzip der Neuzeit (W7.254). Die subjektivistische Einstellung der Moralität ist allerdings mit dem Formalismus des moralischen Vollzugs überhaupt verwoben. Dieses „formelle“ Gewissen kann deswegen noch nicht als das „wahrhafte“ Gewissen des 279 Subjekts angesehen werden, denn die Wahrheit des moralischen Gewissens ist in der wahren Gesinnung des sittlichen Volks erblickbar. Allein der Standpunkt des Gewissens überhaupt ist als die oberste Instanz der subjektiven Tätigkeit, d. h. als der eigene Vollzug des moralischen Subjekts, aufzufassen; daraus lässt sich erkennen, dass das für sich seiende Subjekt des Gewissens die Konstante für das Leben in der Neuzeit ist. [Denn] die sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn [d. h. den Menschen] machen, von ihm befolgt zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung, Anerkennung oder selbst Begründung haben. Die Subjektivität des Willens in ihm selbst ist Selbstzweck, schlechthin wesentliches Moment (W10.312 f.). Wenn der Formalismus des moralischen Gewissens überwunden wird und dadurch das menschliche Bewusstsein von dem Gerechten und dem Ungerechten oder von dem Guten und dem Bösen seines eigenen Handelns in dem wahren sittlichen bzw. religiösen Gewissen verankert ist, kann man den geistigen Boden für den wahren Begriff der neuzeitlichen Sittlichkeit erkennen. Beide Momente, aus denen sich der wahre Begriff des sittlichen Staats ergibt, also das sittliche Gewissen (als das subjektive Sittliche wie die Gesinnung) und die sittliche Verfassung (als das objektive Sittliche wie die Institution) (W10.293 ff.), können für Hegel nur dann in der Einheit miteinander stehen, wenn das Gewissen des Menschen alles in allem auf der wahren religiösen Gesinnung beruht. [D]ie Rechtschaffenheit wird nur etwas Festes, indem die Religion ihr zu Grunde liegt, indem ihr Innerstes, das Gewissen, darin erst absolute, wahrhafte Verpflichtung, absolute Sicherheit seiner Verpflichtung hat (V3.109). Das wahre religiöse Gewissen macht die Grundlage für die Sittlichkeit aus, die als „die Idee der Freiheit“ (W7.292) gilt, denn die Religion ihrer Idee nach ist die tiefste und größte Gestalt der menschlichen Freiheit. 280 Die Religion ist, insofern sie von wahrhafter Art ist, keineswegs eine einfache Polemik gegen den Staat. Hegels Zitat, „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben“ (W7.258) und seine Bemerkung über die Julirevolution von 1830 in Frankreich (V3.347) sind auf das religiöse Gewissen bezogen, das wider das wahre Prinzip des Staats steht und sich an Fehldeutungen der Religion anlehnt. Aus diesem Grunde denkt Hegel, dass das Recht des neuzeitlichen Subjekts endgültig im Christentum liegt, sodass sich der wahre Begriff des Staats mit dem wahren Religionsbegriff in Harmonie befindet. Wie sich die religiöse Lehre in dem Gewissen des freien Selbstbewusstseins entfaltet, so bedarf auch der Staat einer für ihn relevanten Gesinnung (z. B. Patriotismus), sodass die sittliche Tugend des Staatsbürgers (z. B. die Treue zu dem Gelöbnis der Ehe) durch die religiöse Gesinnung unterstützt werden kann. Auf diese Weise dient das religiöse Gewissen, dass eine religiöse Lehre die absolute Wahrheit ist, zur staatlichen Integration. So ist die Freiheit im Staate bewährt und bestätigt durch die Religion, indem das sittliche Recht im Staate nur die Ausführung dessen ist, was das Grundprinzip der Religion ausmacht (W12.405). Die Gesinnung des Bürgers ist mit der religiösen Gesinnung eng verwoben, die „das Höchste der Gesinnung“ (W7.417) ist. Wie sich aber der Staat auf den wahren Begriff der Religion stützt, so ist auch die Religion in gleichem Maße von der auf den Freiheitsbegriff abgestimmten Verfassung abhängig, denn die Religion bedarf auch im Staatsleben eines Raumes, in dem sie sich entfalten kann. Insofern eine real existierende Religionslehre in ihrem bestimmten Glaubenssystem um der Gottesverehrung willen einen Gottesdienst abhalten soll und deshalb des Eigentums, der Priesterschaft usw. bedarf, tritt sie aus ihrem innerlichen Bereich hinaus und damit in die Weltlichkeit hinein. Der Staat erlaubt als die Grundlage für die Existenz unserer Gesamtlebensform auch der Religion einen Sitz in sich, ohne deswegen ihr Wesen zu depotenzieren. Dank dieses Umstands geht Hegel auf das noch konkretere Thema „Verhältnis von Staat und Kirchengemeinde“ (W7.420) ein. Darüber sagt er Folgendes: Es ist in der Natur der Sache, daß der Staat eine Pflicht erfüllt, der Gemeinde für ihren religiösen Zweck allen Vorschub zu tun und Schutz zu gewähren, ja, indem die Religion das ihn für das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment ist, von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß sie sich zu einer Kirchengemeinde halten, – übrigens zu irgendeiner (W7.420). 281 Wenn sich der unwahre Inhalt der Religion in unserem Leben vollzieht, könnte ihre arbiträr geführte Polemik gegen den Staat zwar für die Stabilität des Staats gefährlich sein. Aber der gut organisierte Staat kann sich zu dieser Bedrohung sozusagen „liberal“ verhalten und sogar eine religiöse „Toleranz“ – sogar gegen „Anomalien“, die keine Pflicht gegen den Staat anerkennen und damit (wissentlich oder unwissentlich) die wirkliche Vernünftigkeit desselben beschädigen könnten, z. B. Quäker (Mitglieder der Religiösen Gesellschaft der Freunde), Wiedertäufern (Anabaptisten) oder Juden (W7.420 f.) – üben. Es kommt bei der Harmonie von Staat und Kirchengemeinde Hegel zufolge insbesondere darauf an, dass „im Staate alles fest und gesichert ist“, damit er als „die Schanze“ (W7.431) gegen einen virtuellen Angriff fungieren kann. Indem der Staat außerdem selbst jenen Gläubigen das bürgerliche Recht verleiht, können sie ihre Pflicht als Staatsbürger – zumindest „auf eine passive Weise“ – erfüllen und ihr „Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten“, verhilft ihnen zur Integration in den Staat (W7.421). Man könnte auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass dieser Gedanke Hegels sich seiner scharfen Kritik der Fehldeutung der Religion widersetze. Aber unter der Toleranz sollte man nicht ein einfaches Zusammensein aller Konfessionen, und zwar unabhängig von der Frage nach dem wahren Religionsbegriff, verstehen. Sein Gedanke weist meines Erachtens vielmehr hinsichtlich der politischen Toleranz darauf hin, dass der Staat sich darum bemühen soll, dem Staatsbürger Gewissensfreiheit zu garantieren. Man darf das keinesfalls so verstehen, dass die Religionsfreiheit gerade die Bejahung aller Konfessionen – einschließlich der Religion in Anlehnung an die verfälschte Sichtweise – bedeute. Aus diesem Grunde ist Hegels Position nicht mit der Behauptung des einfachen Zusammenfallens des Staats mit einer bestimmten Kirchengemeinde zu verwechseln. Der neuzeitliche Staat braucht keine Staatsreligion mehr, sondern soll einen Abstand zur wirklichen Gemeinde halten. Wie schon gesagt, macht der Gegensatz zwischen dem Staat und der Kirche die historische Bedingung in der Neuzeit aus. Diese Distanzierung ist wohl unvermeidlich, aber auch für die Staatsbildung und die Förderung der Wissenschaft unentbehrlich (W7.428). Nur unter der Bedingung der Trennung von beiden kann erst das liberale Verhalten des Staats zu Kirchengemeinden von praktischer Bedeutung sein; demzufolge gelangt Hegel im Hinblick auf diese Thematik zu der folgenden Ansicht: Staat und Kirche treffen „zusammen oder gegeneinander“ (W7.423). Spricht man also von der Einheit von Staat und Religion, soll sie nicht mit der prinzipiellen Gleichförmigkeit zwischen beiden verwechselt werden. 282 Hegels Gedanke über den Zusammenhang von beiden setzt die Notwendigkeit der geschichtlichen Entfaltung des Freiheitsbegriffs voraus. Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat. Dieser eine Begriff ist das Höchste, was der Mensch hat, und er wird von dem Menschen realisiert. Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetz. Diesen Zusammenhang zwischen Staat und Religion zu betrachten, dies gehört in seiner ausgebildeten Ausführlichkeit eigentlich der Philosophie der Weltgeschichte an (V3.340). Die Weltgeschichte, die den Freiheitsbegriff im Umfeld des objektiven Geistes umfassend darstellt, hat bei Hegel einesteils mit der Kunst, Religion und Philosophie mehr oder minder Gemeinsamkeit. Es ist im Prinzip der eine Geist, der freie Geist, der sich durch Staat, Kunst und Religion hindurch bis zur Philosophie erstreckt; Hegel ist grundsätzlich der Auffassung, dass „die Verfassung eines Volkes mit seiner Religion, mit seiner Kunst und Philosophie oder wenigstens mit seinen Vorstellungen und Gedanken, seiner Bildung überhaupt […] eine Substanz, einen Geist ausmache“ (W12.64 f.) Daraus lässt sich feststellen, dass der Begriff der Freiheitsthematik von grundlegender Relevanz für Staat und Religion ist. Aus Hegels Gedanken, dass der freie Geist als der Anfangspunkt des objektiven Geistes den „Begriff des absoluten Geistes“ (W10.301) ausmacht, lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist erkennen, denn „es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat“. Diese Behauptung entspricht nach Hegel unserer Vorstellung des Wertvollen in der Welt; man glaubt, dass es in der Welt einen Endzweck, also ein als solcher allgemein gültiges, sogar für göttlich gehaltenes Lebensziel, gebe. Als Beispiele dafür führt Hegel hauptsächlich die Moral, die Sittlichkeit und die Religion an; sie sind alle von Hegel unter dem objektiven oder dem absoluten Geist eingeordnet und als Produkte des freien Geistes geschildert. Diese grundsätzliche Identität hinsichtlich des Freiheitsbegriffs zeigt uns auf, wie Staat und Religion im Hinblick auf den praktischen Vollzug des freien Selbstbewusstseins eine affirmative Beziehung zueinander haben. Also lässt sich Hegels These verstehen, dass Staat auf Religion beruht, oder dass er in Anlehnung an sie gerechtfertigt werden kann; die Religion erweist sich als der Grund für den Staat, obwohl der Darstellungsordnung nach sie aus ihm hervorgeht, wie der absolute Geist einen wahren Grund für den objektiven Geist bildet. Dazu führt Hegel Folgendes aus: 283 Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält. [...] Die Vorstellung von Gott macht somit die allgemeine Grundlage eines Volkes aus. [...] Wie daher die Religion beschaffen ist, so der Staat und seine Verfassung; er ist wirklich aus der Religion hervorgegangen und zwar so, daß der athenische, der römische Staat nur in dem spezifischen Heidentum dieser Völker möglich war, wie eben ein katholischer Staat einen andern Geist und andere Verfassung hat als ein protestantischer (W12.70 f.). Das religiöse Prinzip liegt in der Innenwelt des Menschen und hat manchmal für ihn sogar die höchste Verbindlichkeit, genauer „die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit“ (W10.356). Der Staat bildet aber die Basis für das gelungene Zusammenleben, deshalb kann man das gesamte geistige Eigentum der Menschheit, Moral, Sitte, Religion, Wissenschaft usw., erst im Staatsleben finden; unser geistiger Gesamtvollzug bedarf um seiner Existenz willen der Gestalten vom objektiven Gesamtgeist, dessen höchste Gestalt eben der Staat ist. In diesem Zusammenhang stellt Hegel fest: „In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden“ (W12.56), denn „ein Volk ohne Staatsbildung […] hat eigentlich keine Geschichte“ (W10.350). Die Religion ist aber die Grundlage für denjenigen Staat, der bereits die Grundlage für die Realisierung unseres geistigen Gesamtvollzuges ist. Die Religion eines Staats stellt sich als wesentlicher Zweck für jeden Volksgeist, als das höchste Prinzip im Staatsleben heraus. Also lassen sich der Unterschied und der Zusammenhang zwischen der immanenten Logik des Freiheitsbegriffs und der konkreten Exposition desselben, was Staat und Religion betrifft, wie folgt formulieren: Staat und Religion beruhen grundsätzlich auf ein und demselben Begriff, aber das Wissen des Geistes von der Freiheit setzt voraus, dass der Begriff der Freiheit nicht bereits in der Welt verwirklicht worden ist, bis ihr Potenzial völlig entfaltet ist, m. a. W. bis das menschliche Bewusstsein sein geistiges Wesen erfassen kann. Was das Verhältnis von Staat und Religion anbelangt, fungiert die Religion als die in unserem Leben real existierende Religion; sie wird nämlich vom Staatsbürger als Lehre, Kultus und Priesterschaft gedacht. Aus diesem Kontext lässt sich die folgende Bemerkung Hegels verstehen: Die Sittlichkeit des Staates und die religiöse Geistigkeit des Staates sind sich so die gegenseitigen festen Garantien (W10.365). 284 Insofern kann die sittliche Freiheit mit der Einsicht in die gegenseitige Garantie von Staat und Christlichkeit ergründet werden. Das religiöse Gewissen des Individuums in einem Staat ist nämlich im protestantischen Prinzip von dem sittlichen Gewissen in diesem Staat nicht zu unterscheiden. Staat und Religion stehen dem Inhalt nach nicht im Gegensatz, aber der Form nach im Unterschied. Die wahre Betrachtung des Verhältnisses von beiden ergibt sich daraus, dass man die mit beiden gemeinschaftliche Bestimmung, also den freien Geist, erfasst hat. Die Philosophie, mit der man zur Einsicht in die vernünftige Wirklichkeit (oder die Vernunft in der Wirklichkeit) gelangen kann, beruht in dem begreifenden Wissen, mit dem wir die wahren Formen der Versöhnung (also die Versöhnung der Philosophie mit dem Staat bzw. ihre Versöhnung mit der Religion) erblicken können. Darüber schreibt Hegel Folgendes: Nur in dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien […] Geistes ist die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt (W10.364). Wie man die wesentliche Bestimmung des Staats bzw. der Religion für Hegel durch die philosophische Betrachtung darüber erringen kann, so gilt, dass das Verhältnis von beiden denkerisch verständlich gemacht werden kann. Hegels Gedanke, dass die religiöse Gesinnung und die staatliche Konstitution wesentlich „unzertrennlich“ sind, sodass beides „sich gegenseitig nicht entbehren“ kann (V3.346) – denn er denkt, dass die Triadik des absoluten Geistes dem Inhalt nach in dem engen Zusammenhang mit dem Staat, d. h. mit der höchsten Gestalt des objektiven Geistes, steht291 –, kann durch das Verhältnis zwischen der Genesis und der Begründung erklärt werden. Diesen Punkt kann man in dem Folgenden feststellen: Dazu vgl.: „Es ist so eine Individualität, die in ihrer Wesentlichkeit, als der Gott, vorgestellt, verehrt und genossen wird: in der Religion, – als Bild und Anschauung dargestellt wird: in der Kunst, – erkannt und als Gedanken begriffen wird: in der Philosophie. Um der ursprünglichen Dieselbigkeit ihrer Substanz, ihres Inhalts und Gegenstandes willen sind die Gestaltungen in unzertrennlicher Einheit mit dem Geiste des Staats; nur mit dieser Religion kann diese Staatsform vorhanden sein, sowie in diesem Staate nur diese Philosophie und diese Kunst“. W12, S. 73. 285 291 Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor […]. Nur aus ihr und von ihr aus wird die Idee von Gott als freier Geist gewusst […]. Aber dieses Hervorgehen gibt sich zugleich selbst wie überall im Spekulativen die Bedeutung, daß das zunächst als Folgendes und Hervorgegangenes Gestellte vielmehr das absolute Prius dessen ist, durch das es als vermittelt erscheint und hier im Geiste als dessen Wahrheit auch gewußt wird (W10.354 f.). Wenn die Aufgabe der Weltgeschichte in der Vereinigung der Idee mit der verschiedenen Bedürfnissen von Individuellen, m. a. W. des allgemeinen Willens mit dem besonderen Willen, also in der verwirklichten Vernünftigkeit liegt, macht der Staat das Allgemein-Ganze in der objektiven Wirklichkeit aus. Die objektive Existenz dieser Vereinigung ist der Staat, welcher somit die Grundlage und der Mittelpunkt der andern konkreten Seiten des Volkslebens ist, der Kunst, des Rechts, der Sitten, der Religion, der Wissenschaft. Alles geistige Tun hat nur den Zweck, sich dieser Vereinigung bewußt zu werden, d. h. seiner Freiheit (W12.68). Der Staat, der als die höchste Gestalt des sittlichen Prinzips in einer bestimmten Welt bezeichnet wird, fungiert als der Existenzgrund für die reale Gestalt eines religiösen Glaubens; die Religion, die im Grunde das Verhältnis des Menschen zum absoluten Geist betrifft, existiert als eine besondere Konfession oder Kirchengemeinde, und zwar gründet sie sich auf die Geltung einer besonderen Staatsform. Die institutionalisierte Gestalt eines Glaubensbekenntnisses entsteht nämlich aus einer staatlichen Institution. Daraus folgt, dass der Staat die genetische Grundlage für die Existenz der Religion ausmacht (also kann man sagen, im gut fundierten Staat kann man eine gut fundierte Religiosität finden). Aber Hegel spricht explizit an, dass die Religion „als die Substanz des Staats“ (W10.302) aufzufassen ist; der Staat liegt nämlich in dem wahren Begriff der Religion oder kann durch sie begründet werden. Seine Angabe, dass der Staat „göttlicher Wille als gegenwärtiger“ ist (W7.417), gibt uns Hinweise für seine These der Fundierung des Staates in der Religion.292 Dazu vgl.: „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist“. W7, S. 417 f. Und noch: „Die Sittlichkeit ist der göttliche Geist als inwohnend dem Selbstbewußtsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben“ (W10.355); „[d]er Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist“ (W12.57); „Staaten und Gesetze sind nichts anderes als das Erscheinende der Religion an den Verhältnissen der Wirklichkeit“ (W12.497). 286 292 Der Staat gestaltet sich also als die konkrete Explikation des wahren religiösen Gehalts, d. h. des absolut-freien Geistes.293 Der Ü bergang des Gegensatzes zwischen dem Staat und der Kirche in die Versöhnung von beiden stelle Hegel zufolge den geschichtlichen Ü bergang von dem mittelalterlichen in die neuzeitliche Welt dar. Den Zusammenhang des Staates mit der Religion stellt Hegel folgendermaßen dar: „In der Organisation des Staates ist es, wo das Göttliche in die Wirklichkeit eingeschlagen, diese von jenem durchdrungen und das Weltliche nun an und für sich berechtigt ist; denn ihre Grundlage ist der göttliche Wille, das Gesetz des Rechts und der Freiheit. Die wahre Versöhnung, wodurch das Göttliche sich im Felde der Wirklichkeit realisiert, besteht in dem sittlichen und rechtlichen Staatsleben“ (V5, S. 264). 287 293 B. System und Geschichte: die geschichtsbezogene Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes 1. Die Geschichte des weltlichen Geistes und die Geschichte des religiösen Geistes Mit dem Ü bergang des objektiven zum absoluten Geist vollendet sich der geistige Gesamtvollzug in dem enzyklopädischen System nicht endgültig; denn der absolute Geist muss seinerseits den folgenden Entwicklungsgang haben: die Kunst (in Form der Anschauung), die Religion (in Form der Vorstellung) und die Philosophie (in Form des begreifenden Gedankens). Jede Gestalt des absoluten Geistes ist jeweils die höchste Wahrheit, zu der der Geist auf dem Weg des Befreiungsprozesses in einer bestimmten Zeitperiode schon gelangt ist. So hat z. B. die Kunstreligion die höchste Wahrheit des Geistes in der antikgriechischen Welt ausgedrückt; jede höchste Gestalt der Kunst wird also als die absolute Kunst bezeichnet. Diese Beziehung des Geistes auf sich kann nicht in einem Atemzug in die Welt eintreten, sondern geht aus dem Bildungsprozess des Geistes hervor. Dieser Prozess muss aber auch dem real-zeitlichen Entwicklungsgang desselben entsprechen; sowohl der absolute Gesamtgeist als auch jede besondere Gestalt desselben haben nämlich jeweils eine eigene Geschichte. Dass diese Geschichte des absoluten Geistes die grundsätzlich die begriffsnotwendige Exposition des Wegs zum Wissen des Geistes von sich ist, wird dem Entwicklungsgang des Weltgeistes gemäß dargestellt. 294 Wenn in der Rechtsphilosophie der logische Entwicklungsgang des Rechtsbegriffs dargestellt wird und seine Geschichtsphilosophie den Prozess zur real-zeitlichen Verwirklichung des Freiheitsbegriffs thematisiert, so muss man die Lehre vom absoluten Geist als die denkerische Vereinigung der Logik und deren wirkliche Entwicklung auffassen. 294 Zu der Thematik der Geschichte des absoluten Geistes vgl. Theunissen (1970), S. 60 ff.; Jaeschke (1996), S. 367 ff. Jaeschke versucht freilich, die Gültigkeit dieser Thematik einigermaßen einzuschränken; er denkt, Hegels Konzept der Geschichte anhand seines enzyklopädischen Systems sei nur die Thematik der Weltgeschichte, die er im Endabschnitt des objektiven Geistes behandelt, im Gegensatz dazu habe Hegel die Geschichte des absoluten Geistes nicht eingehend im Rahmen des Systems thematisiert. Man kann wohl sagen, Jaeschkes Darstellung ist einigermaßen schlüssig, aber auch der folgende Punkt soll nicht außer Acht gelassen werden: Wenn man Hegels System des absoluten Geistes betrachtet, entspricht der Entwicklungsgang jeder Gestalt desselben (also der Kunst, Religion, Philosophie) dem Prozess der Weltgeschichte, der im Grunde mit der Dialektik der Geistes-Bewegung eng verwoben ist. Das heißt: In dem geschichtlichen Entfaltungsgang der Kunst, Religion und Philosophie kann man auch den strukturellen Zusammenhang mit dem geschichtlichen Prozess des Weltgeistes (vom alten Orient durch das klassische Griechentum bis zur neuzeitlichen Epoche) ausfindig machen. 288 Der inhaltliche Zusammenhang zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist impliziert die immanente Dialektik des Geistes; die Dialektik des objektiven Geistes und die Dialektik des absoluten Geistes hängen inhaltlich gesehen miteinander zusammen, weil die beiden den Entwicklungsgang des geistigen Wesens oder des freien Geistes darstellen. Damit dieses Wesen des Geistes aber dem menschlichen Bewusstsein expliziert werden kann, ist die Arbeit des Geistes unabdingbar; dieser Prozess ist nichts anderes als der Weg zur „Befreiung des Geistes“ (W10.352), in der die Niveauunterschiede in Bezug auf die Form ausgeglichen werden können. Der absolute Geist ist der wahre Grund für den geistigen Gesamtvollzug und setzt zugleich diesen ganzen Bildungsprozess des menschlichen Geistes voraus. Also lässt sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen der immanenten Logik eines Begriffs und der konkreten Exposition desselben, was Staat und Religion betrifft, wie folgt formulieren: Staat und Religion beruhen grundsätzlich auf ein und demselben Freiheitsbegriff, aber das Wissen des Geistes von der Freiheit setzt voraus, dass die Freiheit bereits in der Welt verwirklicht worden ist, bis ihr Potenzial völlig entfaltet ist. Das Wissen davon, wie die Freiheit in der Welt verwirklicht worden ist, entsteht durch die denkende Betrachtung des geschichtlichen Entwicklungsgangs des Weltgeistes. Hegels berühmter Satz, „[D]ie Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (W7.28) kann uns in diesem Zusammenhang verständlich gemacht werden; die „Eule der Minerva“, die symbolisch als die philosophische Einsicht in die Wirklichkeit dargestellt wird, entsteht erst mit dem Abschluss des objektiven Geistes, d. h. durch die Vollendung der Arbeit des Weltgeistes. Die Philosophie ist für Hegel weder eine Vorhersage oder Prognose, wie die Sache sich entwickeln wird, noch eine Belehrung oder Erbauung, wie sie sein soll. Ü ber den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit oder von Philosophie und Geschichte schreibt Hegel nämlich Folgendes: Als der Gedanke der Welt erscheint sie [= die Philosophie] erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut (W7.28). Wie der Prozess zum Wissen des Geistes von sich eben den Gegenstand der allgemeinen Weltgeschichte bildet, so ergibt sich aus der philosophischen Betrachtung der real 289 existierenden Religionen die Darstellung der begrifflichen Entwicklung des Begriffs der Religion, der sich in der PHG folgendermaßen darstellen: Gott ist Geist. Hegel gibt dementsprechend an, dass „die Geschichte der Religionen mit der Weltgeschichte zusammenfällt“ (W10.371). Diese Angabe bedeutet wiederum, dass die real existierenden Religionen jeweils die Religion eines bestimmten Volksgeistes sind. Der Geist der griechischen Kunstreligion in der PHG ist eben der Geist der Polissittlichkeit, also ein beschränkter Volksgeist in einer bestimmten Welt. Diese Charakteristik spiegelt sich in seiner Religion wider. Die Kunstreligion kann insofern den nur ihrer Form angemessenen Gehalt ausdrücken, als sie sich noch als Kunstform gestaltet. Diese Form wird als „die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes“ oder „die konkrete in sich frei gewordene, noch nicht aber absolute Geistigkeit“ (W10.367; 371) bezeichnet, weil sie nur in der natürlichen Unmittelbarkeit oder in der sinnlichen Ä ußerlichkeit liegt. Die christliche Religion erringt dadurch eine weiter entwickelte Form, dass sie die Schranke der antiken Religion überwindet. Die Ü berwindung fällt damit zusammen, dass das Prinzip des subjektiven Denkens entsteht und sich entwickelt. Dieses Prinzip, d. h. „das Recht der subjektiven Freiheit“, macht den „Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit“ (W7.233) aus. Das Selbstbewusstsein, das in sich selbst das absolute Prinzip des Wissens, Handelns usw. sucht, hat nach Hegel im sokratischen „Dämon“ seinen Ursprung (W7.259; 448), aber es entwickelt sich mit dem christlichen Freiheitsbegriff, nämlich dass der Mensch als solcher schlechthin frei ist (W10.301 f.; W12.31 f.), zusammen weiter. Hegel denkt, durch die Reihe der epochalen Ereignisse in der Neuzeit, namentlich der Reformation und der Französischen Revolution, hindurch erweist der Weltgeist seine Notwendigkeit und Wahrheit. Der begreifende Gedanke Gottes als des Geistes wird, mit Formulierungen in der PHG, „in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht“ und dieser absolute Geist ist „der erhabenste Begriff“, der „der neueren Zeit und ihrer Religion angehört“ (W3.28). Es gab zwar im Kultus der antikgriechischen Kunst-Religion eine Erfahrung der Offenbarung des Göttlichen, aber damals konnte man noch nicht erkennen, dass dies Offenbare in dem Verhältnis des Geistes zu sich selbst liegt. Der Prozess zum „Insichgehen des Geistes“ von Sokrates bis zur Reformation (W12.418) bringt die wahre Vereinigung des subjektiven Freiheitsanspruchs mit dem universalen Geltungsanspruch in der Neuzeit hervor. Es ist gleichwohl selbstverständlich, dass der Begriff der Religion nicht gänzlich direkt in der Wirklichkeit entfaltet wird; der christliche (aber bei Hegel genauer protestantische) Geist als die weltgeschichtliche Religion in der Neuzeit ist zwar nur im spekulativen Wissen 290 erreichbar, aber der christliche Glauben selbst bedeutet nicht direkt diese Spekulation. Man kann nämlich nicht einfach mit einem besonderen Bekenntnis des christlichen Glaubens in unserem Leben den Begriff der Religion direkt erringen. Die Diskrepanz des Religionsbegriffs und seiner Gestalt in der Wirklichkeit ist der Grund dafür, wie der religiöse Geist sich in der Weltgeschichte entfalten muss; infolgedessen bedarf die Vollendung der christlichen Offenbarung, wie schon gesagt, der langfristigen Arbeit des religiösen Geistes. Was die Form des religiösen Geistes angeht, gestaltet er sich noch in Form der Vorstellung. Er muss um seiner Vollendung willen „in den Begriff übergehen“(W3.503), d. h. er muss seine höchste Wahrheit im Begriff erfassen. Wenn der Geist der Religion begriffen wird, wird ihre eigene Form im gleichen Atemzug aufgehoben, ohne dass der Gehalt des religiösen Geistes verloren geht. Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Wie die altgriechische Kunst die in der sinnlichen Gegenständlichkeit gestaltete Religion ist, so erweist die vollendete Philosophie sich als der im Begriff erfasste Geist der Religion oder als das begreifende Wissen der in der Religion enthaltenen absoluten Wahrheit. Der Begriff der Religion liegt zwar in dem absoluten Wissen des Geistes von sich; insofern ist das Verständnis Gottes als des Geistes erst im spekulativen Wissen des Absoluten erreichbar, sodass die Offenbarung des Geistes im Christentum den grundlegenden Charakter der absoluten Religion bildet. Aber diese Beziehung des Geistes auf sich selbst entstand nicht in der Anfangsphase des Christentums – sei es die Geburt Christi, sein Tod am Kreuz, seine Auferstehung oder die Gründung der Kirchengemeinde –, sondern entfaltet sich allmählich in der Arbeit des Weltgeistes. In unserem Alltagsleben erscheint die christliche Religion somit als ein Glaube an Gott; insofern hat sie, wie schon gesagt, die Form des vorstellenden Gedankens noch nicht aufgelöst. Der Mensch glaubt zunächst an Gott, d. h. an einen ihm gegenüber Stehenden. Die offenbare Religion als die höchste Definition des Christentums impliziert, dass der Geist (Gott) dem Geist (Menschen) offenbar ist. Aber wenn man meint, dass die absolute Wahrheit von Gott offenbart sei, d. h. dass „Gott sich selbst den Menschen zu wissen gegeben hat, was er ist“ (V5.179), kann diese Religion mit dem Namen der geoffenbarten Religion benannt werden; wenn man meint, dass das Absolute dem Menschen „von außen gekommen“ (V5.179) worden sei, kann diese Religion mit dem Namen der positiven Religion benannt werden. Daraus lässt sich Folgendes feststellen: Hegels Kennzeichnung des Abschnitts „Religion“ in seiner Enzyklopädie als die „geoffenbarte Religion“ impliziert, dass die Hauptlehre des Christentums durch die philosophische Betrachtung begriffen werden solle. Die philosophische Auslegung der 291 Christlichkeit liegt darin, die wahre Bedeutung dieser christlichen Religion im Begriff zu erfassen. Der Entwicklungsgang des christlichen Prinzips stimmt mit der abendländischen Geschichte (die von der römischen Welt ausgegangen ist) überein. Die neuzeitliche Welt fängt Hegel zufolge mit der germanischen Welt, aber genauer mit ihrer dritten Periode, an; die Neuzeit fängt nämlich mit der Reformation, deren Prinzip in der Forderung liegt, dass das Weltliche und das Religiöse, d. h. Staat und Kirche, miteinander versöhnt werden soll. Der Geist in der neuzeitlichen Welt wird von Hegel zunächst als das Prinzip der subjektiven Freiheit oder der Staatsbildung bezeichnet. Aber diesem Prinzip steht auch ein anderes Prinzip, d. h. das Reich Gottes auf Erden, gegenüber; dieser Gegensatz bildet die historische Grundbedingung in der neuzeitlichen Welt. Im Gegensatz zu dieser realen Existenz herrscht zwischen dem Staat (d. h. dem objektiv-weltlichen Geist) und der Religion (d. h. dem absolut-religiösen Geist) bereits Harmonie. Hegel bezeichnet die Geschichte in der Neuzeit als Vereinigungsprozess von beiden, d. h. als Darstellungen der real-zeitlichen Entfaltung des einen Begriffs. [In der germanischen Welt] lebte […] ein vollkommen neuer Geist, […] nämlich der freie Geist, der auf sich selbst beruht, der absolute Eigensinn der Subjektivität. Dieser Innigkeit steht der Inhalt als absolutes Anderssein gegenüber. Der Unterschied und Gegensatz, der sich aus diesen Prinzipien entwickelt, ist der von Kirche und Staat. Auf der einen Seite bildet sich die Kirche aus, als das Dasein der absoluten Wahrheit; denn sie ist das Bewußtsein dieser Wahrheit und zugleich die Wirksamkeit, daß das Subjekt ihr gemäß werde. Auf der andern Seite steht das weltliche Bewußtsein, welches mit seinen Zwecken in der Welt steht - der Staat, vom Gemüt, der Treue, der Subjektivität überhaupt ausgehend. Die europäische Geschichte ist die Darstellung der Entwicklung eines jeden dieser Prinzipien für sich, in Kirche und Staat, dann des Gegensatzes von beiden nicht nur gegeneinander, sondern in jedem derselben, da jedes selbst die Totalität ist, und endlich der Versöhnung dieses Gegensatzes (W12.415). Dieser vollkommen neue oder freie Geist ist so gleich wie in der PHG als ihr Endziel herausgefunden wurde. Der absolute Geist ist nämlich sowohl das Resultat aus dem Vollzug des Bewusstseins als auch das (für Hegel) gegenwärtige Prinzip der Geistigkeit, das in der wirklichen Weltgeschichte entstanden ist. Also lässt sich daraus Folgendes erkennen: Die Dialektik von Begriff des Geistes und dessen Geschichte anhand der PHG entspricht eben der Dialektik im objektiven und absoluten Geist. 292 Der Zusammenhang der Weltgeschichte mit der Lehre vom absoluten Geist bzw. mit der PHG lässt sich folgendermaßen tabellarisieren: Geschichtsphilosophie: welthistorische Reiche Die orientalische Welt Kunstphilosophie: besondere Formen des Kunstschönen Die symbolische Kunstform Die griechische Welt Die klassische Kunstform Die römische Welt Die christlichgermanische Welt Die Auflösung der klassischen Kunstform Die romantische Kunstform Die bestimmte Religion Religionsphilosophie Geschichte der Philosophie Geschichte des weltlichen Geistes (im Kapitel „Geist“) Geschichte des religiösen Geistes (im Kapitel „Religion“) Die unmittelbare Religion Die Religion der geistigen Individualität Die Religion der Erhabenheit Die vollendete Religion Die Religion der Schönheit Die Religion der Zweckmäßigkeit Die griechische Philosophie Dogmatismus, Skeptizismus und Neuplatonismus Die Philosophie des Mittelalters => die Neuere Philosophie - Der wahre Geist (Sittlichkeit): die sittliche Welt und die sittliche Handlung Der Untergang des sittlichen Geistes: der Rechtszustand Der sich entfremdete Geist (Bildung) => der seiner selbst gewisse Geist (Moralität) Die natürliche Religion Die Kunstreligion Die orientalische Philosophie 293 Die offenbare Religion 2. Die Bildungsgeschichte des Geistes und die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes Die PHG nimmt, was auch das Hauptthema dieser Arbeit angeht, einen eigenständigen Rang ein. Die Bemühungen um den Sittlichkeitsbegriff in der PHG qualifizieren sich nämlich dafür, uns das Verständnis desselben zu gewährleisten. Dadurch bewähren sich PHG und die wissenschaftliche Systematik gegenseitig, indem jede die Stellung der anderen garantiert. Die Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes anhand der PHG kann unter dem Blickwinkel der Bildungsgeschichte des Geistes erledigt werden. Hegels Lehre der Weltgeschichte wird unmissverständlich in seiner Geschichtsphilosophie als der letzten Sphäre des objektiven Geistes eingehend thematisiert, allerdings ist er auch in der PHG, zumal die Geschichtlichkeit der Geistesbildung betreffend, zu behandeln. In dem Durchgang des Bewusstseins findet die Zeitfolge, d. h. der Werdegang des Bewusstseins zur Wissenschaft oder des Geistes zum Wissen von sich statt, damit wird das absolute Wissen eruiert. Die „begriffene Geschichte“ (W3.591) repräsentiert die Reihe der philosophischen Bemühungen darum, die Sache selbst unter Anlehnung an das begreifende Wissen darzustellen. In der PHG ist neben dem epistemologischen Prozess des Bewusstseins auch der wirklichpraktische Vollzug desselben thematisiert; zu diesem realen Bereich gehören die „Moralität“, die „Sittlichkeit“ und die „Religion“, die Hegel im Rahmen des objektiven und auch des absoluten Geistes reichhaltig behandelt. Sie bedeuten, geschichtsphilosophisch gesehen, die Bereiche, die im weltgeschichtlichen Ablauf jedes Mal von Menschen namentlich als der „Endzweck der Welt“, das das „wahrhafte Gute“, die „allgemeine göttliche Vernunft“ usw. (W12.25; 53) aufgenommen werden. Diese Begriffe explizieren die Existenzweisen der Idee, nach der in jeder Phase der Geschichte das Wollen eines Individuums (der einzelne Wille) und das Ziel seines Gemeinwesens (der allgemeine Wille) voneinander anerkannt und miteinander versöhnt werden. Die Formen dieser Anerkennung bzw. Versöhnung stellen sich auch in der PHG dar, genauer erstens in dem altgriechischen Stadtstaat, zweitens in dem neuzeitlichen moralischen Gewissen und letztens in der Christlichkeit. Durch die Betrachtung dieser Thematik kann man zu der Einsicht kommen, dass in der PHG intensiv und extensiv die höchste Idee der jeweiligen weltgeschichtlichen Stadien in Erwägung gezogen wird, sodass sich die endgültige Form des neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriffes erst in seiner Rechtsphilosophie als der sittliche Staat gestaltet. 294 Als ein Beleg dafür Hegels geschichtsbezogene Betrachtung des Sittlichkeitsbegriffes295 dient seine folgende Bemerkung aus einer Nachschrift seiner ersten Berliner Vorlesungen über die Philosophie des Rechts: In der Existenz ist die sittliche Substanz zuerst vorhanden, und erst das Zerfallen derselben führt die unterschiedenen Momente der Moralität und des Rechts herbey [sic!]. – Sie verfällt, wenn beide selbstständig auftreten. Sie müssen sich freilich entwickeln, aber immer unterworfen ihrer sittlichen Einheit. […] Nachdem das sittliche Leben des römischen Volks verloren ging, wurde das Recht gebildet, Die Männer galten nicht mehr als [Polis-]Bürger, sondern als Personen. – Ebenso wo das Selbstbewußtsein in der Sitte, in dem Gesetz nicht mehr seine Befriedigung fand, mußte es in sich selbst das Rechte finden […] – Sokrates bei[m] Verfall der Athener. In der Sittlichkeit ist die Freiheit. – Die Gegensätze, die der moralische Standpunkt festsetzt[,] sind hier verschwunden.296 Hieraus lässt sich der folgende Verlauf der geschichtlichen Entwicklung vom hegelschen Sittlichkeitsbegriff entnehmen: 1) „die sittliche Substanz“, 2) „das Zerfallen derselben“ und 3) die „Sittlichkeit“ als „Freiheit“ durch die Wiedervereinigung von entgegengesetzten Momenten. Die Geschichte des Sittlichkeitsbegriffes handelt davon, wie sich die Sittlichkeit der Polis, die auf der Gewohnheit (als Sitte) beruht, durch die Sittlichkeit des moralischen Subjekts (als Gewissen) hindurch als der erneuerte Begriff der Sittlichkeit (im sittlichen Staat) gestaltet. Diese Skizze hat ihren Ursprung in dem logischen Schluss des Willens, mutatis mutandis: 1) die „Allgemeinheit“ als abstrakter Begriff, 2) das „besondere“ Dasein gegen die Allgemeinheit und 3) die „Einzelheit“ als die zur Allgemeinheit zurückgekehrte Besonderheit oder als die Einheit des Begriffs und dessen Daseins.297 Die erste Stufe, auf der die Sittlichkeit in ihrer unmittelbaren Einheit des Volkes mit seiner Substanz steht, ist gleichbedeutend mit der „Sittlichkeit“ in der PHG, also dem frühen Sittlichkeitsbegriff in der griechischen Welt. Seit der Auflösung der Polissittlichkeit tritt der römische Rechtszustand statt des griechischen sittlichen Lebens auf. Dieser Tatbestand impliziert, dass sich nunmehr eine unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Gebieten, d. h. zwischen der Recht und der Moral, ergibt. Deren Ü berwindung führt zur Wiederherstellung der sittlichen Einheit; 295 Dieser Gedanke beruht auf dem Aufsatz von Amengual (2002). Naturrecht und Staatswissenschaft. Vorlesungen 1818/19. Nach der Nachschrift Carl Gustav Homeyers, in: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 1, hg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart 1973, S. 290 f. 297 Auch in seiner Philosophie des objektiven Geistes wendet Hegel diese Struktur z. B. auf die Bewegung des Begriffes „Wille“ an. W7, S. 29-91, bes. S. 49-57. 295 296 hiermit soll die antike Sittlichkeit erneut umgebaut werden. Dies ist die Aufgabe der Neuzeit. Hingegen kann man an keiner Stelle in der antiken Welt kann einen solchen Vereinigungsprozess, weil der besondere Wille eines Polisbürgers ursprünglich von dem Prinzip seiner Gemeinwesens ungetrennt und untrennbar ist, oder – mit Hegels Formulierungen – weil „das sittliche Volk in der unmittelbaren Einheit mit seiner Substanz lebt“ (W3.513). Die neu begründete Sittlichkeit besteht nach Hegel in der Ü berzeugung, dass „mein Wille als dem Begriff gemäß gesetzt sei“ (W7.293); diese Einheit des Begriffes des Willens und dessen Daseins bedingt die wahrhafte Verwirklichung des Freiheitsbegriffes. Die Frage stellt sich nun, ob diese Bestimmung der neuzeitlichen Sittlichkeit gerade der Darstellung in der PHG entspricht. Es ist zunächst nötig, den obigen geschichtlichen Entwicklungsgang des Sittlichkeitsbegriffes und den Entwicklungsgang des Geistes in der PHG (genauer im „Geist“ und in der „Religion“) zueinander in Beziehung zu bringen. In seinem enzyklopädischen System wendet Hegel grundsätzlich die Struktur der obigen Logik auf das Thema an. Deswegen besteht auch der ganze Verlauf seiner praktischen Philosophie in dem logischen Schluss des Willens (die Allgemeinheit als abstrakter Begriff => das besondere Dasein als der von der Allgemeinheit entzweite Zustand => die vollständige, d. h. wahrhaft konkrete Verwirklichung des Begriffes). Man kann auch in der Geschichte des Sittlichkeitsbegriffs die obige Struktur herauslesen kann: die sittliche Substanz als abstrakte Allgemeinheit => 2) das Zerfallen derselben => 3) die sittliche Freiheit durch die Wiedervereinigung von entgegengesetzten Momenten. Daraus lässt sich feststellen, dass der Umfang des Sittlichkeitsbegriffes anhand der PHG nicht bloß auf die altgriechische Sittlichkeit beschränkt werden soll. Der Ablauf im Kapitel „Geist“ („Sittlichkeit“ => „Bildung“ => „Moralität“) besteht aus drei folgenden Gestaltungen: der „wahre Geist“, der mit seinem einfachen Zutrauen zur Substanz zufrieden ist, => der „sich entfremdete Geist“, der sich von seiner Substanz entfernt, => der „seiner selbst gewisse Geist“, der vom moralischen Gewissen des Subjekts überzeugt ist. Diese Reihenfolge entspricht der Bildungsgeschichte des WELTLICHEN GEISTES; dieser Gang erstreckt sich zuerst von der altgriechischen Welt, dann über die römische und mittelalterliche Welt, anschließend durch die Aufklärung bzw. die bürgerliche Revolution und schließlich zur klassischen Philosophie in Deutschland. In dieser Abfolge werden die Beschäftigungen sowohl mit der erkenntnistheoretischen als auch mit der praktischphilosophischen Geschichte miteinander vereinigt integriert. Aber der Umfang des Weltgeistes wird nicht nur auf den WELTLICHEN GEIST beschränkt; die Geschichte der 296 Geistesbildung deckt auch den RELIGIÖ SEN GEIST ab. Die Gestaltungen des Geistes bestehen also insgesamt aus folgender logischen Struktur des geistesgeschichtlichen Entwicklungsgangs: Sittlichkeit => Bildung => Moralität => Religion. Der Übergang des Kapitels „Geist“ zum Kapitel „Religion“ bedeutet gleichwohl überhaupt nicht einen eindimensionale Entwicklungsgang des Weltgeistes, sondern eine Emporhebung der geschichtlichen Ebene; mit der Religion ist die umfangreichere Betrachtung der Geistesbildung erreicht. Ü berdies ermöglicht das absolute Wissen es, die Geschichte des RELIGIÖ SEN GEISTES und die Geschichte des WELTLICHEN GEISTES zu einem größeren Ganzen zusammenzuschließen. Mithilfe von diesem Entwicklungsgang lässt sich der gesamte Aufbau der geistigen Bildungsgeschichte in der PHG wie folgt ausdrücken: Ihre erste Periode ist die vergangene, aber bedeutsame Existenz der altgriechischen Sittlichkeit, d. h. die erste (aber vergängliche) Gestalt der Versöhnung zwischen dem WELTLICHEN GEIST und dem RELIGIÖ SEN GEIST. Indem es um den römischen „Rechtszustand“ als die zweite Periode geht, wird der Untergang der antiken Sittlichkeit behandelt. In der dritten Periode wird anhand des zweiten Abschnitts im Kapitel „Geist“, also der „Bildung“, eine Reihe von Versuchen dargestellt, um den entfremdeten Zustand des Geistes zu überwinden; anschließend werden Bemühungen des Geistes, sich die subjektive Freiheit anzueignen, hauptsächlich mit der Betrachtung des letzten Abschnitts in diesem Kapitel, also der „Moralität“, erläutert. Der Schlusspunkt des moralischen Geistes wird als die zweite Gestalt der Versöhnung erklärt, in der aber schon die Ebene der Religion impliziert ist. Dieser Durchgang schließt sich letztendlich mit der Religion als der vierten Periode ab; hier kann man vornehmlich mit der Christlichkeit als dem dritten Modell der Versöhnung ins Auge fassen. Die Gesamtheit der denkgeschichtlichen Entwicklungsperioden kann man also sowohl in der PHG als auch in der Enzyklopädie finden. Die Geschichte des Weltgeistes und die Geschichte des absoluten Geistes entsprechen dem Werdegang zum Wissen des Weltgeistes von sich anhand der PHG. Diese geistesgeschichtliche Untersuchung des weitsinnigen Sittlichkeitsbegriffes ist vorteilhaft für die Untersuchung der praktischen Philosophie Hegels. Dieser Punkt lässt sich folgendermaßen tabellarisieren: 297 Der Die Dialektik der Geistesbildung Die Substanz Der Verlust der Substanz Die Subjektivität subjektivsubstanzielle Geist Geschichtsphilosophie Die orientalische Welt => Die griechische Welt Die römische Welt Die christlich-germanische Welt Kunstphilosophie Die symbolische Kunstform => Die klassische Kunstform (Individualität) Die Auflösung der klassischen Kunstform Die romantische Kunstform (Die innere Subjektivität) Geschichte des weltlichen Geistes (im Kapitel „Geist“) Geschichte des religiösen Geistes (im Kapitel „Religion“) Der Geist in seiner einfachen Wahrheit: das unmittelbare Vertrauen zur sittlichen Substanz Die Kunstreligion als die absolute Kunst Der Untergang des sittlichen Geistes Die SelbstEntfremdung des Geistes: die Bildung: der Prozess der Befreiung von der Entfremdung => die Selbst-Gewissheit des Geistes: die Moralität Der Tod der griechischen Götter Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben => Vernunft-Glauben als die Religion der Moralität: - Die offenbare Religion als die absolute Religion Hier zeigt sich klar, dass es den Gegenstandsbereich der Rechtsphilosophie, nämlich die neuzeitliche Sittlichkeit, in der PHG noch nicht gibt, weil die vollendete oder wiederhergestellte Sittlichkeit, die die Freiheit des menschlichen Geistes in der Neuzeit darstellt, nicht hier behandelt worden ist; wie bereits erwähnt, wird die konkrete Bestimmung der sittlichen Freiheit bzw. neuzeitlichen Sittlichkeit, also der sittliche Staat, in der PHG noch nicht erreicht und dargestellt. Aber hier kann man die Ausführungen der zwei geistigen Grundlagen für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff, insbesondere für die sittliche Gesinnung in der Neuzeit, also der Moral und der christlichen Religion, finden; diese zwei Hauptmomente für die Denkgeschichte in der christlich-germanischen Welt, erlauben es uns, Hegels Sittlichkeitsbegriff in der Neuzeit noch umfänglicher zu verstehen. 298 SCHLUSSBETRACHTUNG Um Hegels Sittlichkeitsbegriff in der PHG vollständig zu analysieren, ist es unabdingbar, dass man seine Darstellung des erscheinenden Wissens gedanklich mit dem enzyklopädischen System verknüpft; die Untersuchung des Sittlichkeitsbegriffs in der PHG trägt nämlich zu dem inhaltlichen Zusammenschluss der PHG mit dem enzyklopädischen System bei. Das Hauptthema in dieser Arbeit gibt uns außerdem die Einsicht in das gegenseitige Verhältnis zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist. In der PHG wird der Ü bergang der antiken Sittlichkeit durch die Moralität zur Religion dargestellt; die „Moralität“, der letzte Abschnitt im Kapitel „Geist“, geht nämlich direkt zum Kapitel „Religion“ über; in der Enzyklopädie kann man zunächst den Ü bergang der Moralität zur Sittlichkeit (im Rahmen des objektiven Geistes) und dann den Ü bergang der Sittlichkeit zur Religion (die zum absoluten Geist gehört) finden. Es gibt folglich zwei Wege zur Ü berwindung der Moral: erstens den Ü bergang zur Religion (in der PHG), zweitens zur Sittlichkeit (in dem enzyklopädischen System). Wenn man den Bildungsprozess des Bewusstseins mit der „Philosophie des Geistes“ aus dem enzyklopädischen System vergleicht, kann man eine analoge Gedankenlinie erblicken; in beiden gibt es eine gemeinschaftliche Darstellungsstruktur: den Ü bergang der Moralität zur Religion. Die Schranke der Moral wird in der Enzyklopädie durch die Sittlichkeit überwunden, aber sowohl in der Enzyklopädie als auch in der PHG endgültig durch die Religion. Der Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion impliziert, was den Sittlichkeitsbegriff angeht, den inhaltlichen Zusammenschluss der PHG mit dem enzyklopädischen System. Hegels phänomenologische Darstellung diesbezüglich ist wesentlich auf seinen Gedanken der Sittlichkeit in seiner Rechtsphilosophie anwendbar, die von dem Begriff der verwirklichten Freiheit auf der neuzeitlichen Ebene handelt. Die Untersuchung der denkgeschichtlichen Grundlage für den Sittlichkeitsbegriff in der PHG führt dazu, dass wir den engen Zusammenhang zwischen der Moral und der Religion eruieren können, und zwar zur endgültigen Versöhnung zwischen dem WELTLICHEN GEIST (vom „Bewußtsein“ bis zum „Geist“) und dem RELIGIÖ SEN GEIST (von der natürlichen Religion bis zur offenbaren Religion), die Hegels These der Harmonie zwischen dem Staat und der Religion in seiner Enzyklopädie vorwegnimmt. Es ist zwar historisch offenbar, dass das Christentum nicht in der Neuzeit, sondern schon in der Römischen Kaiserzeit in die Welt eingetreten ist; die christliche Religion umspannt 299 nämlich die (zweitausend Jahre lange) abendländische Geschichte, die aus der römischen Welt folgt, also nicht bloß die Neuzeit, die sich zuerst von der Renaissance und Reformation, dann über die Aufklärung, anschließend durch die Französische Revolution erstreckt. Hegels Darstellung der christlichen Religion in der PHG sollte man gleichwohl nicht einfach als eine bloße geschichtliche Ausführung des Christentums auffassen; denn seine Betrachtung der Christlichkeit beruht auf dem Prinzip des neuzeitlichen Gedankens, das bei Hegel schon über die Ebene der Reformatoren und seiner Vorgänger des philosophischen Gedankens hinaus gegangen ist. Hegels Interpretation der Christlichkeit folgt aus der neuzeitlichen Denkgeschichte (von der Reformation bis zur deutschen klassischen Neuzeit); in seiner Darstellung ist das Resultat der vorherigen Gedanken schon miteinbezogen, obgleich Hegel sich nicht explizit in der PHG mit der neuzeitlichen Glaubenserneuerung auseinandersetzt. Dieser Punkt gilt auch für Hegels Religionsphilosophie. Er behandelt die lutherische Reformation nicht hier, sondern in seiner Geschichtsphilosophie; in der Religionsphilosophie spiegelt sich sein Gedanke zur neuzeitlichen Christlichkeit implizit wider, weil seine religionsphilosophische Einsicht selbst aus seiner philosophischen Ü berlegung des auf der neuzeitlichen Ebene zu erneuernden christlichen Prinzips resultiert. Hegels Lehre der christlichen Religion in der PHG ist als seine philosophische Betrachtung über den gedanklichen Inhalt des Christentums zu denken; seine phänomenologische Darstellung der Christlichkeit setzt die ursprüngliche Lehre derselben Christlichkeit voraus, aber enthält mehr als etwa die Lehre der lutherischen Konfession, weil Hegels Betrachtung der Religion auf dem neuen Geist (W3.19) beruht, der beispielsweise das von Luther betonte Wissen vom „Wort Gottes“ zwar voraussetzt, aber grundsätzlich reformiert hat; der neue Geist in der PHG beruht also auf der neuzeitlichen Freiheit, die zuletzt die Unterwerfung unter die Autorität der Bibel in ein Selbstverhältnis der Vernunft verwandeln musste. Hegel verwendet das „Prinzip des Protestantismus“ im Rahmen der praktischen Philosophie, um mit dieser Bezeichnung den Zusammenhang der philosophisch überprüften, also „im Begriffe“ erfassten (W7.27), Christlichkeit mit der Sittlichkeit zu verdeutlichen. In Hegels Darstellung der neuzeitlichen Welt geht das weltgeschichtliche Prinzip von der Christlichkeit aus. Indem dieses Prinzip im engen Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff behandelt wird, findet man die wahre Versöhnung zwischen dem Weltlichen und dem Religiösen. Diese grundsätzliche Harmonie ergibt sich für Hegel aus dem spekulativen Wissen des absoluten Geistes, das auf der spekulativen Durchdringung des christlichen Glaubens beruht; der Protestantismus macht nämlich den endgültigen Wendepunkt in der Weltgeschichte aus. 300 Hiermit ist das neue, das letzte Panier aufgetan, um welches die Völker sich sammeln, die Fahne des freien Geistes, der bei sich selbst, und zwar in der Wahrheit ist und nur in ihr bei sich selbst ist. Dies ist die Fahne, unter der wir dienen und die wir tragen. Die Zeit von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu tun gehabt und zu tun, als dieses Prinzip in die Welt hineinzubilden, indem die Versöhnung an sich und die Wahrheit auch objektiv wird (W12.496). Der Protestantismus, der aus der Reformation in der Neuzeit erfolgte, ist der Grund dafür, warum man das Christentum als die absolute Religion betrachten kann. Aber „das protestantische Prinzip“ (W12.517) wird von Hegel nicht einfach als die Lehre der aus der geschichtlichen Reformation entstandenen Konfessionen konzipiert; mit diesem Prinzip meint er nämlich nicht bloß z. B. das lutherische Bekenntnis des christlichen Glaubens. Hegels Begriff des Protestantismus besteht darin, „nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“ (W7.27); deswegen fungiert es nicht bloß als Glauben, sondern auch als „der weiterhin gereifte Geist“ (W7.27). Dieser mit dem neuzeitlichen Kerngedanken eng verwobene Begriff bildet das Prinzip des objektiven Geistes, mit dem man der philosophischen Auslegung zufolge die geschichtliche Entfaltung des freien Geistes begreifen kann. In der christlich-germanischen Welt sieht Hegel zwar den neuen Geist, aber der Protestantismus ist ihm zufolge die erste Gestalt des neuzeitlichen Geistes, der meines Wissens dem gesamten neuen Geist im Rahmen der PHG entspricht. Den Protestantismus, der das religiöse Gewissen in der frühen Neuzeit impliziert, verwandelt Hegel nämlich in eine geistige Grundlage für den neuzeitlichen Sittlichkeitsbegriff, genauer für das subjektive Sittliche. Der Kerngedanke des Christentums, der von Hegel durch die Trinität oder Dreieinigkeit Gottes gekennzeichnet wird, bildet dementsprechend „die Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht“ (W12.386); die christliche Religion impliziert für Hegel nämlich das epochale Prinzip in der Weltgeschichte. In der offenbaren Religion wird die protestantische Glaubenserneuerung, nach der die Christlichkeit im Umfeld des neuzeitlichen Gedankens erneuert wird, zwar nicht explizit dargelegt; aber der christliche Geist in der PHG impliziert den gedanklichen Inhalt der Christlichkeit, der sich aus der philosophischen Betrachtung der Religion ergibt. Aus den ganzen bisherigen Darstellungen lässt sich die enge Verschränkung von Sittlichkeit und Religion anhand der hegelschen Philosophie hervorheben; wie die 301 Sittlichkeit eine aufgehobene Gestalt des moralischen Geistes ist, so macht die Religion die Substanz der Sittlichkeit, die für die subjektive Gesinnung als die Idee der Freiheit gilt, aus. Die griechische Kunstreligion ist die Religion der sittlichen Freiheit im antiken Rahmen. Die religiöse Ahnung des Todes der griechischen Götter ist aber mit dem Untergang der antiken Sittlichkeit eng verwoben. Die Aufklärung fokussiert im Ganzen den Kampf gegen den Aberglauben und in der deutschen klassischen Neuzeit wird die auf der Moralität basierende Religion (d. h. der Vernunftglaube im Rahmen der kantischen Philosophie) im Konzept entworfen. Die Geschichte der Sittlichkeit entspricht nämlich der Geschichte der Religion und „die Frage nach der Religion ist zugleich die Frage nach der Sittlichkeit“298. Man kann die denkerische Verschränkung von Religion und Sittlichkeit besonders vom Standpunkt der (auf der neuzeitlichen Ebene überprüften) Christlichkeit aus erkennen. Die offenbare Religion wird in der PHG als die zugespitzte Gestalt der Religion dargestellt, in der der Geist als Gott durch den Geist als die Gemeinde für den Geist als den Menschen offenbar ist. Indem der RELIGIÖ SE GEIST christlich gestaltet wird, kann auch die „vollständige Weltlichkeit des Bewußtseins“ (W3.38) als ihre höchste Gestalt kenntlich gemacht werden, sodass das Bewusstsein die letzte Wahrheit erringen kann. Der Geist der christlichen Religion ist somit das endgültige Prinzip des neuzeitlichen Weltgeistes und das Christentum begründet „den letzten Horizont des Abendlandes und der Neuzeit“. 299 In seiner Geschichtsphilosophie konstatiert Hegel, dass das grundsätzliche Prinzip der Weltgeschichte geradezu „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (W12.32) ist. Das Prinzip im christlichen Abendland besagt, dass der Mensch als solcher schlechthin frei ist. Das christliche Prinzip, das von Hegel mit dem Selbstbewusstsein der Freiheit bezeichnet wird, ergibt sich aus der langfristigen Arbeit des Geistes, um sein Wesen, d. h. die Freiheit, zu erreichen und zu realisieren. Dies Bewußtsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber dieses Prinzip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung erfordert […]. Diese Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht (W12.31 f.). 298 299 Pöggeler (1973), S. 381. Metz u. Ruhstorfer (Hg.) (2008), Einleitung: Philosophische Perspektive (W. Metz), S. 15. 302 Die Bestimmung zur Freiheit wird Schritt für Schritt in die Welt hineingebildet und dieser Prozess selbst macht die neuzeitliche Weltgeschichte aus. Man kann somit die Sittlichkeit des neuzeitlichen Staats nicht erläutern, ohne den Zusammenhang desselben mit der neuzeitlichen Christlichkeit zu erwähnen. 300 Daraus lässt sich erkennen, „das christliche Prinzip manifestiert sich bei Hegel in der Sittlichkeit, im Staate“.301 Der mittelalterliche Glaube beruhte auf der Trennung des Heiligen vom Weltlichen. Der von Hegel gedachte Protestantismus hat die Heiligkeit in die Sittlichkeit verwandelt; diese hat gerade zu ihrer Bestimmung, das christliche Prinzip der Freiheit in die Welt einzubilden. In der Neuzeit findet Hegel dementsprechend die Versöhnung zwischen der Heiligkeit und der Weltlichkeit – und diese Versöhnung ist die Sittlichkeit – direkt in unserem Leben: in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Während die Lehre der katholischen Kirche als die drei heiligen Gelübde, also das der Keuschheit (oder der Ehelosigkeit), das der Armut (oder der Arbeitslosigkeit) und das des blinden Gehorsams gegen die göttlichen Gebote und die kirchlichen Autoritäten, charakterisiert wird, sind im Protestantismus die Ehe, die Arbeit und der freie Gehorsam gegen das Staatsgesetz an ihre Stelle getreten (W10.356 ff.; W12.502 ff.). Mit der Priester-Ehe geht die Abschaffung der Hierarchie zwischen Klerikern und Laien einher, die Berufstätigkeit gewährleistet der Privatperson konkret das Recht der subjektiven Freiheit und die politische Gesinnung des Staatsbürgers ist für den wesentlichen Zweck des Staats unentbehrlich. Die Schranke der katholischen Kirche liegt grundsätzlich darin, dass sie anders als die protestantische Konfession das autonome Prinzip der Sittlichkeit im Staat nicht zulassen wollte; darüber schreibt Hegel Folgendes: „Die katholische Konfession, obgleich mit der protestantischen gemeinschaftlich innerhalb der christlichen Religion, läßt die innere Gerechtigkeit und Sittlichkeit des Staates nicht zu, die in der Innigkeit des protestantischen Prinzips liegt“ (W12.71 f.). Nach der wahren Ansicht des Christentums geraten hingegen die religiöse Gesinnung und das weltliche Interesse auf keinen Fall in einen Zwiespalt. Denn die christliche Sittlichkeit setzt die herausgestaltete Gegenwart des Menschlichen voraus, in welcher der Wille […] zu bestimmtem Inhalt und dessen verwirklichten Verhältnissen der 300 Pannenberg (1974) versucht diesen Punkt zu demonstrieren, indem er die offenbare Religion mit dem unglücklichen Bewusstsein und der Aufklärung in der PHG kontrastiert. 301 Metz (2008), S. 177 f. 303 Freiheit […] gekommen ist. Dies sind die Verhältnisse der Eltern und Kinder, der Ehegatten, der Bürger der Stadt, des Staats in seiner realisierten Freiheit (W14.173 f.). Auf die Frage, warum die christliche Religion die Religion der Freiheit ist, kann man so antworten: In der Lehre des Christentums wird die Einheit von Mensch und Gott, d. h. die Beziehung des absoluten Geistes auf sich selbst gefunden. Aus dem protestantischen Prinzip lässt sich aber erkennen, dass die Christlichkeit und die Freiheit in unserem Leben miteinander konkret versöhnt sind. Der in dem protestantischen Prinzip fundierte Staat darf gleichwohl gar nicht mit einem protestantischen Staat verwechselt werden. In dem konkreten Staatsleben fungiert der Protestantismus nicht als eine Lehre der wirklichen Staatsreligion, sondern als die substanzielle Grundlage für die staatliche Gesinnung. Wenn der Staatsbürger zur Anerkennung einer bestimmten Konfession gezwungen wäre, würde seine Gewissensfreiheit nicht garantiert. Aus diesem Grunde fordert Hegel die religiöse Toleranz; sein Gedanke der prinzipiellen Priorität des Protestantismus steht nicht im Widerspruch zur Religionsfreiheit. Das protestantische Prinzip trägt als das Prinzip der sittlichen Freiheit (nicht einfach als die religiöse Lehre) zum Komplementärverhältnis von Staat und Religion bei, sodass der Staatsbürger sich zu staatlichen Angelegenheiten affirmativ verhalten kann. Eine Stelle aus Hegels Aphorismen in seiner Jenaer Zeit vermag seinen Gedanken der wirklichen Versöhnung des menschlichen Lebens mit dem religiösen Bedürfnis zu verdeutlichen. Sie lautet: Das Zeitungslesen des Morgens früh ist eine Art von realistischem Morgensegen (W2.547). Der Gehalt des neuzeitlichen Freiheitsbegriffes ist mit der Christlichkeit eng verwoben; die christliche Religion ist sowohl der Ursprung der neuzeitlichen Subjektivität als auch die substanzielle Grundlage für die neuzeitliche Befreiung. Mit der neuzeitlichen Christlichkeit kann die Tragik des Untergangs der antiken Sittlichkeit endgültig überwunden werden; dadurch wird dem Menschen eine vollkommene Verwirklichung des Freiheitsbegriffes eröffnet, der sich aus der philosophischen Betrachtung über die Moral und die Religion ergibt. Auch bei diesen beiden geht es um die substanzielle Grundlage für die wahre Befreiung des Menschen. Die von Hegel konzeptualisierten Aufgaben der Philosophie, wie das gedankliche „Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ (W7.24), treffen nicht bloß für seine Rechtsphilosophie, sondern auch für seine Religionsphilosophie zu, wenn wir den 304 inneren Zusammenhang von Sittlichkeit und Religion zusammen mit Ü berlegungen zum Sittlichkeitsbegriff in der PHG begreifen. Wie die Freiheit in der neuzeitlichen Sittlichkeit dem christlichen Prinzip entspricht, so kommt man zur Einsicht in die gegenseitige Garantie von Staat und Christlichkeit. Die wirkliche Vernunft oder die vernünftige Wirklichkeit, die von Hegel als die „Rose im Kreuz der Gegenwart“ (W7.26) veranschaulicht wird, ist auch der Gehalt der christlichen Religion, weil diese Religion nichts anderes als die Religion der sittlichen Freiheit ist. 305 LITERATURVERZEICHNIS 1. 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