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Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II)
Reihe 19
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Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne:
Musik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Eine fächerübergreifende Einheit
III/A
Dr. Gerald Kilian, Waldbronn
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Edvard Munch: Der Schrei
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Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in der Kompositionsgeschichte in
zeitlich dichter Folge, ja sogar zeitgleich eine
enorme Bandbreite an ästhetischen und stilistischen Neukonzeptionen. Fächerübergreifend
beleuchten sich in diesem Beitrag musikalische, literarische und bildnerische Ausdrucksformen dieser Zeit gegenseitig. Das geistige
Klima, ästhetische Standpunkte und stilistische
Entwicklungen werden aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Texte des portugiesischen
Dichters Fernando Pessoa, dessen Stilpluralismus beispielgebend für diese Epoche war, führen in die jeweiligen ästhetisch-künstlerischen
Positionen ein.
Umberto Boccioni: Visioni simultanee
Klassenstufe:
11/12 (Sek II)
Dauer:
16 Unterrichtsstunden
Themenaspekte: Fin de Siècle-Ästhetik
Symbolismus
Impressionismus
Neoklassizismus
Futurismus
Moderne (Expressionismus,
Kubismus, Konstruktivismus; Neue Sachlichkeit;
Atonalität, Zwölftonmusik)
Klangbeispiele:
CD 42 zu RAAbits Musik
(Januar 2016), Track 42–52
(+ YouTube)
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91 RAAbits Musik April 2016
Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II)
Reihe 19
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Vorüberlegungen zum Thema
III/A
Der hier vorgestellte Beitrag thematisiert eine zentrale Epoche der Musikgeschichte (19001930), in der sich ein bis dahin nicht gekannter Stilpluralismus entwickelte. Die breite
Ausstrahlung auf die weitere Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt diesen
Zeitabschnitt besonders bedeutungsvoll erscheinen. Das Thema nimmt deshalb in fast
allen Bildungsstandards eine exponierte Stellung ein. Die Vielfalt der sich in dieser Epoche
etablierenden Stile macht es für Schüler1 der Sekundarstufe II besonders spannend zu
verfolgen, wie Künstler in einem eng umrissenen Zeitraum unterschiedliche ästhetische
Konzepte entwickelten.
Die fächerübergreifende Disposition des Beitrags, mit der Zusammenführung historischer,
ästhetischer, kulturgeschichtlicher und technischer Aspekte, deckt ein breites Spektrum
kulturgeschichtlicher Perspektiven ab. Weiterhin bieten sich in der Behandlung dieser Thematik eine Reihe kreativer Umgangsweisen an, in denen emotionale, reflektierend-analytische, praktische und kommunikative Fertigkeiten kombiniert werden können.
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Fachliche Hintergrundinformationen
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich fächerübergreifend mit der ästhetischen und stilistischen Vielfalt von Musik, Literatur und Malerei in der Zeit zwischen 1900 und 1930
in Europa. Infolge des Verlusts traditioneller Werteordnungen bildeten sich in diesem
Zeitraum neue politische, soziologische und psychosoziale Konstellationen, denen in den
Künsten ästhetische Neuorientierungen folgten. Diese hatten zwar schon vor dem 20. Jahrhundert eingesetzt, wurden aber erst jetzt, in der Zeit der apokalyptischen Weltuntergangsängste zwischen den beiden Weltkriegen, endgültig neu definiert.
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Die sich im musikalischen Schaffen entwickelnden ästhetischen Konzeptionen nach 1900
manifestierten sich einerseits als bewahrende, im Überlieferten beharrende Traditionspflege: Hierzu gehören die Warnungen vor der Zerstörung der musikalischen Tradition
durch die Zersplitterung der Neuen Musik in viele Richtungen (s. Felix Draesekes Manifest
„Die Konfusion in der Musik. Ein Mahnruf“, 1906; Hans Pfitzner, „Futuristengefahr“, 1917).
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In der Fin de Siècle-Ästhetik suchten manche Musiker ein von der Alltagswelt mehr oder
weniger abgegrenztes künstliches Refugium (Frederick Delius, Arnold Schönberg mit einigen Frühwerken, Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold).
Als gemäßigte bis weitreichende Modifikationen der Tradition erwiesen sich manche Werke
von Hans Pfitzner, Max Reger, Jean Sibelius, Charles Koechlin, Ferruccio Busoni, Gustav
Holst, Richard Strauss. Spezielle Personalstile entwickelten Gustav Mahler (zwischen Fin de
Siècle, Symbolismus und Moderne stehend) und Claude Debussy (Symbolismus, Impressionismus).
Weit verbreitet war es, den eigenen, avancierten Personalstil – zumindest zeitweise – mit
neoklassizistischen Stilprinzipien zu verbinden: Hierzu gehören Eric Satie, die Komponisten
der „Groupe des Six“ (Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre), Maurice Ravel, Jean Françaix, Zoltán Kodály, Sergei
Prokofjew, Béla Bartók, Albert Roussel, Paul Hindemith, Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch.
In anderen ästhetischen Entwürfen fanden sich radikale Neuorientierungen, u.a. bei den
Futuristen, bei Igor Strawinsky, Edgar Varèse, George Antheil, Charles Ives und bei den
Komponisten der Zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern).
Manche Komponisten propagierten im Rahmen einer Internationalisierung der Künste
einen kosmopolitischen Synkretismus (vgl. Glossar; Charles Ives, Henry Cowell), womit
die Grenzen zwischen den Stilen, Stilhöhen und Kulturen überwunden werden sollten.
1 Mit „Schüler” ist hier und im weiteren Verlauf aus Gründen der besseren Lesbarkeit „Schülerinnen und
Schüler” gemeint.
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Dazwischen standen Bewegungen, die in der mystischen Transzendenz den Ersatz einer
verbindlichen Ordnung und einer verloren gegangenen kulturellen Identität suchten (Alexander Skrjabin und die russischen Symbolisten).
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Unter diesen Aspekten werden in diesem Beitrag die ästhetischen und stilbildenden Grundrichtungen der Künste der hier relevanten Epoche behandelt. Literarische, künstlerische
und musikalische Strömungen in der Zeit des Umbruchs sollen sich gegenseitig beleuchten und das geistige Klima dieser Zeit aus mehreren Blickwinkeln darstellen.
In die einzelnen ästhetischen und literarischen Positionen führt jeweils der portugiesische
Schriftsteller Fernando Pessoa ein, der wie kein anderer Literat die ästhetische Vielfalt dieser Zeit in seinem Schaffen exemplarisch repräsentiert. Sein Werk bietet quasi ein Kompendium der unterschiedlichsten ästhetischen Strömungen in diesem zeitgeschichtlichen
Kontext. In seinen Schriften repräsentieren die von ihm erfundenen Heteronyme ästhetische Positionen u.a. zur Fin de Siècle-Ästhetik, zum Symbolismus, Impressionismus, Klassizismus, Futurismus, bis zum Kubismus (von Pessoa als „Intersektionismus“ bezeichnet).
Insgesamt artikulierte sich Pessoa so vielseitig – „Sei vielfältig wie das Universum“ war
seine Lebensdevise (Pessoa, Fernando: Mensagem e outro poemas afins, hrsg. v. António
Quadros, o. J., S. 43) – als vereine er in seiner Person die unterschiedlichsten Dichterkollegen seiner Zeit, deren Positionen wiederum in der Musik von unterschiedlichsten Komponisten vertreten wurden.
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Didaktisch-methodische Überlegungen
Der Fokus des Beitrags liegt auf den vielgestaltigen stilistischen Richtungen von Musik,
Literatur und Kunst von 1900–1930.
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Die einzelnen (Doppel-)Stunden dieser Reihe sind so angelegt, dass Texte Pessoas jeweils
die Initialzündung für den geschichtlich-stilistischen Überblick der verschiedenen Kunstrichtungen geben. Diese Texte sowie Beispiele aus der Bildenden Kunst werden konfrontiert mit musikästhetischen Paradigmen der Epoche zwischen 1900 und 1930, die jeweils
einen ähnlichen ästhetischen Hintergrund offenlegen.
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Durch fächerübergreifendes Lernen werden Beziehungen zwischen den Kunstrichtungen
auf sinnlicher, ästhetischer, struktureller und historischer Ebene hergestellt. Die Vernetzung
von fachbezogenen Inhalten der drei Kunstbereiche Musik, Literatur und Bildende Kunst
hat die Nachhaltigkeit des Kompetenzerwerbs im Sinne eines ganzheitlichen Lernens und
des Denkens in übergreifenden Strukturen zum Ziel. In eigenen klanglichen Gestaltungen
und Collageverfahren werden die drei Künste multimedial zusammengeführt.
Die Analysen von Texten, Gemälden und Kompositionen der einzelnen Stilrichtungen
beschränken sich jeweils auf wenige Elemente; ein wesentliches didaktisches Ziel ist
dabei die Sensibilisierung der Schüler für die emotionale/assoziierende Komponente
des Betrachtens von Kunstwerken; weiterhin erarbeiten sich die Schüler Kompetenzen in
der Differenzierung stilistischer Grundkonzepte der verschiedenen Kunstrichtungen auf
ästhetischer und allgemein struktureller Ebene.
Exemplarische Notentextanalysen ergänzen sich mit dem Erfassen der Stimmung und des
ästhetischen Ausdrucksgehalts der Kompositionen und dem stilistisch sich einfühlenden
Nachschaffen. Durch collagierendes und musikalisch-improvisatorisches Nachempfinden,
auch in der Kombination aller Möglichkeiten, erfassen die Schüler das Wesenhafte der
Kunstrichtungen. Somit sind assoziationsbestimmte und erlebnisorientierte Perspektiven
wichtige methodische Ansätze dieses Beitrags. Strukturmomente der betrachteten Musik
werden in ersten Eindrücken vorwiegend metaphorisch oder assoziativ umschrieben. Später können die individuellen Wahrnehmungen durch semantische Bedeutungszuweisungen
in konstruktivistischer Methodik eingegrenzt werden. Nach und nach ergänzen komplexere
Notentextanalysen diese Methoden.
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Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II)
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III/A
Dabei kommt es nicht darauf an, alle Kunstrichtungen hinsichtlich ihrer Stilkriterien erschöpfend zu definieren. Vielmehr ist die Konzeption dieses Beitrags darauf ausgerichtet, dass die
Schüler der Klasse 11 bzw. 12 (Jahrgangsstufen 1 und 2 der Sekundarstufe II) grundlegende
ästhetische und stilistische Kriterien, Analogien und Besonderheiten der ausgewählten
Kunstsparten erkennen und die Fähigkeit entwickeln, das Wissen in unterschiedlichen
Kontexten anzuwenden.
Ziele der Reihe
Ihre Schülerinnen und Schüler erwerben Kompetenzen
– in der Bewertung politischer, gesellschaftlicher, sozialpsychologischer und kulturgeschichtlicher Entwicklungen der vom Fin de Siècle und dem Aufbruch zur Moderne
geprägten Epoche und in der Interpretation der darauf bezogenen künstlerischen Reaktionen;
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– in der assoziativ geleiteten Verbalisierung von Höreindrücken und Bildbetrachtungen;
– im Beschreiben und Vergleichen ästhetischer Konzeptionen und Techniken der Künste
(Musik, Literatur und Malerei) zwischen 1900 und 1930;
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– in der fächerübergreifenden Einordnung ästhetischer und handwerklicher Grundausrichtungen der Künste (Literatur, Musik und Bildende Kunst);
– in der differenzierten Analyse und Interpretation musikalischer und literarischer Strukturen und in der Bezugnahme auf bildnerische Techniken und Ausdruckscharakteristika;
– in der Beurteilung der Zusammenhänge zwischen musikästhetischen Konzeptionen und
musikalischen Strukturen;
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– in der Planung und Präsentation eigener klanglicher Gestaltungen und Collagen in Bezug
zu ästhetischen Grundkonzeptionen.
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Schematische Verlaufsübersicht
Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne:
Musik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Eine fächerübergreifende Einheit
(Sek II)
Stunde1/2
Ästhetik des Fin de Siècle
M 1–M 6
Stunde 3/4
Symbolismus
M 7–M 9
Stunde 5–7
Impressionismus
M 10–M 12
Stunde 8/9
Neoklassizismus
M 13–M 16
Stunde 10/11
Futurismus
M 17–M 19
Stunde 12–16
Moderne (Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus;
Neue Sachlichkeit, Atonalität, Zwölftonmusik)
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M 20–M 25
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Fin de Siècle-Stimmung in Bildern von Edvard Munch
III/A
Edvard Munch: Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend
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Edvard Munch: Der Schrei
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In der Bildenden Kunst sind Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ (Fassung von 1893)
und „Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend“ für das Lebensgefühl des Fin de
Siècle symptomatisch. In Munchs Gemälde spiegeln die miteinander korrespondierenden
synästhetisch-akustischen, farblichen und räumlichen Perspektiven den existentiellen
Angstzustand, die Desorientiertheit und Selbstentfremdung des Menschen.
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Aufgaben (M 5, M 6)
1. Fernando Pessoas und Gustav Mahlers Texte (M 3/M 5), das Satzende des vierten
Satzes von Gustav Mahlers 9. Symphonie (M 5) sowie Edvard Munchs Gemälde „Der
Schrei“ und „Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend“ (M 6) sind vergleichbar in
der Beschreibung des Lebensgefühls des Fin de Siècle. Finden Sie hierfür Belege.
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2. H. H. Eggebrecht beschrieb das kompositorische Spätwerk Gustav Mahlers wie folgt:
„In Mahlers Spätwerk ist diese [Todes-]Sehnsucht zum Grundton seiner Musik geworden. […] Die Erde ist schön, aber die ‚Welt’ ist furchtbar. Und die Todessehnsucht, das
Verlangen der Seele nach dem Ersterben ins Andere, Ewige, ist als Musik emphatisch
schön und tief traurig zugleich, und als Vorauserfüllung der Todessehnsucht ist das
Ersterben ein Verstummen der Musik [...].“ (Eggebrecht, 1992, S. 29.)
Beschreiben Sie dieses „Verstummen“ im letzten Satz von Mahlers 9. Symphonie
(Noten zu Mahlers 9. Symphonie: s. M 5, T. 177ff.).
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Symbolismus in der Literatur; Pessoa: „Sümpfe“
III/A
Arthur Rimbaud
Stéphane Mallarmé
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Paul Verlaine
Die symbolistische Poesie der Dichter Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine stellt Sujets in den Mittelpunkt, die sich mit Vergänglichkeit, Tod, Erotik, geheimnisvollen, mystisch oder mythologisch inspirierten Traum- und Fantasiewelten beschäftigen.
Deren Inhalte werden durch Metaphern und Synästhesien* indirekt umschrieben und
mystifiziert, um in einer von der Realität gelösten Sphäre symbolhaft die Geheimnisse
des Seins anzudeuten.
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* Zum Begriff „Synästhesie“: „Synästhesie“ bedeutet Vermischung mehrerer Sinnesebenen.
Synästhetiker sehen z.B. beim Hören von Musik Farben. 1886 schrieb der Dichter Jean Moréas
in seinem Manifest „Le Symbolisme“: „Die wesentliche Eigenschaft der symbolistischen Kunst
besteht darin, die Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszudrücken. Und deshalb
müssen sich die Bilder der Natur, die Taten der Menschen, alle konkreten Erscheinungen in
dieser Kunst, nicht selbst sichtbar machen, sondern sie werden durch sensitiv wahrnehmbare
Spuren, durch geheime Affinitäten mit den ursprünglichen Ideen versinnbildlicht.“
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In dem symbolistischen Gedicht „Sümpfe“ reflektiert Pessoa die Bereiche zwischen
Traum, Vision und Vergänglichkeit. Pessoas Freund Sá-Carneiro beschrieb das 1914 entstandene Gedicht so: „Das ist vergoldeter Alkohol, eine verrückte Flamme, Duft geheimnisvoller Inseln, was Du in dieses bewunderungswürdige Fragment hineingelegt hast,
das vor Anspielungen birst“:
Fernando Pessoa, „Sümpfe“
Sümpfe aus leicht von meiner goldenen Seele gestreiften Ängsten,
Fernes Doppelklingen anderer Glocken.
Der blonde Weizen erbleicht in der Asche des Westwinds.
Es schaudert eine fleischliche Kälte über meine Seele.
Stets unverändert die gleiche, gleiche Zeit!
Oh, welch stummer Schrei der Ängste legt der Zeit die Klammern an,
Welcher Krampf meiner Angst etwas anderes, als was er beweint?
Fluidum der Aureole, Durchscheinen des Gewesenen,
Leere des Haltens.
Das Geheimnis weiß um mein anderes Sein.
Mondlicht über dem Nicht-Zusammenhalten.
Übersetzt von Frank Henseleit-Lucke. In: Ángel Crespo: Fernando Pessoa – Das vervielfältigte Leben. Eine Biographie Zürich: Ammann 1996. S.96f.
Aufgabe
Welche Metaphern und synästhetischen Bezüge können als symbolistische Ausdrucksqualitäten im Gedicht „Sümpfe“ von Pessoa gesehen werden?
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„Neue Sachlichkeit“ und kubistisches Prinzip –
Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ aus
CD 42, Track 50
„Histoire du soldat“
III/A
Notenbeispiele aus: Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ („Marche royale“). In: Geschichte vom
Soldaten (L’histoire du soldat) © Chester Music Ltd. / Edition Wilhelm Hansen
„Im Funktionalismus der Zwanziger Jahre ist der polemische Zug [...]
besonders krass ausgeprägt. Der schnöde Ton, den die Neue Sachlichkeit anschlug, war als Herausforderung des traditionellen Kunstbegriffs gemeint. Die Ästhetik, gegen die man sich auflehnte, war die
Schopenhauersche, in der die Musik mit metaphysischer Würde ausgestattet worden war. Und die ‚eigentliche’ Realität, die Substanz der
Wirklichkeit [...] entdeckte man nunmehr in banaler Alltäglichkeit. Eine
neue Stoffschicht, zu der man sich hingezogen fühlte, war die triviale
des Zirkus und des Jahrmarkts; [...]. Wollte also die Musik ‚realistisch’
und ‚sachlich’ erscheinen, so musste sie sich trivial gebärden, sei es
auch im Konjunktiv des Stilzitats. Die Zerstörung kompositionstechIgor Strawinsky
nischer Traditionen [...] wurde abgelöst durch eine Wiederherstellung
von Konventionen, und zwar gerade der verschlissensten. Durch Ironie legitimierte man die
‚Wonnen der Gewöhnlichkeit’ und umgekehrt. Die Banalität war immer zugleich ästhetische
Provokation: ein ungewohnter Reiz in durchaus artifiziellem Kontext.“
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Artikel „Musikalischer Funktionalismus“. In: Carl Dahlhaus: Schönberg und andere. Mainz: Schott 1978, S. 66f.
© Verlag Merseburger, Berlin und Kassel.
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Klangbeispiel
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Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ aus „Histoire du soldat“
CD 42, Track 50
Der „Königsmarsch“ aus Strawinskys „Histoire du Soldat“ („Geschichte vom Soldaten“;
1918) wirkt in dem oben beschriebenen Sinne trivial und grotesk. In der Posaune erklingen die in der Grundtonart B-Dur „falschen“ Töne as, h, e (T. 1–9):
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Die 10-taktige Melodie besteht aus vier Motiven:
1. Sextaufstieg, T. 1/2):
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2. dreitöniges Motiv (f-g-b, T. 2/3):
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3. Tritonusmotiv (a-g-es, T. 4):
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4. abschließender Dezimabstieg
(Posaune, T. 8-10):
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Diese Motive werden später in verschiedene Varianten „kubistisch” zerlegt und montiert.
Aufgabe
Welche dem Kubismus adäquaten Stilmerkmale (s. Zit. Rosenberg, M 21) lassen sich in
Strawinskys „Königsmarsch“ finden? Mit welchen Mitteln erzeugt Strawinsky im Sinne
der „Neuen Sachlichkeit“ den grotesken, trivialen Eindruck des Marsches?
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S 27
M 24 Die Befreiung von traditionellen Kunstregeln: Schönbergs
Atonalität und Kandinskys abstrakte Kunst
III/A
Der Komponist Arnold Schönberg und der Maler Wassily Kandinsky plädierten in ihren
theoretischen Werken für die Befreiung von traditionellen Kunstregeln (Wassily Kandinsky: „Über das Geistige in der Kunst“, 1912; Arnold Schönberg: „Harmonielehre“,
1911). In einem Brief an Schönberg schrieb Kandinsky 1911: „Sie haben in Ihren Werken
das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine große
Sehnsucht hatte. Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der
einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen ist gerade das, was ich auch in malerischer
Form zu finden versuche.“
Im Einführungstext zur Uraufführung seiner Komposition „Das Buch der hängenden Gärten“ (15 Gedichte von Stefan George für eine Singstimme und Klavier op. 15, 1907–1909)
betonte Schönberg, dass es ihm mit diesem Werk gelungen sei, „einem Ausdrucks- und
Formideal nahe zu kommen“, das ihm seit Jahren vorgeschwebt habe; er habe damit „alle
Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen“. In dieser Vorstufe zur Dodekaphonie wandte sich Schönberg vom spätromantischen Komponieren ab und entwickelte
stattdessen eine neue Tonsprache
mit folgenden Merkmalen: Atonalität, “Emanzipation der Dissonanz“ (d.h. Gleichwertigkeit von
Konsonanz und Dissonanz), „musikalische Prosa“ (keine periodisch
gegliederte Melodik, asymmetrische Phrasen).
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Wassily Kandinskys frühe Gemälde
neigten zu einer realistischen Darstellungsweise. In einer späteren
Schaffensphase ging Kandinsky
zu stark vereinfachten Formen mit
intensiv leuchtenden Farben über.
Schließlich entwickelte Kandinsky
die abstrakte Kunstrichtung: Hier
Wassily Kandinsky: Ohne Titel (1913)
verzichtete er auf die reale Abbildung der Welt und beschränkte sich auf die abstrakte Darstellung von Farben und Formen. Kandinskys Bild „Ohne Titel“ (1913) ist das erste rein abstrakte Aquarell. Kandinskys
abstrakte Kunst ist prinzipiell vergleichbar mit Schönbergs atonaler Kompositionstechnik, die ebenfalls auf einer vom Künstler radikal neu konzipierten Kunsttheorie aufbaut.
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Aufgabe
Inwiefern sind die ästhetischen Grundeinstellungen Kandinskys und Schönbergs geistesverwandt?
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