Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material Ma terial LEK Glossar Infothek In fothek S1 Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne: Musik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Eine fächerübergreifende Einheit III/A Dr. Gerald Kilian, Waldbronn U A S R H C Edvard Munch: Der Schrei O V Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in der Kompositionsgeschichte in zeitlich dichter Folge, ja sogar zeitgleich eine enorme Bandbreite an ästhetischen und stilistischen Neukonzeptionen. Fächerübergreifend beleuchten sich in diesem Beitrag musikalische, literarische und bildnerische Ausdrucksformen dieser Zeit gegenseitig. Das geistige Klima, ästhetische Standpunkte und stilistische Entwicklungen werden aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Texte des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa, dessen Stilpluralismus beispielgebend für diese Epoche war, führen in die jeweiligen ästhetisch-künstlerischen Positionen ein. Umberto Boccioni: Visioni simultanee Klassenstufe: 11/12 (Sek II) Dauer: 16 Unterrichtsstunden Themenaspekte: Fin de Siècle-Ästhetik Symbolismus Impressionismus Neoklassizismus Futurismus Moderne (Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus; Neue Sachlichkeit; Atonalität, Zwölftonmusik) Klangbeispiele: CD 42 zu RAAbits Musik (Januar 2016), Track 42–52 (+ YouTube) zur Vollversion 91 RAAbits Musik April 2016 Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material LEK Glossar Infothek S2 Vorüberlegungen zum Thema III/A Der hier vorgestellte Beitrag thematisiert eine zentrale Epoche der Musikgeschichte (19001930), in der sich ein bis dahin nicht gekannter Stilpluralismus entwickelte. Die breite Ausstrahlung auf die weitere Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt diesen Zeitabschnitt besonders bedeutungsvoll erscheinen. Das Thema nimmt deshalb in fast allen Bildungsstandards eine exponierte Stellung ein. Die Vielfalt der sich in dieser Epoche etablierenden Stile macht es für Schüler1 der Sekundarstufe II besonders spannend zu verfolgen, wie Künstler in einem eng umrissenen Zeitraum unterschiedliche ästhetische Konzepte entwickelten. Die fächerübergreifende Disposition des Beitrags, mit der Zusammenführung historischer, ästhetischer, kulturgeschichtlicher und technischer Aspekte, deckt ein breites Spektrum kulturgeschichtlicher Perspektiven ab. Weiterhin bieten sich in der Behandlung dieser Thematik eine Reihe kreativer Umgangsweisen an, in denen emotionale, reflektierend-analytische, praktische und kommunikative Fertigkeiten kombiniert werden können. U A Fachliche Hintergrundinformationen Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich fächerübergreifend mit der ästhetischen und stilistischen Vielfalt von Musik, Literatur und Malerei in der Zeit zwischen 1900 und 1930 in Europa. Infolge des Verlusts traditioneller Werteordnungen bildeten sich in diesem Zeitraum neue politische, soziologische und psychosoziale Konstellationen, denen in den Künsten ästhetische Neuorientierungen folgten. Diese hatten zwar schon vor dem 20. Jahrhundert eingesetzt, wurden aber erst jetzt, in der Zeit der apokalyptischen Weltuntergangsängste zwischen den beiden Weltkriegen, endgültig neu definiert. H C S R Die sich im musikalischen Schaffen entwickelnden ästhetischen Konzeptionen nach 1900 manifestierten sich einerseits als bewahrende, im Überlieferten beharrende Traditionspflege: Hierzu gehören die Warnungen vor der Zerstörung der musikalischen Tradition durch die Zersplitterung der Neuen Musik in viele Richtungen (s. Felix Draesekes Manifest „Die Konfusion in der Musik. Ein Mahnruf“, 1906; Hans Pfitzner, „Futuristengefahr“, 1917). O V In der Fin de Siècle-Ästhetik suchten manche Musiker ein von der Alltagswelt mehr oder weniger abgegrenztes künstliches Refugium (Frederick Delius, Arnold Schönberg mit einigen Frühwerken, Franz Schreker, Erich Wolfgang Korngold). Als gemäßigte bis weitreichende Modifikationen der Tradition erwiesen sich manche Werke von Hans Pfitzner, Max Reger, Jean Sibelius, Charles Koechlin, Ferruccio Busoni, Gustav Holst, Richard Strauss. Spezielle Personalstile entwickelten Gustav Mahler (zwischen Fin de Siècle, Symbolismus und Moderne stehend) und Claude Debussy (Symbolismus, Impressionismus). Weit verbreitet war es, den eigenen, avancierten Personalstil – zumindest zeitweise – mit neoklassizistischen Stilprinzipien zu verbinden: Hierzu gehören Eric Satie, die Komponisten der „Groupe des Six“ (Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre), Maurice Ravel, Jean Françaix, Zoltán Kodály, Sergei Prokofjew, Béla Bartók, Albert Roussel, Paul Hindemith, Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch. In anderen ästhetischen Entwürfen fanden sich radikale Neuorientierungen, u.a. bei den Futuristen, bei Igor Strawinsky, Edgar Varèse, George Antheil, Charles Ives und bei den Komponisten der Zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern). Manche Komponisten propagierten im Rahmen einer Internationalisierung der Künste einen kosmopolitischen Synkretismus (vgl. Glossar; Charles Ives, Henry Cowell), womit die Grenzen zwischen den Stilen, Stilhöhen und Kulturen überwunden werden sollten. 1 Mit „Schüler” ist hier und im weiteren Verlauf aus Gründen der besseren Lesbarkeit „Schülerinnen und Schüler” gemeint. 91 RAAbits Musik April 2016 zur Vollversion Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material LEK Glossar Infothek S3 Dazwischen standen Bewegungen, die in der mystischen Transzendenz den Ersatz einer verbindlichen Ordnung und einer verloren gegangenen kulturellen Identität suchten (Alexander Skrjabin und die russischen Symbolisten). III/A Unter diesen Aspekten werden in diesem Beitrag die ästhetischen und stilbildenden Grundrichtungen der Künste der hier relevanten Epoche behandelt. Literarische, künstlerische und musikalische Strömungen in der Zeit des Umbruchs sollen sich gegenseitig beleuchten und das geistige Klima dieser Zeit aus mehreren Blickwinkeln darstellen. In die einzelnen ästhetischen und literarischen Positionen führt jeweils der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa ein, der wie kein anderer Literat die ästhetische Vielfalt dieser Zeit in seinem Schaffen exemplarisch repräsentiert. Sein Werk bietet quasi ein Kompendium der unterschiedlichsten ästhetischen Strömungen in diesem zeitgeschichtlichen Kontext. In seinen Schriften repräsentieren die von ihm erfundenen Heteronyme ästhetische Positionen u.a. zur Fin de Siècle-Ästhetik, zum Symbolismus, Impressionismus, Klassizismus, Futurismus, bis zum Kubismus (von Pessoa als „Intersektionismus“ bezeichnet). Insgesamt artikulierte sich Pessoa so vielseitig – „Sei vielfältig wie das Universum“ war seine Lebensdevise (Pessoa, Fernando: Mensagem e outro poemas afins, hrsg. v. António Quadros, o. J., S. 43) – als vereine er in seiner Person die unterschiedlichsten Dichterkollegen seiner Zeit, deren Positionen wiederum in der Musik von unterschiedlichsten Komponisten vertreten wurden. U A H C Didaktisch-methodische Überlegungen Der Fokus des Beitrags liegt auf den vielgestaltigen stilistischen Richtungen von Musik, Literatur und Kunst von 1900–1930. S R Die einzelnen (Doppel-)Stunden dieser Reihe sind so angelegt, dass Texte Pessoas jeweils die Initialzündung für den geschichtlich-stilistischen Überblick der verschiedenen Kunstrichtungen geben. Diese Texte sowie Beispiele aus der Bildenden Kunst werden konfrontiert mit musikästhetischen Paradigmen der Epoche zwischen 1900 und 1930, die jeweils einen ähnlichen ästhetischen Hintergrund offenlegen. O V Durch fächerübergreifendes Lernen werden Beziehungen zwischen den Kunstrichtungen auf sinnlicher, ästhetischer, struktureller und historischer Ebene hergestellt. Die Vernetzung von fachbezogenen Inhalten der drei Kunstbereiche Musik, Literatur und Bildende Kunst hat die Nachhaltigkeit des Kompetenzerwerbs im Sinne eines ganzheitlichen Lernens und des Denkens in übergreifenden Strukturen zum Ziel. In eigenen klanglichen Gestaltungen und Collageverfahren werden die drei Künste multimedial zusammengeführt. Die Analysen von Texten, Gemälden und Kompositionen der einzelnen Stilrichtungen beschränken sich jeweils auf wenige Elemente; ein wesentliches didaktisches Ziel ist dabei die Sensibilisierung der Schüler für die emotionale/assoziierende Komponente des Betrachtens von Kunstwerken; weiterhin erarbeiten sich die Schüler Kompetenzen in der Differenzierung stilistischer Grundkonzepte der verschiedenen Kunstrichtungen auf ästhetischer und allgemein struktureller Ebene. Exemplarische Notentextanalysen ergänzen sich mit dem Erfassen der Stimmung und des ästhetischen Ausdrucksgehalts der Kompositionen und dem stilistisch sich einfühlenden Nachschaffen. Durch collagierendes und musikalisch-improvisatorisches Nachempfinden, auch in der Kombination aller Möglichkeiten, erfassen die Schüler das Wesenhafte der Kunstrichtungen. Somit sind assoziationsbestimmte und erlebnisorientierte Perspektiven wichtige methodische Ansätze dieses Beitrags. Strukturmomente der betrachteten Musik werden in ersten Eindrücken vorwiegend metaphorisch oder assoziativ umschrieben. Später können die individuellen Wahrnehmungen durch semantische Bedeutungszuweisungen in konstruktivistischer Methodik eingegrenzt werden. Nach und nach ergänzen komplexere Notentextanalysen diese Methoden. zur Vollversion 91 RAAbits Musik April 2016 Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Verlauf Reihe 19 Material LEK Glossar Infothek S4 III/A Dabei kommt es nicht darauf an, alle Kunstrichtungen hinsichtlich ihrer Stilkriterien erschöpfend zu definieren. Vielmehr ist die Konzeption dieses Beitrags darauf ausgerichtet, dass die Schüler der Klasse 11 bzw. 12 (Jahrgangsstufen 1 und 2 der Sekundarstufe II) grundlegende ästhetische und stilistische Kriterien, Analogien und Besonderheiten der ausgewählten Kunstsparten erkennen und die Fähigkeit entwickeln, das Wissen in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden. Ziele der Reihe Ihre Schülerinnen und Schüler erwerben Kompetenzen – in der Bewertung politischer, gesellschaftlicher, sozialpsychologischer und kulturgeschichtlicher Entwicklungen der vom Fin de Siècle und dem Aufbruch zur Moderne geprägten Epoche und in der Interpretation der darauf bezogenen künstlerischen Reaktionen; U A – in der assoziativ geleiteten Verbalisierung von Höreindrücken und Bildbetrachtungen; – im Beschreiben und Vergleichen ästhetischer Konzeptionen und Techniken der Künste (Musik, Literatur und Malerei) zwischen 1900 und 1930; H C – in der fächerübergreifenden Einordnung ästhetischer und handwerklicher Grundausrichtungen der Künste (Literatur, Musik und Bildende Kunst); – in der differenzierten Analyse und Interpretation musikalischer und literarischer Strukturen und in der Bezugnahme auf bildnerische Techniken und Ausdruckscharakteristika; – in der Beurteilung der Zusammenhänge zwischen musikästhetischen Konzeptionen und musikalischen Strukturen; S R – in der Planung und Präsentation eigener klanglicher Gestaltungen und Collagen in Bezug zu ästhetischen Grundkonzeptionen. O V Schematische Verlaufsübersicht Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne: Musik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Eine fächerübergreifende Einheit (Sek II) Stunde1/2 Ästhetik des Fin de Siècle M 1–M 6 Stunde 3/4 Symbolismus M 7–M 9 Stunde 5–7 Impressionismus M 10–M 12 Stunde 8/9 Neoklassizismus M 13–M 16 Stunde 10/11 Futurismus M 17–M 19 Stunde 12–16 Moderne (Expressionismus, Kubismus, Konstruktivismus; Neue Sachlichkeit, Atonalität, Zwölftonmusik) 91 RAAbits Musik April 2016 M 20–M 25 zur Vollversion Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material LEK Glossar Infothek S6 M6 Fin de Siècle-Stimmung in Bildern von Edvard Munch III/A Edvard Munch: Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend U A Edvard Munch: Der Schrei H C In der Bildenden Kunst sind Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ (Fassung von 1893) und „Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend“ für das Lebensgefühl des Fin de Siècle symptomatisch. In Munchs Gemälde spiegeln die miteinander korrespondierenden synästhetisch-akustischen, farblichen und räumlichen Perspektiven den existentiellen Angstzustand, die Desorientiertheit und Selbstentfremdung des Menschen. S R Aufgaben (M 5, M 6) 1. Fernando Pessoas und Gustav Mahlers Texte (M 3/M 5), das Satzende des vierten Satzes von Gustav Mahlers 9. Symphonie (M 5) sowie Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ und „Karl-Johann-Straße an einem Frühlingsabend“ (M 6) sind vergleichbar in der Beschreibung des Lebensgefühls des Fin de Siècle. Finden Sie hierfür Belege. O V 2. H. H. Eggebrecht beschrieb das kompositorische Spätwerk Gustav Mahlers wie folgt: „In Mahlers Spätwerk ist diese [Todes-]Sehnsucht zum Grundton seiner Musik geworden. […] Die Erde ist schön, aber die ‚Welt’ ist furchtbar. Und die Todessehnsucht, das Verlangen der Seele nach dem Ersterben ins Andere, Ewige, ist als Musik emphatisch schön und tief traurig zugleich, und als Vorauserfüllung der Todessehnsucht ist das Ersterben ein Verstummen der Musik [...].“ (Eggebrecht, 1992, S. 29.) Beschreiben Sie dieses „Verstummen“ im letzten Satz von Mahlers 9. Symphonie (Noten zu Mahlers 9. Symphonie: s. M 5, T. 177ff.). 91 RAAbits Musik April 2016 zur Vollversion Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material LEK Glossar Infothek S7 M7 Symbolismus in der Literatur; Pessoa: „Sümpfe“ III/A Arthur Rimbaud Stéphane Mallarmé U A Paul Verlaine Die symbolistische Poesie der Dichter Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé und Paul Verlaine stellt Sujets in den Mittelpunkt, die sich mit Vergänglichkeit, Tod, Erotik, geheimnisvollen, mystisch oder mythologisch inspirierten Traum- und Fantasiewelten beschäftigen. Deren Inhalte werden durch Metaphern und Synästhesien* indirekt umschrieben und mystifiziert, um in einer von der Realität gelösten Sphäre symbolhaft die Geheimnisse des Seins anzudeuten. H C S R * Zum Begriff „Synästhesie“: „Synästhesie“ bedeutet Vermischung mehrerer Sinnesebenen. Synästhetiker sehen z.B. beim Hören von Musik Farben. 1886 schrieb der Dichter Jean Moréas in seinem Manifest „Le Symbolisme“: „Die wesentliche Eigenschaft der symbolistischen Kunst besteht darin, die Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszudrücken. Und deshalb müssen sich die Bilder der Natur, die Taten der Menschen, alle konkreten Erscheinungen in dieser Kunst, nicht selbst sichtbar machen, sondern sie werden durch sensitiv wahrnehmbare Spuren, durch geheime Affinitäten mit den ursprünglichen Ideen versinnbildlicht.“ O V In dem symbolistischen Gedicht „Sümpfe“ reflektiert Pessoa die Bereiche zwischen Traum, Vision und Vergänglichkeit. Pessoas Freund Sá-Carneiro beschrieb das 1914 entstandene Gedicht so: „Das ist vergoldeter Alkohol, eine verrückte Flamme, Duft geheimnisvoller Inseln, was Du in dieses bewunderungswürdige Fragment hineingelegt hast, das vor Anspielungen birst“: Fernando Pessoa, „Sümpfe“ Sümpfe aus leicht von meiner goldenen Seele gestreiften Ängsten, Fernes Doppelklingen anderer Glocken. Der blonde Weizen erbleicht in der Asche des Westwinds. Es schaudert eine fleischliche Kälte über meine Seele. Stets unverändert die gleiche, gleiche Zeit! Oh, welch stummer Schrei der Ängste legt der Zeit die Klammern an, Welcher Krampf meiner Angst etwas anderes, als was er beweint? Fluidum der Aureole, Durchscheinen des Gewesenen, Leere des Haltens. Das Geheimnis weiß um mein anderes Sein. Mondlicht über dem Nicht-Zusammenhalten. Übersetzt von Frank Henseleit-Lucke. In: Ángel Crespo: Fernando Pessoa – Das vervielfältigte Leben. Eine Biographie Zürich: Ammann 1996. S.96f. Aufgabe Welche Metaphern und synästhetischen Bezüge können als symbolistische Ausdrucksqualitäten im Gedicht „Sümpfe“ von Pessoa gesehen werden? zur Vollversion 91 RAAbits Musik April 2016 Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Verlauf Reihe 19 Material LEK Glossar Infothek S 26 M 23 „Neue Sachlichkeit“ und kubistisches Prinzip – Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ aus CD 42, Track 50 „Histoire du soldat“ III/A Notenbeispiele aus: Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ („Marche royale“). In: Geschichte vom Soldaten (L’histoire du soldat) © Chester Music Ltd. / Edition Wilhelm Hansen „Im Funktionalismus der Zwanziger Jahre ist der polemische Zug [...] besonders krass ausgeprägt. Der schnöde Ton, den die Neue Sachlichkeit anschlug, war als Herausforderung des traditionellen Kunstbegriffs gemeint. Die Ästhetik, gegen die man sich auflehnte, war die Schopenhauersche, in der die Musik mit metaphysischer Würde ausgestattet worden war. Und die ‚eigentliche’ Realität, die Substanz der Wirklichkeit [...] entdeckte man nunmehr in banaler Alltäglichkeit. Eine neue Stoffschicht, zu der man sich hingezogen fühlte, war die triviale des Zirkus und des Jahrmarkts; [...]. Wollte also die Musik ‚realistisch’ und ‚sachlich’ erscheinen, so musste sie sich trivial gebärden, sei es auch im Konjunktiv des Stilzitats. Die Zerstörung kompositionstechIgor Strawinsky nischer Traditionen [...] wurde abgelöst durch eine Wiederherstellung von Konventionen, und zwar gerade der verschlissensten. Durch Ironie legitimierte man die ‚Wonnen der Gewöhnlichkeit’ und umgekehrt. Die Banalität war immer zugleich ästhetische Provokation: ein ungewohnter Reiz in durchaus artifiziellem Kontext.“ U A H C Artikel „Musikalischer Funktionalismus“. In: Carl Dahlhaus: Schönberg und andere. Mainz: Schott 1978, S. 66f. © Verlag Merseburger, Berlin und Kassel. Klangbeispiel S R Igor Strawinsky: „Königsmarsch“ aus „Histoire du soldat“ CD 42, Track 50 Der „Königsmarsch“ aus Strawinskys „Histoire du Soldat“ („Geschichte vom Soldaten“; 1918) wirkt in dem oben beschriebenen Sinne trivial und grotesk. In der Posaune erklingen die in der Grundtonart B-Dur „falschen“ Töne as, h, e (T. 1–9): Pos O V ? b 5 œ b 8 œ ? bb œ œ œ œ œ œ bœ 2 œ 4 œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ nœ œ œ œ œ 5 œ œ nœ œ œ 8 œ œ œ œ j œ ‰ ‰ Œ Die 10-taktige Melodie besteht aus vier Motiven: 1. Sextaufstieg, T. 1/2): ? b b 85 œ 2. dreitöniges Motiv (f-g-b, T. 2/3): ? bb 3. Tritonusmotiv (a-g-es, T. 4): ? bb œ 4. abschließender Dezimabstieg (Posaune, T. 8-10): ? b b 42 œ œ œ œ bœ œ œ 2 œ 4 œ œ œ œ œ nœ œ 5 œ œ nœ œ œ 8 j œ ‰ ‰ Diese Motive werden später in verschiedene Varianten „kubistisch” zerlegt und montiert. Aufgabe Welche dem Kubismus adäquaten Stilmerkmale (s. Zit. Rosenberg, M 21) lassen sich in Strawinskys „Königsmarsch“ finden? Mit welchen Mitteln erzeugt Strawinsky im Sinne der „Neuen Sachlichkeit“ den grotesken, trivialen Eindruck des Marsches? 91 RAAbits Musik April 2016 zur Vollversion Fin de Siècle und Aufbruch in die Moderne (Sek II) Reihe 19 Verlauf Material LEK Glossar Infothek S 27 M 24 Die Befreiung von traditionellen Kunstregeln: Schönbergs Atonalität und Kandinskys abstrakte Kunst III/A Der Komponist Arnold Schönberg und der Maler Wassily Kandinsky plädierten in ihren theoretischen Werken für die Befreiung von traditionellen Kunstregeln (Wassily Kandinsky: „Über das Geistige in der Kunst“, 1912; Arnold Schönberg: „Harmonielehre“, 1911). In einem Brief an Schönberg schrieb Kandinsky 1911: „Sie haben in Ihren Werken das verwirklicht, wonach ich in freilich unbestimmter Form in der Musik so eine große Sehnsucht hatte. Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen ist gerade das, was ich auch in malerischer Form zu finden versuche.“ Im Einführungstext zur Uraufführung seiner Komposition „Das Buch der hängenden Gärten“ (15 Gedichte von Stefan George für eine Singstimme und Klavier op. 15, 1907–1909) betonte Schönberg, dass es ihm mit diesem Werk gelungen sei, „einem Ausdrucks- und Formideal nahe zu kommen“, das ihm seit Jahren vorgeschwebt habe; er habe damit „alle Schranken einer vergangenen Ästhetik durchbrochen“. In dieser Vorstufe zur Dodekaphonie wandte sich Schönberg vom spätromantischen Komponieren ab und entwickelte stattdessen eine neue Tonsprache mit folgenden Merkmalen: Atonalität, “Emanzipation der Dissonanz“ (d.h. Gleichwertigkeit von Konsonanz und Dissonanz), „musikalische Prosa“ (keine periodisch gegliederte Melodik, asymmetrische Phrasen). U A H C S R Wassily Kandinskys frühe Gemälde neigten zu einer realistischen Darstellungsweise. In einer späteren Schaffensphase ging Kandinsky zu stark vereinfachten Formen mit intensiv leuchtenden Farben über. Schließlich entwickelte Kandinsky die abstrakte Kunstrichtung: Hier Wassily Kandinsky: Ohne Titel (1913) verzichtete er auf die reale Abbildung der Welt und beschränkte sich auf die abstrakte Darstellung von Farben und Formen. Kandinskys Bild „Ohne Titel“ (1913) ist das erste rein abstrakte Aquarell. Kandinskys abstrakte Kunst ist prinzipiell vergleichbar mit Schönbergs atonaler Kompositionstechnik, die ebenfalls auf einer vom Künstler radikal neu konzipierten Kunsttheorie aufbaut. O V Aufgabe Inwiefern sind die ästhetischen Grundeinstellungen Kandinskys und Schönbergs geistesverwandt? zur Vollversion 91 RAAbits Musik April 2016