Philosophische Meisterstücke I Philosophische Meisterstücke I Herausgegeben von Ekkehard Martens, Eckhard Nordhofen und Joachim Siebert Vorwort von Eckhard Nordhofen Philipp Reclam jun. Stuttgart RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 9735 Alle Rechte vorbehalten © 1998 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2009 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-009735-9 www.reclam.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kurt Hübner Philosophische Meditation zu einem biblischen Text (Zu Genesis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ruth Dölle-Oelmüller Der Mythos vom Überleben und guten Leben des Menschen (Zu Platon, Protagoras) . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Thomas Rentsch Aristoteles: Über Gerechtigkeit . . . . . . . . 27 . . . . . . . . . . 35 (Zu Aristoteles, Nikomachische Ethik) Klaus Berger Johannes: Gericht (Zu Die Offenbarung des Johannes) Eckhard Nordhofen Die Grenzen der Logik, oder: was ist sagbar? . . . . 44 (Zu Caritat de Condorcet, Ratschläge an seine Tochter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 (Zu Nikolaus von Kues, Der verborgene Gott) Dieter Thomä Condorcets Ratschläge an seine Tochter Willi Oelmüller Kant und die nicht erledigte Theodizeefrage (Zu Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee) . . . . . . . . . . . . . . . 76 Johannes Rohbeck G. W. F. Hegel: Wer denkt abstrakt? (Zu Hegel, Wer denkt abstrakt?) . . . . . . . . . . . . 91 6 Inhalt Johann Erich Maier John Stuart Mill: Der Utilitarismus (Zu Mill, Der Utilitarismus) . . . . . . . . . . . . . . 104 Susanne Nordhofen Von den drei Verwandlungen (Zu Nietzsche, Also sprach Zarathustra) . . . . . . . . 121 Volker Steenblock Wilhelm Dilthey: Über den Widerstreit der Systeme (Zu Dilthey, Das geschichtliche Bewußtsein und die Weltanschauungslehre) . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Ekkehard Martens Zeit für »Sein und Zeit« (Zu Heidegger, Sein und Zeit) . . . . . . . . . . . . . 141 Thomas H. Macho Ernst Bloch: Fall ins Jetzt (Zu Bloch, Spuren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die Autoren der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . 161 Vorwort Bei der Frage, welche literarische Gestalt der philosophische Gedanke sich sucht, wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Da gibt es die große Form der Gedankenarchitektur im System, für die sich merkwürdigerweise nur die Idee, aber nie die vollendete Idee feststellen läßt. Weder die Meditationen des Descartes noch Kants Kritik der reinen Vernunft erfüllen wirklich das Ideal einer vollendeten, in sich geschlossenen Struktur. Am reinsten hat das Beispiel des mathematischen Formalsystems und die mit ihm verbundene Forderung nach Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit das Lehrbeispiel dafür geliefert, daß das in jeder Hinsicht vollendete System unmöglich ist. Die vielen unterschiedlichen Versuche, das Formalsystem der euklidischen Geometrie der Forderung nach Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu unterwerfen, haben dazu geführt, daß im »Hilbertschen Unvollständigkeitstheorem« bewiesen worden ist, daß Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zugleich prinzipiell nicht möglich sind. Dem Ideal kosmischer Wohlordnung im Gedankensystem steht der Gedankenblitz als Gegenbesetzung gegenüber. Der Blitz erleuchtet die Szene, ist aber weit davon entfernt, das Ganze zu erhellen. Gerade die großen und wirkmächtigen philosophischen Gedanken sind oft zurückführbar auf die Einzigkeit einer Erkenntnis, die nun zum Angelpunkt, zum archimedischen Punkt wird, um den sich alles dreht. Karl Kraus hat einmal das Bonmot geprägt: »Keinen Gedanken haben und den ausdrücken können – das macht den Journalisten!« Mit einer leichten Abwandlung könnte man für die Philosophie formulieren: »Einen Gedanken haben, und den ausdrücken können, das macht den Philosophen«. Tatsächlich ist es oft dieser Blitz gewe- 8 Vorwort sen, der im Mittelpunkt einer großen Philosophie steht. Im Winterquartier bei Ulm leuchtet dem Artillerieoffizier René Descartes in einer überheizten deutschen Stube das ein, was wir dann als sein »Sum cogitans« kennen. Auf ähnliche Weise steht der Gedanke der Falsifikation im Zentrum der Philosophie Poppers. Quer durch den literarischen Formenkanon, der den Aphorismus, den Dialog, die Fabel und die klassische Abhandlung kennt – um nur einige zu nennen –, gibt es das philosophische Meisterstück. Das philosophische Meisterstück ist nicht eigentlich eine literarische Gattung, sondern die knappe oder doch überschaubare, in jedem Fall angemessene Fassung, die ein Gedanke oder ein Gedankengang gefunden hat. Es ist wie mit dem Kanon in der Literatur: Jeder weiß, daß es so etwas gibt, daß es Texte gibt, die man klassisch nennt; wenn es aber auf Hauen und Stechen darum geht, welches Kriterium nun diese klassischen Texte regieren soll, dann breitet sich meist Ratlosigkeit aus. Hier hilft nur mutiges Zugreifen. Die Sammlung von »Meisterstücken«, die hier zusammengetragen worden ist, verdankt sich also der durchaus willkürlichen Auswahl, welche die Herausgeber der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik getroffen haben. Die Anthologie, die auf diese Weise entstanden ist, kann demnach keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentanz erheben. Sie ist einer Anthologie von Gedichten durchaus vergleichbar, einer Blütenlese, die der Florist dann zu einem Strauß zusammengebunden hat. Freilich kommt hinzu, daß alle Meisterstücke kommentiert sind. Texte antworten Texten in dem Gespräch über Jahrhunderte und Nationen hinweg. Was ein Meisterstück zum Meisterstück macht, ist zwar niemals deduktiv begründbar, aber in diesem Fall gibt es ein gemeinsames Kriterium, das sich aus dem didaktischen Interesse ergibt, das die Herausgeber und Kommentatoren Vorwort 9 verbindet. Hierin dürfte auch der besondere Gebrauchswert der Sammlung liegen, daß sie nämlich einen kleinen Fundus für Philosophie-Lehrer abgibt, die diese Texte im Unterricht behandeln wollen. So sehr die Texte geeignet sind, philosophische Gespräche auch in der Schule anzuregen, so wenig sind sie unmittelbar für Schulzwecke zubereitet. Schulstaub wird nicht aufgewirbelt. Der philosophische Leser, gerade auch der, der durch zünftige Gelehrtenprosa abgeschreckt ist, wird hier Anregung und Vergnügen finden können. Eckhard Nordhofen