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Planspiel
Der Irak-Krieg 2003 –
Simulation der Sitzung des UN-Sicherheitsrates
zur Diskussion und Abstimmung einer kriegslegitimierenden Resolution der USA mit ausgewählten internationalen Akteuren
Mitwirkende
Dieses Planspiel entstand im Sommersemester 2004 an der Ruhr-Universität Bochum im Rahmen des Hauptseminars „Außen- und Sicherheitspolitik im Nahen
und Mittleren Osten nach dem 11.9.2001“ bei Frau Dr. Cilja Harders.
Nachfolgend werden die verantwortlichen Autoren der einzelnen Bereiche genannt:
Pascal Hugo
Einleitung, Allgemeines
Länderberichte: USA, Irak, Iran, Israel, Syrien, Saudi-Arabien
Layout & Gliederung
Eva-Maria Beckmann
Länderberichte: Ägypten, Algerien, Libyen, Tunesien, China
Viola Dries
Länderberichte: Großbritannien, Frankreich, Russland, Türkei
2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
13
Allgemeiner Teil
1. Verfahrensregeln
16
2. Resolution 1441
25
3. Resolutionsentwurf der USA
30
Länderberichte
A. Vetomächte
1. USA
I.
Geographische Karte
33
II.
Basisdaten
34
III.
Theorien zur US-Außenpolitik
IV.
a) zwischen Unilateralismus und Multilateralismus
36
b) Neorealismus und Neokonservatismus
37
US-Außenpolitik nach dem 11. September
a) unmittelbare Auswirkungen der Anschläge des
39
11. September auf die US-Außenpolitik
b) Die neue Nationale Sicherheitsdoktrin
V.
Die USA und der Irak
VI.
Das letzte Ultimatum – Fernsehansprache des
39
40
US-Präsidenten George W. Bush vom 17.3.2003
42
VII.
Argumente für den Krieg
45
VIII.
Die amerikanische Bevölkerung und der Irak
45
IX.
Die Kosten eines Krieges
Sekundärliteratur: Rudolf Hinkel: Gesamtwirtschaftliche
Kosten eines Kriegs gegen den Irak:
3
Anschlag auf die Weltwirtschaft
X.
47
Ein Krieg für Öl?
a) Einleitung
53
b) Klientelistische Netzwerke zwischen der
US-Regierung und der amerikanischen Ölindustrie
XI.
53
c) Die Abhängigkeit der USA vom Rohstoff Öl
56
d) Die amerikanische Ölindustrie und der Irak
58
Quellen- und Literaturverzeichnis
59
2. Großbritannien
I.
Geographische Karte
61
II.
Basisdaten
62
III.
Großbritannien und der Irak
a) die britisch- amerikanischen Beziehungen
63
b) Grundzüge britischer Außenpolitik und
das „Appeasement-Trauma“
64
c) Bevölkerung
66
d) Ökonomische Interessen Großbritanniens
66
IV.
Großbritanniens Position bzgl. der Irak Resolution
66
V.
Literaturverzeichnis
66
I.
Geographische Karte
67
II.
Basisdaten
68
III.
Das politische System Frankreichs
3. Frankreich
a) Die Verfassung
70
b) Der Präsident
71
c) Der Premierminister
72
d) Regierung und Parlament
72
e) Politische Parteien
IV.
Grundzüge der Innenpolitik
a) Grundlinien der Wirtschaftspolitik
73
b) Aktuelle Wirtschaftslage
73
4
c) Energie und Umwelt
V.
VI.
74
Grundzüge der Außenpolitik
a) Gaullistisch geprägte Außenpolitik
75
b) Politik im Rahmen der Vereinten Nationen
76
c) Europapolitik
76
d) Sicherheits- und Verteidigungspolitik
77
e) Mittel-, Ost- und Südosteuropa-Politik
77
f) Afrikapolitik
78
g) Mittelmeer- und Nahostpolitik
78
h) Französisch-amerikanisches Verhältnis
78
Frankreich und der Irak
a) Das Verhältnis Frankreich – Irak bis zum 2. Golfkrieg
79
b) Das Verhältnis Frankreich – Irak nach dem 2. Golfkrieg
80
c) Die Position Frankreichs in der Irakfrage
81
VII.
Die Position Frankreichs bzgl. der Irak-Resolution
82
VIII.
Literaturverzeichnis
82
I.
Geographische Karte
83
II.
Basisdaten
84
III.
Geschichte Russlands
4. Russland
IV.
V.
a) Geschichte bis 1917
87
b) Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht
89
c) Perestroika und Ende der Sowjetunion
90
d) Die GUS und die Russische Föderation
90
Innenpolitische Entwicklung Russlands
a) Staatsaufbau
91
b) Parlament
91
c) Tschetschenienkonflikt
92
d) Soziale Lage
93
e) Medien
93
Außenpolitische Entwicklung Russlands
a) Grundlinien der Außenpolitik
94
b) Beziehungen zu den USA
94
c) Beziehungen zu den Ländern der
5
Gemeinschaft unabhängiger Staaten
VI.
95
d) Kooperation mit der NATO
95
e) Beziehungen zu den Vereinten Nationen
96
f) Beziehungen zur OSZE
96
g) Russland und die G8
96
h) Beziehungen Russlands zu anderen Staaten
97
Wirtschaftspolitik
a) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
100
b) Aktuelle wirtschaftliche Lage
101
c) Staatshaushalt
102
d) Außenhandel
102
e) Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen
103
f) Russland in internationalen
Wirtschafts- und Finanzorganisationen
VII.
103
Russland und der Irak
a) Russisch-irakische Beziehungen bis 1990
104
b) Russisch-irakische Beziehungen in den 1990er Jahren
104
c) Russland und das Öl
105
d) Russlands Haltung in der Irakfrage
106
VIII.
Russlands Position bzgl. der Irak-Resolution
108
IX.
Literaturverzeichnis
108
I.
Geographische Karte
110
II.
Basisdaten
111
III.
Geschichte
113
IV.
Innenpolitische Entwicklung
5. China
V.
a) Staatsaufbau
116
b) Administrative Gliederung
117
c) Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macao
117
d) Politische und wirtschaftliche Reformen
117
e) Staat und Partei
118
f) Menschenrechtsdialog
118
g) Aktuelle innenpolitische Situation Zusatzinfo
119
Außenpolitische Entwicklung
6
a) Allgemein
122
b) Beziehungen zu den USA
124
c) Beziehungen zur Russischen Föderation und Zentralasien
125
d) Beziehungen zu ASEAN
125
e) Verhältnis zu Indien und Pakistan
126
f) Beziehungen zu den beiden koreanischen
Staaten und Vietnam
VI.
126
g) Grundlinien der Beziehungen zur Europäischen Union
127
h) Außenhandel und Direktinvestitionen
127
Sozioökonomische Entwicklung
a) Grundlinien der Wirtschaftspolitik
128
b) Strukturreformen
128
c) Aktuelle Wirtschaftslage Zusatzinfo
129
VII.
Chinas Position bzgl. der Irak-Resolution
132
VIII.
Literaturverzeichnis
132
B. Staaten der arabischen Welt
1. Irak
I.
Geographische Karte
135
II.
Ethnographische Karte
136
III.
Basisdaten
137
IV.
Irakkrise und Golfkrieg 1990/1991
139
V.
Innenpolitische Entwicklung 1991 – 2001
142
VI.
Außenpolitische Entwicklung 1991 – 2001
a) das Verhältnis zur UNO
145
b) Die Entwicklung der bilateralen Beziehungen
148
VII.
Sozioökonomische Entwicklung
151
VIII.
Quellen- und Literaturverzeichnis
152
7
2. Iran
I.
Geographische Karte
154
II.
Basisdaten
155
III.
Geschichte bis 1989
156
IV.
Die islamische Verfassung
159
V.
Innenpolitische Entwicklung seit 1990
160
VI.
Außenpolitische Entwicklung seit 1990
162
VII.
Bevölkerung
165
VIII.
Politische und ökonomische Interessen
166
IX.
Haltung zum Irak und zur Irak-Frage
167
X.
Irans Position zur Irak-Resolution
168
XI.
Sekundärliteratur:
Mangol, Bayat-Philipp: Die Beziehungen zwischen den
XII.
USA und Iran seit 1953
169
Quellen- und Literaturverzeichnis
184
3. Saudi-Arabien
I.
Geographische Karte
185
II.
Basisdaten
186
III.
Geschichte bis 1990
187
IV.
Innenpolitische Entwicklung seit 1990
188
V.
Außenpolitische Entwicklung seit 1990
193
VI.
Bevölkerung
196
a) Arbeitslosigkeit
197
b) Soziale Ungleichheit
197
c) Islamismus
197
VII.
Politische und ökonomische Interesse
VIII.
Saudi-Arabiens Position zum Irakkrieg
198
Sekundärliteratur:
IX.
Saudi-Arabia will not take part in war against Iraq
200
Quellen- und Literaturverzeichnis
202
8
4. Syrien
I.
Geographische Karte
204
II.
Basisdaten
205
III.
Geschichte bis 1990
206
IV.
Innenpolitische Entwicklung seit 1991
208
V.
Außenpolitische Entwicklung seit 1991
210
VI.
Bevölkerung
214
VII.
Politische und ökonomische Interessen
215
VIII.
Syriens Position bzgl. der Irak-Resolution
217
IX.
Quellen und Literaturverzeichnis
217
I.
Geographische Karte
219
II.
Basisdaten
220
III.
Geschichte
223
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1991 – 2001
5. Ägypten
a) Allgemein
227
b) Grundzüge
229
c) Religion
229
d) Regierung
230
e) Parlament
230
f) Militanter Islamismus und Terrorismus
231
g) Aktuelle Situation
231
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1991 – 2001
232
VI.
Wirtschaft Ägyptens
233
a) Außenhandel
233
b) Wirtschaftslage
234
c) Wirtschaftspolitik der ägyptischen Regierung
234
d) Arbeitsmarktlage
235
e) Wirtschaftsbeziehungen zur EU
235
VII.
Ägypten und der Irakkonflikt 2003
a) Pressemitteilungen zum Irakkonflikt
236
b) “Die Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union
lehnen einen Irak-Krieg ab”
237
9
VIII.
Ägyptens Position bzgl. der Irak-Resolution
237
IX.
Literaturverzeichnis
238
I.
Geographische Karte
239
II.
Basisdaten
240
III.
Geschichte
243
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1991 – 2001
6. Algerien
V.
VI.
a) Allgemein
245
b) Das politische System
247
c) Algerischer Bürgerkrieg 1992 – 1997
247
Außenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
a) Allgemein
250
b) Westsaharakonflikt
252
Wirtschaft Algeriens
a) Wirtschaftslage, Wirtschaftsstruktur
252
b) Wichtigste Wirtschaftszweige
253
c) Außenwirtschaft
253
VII.
Politische Stellungnahme zu Irak-Resolution
254
VIII.
Literaturverzeichnis
254
I.
Geographische Karte
255
II.
Basisdaten
256
III.
Geschichte
258
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
7. Libyen
a) Allgemein
264
b) Politische Ordnung
265
c) „Allgemeines Volkskomitee“ als Exekutive
267
d) Pressefreiheit, Gleichberechtigung, Menschenrechte
267
e) Bildungspolitik in Libyen
268
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
VI.
Wirtschaft Libyens
a) Wirtschaftslage
269
271
10
VII.
VIII.
b) Wichtige Wirtschaftzweige
272
c) Außenhandel
272
Libyen und die Irakfrage
a) Libyen, die Arabische Liga und der Irak (Spiegel Online)
272
b) Libyens Position bzgl. der Irak-Resolution
274
Literaturverzeichnis
274
I.
Geographische Karte
275
II.
Basisdaten
276
III.
Geschichte
279
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
8. Tunesien
a) Allgemein
281
b) Staatsaufbau
281
c) Aktuelle innenpolitische Lage
282
d) Staat und Religion
283
e) Menschenrechtspolitik
283
f) Bildungspolitik
283
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
VI.
Wirtschaft Tunesiens
283
a) Wirtschaftslage/Wirtschafts- und Sozialstruktur
285
b) Außenwirtschaft und Außenhandel
288
c) Mitgliedschaft in Wirtschaftsgruppierungen
288
VII.
Tunesiens Position bzgl. der Irak-Resolution
VIII.
Literatur
289
C. Sonstige Staaten
1. Israel
IX.
Geographische Karte
291
X.
Israel auf einen Blick
292
11
XI.
Geschichte bis 1990
a) Geschichte bis zur Gründung des Staates Israel
294
b) Geschichte des Staates Israel bis 1990
295
XII.
Innenpolitische Entwicklung seit 1990
298
XIII.
Außenpolitische Entwicklung seit 1990
301
XIV.
Bevölkerung
306
XV.
Politische und ökonomische Interessen
307
XVI.
Sekundärliteratur:
Benn, Aluf: Hoffen auf den Krieg, Israel will alte
Rechnungen begleichen, in: Die Zeit 09/2003
309
XVII. Israels Position bzgl. der Irak-Resolution
310
XVIII. Quellen- und Literaturverzeichnis
311
2. Türkei
I.
Geographische Karte
312
II.
Türkei auf einen Blick
313
III.
Kurdenkonflikt
314
IV.
Die Türkei in der Irakfrage 2003
a) Die Türkei als Grenzland zum Irak
317
b) Die Kurdenproblematik
318
c) Die europäisch – amerikanischen
Auseinandersetzungen als innenpolitisches
Problem der Türkei
d) Die türkische Bevölkerung und die Irakfrage
318
319
V.
Die Position der Türkei gegenüber der Irak-Resolution
319
VI.
Literaturverzeichnis
320
12
Einleitung
Am 21. März 2003 griffen die Vereinigten Staaten von Amerika den Irak an. Bereits wenige Wochen später erklärte George W. Bush die Hauptkriegshandlungen
für beendet. Die Welt sei nun, ohne Saddam Hussein, sicherer als zuvor.
Dem vorausgegangen war ein bis dato so nicht gekanntes Kräftemessen der internationalen Akteure. Eine Allianz der Kriegsgegner, angeführt von Frankreich,
Russland und Deutschland, stand der einzigen, übrig gebliebenen Supermacht
USA und ihrer „Koalition der Willigen“ gegenüber. Trotz der allgemeinen Bereitschaft der US-Administration unilateral zu handeln, versuchten die USA, den
Krieg gegen den Irak völkerrechtlich durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu legitimieren. Obwohl die USA einen Krieg bereits durch die Resolution
1441 als völkerrechtlich legitimiert betrachteten, brachten sie eine neue Resolution ein, welche einen Krieg eindeutig legitimieren sollte.
Dieses Planspiel simuliert eine solche Sitzung des UN-Sicherheitsrates. Zur Diskussion steht der Original-Resolutionsentwurf, welchen die Vereinigten Staaten
zusammen mit Großbritannien und Spanien am 7. März 2003 dem Weltsicherheitsrat vorlegten. Die Resolution 1441, welche am 8. November 2002 vom UNSicherheitsrat verabschiedet wurde, wurde als Zusatzinformation beigelegt.
Gegenüber den „echten“ Sitzungen des Sicherheitsrates wurden einige Veränderungen vorgenommen: Zum einen wurden die nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates durch Staaten der Arabischen Liga (+ Israel und Türkei) ersetzt,
zum anderen wurden die Verfahrensregeln etwas vereinfacht, um dem zeitlichen
Rahmen, in dem das Planspiel gespielt werden kann, gerecht zu werden. Das didaktische Ziel des Planspieles ist zum einen, den Teilnehmern die Funktionsweise
von Internationaler Politik näher zu bringen, zum anderen den Teilnehmern die
vielschichtige Problematik der Krisenregion Naher Osten, in der sowohl unterschiedliche Ideologien, als auch regionale und globale Interessen aufeinander treffen, zu verdeutlichen. Jedes Land wird durch mindestens einen Teilnehmer vertreten. Ein Teilnehmer kann immer nur ein Land vertreten.
Dafür wurden für jedes Land Länderberichte angefertigt. Alle Länderberichte beginnen mit einer Karte und den Basisdaten des jeweiligen Landes. Allerdings unterscheiden die Länderberichte sich sowohl in der Länge, als auch in der inhaltlichen Ausrichtung. Dies liegt zum einen daran, dass die Berichte von unterschiedlichen Autoren stammen, die wiederum unterschiedliche Schwerpunkte bei der
13
Bearbeitung setzten, zum anderen liegt es aber auch daran, dass das allgemeine
Wissen über die politischen Verhältnisse, die politischen Systeme und Ziele der
beteiligten Staaten durch die unterschiedlich starke Präsenz in den Medien weit
auseinander geht. So werden die Teilnehmer im Allgemeinen besser über die Vereinigten Staaten, als über China informiert sein. Deshalb konzentriert sich der
Bericht über die USA größtenteils auf die Außenpolitik, während der Länderbericht über China auch Teile enthält, die nichts bzw. nur indirekt etwas mit dem
Irakkrieg zu tun haben. Durch diese Informationen sollen die Teilnehmer auch die
Möglichkeit erhalten, nach Verhandlungsspielräumen zu suchen und evtl. Kompromissmöglichkeiten zu finden (z.B. in Form von Koppelgeschäften). Neben den
von den Autoren verfassten Teilen wird bei einigen Länderberichten zusätzlich
Sekundärliteratur zu bestimmten Themen mitgeliefert.
Die Länderberichte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind
als Überblicksdarstellungen gedacht.
Die Länderberichte sind für alle Teilnehmer gedacht. Die Teilnehmer sollten sich
jedoch über „ihr“ Land, welches sie vertreten, zusätzlich zu den Länderberichten
über Sekundärliteratur informieren.
Ein besonderes „Ziel“ muss von den Teilnehmern nicht erreicht werden. Auch
wenn kein Kompromiss gefunden und die Resolution nicht verabschiedet wird,
kann dies als ein aussagekräftiges Ergebnis angesehen werden.
14
Allgemeiner Teil
15
1. Verfahrensregeln
Info: Die Regeln des Planspiels sollen sich möglichst nah an die Regeln des UNWeltsicherheitsrates halten, damit die Planspielsimulation echt wirkt.
Besonders wichtig ist das äußere Erscheinungsbild der Delegierten. Daher sollten sich die
Mitspieler im besten Fall auch an den Dresscode halten. Dieser sieht für Herren einen Anzug,
mindestens aber ein Hemd mit Jackett vor und für Damen etwas vergleichbares, beispielsweise auch ein Kostüm.
I. Grundlegendes
§1 Allgemeines
(1) Die Verfahrensregeln sind verbindlich für alle Teilnehmer der Simulation, es sei denn,
es bestehen gesonderte Regelungen.
(2) Der Vorsitz sorgt für die Einhaltung dieser Regeln.
(3) Gegen die Entscheidungen des Vorsitzes kann Einspruch erhoben werden. Zum Widerruf der angefochtenen Entscheidung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich.
(4) Die Delegierten richten ihre Stimme immer an den Vorsitz. Sie dürfen andere Delegierte nicht direkt anreden.
(5) Die Delegierten erheben sich, sobald sie vom Vorsitz angesprochen werden oder ein
Redebeitrag an sie adressiert wird.
(6) Die Redezeit ist begrenzt und beträgt in der Regel drei Minuten.
§2 Der Generalsekretär
(1) Der Generalsekretär ist auf der Konferenz in allen Fragen oberste Instanz und hat die
Möglichkeit dieses Regelwerk zu ändern, sollte dies erforderlich werden.
(2) Betritt der Generalsekretär den Saal, erheben sich alle Anwesenden unverzüglich; sie
nehmen erst nach Aufforderung wieder Platz.
§3 Der Vorsitz
(1) Die Aufgaben des Vorsitzes bestehen in der Leitung der Diskussion, der Eröffnung
und Schließung der Sitzung und in der Aufrechterhaltung der Verfahrensregeln.
(2) Allein der Vorsitz erteilt das Rederecht, stellt Fragen in den Raum und verkündet Entscheidungen des Gremiums.
(3) Der Vorsitz kann die allgemeinen Redezeitbegrenzung verändern und einzelne Ausnahmen festlegen.
(4) Der Vorsitz darf auf die folgenden Regeln und Verfahrensschritte aufmerksam machen und diesbezüglich eigenständig Entscheidungen treffen:
a. die Redezeitbegrenzung und einzelne Ausnahmen,
b. die Möglichkeit einer mündlichen Abstimmung,
c. den Abschluss der Rednerliste,
d. das Verschieben eines Punktes auf der Tagesordnung,
e. den Abschluss der Diskussion eines Tagesordnungspunktes,
f. das Ausrufen von Lobbyingphasen.
§4 Offizielle Sprache
(1) Deutsch ist die offizielle Amts- und Arbeitssprache des Sicherheitsrates.
§5 Quorum
(1) Zu Beginn der Sitzung wird vom Vorsitz das Quorum festgestellt.
(2) Ist mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend, ist das Gremium beschlussfähig. Abstimmungen zu Verfahrensregeln sind unabhängig von der Beschlussfähigkeit.
§6 Tagesordnung und Reihenfolge der Tagesordnung
(1) Die Tagesordnung wird vor Beginn der Sitzung festgelegt.
16
(2) Jeder Tagesordnungspunkt wird in drei Phasen gegliedert: Allgemeine Debatte, Erstellung und Fortentwicklung der Resolutionsentwurf, Debatte und Abstimmung über die
Resolutionsentwurf.
II. Arbeit im Sicherheitsrat
§7 Allgemeines
(1) Auf die Eröffnung durch den Vorsitz folgt eine allgemeine Debatte zum Tagesordnungspunkt.
(2) Die allgemeine Debatte wird auf Antrag für Lobbyingphasen1 unterbrochen. Während
dieser werden die Arbeitspapiere2 erarbeitet. Die Arbeitspapiere werden vom Vorsitz
überprüft und, wenn sie die Kriterien des §9 erfüllen, als Resolutionsentwürfe3 anerkannt.
(3) Nach dem Ende der allgemeinen Debatte werden die bis dahin eingebrachten und zugelassenen Entwürfe von jeweils einem Einbringerstaat im Rahmen einer zeitlich begrenzten Rede kurz vorgestellt; danach wird vom Vorsitz die Reihenfolge verkündet,
in der die verschiedenen Resolutionsentwürfe behandelt werden sollen; die Entwürfe
werden dabei nach der Anzahl der Unterschriften in absteigender Reihenfolge behandelt.
(4) Im Folgenden wird der erste Entwurf im Ganzen diskutiert; danach werden die operativen Absätze des Entwurfs einzeln diskutiert, eventuelle Änderungsanträge behandelt
und abgestimmt. Änderungsanträge müssen dem Vorsitz schriftlich vorgelegt werden
und dem gesamten Gremium zugänglich gemacht werden.
(5) Anschließend wird einzeln über die Aufnahme der operativen Absätze in den zu verabschiedenden Resolutionsentwurf abgestimmt.
(6) Abschließend wird über diesen Entwurf als Ganzes debattiert und abgestimmt.
(7) Jeder Entwurf, der eine im Sicherheitsrat gültige Mehrheit erhält, gilt als eine vom Sicherheitsrat verabschiedete Resolution.
§8 Lobbyingphasen
(1) Die Lobbyingzeit stellt eine offene, zeitlich begrenzte Arbeitsphase dar. Sie kann jederzeit von den Delegierten für einen genau zu spezifizierenden Zeitraum beantragt
oder vom Vorsitz festgelegt werden, ausgenommen während der Abstimmungsphase.
Der Antrag ist zu begründen und nicht diskussionsfähig. Es gilt die einfache Mehrheit.
(2) Bis zum Einreichen der Arbeitspapiere werden diese in den Lobbyingphasen gemeinsam ausgearbeitet und es wird um Unterstützung für sie geworben; Delegierte signalisieren ihre Zustimmung zu dem betreffenden Arbeitspapier, indem sie dieses unterschreiben.
(3) Nach Einreichen der Arbeitspapiere bietet eine Lobbyingpause die Möglichkeit, sich
über das weitere Vorgehen zu verständigen und Absprachen zu treffen, um beispielsweise Änderungsanträge zu formulieren oder zu bearbeiten4.
§9 Resolutionen
(1) Resolutionen entstehen, indem Entwürfe verabschiedet werden, die aus Arbeitspapieren entstanden sind. Arbeitspapiere können sowohl vor Beginn der Konferenz ausgearbeitet als auch während der Lobbyingphasen erstellt bzw. bearbeitet werden.
1
hier: kurze Abstimmung der Delegierten eines Landes über den einzubringenden Resolutionsentwurf
Ein Arbeitspapier ist ein Dokument, das ein Verfasser letztendlich als Resolution oder Beschluss durchbringen
möchte, d.h. es hat schon die Struktur und äußere Struktur einer Resolution, aber keinen offizielle Status.
3
Ein Resolutionsentwurf ist ein offizielles Dokument, was vom Sicherheitsrat überarbeitet wird. Es ist entstanden aus einem Arbeitspapier, indem es in einem Gremium eingebracht und unterstützt wurde. Im Gegensatz zu
einem Arbeitspapier kann ein Entwurf nur noch per Antrag verändert werden (durch freundliche Änderungsanträge – Rechtschreibung, Zeichensetzung etc. oder durch schriftliche Änderungsanträge, die dann die operativen
Ansätze verändern können, nicht jedoch die Präambel.
4
die Lobbyingphasen dauern 15 Minuten und die Lobbyingpausen 10 Minuten
2
17
(2) Unterstützt ein Delegierter das Arbeitspapier eines anderen (er kann später auch Änderungen beantragen), so setzt er seine Unterschrift sowie den Namen des von ihm repräsentierten Landes unter das Arbeitspapier. Er wird damit zum Unterstützerstaat des
Arbeitspapiers.
(3) Die einbringende Delegation kann ihren Entwurf jederzeit zurückziehen, vorausgesetzt
der Abstimmungsprozess zu diesem Thema hat noch nicht begonnen und der Entwurf
ist nicht verändert worden. Ein Entwurf, der auf diese Weise zurückgezogen worden
ist, kann von einer anderen Delegation jedoch wieder eingeführt werden.
§10 Änderungsanträge zu den Entwürfen
(1) Es sind jederzeit mündlich zu stellende, sog. freundliche Änderungsanträge möglich.
Diese können sich nur auf Syntax- und Grammatikfehler in den operativen Absätzen
erstrecken und werden vom Einbringerstaat des Resolutionsentwurfes direkt angenommen oder abgelehnt.
(2) Weitergehende Äderungsanträge sind dem Vorsitz in schriftlicher Form auf vorbereiteten Formularen einzureichen. Es können Absätze, Satzteile oder Wörter aus dem operativen Teil eines Entwurfs geändert, gestrichen oder neu hinzugefügt werden; zudem kann die Reihenfolge der operativen Absätze geändert werden. Jedoch darf der
Inhalt des Entwurfs nicht umkehrt werden. Sätze der Präambel sind nicht veränderbar.
(3) Liegen mehrere Änderungsanträge vor, die den gleichen Absatz betreffen, muss zunächst der weitreichendste Antrag behandelt werden. Dabei kann der operative Absatz
solange verändert werden, bis keine weiteren Änderungsanträge vorliegen oder der
Vorsitz die Rednerliste zum behandelten Absatz schließt.
(4) Sobald ein Änderungsantrag behandelt wird, soll der Vorsitz dem Einbringerstaat die
Möglichkeit geben, seinen Antrag im Rahmen einer Rede vorzustellen und ggf. zu erläutern. Diese schriftlichen Änderungsanträge sind diskussionsfähig und werden im
Sicherheitsrat mit einfacher Mehrheit abgestimmt.
§11 Revision von Resolutionen
(1) Eine vom Sicherheitsrat verabschiedete Resolution kann nur dann erneut diskutiert
werden, wenn zwei Drittel der anwesenden Delegierten einer Revision zustimmen. Es
soll nur dem Antragsteller selbst sowie zwei Gegenrednern erlaubt sein, zu diesem
Thema Stellung zu nehmen und dann direkt abgestimmt werden.
(2) Ein verabschiedeter Entwurf kann nur einmal zur Revision vorgeschlagen werden.
III. Redebeiträge
§12 Allgemeines
(1) Es existieren vier Arten von Wortmeldungen:
a. Redebeitrag: Der Delegierte will zum gegenwärtigen Thema Stellung nehmen.
b. Fragen und Kurzbemerkungen: Der Delegierte reagiert auf einen Redebeitrag
eines anderen Delegierten durch eine Frage oder eine Kurzbemerkung an das
Gremium.
c. Antrag an die Geschäftsordnung: Der Delegierte stellt einen Antrag zum Verfahren.
d. Persönlicher Antrag: Der Delegierte kann Anträge betreffs seines persönlichen
Wohlbefindens stellen.
(2) Den Delegierten wird das Wort ausschließlich vom Vorsitz erteilt. Der Redner erhebt
sich während seines Redebeitrags.
(3) Hebt ein Delegierter sein Länderschild, so signalisiert er, dass er einen Redebeitrag
abgeben möchte und wird vom Vorsitz auf die Rednerliste gesetzt. Redebeiträge sind
nur zum gegenwärtigen Thema oder zu Verfahrensregelns gestattet, der Vorsitz kann
die Delegierten ggf. zur Ordnung rufen.
(4) Nachdem ein Redner seine Rede beendet hat, wird er vom Vorsitz gefragt, ob er bereit
ist, Fragen zu beantworten. Falls der Redner zustimmt, können sich Delegierte mit ih18
rer Signalkarte melden, um Fragen zu stellen und oder Kurzbemerkungen abzugeben.
Sie werden gemäß einer separaten Rednerliste aufgerufen. Sowohl der Redner als auch
der Vorsitz kann jederzeit die Fragerunde beenden bzw. die Anzahl der Fragen und
Kurzbemerkungen begrenzen, der Gefragte muss Fragen nicht beantworten.
(5) Nach der Rede bittet der Vorsitz den Redner sich auf seinen Platz zu begeben.
(6) Die ungenutzte Redezeit eines aufgerufenen Redners kann dieser auf einen anderen
Delegierten, der sich bereits auf der Rednerliste befindet, übertragen. Nutzt der begünstigte Delegierte diese zusätzliche Zeit nicht, so verfällt sie und ist nicht erneut übertragbar.
(7) Um einen Antrag an die Geschäftsordnung zu stellen, erhebt sich der Antragsteller und
bringt sein Anliegen vor, ohne auf eine Aufforderung von Seiten des Vorsitzes zu warten; hierbei dürfen ggf. auch Redner unterbrochen werden.
§13 Rednerliste
(1) Delegierte können durch Heben ihres Länderschildes den Vorsitz darauf aufmerksam
machen, dass sie zu einem Thema sprechen möchten. Der Vorsitz setzt daraufhin die
Delegierten auf die Rednerliste. Er ruft die Redner ans Rednerpult.
(2) Der Vorsitz kann die Anzahl der Redner nach eigenem Ermessen begrenzen.
(3) Ebenso können Delegierte einen Antrag auf Abschluss der Rednerliste stellen. Der
Antrag ist nicht diskussionsfähig und wird sofort abgestimmt. Es gilt die einfache
Mehrheit.
§14 Recht auf Erwiderung
(1) Das Recht auf persönliche Erwiderung wird vom Vorsitz vergeben.
(2) Wird eine Nation während einer Rede direkt angesprochen und wird damit die Ehre
oder Würde verletzt, so kann der Vorsitz dem Delegierten dieses Landes das Recht
einräumen zu diesen Aussagen Stellung zu nehmen; auch der Delegierte kann dieses
Recht vom Vorsitz im Rahmen eines Antrags an die Geschäftsordnung erbitten.
§15 Diskussionsteilnahme von Gästen
(1) Es besteht die Möglichkeit, Experten, Nichtregierungsorganisationen oder Vertreter
von Nationen, die im Weltsicherheitsrat nicht selbst vertreten sind, zur Diskussionsteilnahme einzuladen, sofern diese Gäste vom Diskussionsthema betroffen sein könnten.
(2) Gäste dürfen nicht mit abstimmen, jedoch dürfen sie Änderungsvorschläge und Verfahrensvorschläge
einbringen, die auf Antrag eines Mitglieds des Gremiums zur
Abstimmung gebracht werden können.
(3) Wird ein dahingehender Antrag gestellt, so wird vor der Abstimmung eine Pro- und
eine Contra-Rede gehalten. Es gilt die einfache Mehrheit.
IV. Abstimmung, Abschluss, Zuständigkeit
§16 Stimmrecht
(1) Jeder Mitgliedstaat des Sicherheitsrates hat eine Stimme. Die Vertretung eines Delegierten durch andere Personen bei der Stimmabgabe ist nicht zulässig.
(2) Enthält sich ein Mitglied der Stimme, so gilt es als nicht anwesend im Sinne der Abstimmung – das Quorum ist davon nicht betroffen.
(3) Entscheidungen über Verfahrensregeln können im Sicherheitsrat mit einer einfachen
Mehrheit plus eins (i.d.R. neun Stimmen) entschieden werden. Alle anderen Entscheidungen (z.B. Entscheidung über einen Resolutionsentwurf) werden mir der gleichen
Anzahl Stimmen angenommen, außer ein ständiges Mitglied (USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und China) legt sein Veto ein. Änderungsanträge gelten als Verfahrensfragen.
§17 Abstimmungsmodus
(1) Die Stimmabgabe erfolgt üblicherweise durch Heben des Länderschildes.
19
(2) Bei wichtigen Fragen oder nicht eindeutigen Ergebnissen kann sowohl vom Vorsitz
als auch von den Delegierten eine mündliche Abstimmung beantragt werden. Der Antrag ist nicht diskussionsfähig und wird sofort vom Vorsitz entschieden.
(3) Bei mündlicher Abstimmung wird jedes Mitglied in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen und antwortet dann mit „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“. Nachdem alle Namen
der Mitglieder verlesen worden sind, und ihre Stimme aufgenommen wurde, hat der
Vorsitz das Recht, einzelne Mitglieder zu ihrem Abstimmungsverhalten zu befragen.
Weiterhin kann er die Möglichkeit zur Änderung des Abstimmungsverhaltens geben,
falls vorher keine Abstimmung per Karte stattgefunden hat. Sind alle Änderungen verzeichnet, wird das Ergebnis verkündet.
(4) Die Delegierten können, sobald ein abzustimmender Antrag zur Geschäftsordnung gestellt oder die Abstimmung über einen solchen eingeleitet wurde, durch das Rufen von
„Hört, hört!“ erfragen, ob ein Konsens besteht. Andere Delegierte können dies mit
„Hört, hört!“ unterstützen; erhebt sich jedoch einer der Delegierten und antwortet mit
dem Ruf „Einspruch“, so führt dies zu einer formellen Abstimmung über das Thema.
Erhebt keiner der Delegierten des Sicherheitsrats Einspruch, so gilt der Antrag als angenommen. Dieser Absatz ist nur auf Verfahrensfragen anwendbar; Änderungsanträge
gelten als Verfahrensfragen.
§18 Verhalten bei der Abstimmung
(1) Unmittelbar vor einer Abstimmung soll der Vorsitz den zur Entscheidung stehenden
Antrag oder den Entwurf verlesen.
(2) Der Vorsitz kann über die Konsequenzen einer „ja“ bzw. „nein“-Entscheidung informieren.
(3) Die Abstimmung beginnt, wenn der Vorsitz dies verkündet und endet, wenn die Ergebnisse verlesen werden. Während der Abstimmung kann keine Lobbyingphase beantragt werden.
(4) Nachdem der Vorsitz den beginn einer Abstimmung bekannt gegeben hat, soll kein
Delegierter diesen Vorgang unterbrechen, außer zum Stellen eines Antrags zum eigentlichen Abstimmungsvorgang.
(5) Herrscht ein Stimmengleichstand, so gilt der Antrag oder der Entwurf als abgelehnt.
§19 Antrag auf Ende der Debatte oder vorgezogene Abstimmung
(1) Während einer Debatte darf ein Delegierter einen Antrag auf Ende der Debatte und
vorgezogene Abstimmung stellen. Es dürfen zwei Vertreter für diesen Antrag sprechen (darunter auch der Antragsteller selbst, sofern er dies wünscht) sowie zwei Redner dagegen. Danach wird sofort abgestimmt. Es gilt die Zwei-Drittel-Mehrheit.
(2) Es wird unterschieden zwischen
a. Antrag auf Ende der Debatte
b. Antrag auf vorgezogene Abstimmung über einen Änderungsantrag
c. Antrag auf vorgezogene Abstimmung über den Resolutionsentwurf als Ganzes
(3) Wird die allgemeine Debatte zu einem Thema abgeschlossen, so folgt die Debatte über
die vorgelegten Entwürfe.
§20 Antrag auf Abschluss eines Tagesordnungspunktes
(1) Während einer Debatte darf ein Delegierter den Abschluss des gegenwärtigen Tagesordnungspunktes beantragen, auch wenn andere Delegierte sich bereits als Redner
gemeldet haben. Es folgt eine pro- und zwei contra-Reden, danach kommt der Antrag
direkt zur Abstimmung. Es gilt die Zwei-Drittel-Mehrheit.
V. Regelungen des Verhaltens in den Sitzungen
§21 Einladung zu stillem Gebet und Meditation
(1) Direkt nach der Eröffnung bzw. direkt vor der Schließung der Sitzung soll der Vorsitz
zu einer Minute für stilles Gebet und Meditation aufrufen.
20
(2) Jeder Delegierte kann den Antrag auf eine Gedenkminute stellen. Dieser Antrag wird
vom Vorsitz entschieden.
§22 Punkte der parlamentarischen Verfahrensweise
(1) Will ein Delegierter sich Klarheit über das gegenwärtige Thema oder Verfahrensregeln verschaffen, so kann er sich erheben. Der Vorsitz soll unverzüglich antworten.
(2) Während des Verlaufs einer Debatte kann ein Delegierter einem anderen Delegierten,
der zu dem Thema gesprochen hat, über den Vorsitz eine inhaltliche Frage stellen, indem er sich auf das Recht auf Information bezieht. Er richtet seine Frage an den Vorsitz, und wenn die angesprochene Nation antworten möchte, so richtet sie ihre Antwort ebenfalls an den Vorsitz. Delegierte dürfen Fragen nicht direkt an andere Delegierte stellen.
(3) Will ein Delegierter eine Frage stellen oder eine Bitte äußern, die die Organisation der
Sitzung, das Wohlbefinden der Mitglieder betrifft oder sich auf das Verhalten der Vertreter einzelner Länder bezieht, so darf er sich auf das Recht persönlicher Privilegien
beziehen. Der Vorsitz entscheidet über den Antrag.
(4) Jeder Delegierte, der sich auf Regel 23 bezieht, muss auf Aufforderungen des Vorsitzes angeben, auf welchen Teil dieser Regel er sich bezieht. Er darf sich nicht zum gegenwärtigen Thema äußern. Er darf keinen Redner unterbrechen, außer in dringenden
Fällen des 3. Absatzes.
§23 Regelung von Fehlverhalten
(1) Der Vorsitz darf entscheiden, ob ein Antrag oder Vorschlag das Sitzungsgeschehen
behindert. Als behindernd soll jeder Vorschlag oder Antrag gelten, der versucht, den
Willen oder die Entscheidung des Sicherheitsrates zu untergraben, der zuvor klar geäußert wurde. Entscheidet der Vorsitz, dass ein Vorschlag oder Antrag behindernder
Natur ist, so gilt er als abgewiesen.
(2) Stört ein Delegierter durch sein Verhalten erneut den Sitzungsverlauf, so spricht der
Vorsitz ihm eine Rüge aus und weist ihn auf die Konsequenzen hin. Eine Rüge ist
nicht anfechtbar.
(3) Die Ansammlung einer dritten Rüge führt zu einem Ausschluss aus dem Gremium für
eine vom Vorsitz festgelegte Zeit5. In dieser Zeit kann der Delegierte nicht an der Debatte teilnehmen und nicht abstimmen.
(4) Während einer Sitzung ist der Gebrauch von Mobiltelefonen nicht gestattet. Die Geräte sind vollkommen abzuschalten. Sollte ein Mobiltelefon durch jegliches Geräusch
den Verlauf der Debatte stören, erhält der Delegierte eine Rüge und das Mobiltelefon
bleibt für die Dauer des Sitzungsabschnitts in Verwahrung des Vorsitzes.
Möglicher Ablauf einer Debatte:
Erster Vorsitz:
Ehrenwerte Delegierte, der Vorsitz begrüßt Sie sehr herzlich zu unserer
heutigen Sitzung. Wir werden zunächst das Quorum feststellen. [Verlesen der Länderliste; die Delegierten bestätigen ihre Anwesenheit, mehr
als die Hälfte der Delegierten ist anwesend.] Mit ... Delegierten ist der
Sicherheitsrat beschlussfähig. Die Sitzung ist eröffnet. [Verlesen der
Tagesordnung.] Da uns keine Änderungswünsche zur Tagesordnung
vorliegen, beginnen wir mit der allgemeinen Debatte zum Thema... Gibt
es Wortmeldungen?
[Land A hebt sein Länderschild.] Ich bitte den ehrenwerten Delegierten
von Land A ans Rednerpult.
Land A:
Ehrenwerter Vorsitz, werte Mitdelegierte...[Land A hält seine Rede.]
Erster Vorsitz:
Ist der ehrenwerte Delegierte aus A offen für Fragen oder Kurzbemerkungen?
5
hier: 30 Minuten
21
Land A:
Erster Vorsitz:
Ja.
Gibt es Fragen oder Kurzbemerkungen zu diesem Redebeitrag?
[Land B hebt sein Länderschild und seine Signalkarte.] Ehrenwerter
Delegierter aus B, Sie haben das Wort.
Land B:
Werter Vorsitz, sehr geehrte Mitdelegierte, ist sich der ehrenwerte Delegierte des Landes A darüber im Klaren, dass....
Vorsitz:
Land A möchten Sie darauf antworten?
Land A:
Gerne.
Vorsitz:
Ich erteile Ihnen das Wort.
[Land A antwortet.] Ehrenwerter Delegierter von Land B, Sie dürfen
sich wieder setzen. Gibt es weitere Fragen oder Kurzbemerkungen?
[Land C hebt Länderschild und Signalkarte.] Land C bitte.
Land C:
Ehrenwerter Vorsitz, sehr geehrte Delegierte, der Delegierte aus C
möchte eine Kurzbemerkung machen...
[Land C trägt seine Kurzbemerkung vor.]
Vorsitz:
Ich danke Ihnen, bitte nehmen Sie wieder Platz. Gibt es weitere Fragen
oder Kurzbemerkungen? dem ist nicht so. A, ich danke Ihnen, Sie dürfen sich wieder setzen. Der nächste Redner auf der Rednerliste ist aus
Land D. Bitte treten Sie vor, Sie haben das Wort.
[Wiederholung des obigen Ablaufs.]
Land E:
[Erhebt sich unaufgefordert, da es sich um einen Antrag bezüglich der
Geschäftsordnung handelt, der Vorsitz erteilt ihm das Wort, bevor er
auf andere Meldungen eingeht.] Ich möchte einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen. Ich beantrage die Unterbrechung der allgemeinen Debatte für eine Lobbyingphase.
Vorsitz:
Dem ist stattgegeben, wir unterbrechen die Debatte für eine viertelstündige Lobbyingphase. E, Sie dürfen sich wieder setzen. Wir treffen und
wieder um...
[LOBBYINGPHASE]
Vorsitz:
Nachdem Sie sich nun alle wieder eingefunden haben, fahren wir mit
der allgemeinen Debatte fort, gibt es Redebeiträge?
[Wiederholung des obigen Ablaufs.]
Hiermit schließe ich die allgemeine Debatte – wir kommen nu zur Debatte über den mir eingegangenen Resolutionsentwurf mit den meisten
unterstützenden Ländern., Ich bitte daher das Einbringerland F dieses
Resolutionsentwurfes ans Rednerpult, um diesen zu verlesen und vorzustellen.
[Land F tritt vor, grüßt den Vorsitz und Mitdelegierte, liest den Entwurf
vor und hebt anschließend noch einige wichtige Punkte daraus hervor.]
Ehrenwerter Delegierter, sind Sie offen für Fragen oder Kurzbemerkungen?
Land F:
Ich bin offen für zwei Fragen oder Kurzbemerkungen.
[Ablauf wie oben, Land F bleibt am Rednerpult. Ein Delegierter sagt in
einer Kurzbemerkung etwas, von dem sich der Delegierte F angegriffen
fühlt.]
Vorsitz:
Ehrenwerter Delegierter aus Land F, möchten Sie von Ihrem Recht auf
persönliche Erwiderung Gebrauch machen?
Land F:
Ja, gerne.
[Der andere Delegierte bleibt in der Zeit auch stehen, bis der Vorsitz
ihn auffordert, Platz zu nehmen.]
Vorsitz:
Delegierter aus F, ich danke Ihnen, Sie dürfen wieder Platz nehmen.
[Danach Redebeiträge zu dem Resolutionsentwurf und hierzu jeweils
Fragen und Kurzbemerkungen. Ablauf wie oben. Ab der Vorstellung
22
Land C:
Vorsitz:
Land F:
Vorsitz:
Gremium:
Vorsitz:
Gremium:
Ein Delegierter:
Vorsitz:
des Resolutionsentwurfs können Änderungsanträge eingereicht werden.]
[Land C erhebt sich und bleibt stehen.] Der ehrenwerte Delegierte aus
Land C möchte bitte seinen Antrag an die Geschäftsordnung vorbringen.
Ehrenwerter Vorsitz, ich beantrage den Abschluss der Rednerliste.
Dafür bedarf es einer einfachen Mehrheit, wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag zum Abschluss der Rednerliste.
[C darf sich setzen, Abstimmung.] Somit wird die Rednerliste nun geschlossen.
[Abarbeiten der Rednerliste, bis kein delegierter mehr auf der Liste
steht, der sich nicht schon vor der Abstimmung gemeldet hat.] Wir
kommen nun zum operativen Teil des Resolutionsentwurfs. Wir beginnen mit dem ersten operativen Absatz.
[Verlesen des ersten operativen Absatzes.] Es liegt und hierfür ein Änderungsantrag aus F vor, bitte treten Sie vor und erläutern Sie diesen.
[Am Rednerpult: grüßt Vorsitz und delegierte, erläutert und begründet
seinen Änderungsantrag. Danach ev. Fragen und Kurzbemerkungen
zum Änderungsantrag, F bleibt am Rednerpult bis Vorsitz ihn zum Platz
weist.]
Delegierter von F, ich danke Ihnen, Sie dürfen sich setzen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von F eingebrachten Änderungsantrag.
Hört, hört!
Wenn kein Einspruch erfolgt, wurde der Änderungsantrag einstimmig
angenommen. Der nächste Änderungsantrag...
[Ähnlicher Verlauf mit den anderen Änderungsanträgen zum ersten
operativen Absatz.]
Wir kommen nur zum operativen Absatz zwei, der da lautet: [Verlesen
des operativen Absatz, Bearbeiten der Anträge wie oben.]
Da es keine weiteren Wortmeldungen zu diesem Änderungsantrag gibt,
kommen wir nun zur Abstimmung.
Hört, hört!
Einspruch!
Da ein Einspruch vorliegt, werden wir eine mündliche Abstimmung
über diesen Änderungsantrag vornehmen, dazu braucht es eine einfache
Mehrheit.
[Mündliche Abstimmung.] Mit ... zu ... Stimmen wurde der Änderungsantrag abgelehnt.
[Selber Verlauf mit den anderen Änderungsanträgen und operativen
Absätzen, danach Abstimmung über jeden einzelnen operativen Absatz.
Anschließend Diskussion über den Resolutionsentwurf als Ganzes, also
nochmals wie bei der allgemeinen Debatte, danach Abstimmung über
den gesamten Resolutionsentwurf.]
Mit ... zu ... Stimmen wurde der Resolutionsentwurf angenommen, es
darf applaudiert werden. [...] Ich danke Ihnen für Ihre konstruktive Debatte und möchte Sie ehrenwerte Delegierte zu einer Gedenkminute einladen.
[Gedenkminute.]
Hiermit ist die Sitzung beendet.
Quellen:
Handbuch der Model United Nations in Baden Württemberg:
23
http://www.model-un.de/down/files/MUNBW_2004_Handbuch-AK_vers1.2.pdf
Charta der UNO:
http://www.uno.de/charta/charta.htm
Vorläufige Geschäftsordnung der UNO:
http://www.un.org/Depts/german/go/sr/fs_sr_go.html
Statut des Internationalen Gerichtshofs:
http://www.runiceurope.org/german/charta/statut.htm
24
2. Resolution 1441
Resolution 1441 (2002)
verabschiedet auf der 4644. Sitzung des Sicherheitsrats am 8. November 2002
Der Sicherheitsrat,
unter Hinweis auf alle seine früheren einschlägigen Resolutionen, insbesondere seine
Resolutionen 661 (1990) vom 6. August 1990, 678 (1990) vom 29. November 1990, 686
(1991) vom 2. März 1991, 687 (1991) vom 3. April 1991, 688 (1991) vom 5. April 1991,
707 (1991) vom 15. August 1991, 715 (1991) vom 11. Oktober 1991, 986 (1995) vom 14.
April 1995 und 1284 (1999) vom 17. Dezember 1999 sowie alle einschlägigen Erklärungen seines Präsidenten,
sowie unter Hinweis auf seine Resolutionen 1382 (2001) vom 29. November 2001 und
seine Absicht, diese vollständig durchzuführen,
in Erkenntnis de Bedrohung, die Iraks Nichtbefolgung der Resolutionen des Rates sowie
die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Langstreckenflugkörpern für den
Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellen,
daran erinnernd, dass die Mitgliedstaaten durch seine Resolution 678 (1990) ermächtigt
wurden, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um seiner Resolution 660 (1990) vom 2.
August 1990 und allen nach Resolution 660 (1990) verabschiedeten einschlägigen Resolutionen Geldung zu verschaffen und sie durchzuführen und den Weltfrieden und die
internationale Sicherheit in dem Gebiet weiderherzustellen,
ferner daran erinnernd, dass er als notwendigen Schritt zur Herbeiführung seines erklärten Ziels der Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in
dem Gebiet Irak mit seiner Resolution 687 (1991) Verpflichtungen auferlegte,
missbilligend, dass Irak die in Resolution 687 (1991) verlangte genaue, vollständige und
endgültige Offenlegung aller Aspekte seiner Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und von ballistischen Flugkörpern mit einer Reichweite von mehr als
150 Kilometern sowie aller seiner Bestände derartiger Waffen, ihrer Komponenten und
Produktionseinrichtungen und ihrer Standorte sowie aller sonstigen Nuklearprogramme,
einschließlich jener, bezüglich derer Irak geltend macht, dass sie nicht Zwecken im Zusammenhang mit kernwaffenfähigem Material dienen, nicht vorgenommen hat,
ferner missbilligend, dass Irak den sofortigen, bedingungslosen und uneingeschränkten
Zugang zu den von der Sonderkommission der Vereinten Nationen (UNSCOM) und der
Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) bezeichneten Stätten wiederholt behindert hat und dass Irak nicht, wie in Resolution 687 (1991) gefordert, voll und bedingungslos mit den Waffeninspektoren der UNSCOM und der IAEO kooperiert hat und
schließlich 1998 jede Zusammenarbeit mit der UNSCOM und der IAEO eingestellt hat,
missbilligend, dass die in den einschlägigen Resolutionen geforderte internationale Überwachung, Inspektion und Verifikation von Massenvernichtungswaffen und ballistischen Flugkörpern in Irak seit Dezember 1998 nicht mehr stattfindet, obwohl der Rat
wiederholt verlangt hat, dass der in Resolution 1284 (1999) als Nachfolgeorganisation
der UNSCOM eingerichteten Überwachungs-, Verifikations- und Inspektionskommission
der Vereinten Nationen (UNMOVIC) und der IAEO sofortigen, bedingungslosen und un-
25
eingeschränkten Zugang gewährt, sowie mit Bedauern über die dadurch verursachte
Verlängerung der Krise in der Region und des Leids der irakischen Bevölkerung,
sowie missbilligend, dass die Regierung Iraks ihren Verpflichtungen nach Resolution 687
(1991) betreffend den Terrorismus, nach Resolution 688 (1991) betreffend die Beendigung der Unterdrückung seiner Zivilbevölkerung und die Gewährung des Zugangs für die
internationalen humanitären Organisationen zu allen hilfsbedürftigen Personen in Irak
sowie nach den Resolutionen 686 (1991), 687 (1991) und 1284 (1999) betreffend die
Repatriierung von Staatsangehörigen Kuwaits und dritter Staaten, die von Irak widerrechtlich festgehalten werden, die Zusammenarbeit bei der Klärung ihres Verbleibs sowie
die Rückgabe aller von Irak widerrechtlich beschlagnahmten kuwaitischen Vermögenswerte nicht nachgekommen ist,
unter Hinweis darauf, dass der Rat in seiner Resolution 687 (1991) erklärte, dass eine
Waffenruhe davon abhängen werde, dass Irak die Bestimmungen der genannten Resolutione und namentlich die Irak darin auferlegten Verpflichtungen akzeptiert,
fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass Irak seine Verpflichtungen nach Resolution 687
(1991) und den sonstigen einschlägigen Resolutionen vollständig, sofort und ohne Bedingungen oder Einschränkungen einhält, und unter Hinweis darauf, dass die Resolutionen des Rates den Maßstab für die Einhaltung der Verpflichtungen Iraks bilden,
daran erinnernd, dass es für die Durchführung der Resolution 687 (1991) und der sonstigen einschlägigen Resolutionen unerlässlich ist, dass die UNMOVIC als Nachfolgeorganisation der Sonderkommission und die IAEO ihrer Tätigkeit wirksam nachgehen können,
feststellend, dass das Schreiben des Außenministers Iraks vom 16. September 2002 an
den Generalsekretär ein notwendiger erster Schritt dazu ist, Iraks anhaltende Nichtbefolgung der einschlägigen Ratsresolutionen zu korrigieren,
ferner Kenntnis nehmend von dem Schreiben des Exekutivvorsitzenden der UNMOVIC
und des Generaldirektors der IAEO vom 8. Oktober 2002 an General Al-Sadi, Mitglied der
Regierung Iraks, in dem im Anschluss an ihr Treffen in Wien die praktischen Regelungen
festgelegt werden, die eine Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Inspektionen in
Irak durch die UNMOVIC und die IAEO sind, und mit dem Audruck seiner größten Besorgnis darüber, dass die Regierung Iraks die in dem genannten Schreiben festgelegten
Regelungen nach wie vor nicht bestätigt hat,
in Bekräftigung des Bekenntnisses aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen
Unversehrtheit Iraks, Kuwaits und der Nachbarstaaten,
mit Lob für den Generalsekretär und für die Mitglieder der Liga der arabischen Staaten
und ihren Generalsekretär für ihre diesbezüglichen Bemühungen,
entschlossen, die vollständige Befolgung seiner Beschlüsse sicherzustellen,
tätig werdend nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen,
1. beschließt, dass Irak seine Verpflichtungen nach den einschlägigen Resolutionen,
namentlich der Resolution 687 (1991), erheblich verletzt hat und nach wie vor erheblich
verletzt, indem Irak insbesondere nicht mit den Inspektoren der Vereinten Nationen und
der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zusammenarbeitet und die nach
den Ziffern 8 bis 13 der Resolution 687 (1991) erforderlichen Maßnahmen nicht abschließt;
2. beschließt, wenn auch eingedenk der Ziffer 1, Irak mit dieser Resolution eine letzte
Chance einzuräumen, seinen Abrüstungsverpflichtungen nach den ainschlägigen Resolutionen des Rates nachzukommen; und beschließt demgemäß, ein verstärkte Inspektionsregime einzurichten, mit dem Ziel, den vollständigen und verifizierten Abschluss des mit
Resolution 687 (1991) und späteren Resolutionen des Rates eingerichteten Abrüstungsprozesses herbeizuführen;
3. beschließt, dass die Regierung Iraks, um mit der Erfüllung ihrer Abrüstungsverpflichtungen zu beginnen, zusätzlich zur Vorlage der zweimal jährlich erforderlichen Erklärun-
26
gen der Überwachungs-, Verifikatione- und Inspektionskommission der Vereinten Nationen (UNMOVIC), der IAEO und dem Rat spüätestens 30 Tage nach Verabschiedung
dieser Resolution eine auf dem neuesten Stand befindliche genaue, vollständige und
umfassende Erklärung aller Aspekte seiner Programme zur Entwicklung chemischer,
biologischer und nuklearer Waffen, ballistischer Flugkörper und anderer Trägersysteme,
wie unbemannter Luftfahrzeuge und für den Einsatz mit Luftfahrzeugen bestimmter Ausbringungssysteme, einschließlich aller Bestände sowie der exakten Standorte derartiger
Waffen, Komponenten, Subkomponenten, Bestände von Agenzien sowie dazugehörigen
Materials und entsprechender Ausrüstung, der Standorte und der Tätigkeit seiner Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen sowie aller sonstigen chemischen, biologischen und Nuklearprogramme, einschließlich jener, bezüglich derer sie
geltend macht, dass sie nicht Zwecken im Zusammenhang mit der Produktion von Waffen oder Material dienen, vorlegen wird;
4. beschließt, dass falsche Angaben oder Auslassungen in den von Irak nach dieser Resolution vorgelegten Erklärungen sowie jegliches Versäumnis Iraks, diese Resolution zu
befolgen und bei ihrer Durchführung uneingeschränkt zu kooperieren, eine weitere erhebliche Verletzung der Verpflichtungen Iraks darstellen und dem Rat gemeldet werdeen,
damit er nach Ziffern 11 und 12 eine Bewertung trifft;
5. beschließt, dass Irak der UNMOVIC und der IAEO sofortigen, ungehinderten, bedingungslosen und uneingeschränkten Zugang zu ausnahmslos allen, auch unterirdischen,
Bereichen, Einrichtungen, Gebäuden, Ausrüstungsgegenständen, Unterlagen und Transportmitteln gewährt, die diese zu inspizieren wünschen, sowie sofortigen, ungehinderten
und uneingeschränkten Zugang ohne Anwesenheit Dritter zu allen Amtsträgern und anderen Personen, welche die UNMOVIC oder die IAEO in der von ihre gewählten Art und
Weise oder an einem Ort ihrer Wahl auf Grund irgendeines Aspekts ihres jeweiligen
Mandats zu befragen wünschen; beschließt ferner, dass die UNMOVIC und die IAEO
nach ihrem Ermessen Befragungen innrehalb oder außerhalb Iraks durchführen können,
dass sie die Ausreise der Befragten und ihrer Angehörigen aus Irak erleichtern können
und dass diese Befragungen nach alleinigem Ermessen der UNMOVIC und der IAEO
ohne Beisein von Beobachtern der Regierung Iraks stattfinden können; und weist die
UNMOVIC an und ersucht die IAEO, die Inspektionen spätestens 45 Tage nach Verabschiedung dieser Reolution wiederaufzunehmen und den Rat 60 Tage danach über den
neuesten Sachstand zu unterrichten;
6. macht sich das Schreiben des Exekutivvorsitzenden der UNMOVIC und des Generaldirektors der IAEO vom 8. Oktober 2002 an General Al-Saadi, Mitglied der Regeirung Iraks,
zu eigen, das dieser Resolution als Anlage beigefügt ist, und beschließt, dass der Inhalt
dieses Schreibens für Irak bindend ist;
7. beschließt ferner, in Anbetracht der von Irak lange unterbrochenen Anwesenheit der
UNMOVIC und der IAEO und zu dem Zweck, dass sie die in dieser und in allen früheren
einschlägigen Resolutionen festgelegten Aufgabne wahrnehmen können, sowie ungeachtet früherer Vereinbarungen die nachstehenden abgeänderten beziehungsweise zusätzlichen Regelungen festzulegen, die für Irak bindend sind, um ihre Arbeit in Irak zu
erleichtern:
•
•
•
die UNMOVIC und die IAEO bestimmen die Zusammensetzung ihrer Inspektionsteams und stellen sicher, dass diese Teams aus den qualifiziertesten
und erfahrensten verfügbaren Sachverständigen bestehen;
das gesamte Personal der UNMOVIC und der IAEO genießt die in dem Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen
und der Vereinbarung über die Vorrechte und Befreiungen der IAEO für
Sachverständige im Auftrag der Vereinten Nationen vorgesehenen Vorrechte und Immunitäten;
die UNMOVIC und die IAEO haben das uneingeschränkte Ein- und Ausreiserecht in und aus Irak, das Recht auf freie, uneingeschränkte und sofortige
Bewegung zu und von den Inspektionsstätten sowie das Recht, alle Stätten
und Gebäude zu inspizieren, einschließlich des sofortigen, ungehinderten,
bedingungslosen und uneingeschränkten Zugangs zu den Präsidentenanlagen unter den gleichen Bedingungen wie zu den anderen Stätten, ungeachtet der Bestimmungen der Resolution 1154 (1998);
27
•
•
•
•
•
•
die UNMOVIC und die IAEO haben das Recht, von Irak die Namen aller Mitarbeiter zu erhalten, die mit den chemischen, biologischen, nuklearen und
ballistische Flugkörper betreffenden Programmen Iraks sowie mit den entsprechenden Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionseinrichtungen in
Verbindung stehen oder uin Verbindung standen;
die Sicherheit der Einrichtungen der UNMOVIC und der IAEO wird durch eine ausreichende Zahl von Sicherheitskräften der Vereinten Nationen gewährleistet;
die UNMOVIC und die IAEO haben das Recht, zum Zweck der Blockierung
einer zu inspizierenden Stätte Ausschlusszonen zu erklären, die auch umliegende Gebiete und Verkehrskorridore umfassen, in denen Irak alle Bewegungen am Boden und in der Luft einstellt, sodass an der zu inspizierenden
Stätte nichts verändert und nicht davon entfernt wird;
die UNMOVIC und die IAEO können Starr- und Drehflügelluftfahrzeuge, einschließlich bemannter und unbemannter Aufklärungsflugzeuge, frei und uneingeschränkt einsetzen und landen;
die UNMOVIC und die IAEO haben das Recht, nach ihrem alleinigen Ermessen alle verbotenen Waffen, Subsysteme, Komponenten, Unterlagen,
Materialien und andere damit zusammenhängende Gegenstände verifizierbar zu entfernen, zu vernichten oder unschädlich zu machen sowie das
Recht, alle Einrichtungen oder Ausrüstungen für deren Produktion zu beschlagnahme oder zu schließen; und
die UNMOVIC und die IAEO haben das Recht, Ausrüstung oder Material für
Inspektionen frei einzuführen und zu verwenden und jede Ausrüstung, jedes
Material und alle Dokumente, die sie bei Inspektionen sichergestellt haben,
zu beschlagnahmen und auszuführen, ohne dass Mitarbeiter der UNMOVIC
oder der IAEO oder ihr dienstliches oder persönliches Gepäck durchsucht
werden;
8. beschließt ferner, dass Irak keine feindseligen Handlungen gegen Vertreter oder Personal der Vereinten Nationen oder der IAEO oder irgendeines Mitgliedstaats, der tätig
wird, um einer Resolution des Rates Geldung zu verschaffen, durchführen oder androhen
wird;
9. ersucht den Generalsekretär, Irak diese Resolution, die für Irak bindend ist, unverzüglich zur Kenntnis zu bringen; verlangt, dass Irak binnen sieben Tagen nach dieser Unterrichtung seine Absicht bestätigt, diese Resolution vollinhaltlich zu befolgen, und verlangt
ferner, dass Irak sofort, bedingungslos und aktiv mit der UNMOVIC und der IAEO kooperiert;
10. ersucht alle Mitgliedstaaten, die UNMOVIC und die IAEO bei der Erfüllung ihres jeweiligen Mandats rückhaltlos zu unterstützen, so auch indem sie alle Informationen über
verbotene Programme oder andere Aspekte ihres Mandats vorlegen, namentlich über die
von Irak seit 1998 unternommenen Versuche, verbotene Gegenstände zu erwerben, und
indem sie WEmpfehlungen zu den zu inspizierenden Stätten, den zu befragenden Personen, den Umständen solcher Befragungen und den zu sammelnden Daten abgeben,
wobei die UNMOVIC und die IAEO dem Rat über die dabei erzielten Ergebnisse Bericht
erstatten werden;
11. weist denn Exekutivvorsitzenden der UNMOVIC und den Generaldirektor der IAEO
an, dem Rat über jede Einmischung Iraks in die Inspektionstätigkeiten und über jedes
Versäumnis Iraks, seinen Abrüstungsverplflichtungen, einschließlich seiner Verpflichtungen betreffend Inspektionen, nach dieser Resolution nachzukommen, sofort Bericht zu
erstatten;
12. beschließt, sofort nach Eingang eines Berichts nach den Ziffern 4 oder 11 zusammenzutreten, um über die Situation und die Notwendigkeit der vollinhaltliche Befolgung
aller einschlägigen Ratsresolutionen zu beraten, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu sichern;
13. erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der Rat Irak wiederholt vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt hat, wenn Irak weiter gegen seine Verpflichtungen verstößt;
28
14. beschließt, mit der Angelegenheit befasst zu bleiben.
Quelle:
AG Friedensforschung an der Uni Kassel, UN-Sicherheitsrat: Resolution 1441 (2002) vom 8. November 2002, Letzte Chance für den Irak – Die Resolution in vollem Wortlaut, online unter:
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/un-sr-res-1441.html
29
3. Resolutionsentwurf der USA
Der Sicherheitsrat,
unter Hinweis auf alle seine früheren einschlägigen Resolutionen, insbesondere seine Resolutionen
661 (1990) vom 6. August 1990, 678 (1990) vom 29. November 1990, 686 (1991) vom 2. März 1991,
687 (1991) vom 3. April 1991, 688 (1991) vom 5. April 1991, 707 (1991) vom 15. August 1991, 715
(1991) vom 11. Oktober 1991, 986 (1995) vom 14. April 1995 und 1284 (1999) vom 17. Dezember
1999 und seine Resolution 1382 (2001) vom 29. November 2001, sowie alle einschlägigen Erklärungen seines Präsidenten,
unter Hinweis darauf, dass er in seiner Resolution 1441 (2002) beschloss, dass Irak seine Verpflichtungen erheblich verletzt hat und nach wie vor erheblich verletzt,
dass er Irak aber gleichzeitig eine letzte Chance einräumte, seinen Abrüstungsverpflichtungen nach
den einschlägigen Resolutionen nachzukommen,
unter Hinweis darauf, dass der Rat in seiner Resolution 1441 (2002) beschloss, dass falsche Angaben
oder Auslassungen in der von Irak gemäß der Resolution vorgelegten Erklärung sowie jegliches Versäumnis Iraks, die Resolution zu befolgen und bei ihrer Durchführung uneingeschränkt zu kooperieren, eine weitere erhebliche Verletzung darstellen,
in diesem Zusammenhang feststellend, dass der Rat in seiner Resolution 1441 (2002) daran erinnerte, dass er Irak wiederholt vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt hat, wenn Irak weiter gegen seine
Verpflichtungen verstößt,
feststellend, dass Irak eine Erklärung nach Resolution 1441 (2002) vorgelegt hat, die falsche Angaben
und Auslassungen enthält, und dass Irak die genannte Resolution weder befolgt noch bei ihrer Durchführung uneingeschränkt kooperiert hat,
in Erkenntnis der Bedrohung, die Iraks Nichtbefolgung der Resolutionen des Rates sowie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Langstreckenflugkörpern für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellen,
entschlossen, die vollständige Befolgung seiner Beschlüsse sicherzustellen und den Weltfrieden und
die internationale Sicherheit in dem Gebiet wiederherzustellen,
tätig werdend nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen,
1. bekräftigt die Notwendigkeit der vollen Durchführung der Resolution 1441 (2002);
2. fordert Irak auf, sofort die im Interesse seiner Bevölkerung und der Region notwendigen Maßnahmen zu ergreifen;
3. beschließt, dass Irak es verabsäumt haben wird, die ihm mit Resolution 1441 (2002) eingeräumte letzte Chance zu nutzen, sofern der Rat nicht am oder vor dem 17. März 2003 zu dem
Schluss kommt, dass Irak volle, bedingungslose, sofortige und aktive Zusammenarbeit gemäß
seinen Abrüstungsverpflichtungen nach Resolution 1441 (2002) und den früheren einschlägigen Resolutionen bewiesen hat und alle durch Resolution 687 (1991) und alle späteren einschlägigen Resolutionen verbotenen Waffen und Waffeneinsatz- und -unterstützungssysteme
und -strukturen sowie alle Informationen über frühere Zerstörungen solcher Gegenstände in
seinem Besitz an die UNMOVIC und die IAEO übergibt;
4. beschließt, mit der Angelegenheit befasst zu bleiben.
Quelle: AG Friedensforschung an der Uni Kassel;
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/res-usa-gb-spanien.html
30
Länderberichte
31
A. Vetomächte
32
USA
I.
Geographische Karte
Quelle: Bille, Paul: Maps of Denver, Colorado and other sites,
http://bille.cudenver.edu/maps/main.html
33
II.
Basisdaten
Quelle: Auswärtiges Amt
Stand: April 2004
Ländername
United States of America/Vereinigte Staaten von Amerika
(50 Bundesstaaten und Bundesbezirk Columbia mit Hauptstadt
Washington)
Klima
überwiegend warm- und kühlgemäßigte Zone
Lage
Nordamerikanischer Kontinent zwischen 30. und 49. Breitengrad; weitere Gebiete: Überseegebiete (mit unterschiedlichem
Rechtsstatus): Puerto Rico, Virgin Islands, Guam, American Samoa
Größe des Landes
9.809.155 qkm (ca. 25-fache Größe Deutschlands)
Hauptstadt
Washington, D.C., Stadt: ca. 572.000 Einwohner (Stand April
2000), Großraum: 4,69 Mio. Einwohner
Bevölkerung
292.078.602 Einwohner (Bureau of Census, 15.09.2003),
davon: ca. 34,7 Mio. Afro-Amerikaner, ca. 35,7 Mio. Amerikaner lateinamerikanischer Herkunft, ca. 10,2 Mio. Amerikaner
asiatischer Herkunft, ca. 2,5 Mio. Amerikaner indianischer Herkunft
Ca. 29 Einwohner pro qkm, 80% der Bevölkerung lebt in städtischen Ballungsgebieten
Landessprache
Englisch
Religionen
62% der Bevölkerung gehören 238 Religionsgemeinschaften an,
davon 27,5% protestantischen Gemeinschaften (Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Presbyterianer), 26% der römischkatholischen Kirche, 2,6% Juden
Nationaltag
4. Juli - Independence Day (Unabhängigkeitstag)
Unabhängigkeit
4. Juli 1776
Staatsform/Regierungsform
Präsidiale Republik mit balancierter Gewaltenteilung
Staatsoberhaupt
George Walker Bush, 43. Präsident der Vereinigten Staaten von
Amerika, Amtsantritt: 20.01.2001
Vertreter
Richard Bruce Cheney, Vizepräsident der Vereinigten Staaten
34
von Amerika
Regierungschef
George Walker Bush (Republikaner)
Außenminister
Colin L. Powell, Secretary of State of the United States of America, Amtsantritt: 22.01.2001
Parlament
Kongress mit zwei Kammern:
- Senat (100 Sitze)
- Repräsentantenhaus (435 Sitze)
Präsident des Senats:
Richard Bruce Cheney (Republikaner), Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Präsident ("Speaker") des
Repräsentantenhauses:
J. Dennis Hastert (Republikaner), Nr.3 in der staatlichen Hierarchie
Parteien
Republikaner, Mehrheit im Repräsentantenhaus und seit Januar
2003 auch im Senat
Demokraten
Gewerkschaften
AFL-CIO (Zusammenschluss von 66 Einzelgewerkschaften),
National Education Association
Verwaltungsstruktur
Bundesstaat mit Bundes (Federal)-, Landes (State)-, Kreis
(County)- und Gemeindeverwaltung
Mitgliedschaft in internati- Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, NATO, Organisationalen Organisationen
on der Amerikanischen Staaten OAS, OECD und zahlreicher
anderer internationaler Organisationen (58)
Wichtigste Medien
3 etablierte nationale Fernsehketten (ABC, CBS, NBC), 2 expandierende nationale Fernsehketten (Fox, WB), drei etablierte
24-Stunden-Nachrichtensender (CNN, CNN-Headline News,
FoxNews),
überregionale Tageszeitungen (USA Today, Wall Street Journal,
New York Times, Washington Post, Los Angeles Times, Chicago Tribune, Boston Globe), politische Wochenmagazine (Time,
Newsweek, US News and World Report u.a.)
Bruttoinlandsprodukt
10.397,2 Mrd. USD (Stand: 4. Quartal 2003, geschätzt)
Pro Kopf-BIP
30.271 USD (Stand: 4. Quartal 2003, geschätzt)
35
III.
Theorien zur US-Außenpolitik
a) Zwischen Unilateralismus und Multilateralismus
Zur Zeit des Kalten Krieges war Washington eines der beiden Machtzentren der
bipolaren Welt. Die USA waren auf Verbündete angewiesen, um ihre Politik
durchzusetzen. Dieses Bündnissystem erstreckte sich über die ganze Welt, von
Westeuropa bis nach Ostasien. Obwohl die Vereinigten Staaten auch zur Zeit des
Kalten Krieges die Leitlinien westlicher Außenpolitik bestimmten, konsultierten
sie dennoch ihre Verbündeten, um das westliche Bündnis gegen den Kommunismus nicht zu gefährden und weil sie sich dadurch eine höhere Akzeptanz der Entscheidungen versprachen. Die Vereinten Nationen stellten vor allem eine wichtige
Kommunikationsplattform zwischen den Blöcken dar, bei der auch in Krisenzeiten noch die Möglichkeit zur Kommunikation bestand.
Mit dem Untergang des Ostblocks und dem Niedergang der Sowjetunion bestand
diese unmittelbare Notwendigkeit zur mutilateralen Vorgehensweise nicht mehr.
Die USA sind als einzige Supermacht übrig geblieben und mit ihrer militärischen,
ökonomischen und politischen Stärke dominieren sie die Weltpolitik. Die Unipolarität des neuen internationalen Systems führte zu einem enormen Machtzuwachs
Washingtons. Unipolarität bedeutet jedoch nicht automatisch unilaterales Handeln
des Hegemons. So sind die Vereinigten Staaten durchaus in der Lage und gewillt,
multilaterale Lösungen in den internationalen Beziehungen zu akzeptieren und zu
unterstützen. Beispielsweise versuchte die Clinton-Administration in den 1990er
Jahren, den israelisch-arabischen Konflikt multilateral zu lösen. Auf der anderen
Seite blockieren die USA internationale Entscheidungen und Abkommen wie das
Kioto-Protokoll unilateral. Die USA sind bei der strategischen Entscheidung, unioder multilateral vorzugehen, nicht ideologisch vorbestimmt, sondern handeln
zweckrational. Ist es für die Erreichung eines bestimmten Politikziels zweckrational, multilaterale Lösungen vorzuziehen, werden sie dies voraussichtlich tun. Engen multilaterale Entscheidungen die Handlungsfreiheit der USA jedoch ein, so
werden sie sich wenn nötig unilateral darüber hinweg setzen. Jochen Hippler differenziert uni- und multilaterales Handeln jedoch noch einmal hinsichtlich der
Intensität. So unterscheidet Hippler zwischen „kooperativen Multilateralismus“,
„selektivem Multilateralismus“, „imperialen Multilateralismus“, „regionalen Uni36
lateralismus“, „reinem Unilateralismus“ und „offensiven Multilateralismus“.
Beim „kooperativen Multilateralismus“ versuchen die Akteure eine Lösung von
gemeinsamen Problemen (ggf. globalen Problemen) zu finden. Dabei sind die
Verhandlungspartner prinzipiell gleich, das heißt, Verhandlungen finden „auf
gleicher Augenhöhe“ statt. Der „selektive Multilateralismus“ ist ein punktueller
„kooperativer Multilateralismus“, welcher beispielsweise bei einzelnen Politikfeldern angewandt wird, wenn dies den unilateral definierten Eigeninteressen mehr
nutzt als unilaterale Praktiken. Beim „imperialen Multilateralismus“ wird das
multilaterale Vorgehen zur Legitimation unilateraler Ziele aufrechterhalten. Die
multilateralen Mechanismen werden zu Dominanzzwecken eingesetzt und maskieren somit unilaterale Machtverhältnisse. Beim „regionalen Unilateralismus“
handelt der dominante Akteur nur regional unilateral, während er in anderen Regionen eher multilateral agiert. Beim „reinen Unilateralismus“ ignoriert der dominante Akteur multilaterale Mechanismen, will sie jedoch nicht bewusst zerstören,
während der dominante Akteur beim „offensiven Unilateralismus“ multilaterale
Mechanismen bewusst untergräbt und zerstört, weil er sie als störend empfindet.
Der Vorwurf an die USA, unilateral zu handeln, greift also zu kurz. Vielmehr entscheiden die USA von Fall zu Fall, in welchem Maße es für die Erreichung eines
Politikzieles sinnvoll ist, multi- oder unilateral zu handeln. Die Bereitschaft, unilateral zu handeln, hat jedoch seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001
tendenziell zugenommen. Ein Zäsur in der internationalen Politik („nichts wird
mehr so sein, wie es war“), welche kurz nach den emotionalisierenden Bildern der
einstürzenden Twin Towers vermutet wurde, stellten sie jedoch nicht dar, denn die
unipolare Weltordnung und die Bereitschaft der USA, ihre Interessen unilateral
durchzusetzen, bestand bereits vor den Anschlägen.
b) Neorealismus und Neokonservatismus
Um aktuelle Ereignisse der internationalen Politik zu erklären, erlebt der Neorealismus als Erklärungsansatz seit einigen Jahren eine Renaissance. Realisten wie
Neorealisten gehen davon aus, dass die Träger des internationalen Systems die
Staaten sind. Die Macht, Politik zu betreiben liegt also in der Hand der Staaten.
Die Staaten versuchen, nationale Interessen durchzusetzen, um dadurch ihre
Macht zu erweitern. Politik wird also vor allem als Machtpolitik (politics) verstanden. Eine echte, geordnete Weltordnung existiert nicht. Es herrscht Anarchie
37
(vgl. hierzu Robert Kagan: Macht und Ohnmacht). In der Terminologie von Thomas Hobbes könnte man auch sagen, dass auf internationaler Ebene ein Krieg
aller gegen alle ausgefochten wird. Dieser Krieg muss nicht immer der klassische
Krieg sein, sondern kann auch als Metapher für die Möglichkeiten in den internationalen Beziehungen insgesamt, also Diplomatie, Verträge, Abkommen, verstanden werden. Letztlich versucht jeder Akteur des internationalen Systems, also vor
allem die Nationalstaaten, das Beste für sich herauszuholen. Versteht man internationale Politik in diesem Sinne, also als Durchsetzung von Macht und Interessen,
so ist Kriegsführung nichts anderes als die Durchsetzung von Macht und Interessen mit militärischen Mitteln. Krieg zu führen ist demnach ein Mittel der Nationalstaaten (unter vielen), ihre Interessen durchzusetzen und ihre Macht zu erweitern. Aus dieser grundsätzlichen Einschätzung des internationalen Systems resultiert für Neorealisten das Primat der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Neorealisten wie Henry Kissinger betonen dabei jedoch die Notwendigkeit von Bündnissen. Haben Staaten gemeinsame Interessen, sollten sie zusammenarbeiten und
sich auf einander abstimmen, um so ihre Macht zu vergrößern und so ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Bündnisse erfüllen bei diesem Verständnis also
keinen Selbstzweck, sondern sind zweckrationale Zusammenschlüsse zur Erreichung gemeinsamer Ziele. Verteidigungsbündnisse wie die Nato erhöhen zudem
die nationale Sicherheit.
Mit dem Wahlsieg George W. Bushs im Jahre 2000 wurde auch das neokonservative Lager (die so genannten „Falken“) in den USA stärker. Wichtige Schlüsselmänner der Bush-Administration werden diesem Flügel zugeordnet, wie z.B. Vizepräsident Cheney oder Verteidigungsminister Rumsfeld und sein Stellvertreter
Wolfowitz. Die Neokonservativen (auch „Neocons“ genannt“) teilen grundsätzlich diese Einschätzung der Neorealisten. Aufgrund dieses machtpolitischen Verständnisses von internationaler Politik sind neokonservative Politiker grundsätzlich skeptisch gegenüber multilateralen Lösungen und bevorzugen eher unilateralere Lösungen, wenn es um die eigene, nationale Sicherheit geht. Neokonservative
gehen jedoch einen Schritt weiter als Neorealisten. Denn Neokonservative sind
nicht nur Realisten, sondern auch Idealisten. So glauben amerikanische Neokonservative, dass das amerikanische System, also die amerikanische Demokratie, das
amerikanische, neoliberale Wirtschaftssystem und die amerikanische Kultur (der
american way of life), das Beste der Welt sei und den Wohlstand der Nationen
erhöhen würde, würde es nur überall angewandt. Daraus ziehen die Neokonserva38
tiven ihren „missionarischen Eifer“, das „amerikanische Erfolgsmodell“ in die
ganze Welt zu exportieren. Bei diesem „Kulturimperialismus“ betrachten sich die
Neokonservativen nicht als Aggressoren, sondern als Befreier.
IV.
US-Außenpolitik nach dem 11. September
a) Unmittelbare Auswirkungen der Anschläge des 11.9.2001 auf
die US-Außenpolitik
Mit den Anschlägen des 11.9.2001 erlangte die Bekämpfung des transnational
agierenden Terrorismus oberste Priorität für die US-Politik. Bis zu den Anschlägen ging es der im Herbst gewählten und nach einigen Querelen um den Wahlausgang im Staat Florida erst Anfang 2001 offiziell im Amt befindenden BushAdministration um innenpolitische Themen. Außenpolitisch wollte sich Bush weniger engagieren, als sein Vorgänger Clinton. Klassische innenpolitische Themen
wie Bildungspolitik oder Steuerreform wurden am 11.9.2001 durch die Anschläge
auf das WTC schlagartig in den Hintergrund gedrängt. Die Sicherheitspolitik
wurde wieder Primat der politischen Agenda.
b) Die neue Nationale Sicherheitsstrategie
Die Nationale Sicherheitsstrategie wurde am 17.9.2002 von George W. Bush unterzeichnet. Sie enthält einige wichtige Grundelemente:
1. Eine neue Form des sicherheitspolitischen Realismus, bei dem nun die neuen
Formen der Gefährdung der amerikanischen und internationalen Sicherheit im
Mittelpunkt stehen, während traditionelle Großmachtkonflikte wie zu Zeiten
des Kalten Krieges zunehmend an Bedeutung verlieren. Die neuen Gefahren
für die amerikanische wie internationale Sicherheit sind für die amerikanische
Administration zum einen der Terrorismus und zum anderen die Proliferation
von Massenvernichtungswaffen.
2. Ein klassischer ökonomischer Liberalismus bei dem die Ausbreitung von
Freihandel und Marktwirtschaft dazu führt, Wohlstand und Frieden herzustellen.
39
3. Ein klassischer republikanischer Liberalismus im Sinne von Kant, bei dem die
Garantie von Menschenrechten sowie die Ausführung von Demokratie als Basis von Frieden und Gerechtigkeit verstanden werden.
4. Ein neuer Institutionalismus, geprägt durch eine Entschlossenheit, das bestehende internationale System der Kooperation den gegenwärtigen Gegebenheiten anzupassen und dabei auch tief greifende Reformen vorzunehmen.
Ein besonders wichtiger Punkt der Nationalen Sicherheitsstrategie ist die Bekämpfung von so genannten Schurkenstaaten. Als Schurkenstaaten werden Staaten bezeichnet, die laut der US-Administration folgende Merkmale aufweisen:
1. Unterdrückung der eigenen Bevölkerung
2. Streben nach Massenvernichtungswaffen
3. Verletzung internationalen Rechts
4. Unterstützung für den globalen Terrorismus
5. Hass auf die USA
Das Problem hierbei ist, dass die klassischen Instrumentarien der Eindämmung
und Abschreckung gegenüber diesen Staaten, laut US-Administration nicht mehr
effektiv sind. Dieses Problem bedurfte eines neuen Konzepts der Sicherheit, der
Präventivkriegsdoktrin.
Man muss diesen Staaten zuvorkommen, um somit jegliche Gefahr schon im Vorfeld auszuräumen. Genau dieses Zuvorkommen nennt man auch “preemptive strikes“. Diese Präventivschläge dienen dazu, Staaten, die eventuell Massenvernichtungswaffen an Terroristen weitergeben, zu entwaffnen. Des Weiteren geht es
darum, mutmaßliche Terroristen zu töten und deren Organisationsstrukturen zu
zerschlagen.
V.
Die USA und der Irak
Das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem Irak verschlechterte
sich bereits in den 1970er Jahren, als das sozialistische Baath-Regime im Irak
40
Wirtschaft und Ressourcen des Landes nationalisierte. Als jedoch während der
islamischen Revolution 1979 im Nachbarland der Schah von Persien gestürzt und
die islamische Republik Iran von Ajatollah Khomeini gegründet wurde, betrachtete Washington Teheran als bedrohlicher als Bagdad. Im kurz darauf folgenden
ersten Golfkrieg, welcher von 1980 bis 1988 dauerte, unterstützte Washington den
Irak mit Waffenlieferungen (auch chemische Kampfstoffe). Nach dem für den
Irak ruinösen ersten Golfkrieg setzte Saddam Hussein zur Niederschlagung eines
Kurdenaufstandes (die Kurden kämpften im ersten Golfkrieg an der Seite Irans)
im Nordirak jene chemischen Kampfstoffe ein, welcher er zuvor von den USA
erhalten hatte. Tausende Menschen starben bei diesem Angriff.
Vor dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait erklärte die US-Botschafterin
April Glaspie der irakischen Führung, dass die USA „keine Meinung zu arabischarabischen Konflikten wie ihren Grenzstreitigkeiten“ hätten (vgl. Guilliard, Joachim: Vorgeschichte eines angekündigten Krieges). Bereits vier Tage nach dem
Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait jedoch verhängte der UN-Sicherheitsrat
auf Vorschlag der USA ein umfangreiches Wirtschaftsembargo gegen den Irak.
Das Ziel des Embargos war zunächst, Kuwait zu befreien. Nach der Befreiung
Kuwaits wurde das Ziel jedoch auf eine umfangreiche Abrüstung des Iraks ausgedehnt. Um die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden vor Attacken aus
Bagdad zu schützen wurden jeweils nördliche und südliche Flugsverbotszonen
eingerichtet.
In den 1990er Jahren nahmen die USA eine unnachgiebig harte Haltung gegenüber dem Irak ein. Während sich andere westliche Nationen wie zum Beispiel
Frankreich bereits umfangreiche Verträge mit dem Irak, im Bereich der Ölförderungen und Erschließung neuer Ölfelder für die Zeit nach dem Embargo sicherten,
setzten sich die USA für eine unnachgiebige Fortführung des Wirtschaftsembargos ein.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September lässt sich allgemein eine härtere
Gangart der USA gegen so genannte „Schurkenstaaten“ feststellen. Die kurz nach
den Terroranschlägen breite internationale „Allianz gegen den Terror“ ermöglichte den Vereinigten Staaten einen schnellen Krieg gegen Afghanistan. Angeblich
soll bereits kurz nach dem 11. September ein Krieg gegen Saddam Hussein und
ein Sturz des Saddam-Regime im Weißen Haus beschlossene Sache gewesen sein
(siehe Hippler, Joachim: Der Weg in den Krieg –Washingtons Außenpolitik und
der Irak). Vor einem komplett unilateralen Vorgehen schreckte die Bush41
Administration jedoch zurück. So sollte die Resolution 1441 vom 8. November
2002 dem Irak Bedingungen diktieren, welche er nicht erfüllen kann, um so einen
Krieg international zu legitimieren (siehe Hippler: Der Weg in den Krieg).
VI.
Das letzte Ultimatum
Fernsehansprache des US-Präsidenten George W. Bush
vom 17. März 2003
Liebe Mitbürger,
die Ereignisse im Irak nähern sich der Stunde der Entscheidung. Seit über zehn Jahren haben sich die
Vereinigten Staaten und andere Nationen geduldig und redlich bemüht, das irakische Regime ohne
Krieg zu entwaffnen. Das Regime verpflichtete sich 1991, die Bedingung zur Beendigung des Golfkriegs zu akzeptieren und alle seine Massenvernichtungswaffen offen zu legen und zu zerstören.
Seit dieser Zeit hat sich die Welt 12 Jahre lang in Diplomatie geübt. Im UN-Sicherheitsrat wurden
mehr als ein Dutzend Resolutionen verabschiedet. Wir haben hunderte von Waffeninspekteuren geschickt, um die Abrüstung des Irak zu überwachen. Unser guter Glaube wurde nicht erwidert.
Für das irakische Regime war Diplomatie eine Masche, um Zeit und Vorteil zu gewinnen. Es hat alle
Sicherheitsratsresolutionen, die vollständige Abrüstung forderten, gleichermaßen missachtet. Im Lauf
der Jahre wurden UN-Waffeninspekteure von irakischen Regierungsvertretern bedroht, abgehört und
systematisch hinters Licht geführt. Friedliche Bemühungen, das irakische Regime zu entwaffnen, sind
immer wieder gescheitert - weil wir es nicht mit friedfertigen Menschen zu tun haben.
Nachrichtendienstliche Erkenntnisse dieser und anderer Regierungen lassen keinen Zweifel daran,
dass das irakische Regime weiterhin einige der tödlichsten Waffen, die je ersonnen wurden, besitzt
und versteckt. Dieses Regime hat bereits Massenvernichtungswaffen gegen Nachbarländer des Irak
und gegen das irakische Volk eingesetzt.
Das Regime hat im Nahen Osten in der Vergangenheit immer wieder rücksichtslose Aggression an
den Tag gelegt. Es hegt tief empfundenen Hass gegen Amerika und unsere Freunde. Es hat Terroristen unterstützt, ausgebildet und ihnen Unterschlupf gewährt, darunter auch aktive Mitglieder von Al
Qaida.
Die Gefahr ist eindeutig: Durch den Einsatz chemischer, biologischer oder eines Tages auch nuklearer
Waffen, in deren Besitz sie mithilfe des Irak gelangten, könnten Terroristen ihre erklärten Ziele erreichen und tausende oder hundertausende unschuldiger Menschen in unserem oder jedem anderen
Land töten.
Die Vereinigten Staaten und andere Nationen haben nichts getan, was diese Bedrohung rechtfertigen
würde oder ihr Vorschub geleistet hätte. Aber wir werden alles tun, um sie abzuwehren. Anstatt in eine
Tragödie hineinzuschlittern, machen wir Sicherheit zu unserem erklärten Ziel. Bevor der Tag des
Schreckens kommen kann, bevor es zum Handeln zu spät ist, wird diese Gefahr beseitigt werden.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben die souveräne Autorität, zur Sicherung ihrer eigenen nationalen Sicherheit Gewalt einzusetzen. Auf Grund des von mir geleisteten Schwurs - ein Schwur, den
ich halten werde - stehe ich als Oberbefehlshaber in dieser Pflicht.
In Anbetracht der Bedrohung für unser Land hat der amerikanische Kongress im vergangenen Jahr
überwältigend für die Unterstützung eines Einsatzes von Gewalt gegen den Irak gestimmt. Die Vereinigten Staaten haben versucht, gemeinsam mit den Vereinten Nationen gegen diese Bedrohung vorzugehen, da wir eine friedliche Lösung dieser Angelegenheit wollten. Wir glauben an die Mission der
Vereinten Nationen. Ein Grund, warum die Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufen wurden, war das aktive und frühzeitige Vorgehen gegen Diktatoren, bevor sie Unschuldige angreifen und den Frieden zerstören können.
Im Fall Irak handelte der Sicherheitsrat in den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Im
42
Rahmen von Resolution 678 und 687 - beide gelten noch - wurden die Vereinigten Staaten und ihre
Bündnispartner zum Einsatz von Gewalt ermächtigt, damit dem Irak seine Massenvernichtungswaffen
genommen werden können. Dies ist nicht eine Frage der Ermächtigung, es ist eine Frage des Willens.
Im vergangenen September trat ich vor die UN-Generalversammlung und drängte die Nationen der
Welt, zusammenzustehen und dieser Gefahr ein Ende zu bereiten. Am 8. November verabschiedete
der Sicherheitsrat einstimmig Resolution 1441, in der festgehalten wurde, dass der Irak seine Verpflichtungen erheblich verletzt, und in der dem Irak ernsthafte Konsequenzen angedroht wurden, sollte
er nicht umfassend und umgehend abrüsten.
Heute kann keine Nation wirklich behaupten, der Irak hätte abgerüstet. Solange Saddam Hussein an
der Macht ist, wird er auch nicht abrüsten. Die vergangenen viereinhalb Monate haben die Vereinigten
Staaten und ihre Bündnispartner im Rahmen des Sicherheitsrats darauf hingearbeitet, die seit langem
bestehenden Forderungen des Sicherheitsrats durchzusetzen. Einige ständige Mitglieder des Sicherheitsrats haben dennoch öffentlich angekündigt, gegen jede Resolution zur zwangsweisen Entwaffnung des Irak ihr Veto einzulegen. Diese Regierungen beurteilen die Gefahr genau wie wir, teilen aber
nicht unsere Entschlossenheit, sie zu beseitigen. Viele Nationen haben jedoch die Entschlossenheit
und Kraft, gegen diese Bedrohung des Friedens vorzugehen, und eine umfassende Koalition schließt
sich jetzt zusammen, die gerechten Forderungen der Welt durchzusetzen. Der UN-Sicherheitsrat ist
seinen Verpflichtungen nicht gerecht geworden, so werden wir denn den unseren gerecht werden.
In der jüngsten Vergangenheit haben einige Regierungen im Nahen Osten ihren Teil beigetragen. Sie
haben öffentlich und privat verlauten lassen, der Diktator solle den Irak verlassen, damit die Entwaffnung friedlich vonstatten gehen kann. Bis jetzt hat er das abgelehnt. Die Jahrzehnte der Täuschung
und Grausamkeit gehen jetzt zu Ende. Saddam Hussein und seine Söhne müssen den Irak innerhalb
von 48 Stunden verlassen. Sollten sie sich weigern, wird dies einen militärischen Konflikt nach sich
ziehen, dessen Beginn wir bestimmen werden. Zu ihrer eigenen Sicherheit sollten alle Ausländer unter anderem Journalisten und Inspekteure - den Irak unverzüglich verlassen.
Viele Iraker können mich heute Abend in einer übersetzten Radioübertragung hören, und ich habe
ihnen etwas zu sagen. Sollten wir einen militärischen Feldzug beginnen müssen, richtet sich dieser
gegen die gesetzlosen Männer, die Ihr Land regieren, und nicht gegen Sie. Während unsere Koalition
diese Männer entmachten wird, werden wir Ihnen die benötigten Lebensmittel und Medikamente zukommen lassen. Wir werden den terroristischen Machtapparat zerstören und Ihnen helfen, einen neuen, wohlhabenden und freien Irak aufzubauen. In einem freien Irak wird es keine Angriffskriege gegen
ihre Nachbarländer geben, keine Giftfabriken, keine Hinrichtung von Dissidenten, keine Folterkammern und Vergewaltigungen. Der Tyrann wird bald nicht mehr da sein. Der Tag Ihrer Befreiung ist
nahe.
Für Saddam Hussein ist es zu spät, an der Macht zu bleiben. Für das irakische Militär ist es noch nicht
zu spät, ehrenhaft zu handeln und das Land zu schützen, indem den Koalitionsstreitkräften friedlicher
Zugang gewährt wird, damit Massenvernichtungswaffen zerstört werden können. Unsere Streitkräfte
werden den irakischen Militäreinheiten klare Anweisungen geben, wie sie es verhindern können, angegriffen und vernichtet zu werden. Ich fordere nachdrücklich jedes Mitglied des irakischen Militärs
und der irakischen Nachrichtendienste auf, sollte ein Krieg kommen, nicht für ein sterbendes Regime
zu kämpfen, das das eigene Leben nicht wert ist.
Alle irakischen Militärangehörigen und Zivilisten sollten dieser Warnung sorgfältig zuhören. In jedem
Konflikt wird Ihr Schicksal von Ihrem Verhalten abhängen. Zerstören Sie keine Ölquellen, die Quellen
des Wohlstands, der dem irakischen Volk gehört. Folgen Sie keinem Befehl zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen irgendjemandem, unter anderem gegen das irakische Volk. Kriegsverbrechen werden verfolgt werden. Kriegsverbrecher werden verfolgt werden. "Ich habe nur Befehlen gehorcht", wird nicht als Verteidigung gelten.
Sollte Saddam Hussein es auf eine Konfrontation ankommen lassen, kann das amerikanische Volk
wissen, dass jede Maßnahme zur Vermeidung eines Krieges ergriffen worden ist und alles getan wird,
ihn zu gewinnen. Die Amerikaner wissen um die Kosten eines Konflikts, denn wir haben ihn in der
Vergangenheit bezahlt. Im Krieg gibt es keine Gewissheit, nur die, dass er Opfer bedeuten wird.
Zur Schadensbegrenzung und Verkürzung des Krieges ist es jedoch notwendig, die volle Kraft und
Macht unseres Militärs einzusetzen. Dazu sind wir bereit. Sollte Saddam Hussein versuchen, an der
Macht zu bleiben, wird er bis zum Schluss ein Todfeind bleiben. Aus Verzweiflung könnten er und
Terrorgruppen versuchen, gegen das amerikanische Volk und unsere Freunde Terrorakte zu verüben.
Diese Anschläge sind nicht unvermeidlich. Sie sind jedoch möglich. Es ist diese Tatsache, die unter-
43
streicht, warum wir nicht unter der Bedrohung durch Erpressung leben können. Die terroristische Bedrohung Amerikas und der Welt wird in jenem Augenblick abnehmen, in dem Saddam Hussein entwaffnet ist.
Unsere Regierung ist im Hinblick auf diese Gefahren besonders wachsam. Während wir uns auf einen
sicheren Sieg im Irak vorbereiten, ergreifen wir weitere Maßnahmen, um unsere Heimat zu schützen.
In jüngster Zeit haben amerikanische Behörden bestimmte Personen mit Verbindungen zu irakischen
Nachrichtendiensten des Landes verwiesen. Unter anderem habe ich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen auf unseren Flughäfen und verstärkte Kontrollen der Küstenwachen in großen Seehäfen angeordnet. Das Ministerium für innere Sicherheit arbeitet eng mit den Gouverneuren zusammen, damit
bewaffnete Sicherheitskräfte an kritischen Einrichtungen in ganz Amerika verstärkt zum Einsatz kommen.
Sollte unser Land von Feinden angegriffen werden, würden sie versuchen, unsere Aufmerksamkeit
durch Panik abzulenken und unsere Moral durch Angst zu schwächen. Damit würden sie scheitern.
Keine ihrer Taten kann uns von unserem Kurs abbringen oder die Entschlossenheit dieses Landes
erschüttern. Wir sind ein friedfertiges Volk - wir sind jedoch kein schwaches Volk, und wir werden uns
durch Gangster und Mörder nicht einschüchtern lassen. Sollten unsere Feinde es wagen, uns anzugreifen, wird dies für sie und alle, die sie unterstützen, furchtbare Konsequenzen haben.
Wir handeln jetzt, da die Risiken der Tatenlosigkeit bei weitem größer sind. In einem Jahr oder in fünf
Jahren würde die Macht des Irak, alle freien Nationen Schaden zufügen zu können, um ein Vielfaches
höher sein. Mit diesen Fähigkeiten könnten Saddam Hussein und seine terroristischen Verbündeten
den Zeitpunkt für einen tödlichen Konflikt dann wählen, wenn sie am stärksten wären. Wir ziehen es
vor, dieser Bedrohung jetzt, da sie auftritt, zu begegnen, bevor sie plötzlich an unserem Himmel und in
unseren Städten auftaucht.
Die Sache des Friedens fordert von allen freien Nationen, neue und unleugbare Realitäten anzuerkennen. Im 20. Jahrhundert zogen es einige vor, mörderische Diktatoren zu beschwichtigen, deren
Bedrohungspotenzial so zu Völkermord und in Weltkriege führen konnte. In diesem Jahrhundert, in
dem böse Menschen chemischen, biologischen und nuklearen Terror planen, könnte Beschwichtigungspolitik eine noch nie auf dieser Erde da gewesene Zerstörung nach sich ziehen.
Terroristen und terroristische Staaten kündigen diese Bedrohungen nicht in formellen Verlautbarungen
mit Vorlauf an. Auf solche Feinde zu reagieren, nachdem sie zugeschlagen haben, ist nicht Selbstverteidigung, sondern Selbstmord. Die Sicherheit der Welt erfordert jetzt die Entwaffnung Saddam Husseins.
Setzen wir die gerechten Forderungen der Welt durch, halten wir die tiefgreifendsten Verpflichtungen
unseres Landes hoch. Wir glauben, dass das irakische Volk im Gegensatz zu Saddam Hussein Freiheit verdient und dazu fähig ist. Wenn der Diktator verschwunden sein wird, könnte es im Nahen Osten beispielhaft für eine vitale und friedliche und selbstverwaltete Nation sein.
Die Vereinigten Staaten werden gemeinsam mit anderen Ländern an der Förderung von Freiheit und
Frieden in dieser Region arbeiten. Unser Ziel wird nicht über Nacht erreicht werden, aber mit der Zeit.
Die Macht und Anziehungskraft der Freiheit wird von jedem und in jedem Land empfunden. Die größte
Macht der Freiheit ist es, Hass und Gewalt zu überwinden und die kreativen Gaben von Männern und
Frauen für das Streben nach Frieden einzusetzen.
Das ist die Zukunft unserer Wahl. Freie Nationen haben die Pflicht, ihre Völker zu verteidigen, indem
sie sich gemeinsam gegen Gewalttätige wenden. Wie bereits früher stehen die Vereinigten Staaten
und ihre Bündnispartner auch heute Abend zu dieser Verantwortung.
Gute Nacht, und möge Gott Amerika auch weiterhin segnen.
Originaltext: President Says Saddam Hussein Must Leave Iraq Within 48 Hours
(siehe: www.whitehouse.gov)
Quelle: AG Friedensforschung an der Uni Kassel;
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/ultimatum.html
44
VII. Argumente für den Krieg
-
Der Irak unterstützt den internationalen Terrorismus und unterhält Verbindungen zu Terroristen, insbesondere Osama Bin Laden. Ein Krieg gegen den Irak
ist demnach ein Teil des „Kampfes gegen den Terror“
-
Der Irak stellt eine dauerhafte Bedrohung für seine Nachbarstaaten dar und ist
deshalb für die instabile Sicherheitslage im Nahen Osten verantwortlich
-
Saddam Hussein ist ein brutaler Diktator, der sein eigenes Volk unterdrückt.
Ein Krieg gegen den Irak ist deshalb auch eine Befreiung der irakischen Bevölkerung von einem grausamen Herrscher.
-
Ein demokratisierter Irak wird positive Auswirkungen auf den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern haben
-
Ein demokratisierter Irak wäre ein „demokratischer Leuchtturm“ in der Region und wird einen „Dominoeffekt“ in der Region auslösen, welcher zu einer
Demokratisierung des Nahen Ostens führen wird.
-
Mit Diktatoren wie Saddam Hussein kann man nicht verhandeln.
-
Saddam Hussein hat immer wieder mit der Weltgemeinschaft „Katz und
Maus“ gespielt, UNO-Resolutionen missachtet und das Völkerrecht gebrochen
-
Saddam Hussein ist ein bösartiger Mensch
-
Saddam Hussein besitzt Massenvernichtungswaffen und arbeitet an Atombomben
VIII. Die amerikanische Bevölkerung und der Irak
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erhält George W. Bush eine
außerordentlich hohe und offenbar dauerhafte Zustimmung. Die amerikanische
Bevölkerung unterstützt einen Krieg gegen den Irak als letztes Mittel, sofern die
USA die Kosten eines Krieges nicht allein Schultern müssen. Auch die Zahl der
möglichen eigenen Opfer wirkt sich negativ auf die Unterstützungsbereitschaft der
Amerikaner aus. Im Oktober des Jahres 2002 unterstützten 55% der Bevölkerung
einen militärischen Einsatz im Irak (gegenüber 64% im August 2002). Dabei
möchten die Amerikaner die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht dem Präsidenten alleine überlassen. Die Mehrheit der Amerikaner ist dafür, den Präsidenten nur unter der Bedingung zum Krieg zu ermächtigen, wenn die Vereinten Nationen einer Intervention zustimmen.
45
Die meisten Amerikaner glauben, dass Saddam Hussein bereits in der Lage ist,
Massenvernichtungswaffen gegen die USA einzusetzen. Vor die Wahl gestellt, ob
man der Bedrohung durch den Irak mit Abschreckung oder präventiven Maßnahmen begegnen soll, würde sich eine Mehrheit für die präventiven Maßnahmen
entscheiden.
Jedoch ist eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung für Abrüstung durch
die UN-Inspektoren und gegen einen Regimewechsel im Irak. Allerdings glauben
auch nur 27% der Amerikaner, dass die UN-Inspektionen eine effektive Abrüstung des Irak bewirken könnten.
Wichtig ist zu betonen, dass die amerikanische Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt
(bis Dezember 2002) ein unilaterales Vorgehen der USA gegen den Irak mehrheitlich unterstützte.
Quelle:
Dettke, Dieter: Der Irak und die amerikanische Öffentlichkeit, in: Brennpunkt Irak, hrsg. v. Friedrich Ebert Stiftung, Washington D.C. 2002, online unter:
http://www.fes.de/brennpunktirak/index.htm
46
IX.
Die Kosten eines Krieges
Rudolf Hickel
Professor für Finanzwissenschaft
Bremen, den 13. 2. 2003
Gesamtwirtschaftliche Kosten eines Kriegs gegen den Irak: Anschlag auf die
Weltwirtschaft
„Krieg ist das ultimative Negativ-Nullsummenspiel, bei dem die Beute der Sieger deutlich
unter den Verlusten der Besiegten liegt.“
aus: William D. Nordhaus, The Economic
Consequences of a War with Iraq( 12/2002)
Die Interessen der USA-Administration, mit denen der Militärschlag gegen den Irak
zu erklären versucht wird, sind sattsam bekannt. Vordergründig geht es um die Demontage von derzeit noch vermuteten Produktionspotenzialen für Massenvernichtungswaffen. Im Zentrum steht der Sturz des unbestreitbar diktatorischen
Hussein-Regimes. Die penetrante Reduktion aller möglicher Alternativen, mit denen
dieses Ziel erreichbar wäre, auf Krieg, zeigt, es geht ausschließlich um Großmachtinteressen der USA - ohne Rücksicht auf die gesamte Region sowie die Bündnispartner in der Allianz. Ökonomisch gilt es, den Zugang zu den Ölquellen im Irak wie
überhaupt im Nahen Osten zu sichern. Der Irak (15,1 Mrd. Tonnen) verfügt nach
Saudi-Arabien (35,4) und vor Kuwait (13,0) über die zweitgrößten Ölreserven der
Welt. Weit vor allen anderen Industrienationen liegt der Ölverbrauch der USA bei
895 Millionen Tonnen pro Jahr. Zwar sprudelt das schwarze Gold immer noch kräftig
aus den Quellen der USA. Nach Saudi-Arabien mit 379 Mio. Tonnen sind die USA
der zweite größte Ölförderer mit 353 Mio. Tonnen. Je stärker jedoch heute die Vorkommen in den ölärmeren Regionen mit Einsatz hoher Kosten genutzt werden, desto
entscheidender werden in Zukunft die Vorräte in der arabischen Wüste und umso
mehr gewinnt das OPEC-Kartell an politischer Macht. Prognosen gehen bis zum Jahr
2020 von einer Verdreifachung des Ölbedarfs durch die USA aus. Die Abhängigkeit
des Wirtschaftswachstums von Öl ist in den USA extrem hoch, weil auch zum Schaden der Umwelt auf eine Politik der Energieeinsparung und –substitution bisher verzichtet worden ist. Die USA deckt derzeit die Hälfte ihres täglichen Rohölbedarfs aus
dem Ausland. Davon stammen 20% aus Ländern am persischen Golf. Allein die tägliche Rohölförderung des Iraks nach Aufhebung der Sanktionen würde ausreichen,
den größten Teil des Bedarfs der USA aus dieser Energiequelle zu bedienen.
Die US-Strategie reicht jedoch weltpolitisch weit über das Interesse am Ölstandort
Irak hinaus (vgl. Ulrich Kienzle). Wie der Umgang mit den Verbündeten im „alten Europa“, also nach dem US-Sprachgebrauch gegenüber den Ländern, die den durch
die USA diktierten Waffengang nicht mitmachen, deutlich werden lässt, George W.
Bush demonstriert der Welt, dass die USA als Weltpolizei in den kommenden Jahren
ohne Rücksicht auf die Verbündeten schalten und walten wollen. Dafür wird die auch
die Destabilisierung Europas sowie im Nahen Osten in Kauf genommen.
47
Kriegskosten berechnen und verkünden
Die ökonomischen Interessen sowie der totalitäre Anspruch auf die Definitionsmacht
bei der Lösung von Konflikten in der Welt erklärt wohl auch, warum auf ernsthafte
Bewertungen der ökonomischen Folgen eines Krieges gegen den Irak verzichtet
wird. Denn, werden die ökonomischen Vor- und Nachteile dieser Kriegsstrategie abgewogen, so fällt das Kosten-Nutzen-Kalkül Ergebnis niederschmetternd aus.
In der Sprache der ökonomischen Entscheidungstheorie werden gegenüber den
durch die USA kalkulierten, allerdings selbst gefährdeten profítablen Vorteilen („Benefits“) des Irak-Kriegs die gesamtwirtschaftlichen Kosten systematisch unterschlagen. Die Rechnungen, die aus dem Pentagon bekannt geworden sind, erfassen nur einen Bruchteil der gigantischen Belastungen, übrigens ausschließlich für
die USA. Die katastrophalen Folgen in den vielen anderen Ländern, wie überhaupt
für die Weltwirtschaft werden komplett ausgeblendet. Damit bleibt die USAAdministration der alten Tradition, mit völlig unterschätzen Kosten frühere Kriege im
eigenen Land politisch durchzusetzen, treu. So sind die Kosten des Korea- und Vietnamkrieges ebenso wie die des ersten Golfkriegs (1990-1991) auf die Erfassung der
reinen Militärkosten reduziert worden. Dabei schreiben Finanzgesetze in den USA
vor, zu „öffentlichen Großprojekten“ – und dazu zählt dieser Krieg - Kosten-NutzenAnalysen vorzulegen. Wenn diesem Gesetzesauftrag gefolgt würde, müsste der Aufmarsch ins Kriegsgebiet sofort gestoppt werden. Die Bush-Administration weiß wohl
genau, warum sie auf die alt bekannte Verschleierungstaktik setzt. Einigermaßen
angemessene Kostenschätzungen könnten die Akzeptanz derartiger Militäraktionen
im eigenen Land gefährden. Auf der Basis einer umfassenden Analyse der direkten
und indirekten Kosten des Kriegs gegen den Irak würden auch die Drittwirkungen
entzifferbar – nämlich die ökonomischen Belastungen vieler Länder wie überhaupt
der Weltwirtschaft. Selbst wenn Deutschland hoffentlich dabei bleibt, an diesem Krieg
nicht teilzunehmen, die ökonomischen Lasten sind so oder so -, wie noch zu zeigen
sein wird - enorm. Erst die schonungslose Auflistung der ökonomischen Gesamtkosten zeigt, wer am Ende in welchem Ausmaß an den Lasten beteiligt sein wird.
Also, politisch wie ökonomisch, die Bewertung der gesamtwirtschaftlichen Kosten eines möglichen Kriegs gegen den Irak ist dringend erforderlich. Auch die Länder, die
sich gegen die Teilnahme an diesem Krieg entschieden haben, müssen an der ökonomischen Wahrheit großes Interesse haben. Denn die Entscheidung der USA lösen
über die weltwirtschaftlichen Folgen negative Wirkungen (externe Effekte) aus, denen sich die zwar nicht entscheidenden, jedoch betroffenen Länder nicht entziehen
können. Wohl auch um die ganze Wahrheit zu verheimlichen, werden methodische
und substanzielle Bedenken gegen die Berechnung von Kriegskosten eingewendet.
Diese bekannten eingrenzbaren Schwierigkeiten rechtfertigen jedoch nicht den Verzicht auf die Kalkulation der Kriegskosten. Im Mittelpunkt stehen letztlich nur die monetär bewertbaren Kosten. Die vielen Toten sowie das menschliche Elend durch einen Krieg lassen sich in einer solchen Kalkulation seriös nicht erfassen. Das ökonomische Rechenwerk belegt jedoch die verheerenden Wirkungen auf die ökonomische
Wertschöpfung als Basis von Einkommenssicherung und der Arbeitsplätze. Die
kurzweiligen ökonomischen Interessen an diesem Krieg werden durch gigantische
Gesamtkosten völlig abgewertet. Dabei lassen sich zur Ermittlung der Kriegskosten
Untersuchungen zu
voran gegangen Kriegen produktiv nutzen. Forschungsarbeiten liegen nicht nur zu
allen großen Kriegen vor, sondern auch zu Naturkatastrophen und jüngst zu den ökonomischen Folgen des internationalen Terrors (zu den ökonomischen Folgen des
48
11. Septembers). Eine hervorragende Position auf dem Gebiet der Untersuchung der
gesamtwirtschaftlichen Herausforderungen durch Krieg und Frieden nimmt der Begründer der modernen Makroökonomik, John Maynard Keynes, ein. Zu den Klassikern zählt sein im Juni 1919 erschienenes Buch „Die wirtschaftlichen Folgen des
Friedensvertrags“. Nach Durchsicht der Verträge von Versailles zeigte er, dass die
seitens der Alliierten Deutschland und seinen Verbündeten abverlangten Entschädigungssummen nicht aufbringbar und daher „unklug und selbstmöderisch“ seien.
Weitsichtig warnte er vor dem politischen Debakel, in das diese nicht tragbaren Belastungen die Weimarer Republik stürzen mussten. Der Text macht zugleich die hohen Opportunitätserträge eines vermiedenen Krieges deutlich. Die Untersuchung
widerlegt auch die heutigen Kriegstreiber, die wohl auch den ökonomischen Verstand
verloren haben.
Die einigermaßen korrekte Erfassung der Kosten eines Krieges im Irak ist ausgesprochen komplex und kompliziert. Unterschiedliche, allerdings nur monetär bewertbare Kostenkomponenten sind zu unterscheiden. Da sind die direkten Kosten
durch den Militäreinsatz. Deren Höhe hängt von der Länge und Intensität der Kriegsführung ab. Hinzu kommen die Kosten der politischen Besetzung nach dem Krieg
sowie des Wiederaufbaus. Dabei ist auch der derzeitige Zustand von Staat und Wirtschaft im Irak zu berücksichtigen. Schließlich müssen die indirekten Kosten, die die
Folgen für die Weltwirtschaft sowie die USA und die anderen einzelnen Länder erfassen, abgeschätzt werden. Hier spielt die Entwicklung des Ölpreises eine strategische Rolle. Die makroökonomischen Belastungen durch einen Ölpreisschock sind
enorm. Aber auch Einflüsse auf den Außenwert des
US $ und weiterer Wechselkurse sowie auf die Aktienkurse sind innerhalb der gesamtwirtschaftlichen Analyse zu berücksichtigen. Zudem müssen die Reaktionen der
Konsumenten, der Investoren sowie der Geld- und Finanzpolitik im makroökonomischen Gesamtkalkül berücksichtigt werden. Dabei wird das Ausmaß all dieser Effekte durch die Länge und Art der Kriegsführung maßgeblich bestimmt.
49
VOLKSWIRTSCHAFTLICHE (DIREKTE/INDIREKTE) KOSTEN EINES KRIEGES
MIT DEM IRAK
nach Berechnungen von William Nordhaus* (in Mrd. US $, Basis 2002)
S z e n a r i e n
Schwerpunkte der
Kurzer Krieg
Langer Krieg
Kosten
(Bad Case)
(Worst Case)
_________________________________________________________________
Militärische Ausgaben
(direkt)
50
140
Folgekosten
(indirekt)
für die Dekade von
2003 bis 2012
- Besatzung und
Friedenserhaltung
75
500
- Wiederaufbau und
Infrastruktur
30
105
1
10
- Humanitäre
Hilfeleistungen
- Auswirkungen des
Ölpreiseffektes
-40 1)
778
- Makroökonomische
Auswirkungen
(Keynes Effekt)
-17 2)
391
Direkte und
indirekte Kosten3)
99 Mrd. $
_________________________
1 924 Mrd. $
1) Angenommen wird, dass nach einem kurzen Krieg der Ölpreis pro Barrel deutlich sinkt
(Bandbreite 20-25 US$) und dementsprechend volkswirtschaftliche Kosten abnehmen
(positiver Effekt auf die Gesamtwirtschaft von 40 Mrd. $).
2) Beim Szenario „kurzer Krieg“ kommt es nicht zu volkswirtschaftlichen Kosten, sondern zu
positiven Effekten auf die Gesamtwirtschaft im Umfang von 17 Mrd. $ (Konsum- und
Investitionsbereitschaft nehmen zu; mit den Gewinnerwartungen steigen wieder die
Aktienkurse).
3) Nicht berücksichtigt sind die direkten und indirekten Kosten durch internationale Terroranschläge.
____________________
Quelle: William D. Nordhaus, The Economics of a War with Iraq; Cowles Foundation for Research in
Economic, Yale University, Discussion Paper Nr. 1387, December 2002
50
Die Analyse der Kriegsfolgen für die USA durch William D. Nordhaus
Eine umfassende und methodisch anspruchsvolle Abschätzung der volkswirtschaftlichen Kosten eines Krieges mit dem Irak USA hat der hoch renommierte Wirtschaftsprofessor an der Yale-Universität, William D. Nordhaus, im Dezember 2002
vorgelegt. Seine Analyse bezieht sich zwar nur auf die ökonomischen Folgen für die
USA. Aus diesem Ansatz lassen sich jedoch Anknüpfungspunkte zur Untersuchung
der ökonomischen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, aber auch auf Deutschland
ableiten. Diese Studie korrigiert auf der Basis des nicht unwahrscheinlichen
schlimmsten Falls („worst case“) die verniedlichenden Angaben zu den Kriegskosten,
die aus dem Pentagon in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Die offiziellen Bewertungen reduzieren die Kosten auf die direkten Militärausgaben. Auch die Untersuchung
der „Democratic Staff of the House Budget Committee“ (House Study) unterschätzt
die Gesamtkosten mit der angegebenen Spanne von 48 und 60 Mrd. $. Die Schätzbasis bilden die Preise aus den Angaben zum ersten Golfkrieg, die korrigiert werden
(„top down“-Methode). Im ungünstigsten Fall geht das New War A-Szenario von einer
kurzen Dauer des Krieges aus (30 Tage Kämpfe und 2 ½ Monate Nachkriegspräsenz). Bei der Untersuchung durch das „Congressionell Budget Committee“
(CBO-Studie) wird die Kostenschätzung auf der Basis der wichtigsten Komponenten
vorgenommen („bottom up“- Methode). Die Gesamtkosten belaufen sich im angenommenen ungünstigen Falle auf 44 Mrd. $.
William D. Nordhaus fasst in seiner Studie die direkten und indirekten Kosten zusammen. Dabei unterscheidet er zwischen den drei Szenarien: bad case, worse case, worst case (vom minimalen bis zum maximalen Kriegsfall). Aus den durchgerechneten Szenarien ergibt sich eine Bandbreite an volkswirtschaftlichen Gesamtkosten zwischen 99 Mrd. $ und 1924 Mrd. $. Der untere Wert gehört zum Szenario „bad case“. In der beigefügten Tabelle sind die Kostenkomponenten dargestellt:
Militärausgaben, Besatzung und Friedenserhaltung, Wiederaufbau und Infrastruktur,
humanitäre Hilfeleistungen, Auswirkungen des Ölpreiseffektes und makroökonomische Auswirkungen. Bei dem „bad case“ wird von kurzen Kampfhandlungen ausgegangen. Der Ölpreis fällt nach einem vorübergehend leichten Anstieg schnell und
dauerhaft unter das heutige Niveau (Bandbreite 20-25 US $ ). Die Militärausgaben
sind vergleichsweise beherrschbar. Auch die Ausgaben für die Besetzung und Friedenserhaltung, den Wiederaufbau und die Infrastruktur sowie für humanitäre Hilfe
fallen gering aus. Von den Ölpreisen gehen in der gesamtwirtschaftlichen Wirkung
sogar positive Effekte aus. Durch die schnelle Eroberung des Irak und die für die
nachfolgende Phase unterstellte politische Stabilität sinkt der Ölpreis von derzeit ca.
30 $ pro Barrel deutlich unter 25 $. Durch entsprechende Kostenersparnisse bei den
Konsumenten und Investoren würde die ökonomische Wertschöpfung um 40 Mrd. €
zunehmen. Die gesamtwirtschaftliche Wirkungen sind durch starkes Vertrauen, steigende Gewinne und sinkende Aktienkurse sowie eine günstige Wechselkursentwicklung ebenfalls positiv (17 Mrd. $). Dieser „bad case“ scheint das kalkulierte Wunschszenario der Bush-Administration zu sein. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden,
dass selbst hier Gesamtkosten mit knapp 99 Mrd. $ entstehen. Dieses Szenario „Minimimierung der Schäden“ ist jedoch insgesamt viel zu optimistisch. Im nicht unrealistischen „worst case“ explodieren dagegen die Kosten auf 1 924 Mrd. $. Hierbei
wird ausgegangen von einem lang anhaltenden Krieg (mit Häuserkampf), der Zerstörung der Ölförderanlagen (auch in den Nachbarstaaten), dem Anstieg des Ölpreises
auf 75 $ für längere Zeit sowie von internationalem Gegenterror. Eine tiefe Vertrauenskrise breitet sich aus und lähmt die Weltwirtschaft. Die Konsumbereitschaft nimmt
massiv zugunsten des Angstsparens ab. Sinkende Gewinnerwartungen führen zum
51
Rückgang der Sachinvestitionen. Die Aktienkurse spiegeln die pessimistischen Erwartungen wider; sie stürzen ab. Da der private Konsum mit sinkenden Vermögenswerten infolge der Verluste bei Aktienkursen eingeschränkt wird, zwingt der Einbruch
dieses Nachfrageaggregats die US-Wirtschaft endgültig in die Rezession. Für die
USA kommt es zu einer zusätzlichen Belastung hinzu. Der sich heute schon durchsetzende Verfall des US $ gegenüber dem Euro führt zu einem Rückzug des ausländischen Kapitals aus den USA. Die Finanzierung des Doppeldefizits- öffentlicher
Haushalt und Leistungsbilanzdefizit – durch ausländisches Kapital bricht in sich zusammen. Die Vorteile aus der US $-Abwertung für die Exportwirtschaft vermögen
diese Nachteile nicht aufzuwiegen. Die Geldpolitik schaltet wegen wachsender Inflationsrisiken – vor allem durch die hohen Ölpreise - auf restriktiven Kurs um. Die Finanzpolitik verliert mit den wachsenden Staatsschulden an Manövrierfähigkeit. Insgesamt stürzt die Gesamtwirtschaft in eine tiefe Rezession. Dieser ökonomische
Einbruch in den USA prägt jedoch auch die Weltwirtschaft und überträgt sich auf andere Industrieländer, insbesondere Deutschland. Dabei werden in diesem Szenario
nach Nordhaus zwei krisenverschärfende, mit einander zusammenhängende Belastungen nicht berücksichtigt. Einerseits würde ein Krieg im Irak die gesamte Region
massiv destabilisieren. Eine sich schnell ausbreitende islamische Bewegung könnte
die Öloligarchien in den Golfstaaten ergreifen und zum Einsturz bringen. Zum anderen wäre mit einem neuen Schub beim internationalen Terrorismus im genährten
Klima religiösen Fundamentalismus zu rechnen. Ökonomische Untersuchungen, die
im Gefolge des 11. September-Terrors in den USA entstanden sind, belegen umfangreich die sich daraus ergebenden ökonomischen direkten und indirekten Belastungen. Direkte Kosten entstehen durch Vernichtung von Sachvermögen sowie
den Aufwand für Sicherheitsmaßnahmen. Indirekte Wirkungen über den Vertrauensverlust von Konsumenten und Investoren sowie steigende Sicherheitskosten treiben die volkswirtschaftlichen Schäden nach oben. Die Spaltung zwischen Armen und
Reichen würde sich nicht nur vertiefen.
Fazit: Ein Krieg gegen den Irak wäre nicht nur politisch sondern ökonomisch heller
Wahnsinn
52
X.
Ein Krieg für Öl?
a) Einleitung
Wenn man nach den Gründen fragt, warum die USA unter, so scheint es, allen
Umständen einen Krieg führen wollen, der verheerende politische und ökonomische Auswirkungen haben kann, bekommt man als Antwort häufig, die Vereinigten Staaten würden einen Krieg führen, um das irakische Öl zu kontrollieren. Dieser Erklärungsansatz ist so populär, dass „Kein Krieg für Öl“ das Motto der weltweit demonstrierenden Friedensbewegung ist. Damit unmittelbar verbunden ist
ein tiefer Zweifel weiter Teile der Weltbevölkerung an den guten Absichten der
USA. Wie haltbar ist dieser Erklärungsansatz und worauf stützt er sich? Dieser
Frage wird hier nachgegangen. Dafür werden zunächst die Verbindungen von
Mitgliedern der Bush-Administration zur Ölindustrie dargestellt, um anschließend
die Abhängigkeit der Vereinigten Staaten vom „schwarzen Gold“ zu erläutern.
Zum Schluss wird dann noch einmal kurz auf das Verhältnis der amerikanischen
Ölindustrie zum Irak eingegangen. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass es keinen
direkten Beweis für einen Zusammenhang zwischen den hier dargestellten Fakten
und den Plänen, einen Krieg gegen den Irak zu führen, gibt. Einen Zusammenhang zu konstruieren, ist in gewisser Weise immer spekulativ, dennoch sollen die
Fakten hier aufgeführt werden, weil sie eine zusätzliche Perspektive auf die Situation bieten.
b) Klientelistische Netzwerke zwischen der US-Regierung und
der amerikanischen Öl-Industrie
Betrachtet man die Biographien der Mitglieder der Bush-Administration, so fällen
die engen Verbindungen der hohen Regierungsmitglieder zur Ölindustrie auf. Die
Öllobby beeinflusst nicht die Regierung, so behauptet Greenpeace, sie ist die Regierung.
Nachdem George W. Bush an der Yale University und der Harvard Business
School BWL studierte, war er von 1968 bis 1973 Pilot bei der Texas Air National
Guard.6 1975 gründete er das Unternehmen „Arbusto Energy Inc.“, welche später
in „Bush Exploration Oil & Gas Co“ umbenannt wurde und dessen Geschäftsführer er bis 1986 war. Die Firma entwickelte sich schlecht, weshalb sie 1984 nur
6
Sämtliche Zahlen und Daten aus: US Präsident George W. Bush und die Ölindustrie, in: Die Öllobby, hrsg. v.
Greenpeace Germany, Juni 2001, online unter:
http://archiv.greenpeace.de/GP_DOK_3P/BRENNPUN/F0104D2.HTM#69
53
durch eine Fusion mit einer größeren Firma, der „Spectrum 7 Energy Corp.“, im
Besitz von William Dewitt und Mercer Reynolds, zwei Reagan/Bush sen. Unterstützern, vor dem Konkurs gerettet werden konnte. Bush wurde Präsident der
Spectrum 7 und erhielt 13,6% der Aktien der Muttergesellschaft. 1986 wurde
Spectrum 7 trotz deren desolater Finanzlage von „Harken Energy Corp.“, einer Öl
und Gasförderfirma mit ca. 40 Mio. Dollar Jahresumsatz, für ca. 2 Mio. Dollar
gekauft. Beim Kauf von Spectrum 7 durch Harken bekam George W. Bush
227.000 Dollar Harken-Aktien plus 40% verbilligte Optionen plus 100.000 Dollar
jährlich als „Consultant“. Der Deal mit dem Bush-Clan zahlte sich für Harken aus.
In den folgenden Jahren erlebte Harken eine Reihe von „Glücksfällen“: Ein 25
Mio. Dollar-Aktienangebot der Bank „Stephens Inc.“, einer Bank mit angeblichen
CIA-Verbindungen im Nahen Osten und Europa. Hinzu kam ein überraschender
Exklusiv-Bohrvertrag für Harken in Bahrain, ohne Offshore-Bohrerfahrung zu
haben und gegen die Konkurrenz des Ölmultis Amoco. Unmittelbar vor der irakischen Invasion in Kuwait verkaufte George W. Bush 60% seiner Harken-Anteile,
kurz darauf fiel der Aktienkurs um 25%.
1989 stieß Bush als externer Direktor zur texanischen Öl- und Gasfirma „Tom
Brown Inc.“, dessen Präsident Donals Evans war, der zukünftige Handelsminister
im Bush-Kabinett. Seine Anteile an Tom Brown verkaufte Bush gewinnbringend,
nachdem er zum Gouverneur von Texas gewählt wurde.
Auch Vizepräsident Richard Bruce („Dick“) Cheney, bereits seit 1969 in der Politik, hat enge Verbindungen zur amerikanischen Ölindustrie. So war er von 1995
bis 2000 CEO von „Halliburton Co.“, einem internationalen Konzern für „Oil
services“ mit einem Jahresumsatz von 9 Milliarden Dollar. Cheney war unter
Bush sen. Verteidigungsminister und leitete die US-Invasion in Panama 1989 und
den Golfkrieg 1991.
Als Chef von Halliburton zielte Cheney vor allem auf die Ölvorräte im kaspischen
Meer und unterhielt politische Verbindungen zu Kasachstan und Aserbaidschan.
Er saß zusammen mit den Chefs von Texaco und Chevron in „Kazakstan's Oil
Advisory Board“7. Nach dem Irakkrieg 2003 erhielt die Halliburton-Tochter KBR
ohne vorherige, ordentliche Ausschreibung den Auftrag über Reparaturarbeiten an
7
ebenda
54
der irakischen Öl-Infrastruktur. Der Auftrag könnte Halliburton in den nächsten
beiden Jahren sieben Milliarden Dollar einbringen.8
Auch andere Regierungsmitglieder sind eng mit der Ölindustrie verbunden. Condoleezza Rice saß zehn Jahre im Aufsichtsrat von Chevron9 und Colin Powell
wurde die „secretary of energy distinguished service medal“ verliehen, eine Auszeichnung für besondere Verdienste um die Energiewirtschaft.10 Handelsminister
Donald Evans war Präsident von „Tom Brown Inc.“ und die Staatssekretärin im
Handelsministerium, Kathleen Cooper, arbeitete zuvor als Chefökonomin bei ExxonMobil (Esso).11
Die Beziehung der Bush-Regierung zur Ölindustrie ist nicht nur persönlicher,
sondern auch finanzieller Natur. So war die Enron Corp., einer der größten Ölund Gasunternehmen der USA (überraschender Konkurs im Jahr 2002), mit
572.350 Dollar der größte Wahlkampfspender von Bush gewesen.12 17 von Bushs
Top-Fundraisern haben Verbindungen zur Ölindustrie.13 Die massive Unterstützung der Ölindustrie für Bush erklärt sich aus dem existentiellen Interesse der
Branche an einem Politikwechsel. Der „PetroIndex“, der den Zustand der gesamten Branche verdeutlicht, zeigt, dass es der Ölindustrie am Ende der Ära Clinton
so schlecht wie lange nicht ging:
8
Scheschkewitz, Daniel: Dick im Geschäft, in: DW-World.de (Deutsche Welle) vom 8.5.2003, online unter:
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,861118,00.html
9
Ist der Krieg in Afghanistan ein Krieg ums Öl? - Viele Multis der Energiewirtschaft sind in der Region engagiert; Schwarzes Öl, grüne Dollars und goldene Gewinne, in: Sonntag Aktuell v. 2.12.2001, online unter:
http://www.frieden-mannheim.de/Dokumente/sonntag_aktuell_vom_02.htm
10
wie Anm. 1
11
Feddern, Jörg: Krieg um Öl, hrsg. v. Greenpeace Deutschland, online unter:
http://www.greenpeace.org/deutschland/?page=/deutschland/fakten/frieden/krieg-um-oel
12
Top Career Patrons of George W. Bush, in: The Center of Public Integrity, online unter:
http://www.publicintegrity.org/dtaweb/index.asp?L1=20&L2=24&L3=20&L4=50&L5=20, Die Daten sind entnommen aus dem Buch: Lewis, Charles: The Buying of the President 2000, Washington D.C. 2000
13
wie Anm. 1
55
Petroleum Index
Quelle: Ingham, Karr: 2003 Was A Great Year For Oil And Gas Production, online
unter: http://www.texasalliance.org/petroindex/documents/Feb2004NL.pdf
Bis auf die überraschende Enron-Pleite im Jahr 2002 verbesserte sich die Situation
der amerikanischen Ölindustrie während der Amtszeit von George W. Bush kontinuierlich.
c) Die Abhängigkeit der USA vom Rohstoff „Öl“
Kein anderes Land der Erde ist so abhängig vom Öl die die Vereinigten Staaten.
Obwohl sie nur ca. 4% der Weltbevölkerung stellen, verbrauchen sie mit ca. 19,6
Mio. Barrel pro Tag ca. 25,5% des Weltöls.14 Knapp 60% dieses Öls müssen die
Vereinigten Staaten importieren, 23% allein aus dem Mittleren Osten. Graphik 1
zeigt, dass sich der Erdölverbrauch in den kommenden Jahren weiter zunehmen
wird:
14
ebenda
56
Graphik 1: Verbrauch der USA an Ölprodukten 1949 bis 2025
Quelle: Greenpeace Deutschland, online unter:
http://www.greenpeace.org/deutschland/?page=/deutschland/fakten/frieden/kriegum-oel
Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Ölförderung in den USA in den
kommenden Jahren stagniert bzw. zurückgeht, wodurch die Abhängigkeit von
Importen steigt (Graphik 2):
Graphik 2: Die Abhängigkeit der USA von Ölimporten steigt
Quelle: Greenpeace Deutschland, online unter:
http://www.greenpeace.org/deutschland/?page=/deutschland/fakten/frieden/kriegum-oel
57
Es verwundert also nicht, dass die USA ein vitales Interesse daran haben, ihre
strategische (militärische) Präsenz in der ölreichen Golfregion zu erhöhen.
d) Die amerikanische Ölindustrie und der Irak
Der Irak ist mit 10,7% der weltweiten Erdölreserven von großem Interesse für die
Ölindustrie.
In den 1920er Jahren investierten alle großen Ölkonzerne im Irak, auch amerikanische, wie z.B. ExxonMobil. US-amerikanische und britische Ölkonzerne hielten
Dreiviertel der Anteile an der irakischen Erdölindustrie, bis die sozialistische
Baath-Partei unter Saddam Hussein die Ölindustrie verstaatlichte. Durch den
Krieg 1991 und der harten Haltung der amerikanischen Regierung gegenüber dem
Irak waren die amerikanisch-irakischen Beziehungen dauerhaft beschädigt. Saddam Hussein versuchte seine internationale Isolation dadurch zu überwinden, indem er mit Frankreich, Russland und China lukrative Geschäfte abschloss (siehe
Länderbericht Irak). Der französische Ölmulti TotalFinaElf sicherte sich die Erschließung des größten irakischen Ölgebietes, des Manjoon-Feldes (siehe Länderbericht Irak).15 Auch die russische Lukoil und die chinesische National Pertoleum
und einige indische und türkische Unternehmen waren im Irak aktiv.16 Die großen, amerikanischen Konzerne wie ExxonMobil, ChevronTexaco, oder auch die
britische BP waren hingegen ausgeschlossen. Hinzu kam, dass Saddam Hussein
ankündigte, sein Öl in Zukunft in Euro statt in Dollar zu verkaufen.17 Hätten sich
die Vereinten Nationen und der Irak geeinigt und wäre das Wirtschaftsembargo
gefallen, wären Frankreich, Russland und China die großen Gewinner gewesen,
während amerikanische und britische Konzerne das Nachsehen gehabt hätten. Um
die amerikanischen Konzerne zurück ins Geschäft zu bringen, wäre ein Regimewechsel im Irak notwendig, um die bereits abgeschlossenen Verträge der SaddamRegierung annullieren zu können. Gleichzeitig versprach der Leiter des Iraqi National Congress (INC), Ahmed Chalabi, Ende 2002 in Washington, dass "amerikanische Erdölunternehmen sich gute Chancen auf irakisches Erdöl ausrechnen
können", wenn er das Land regieren würde.18
15
ebenda
ebenda
17
Altvater, Elmar: Die Währung des schwarzen Goldes, Der Ölkrieg wird auch um die Vorherrschaft von Dollar
und Euro geführt, online unter: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/oel/altvater.html
18
Feddern, Jörg: Krieg um Öl, hrsg. v. Greenpeace Deutschland, online unter:
http://www.greenpeace.org/deutschland/?page=/deutschland/fakten/frieden/krieg-um-oel
16
58
XI.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
AG Friedensforschung an der Uni Kassel, http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/
-
Bille, Paul: Maps of Denver, Colorado and other sites,
http://bille.cudenver.edu/maps/main.html
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
Greenpeace Deutschland, http://www.greenpeace.org/
-
The Center of Public Integrity, http://www.publicintegrity.org
Literatur:
-
Altvater, Elmar: Die Währung des schwarzen Goldes, Der Ölkrieg wird
auch um die Vorherrschaft von Dollar und Euro geführt, online unter:
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/oel/altvater.html
-
APuZ, B 25/2002 (US-Außenpolitik), online unter:
http://www.bpb.de/publikationen/S6RGXJ,,0,USAu%DFenpolitik.html
-
APuZ, B 24-25/2003 (Irak), online unter:
http://www.bpb.de/publikationen/U9ZGRR,0,0,Irak.html
-
Denison, Andrew B.: Unilateral oder multilateral? Motive der amerikanischen Irakpolitik, in: APuZ B 24-25 2003
-
Dettke, Dieter: Der Irak und die amerikanische Öffentlichkeit, in: Brennpunkt Irak, hrsg. v. Friedrich Ebert Stiftung, Washington D.C. 2002, online unter: http://www.fes.de/brennpunktirak/index.htm
-
Feddern, Jörg: Krieg um Öl, hrsg. v. Greenpeace Deutschland, online unter:
http://www.greenpeace.org/deutschland/?page=/deutschland/fakten/frieden
/krieg-um-oel
-
Hippler, Jochen: US-Dominanz und Unilateralismus im internationalen
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Hippler, Jochen 2003: Unilateralismus der USA als Problem der internationalen Politik, in: APuZ B 31-32
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Münkler, Herfried: Der neue Golfkrieg, Reinbek 2003
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Rudolf, Peter: Wie der 11. September die amerikanische Außenpolitik
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60
Großbritannien
I.
Geographische Karte
61
II.
Basisdaten
Quelle: Auswärtiges Amt
Stand: April 2004
Ländername:
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
(United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland)
Klima:
Durchschnittstemperatur 8 Grad C.; häufige Niederschläge verteilt über das ganze Jahr und über das ganze Land (durchschnittlich 102 cm/Jahr); Schneefälle im Süden selten
Lage:
vor der Nordwestküste des europäischen Festlandes
Größe:
243.000 qkm
Hauptstadt:
London; ca. 7,3 Mio. Einwohner
Bevölkerung:
58,8 Mio. (Census 2001); 92,2% Weiße, 2,1% Schwarze, 1,7%
Inder, 1,2% Pakistaner, 0,5% Bangladescher, 0,2% Chinesen,
1,1% andere Gruppen
Landessprache(n):
Englisch, Walisisch, Gälisch, Cornish
Nationaltag:
zweiter Samstag im Juni (Queen’s Official Birthday)
Religionen / Kirchen:
35 Mio. Anglikaner (Church of England); 1,3 Mio. Church of
Scotland; 0,2 Mio. sonstige Protestanten; 5,6 Mio. Katholiken; 2
Mio. Moslems, 1,4 Mio. Hindus und Sikhs; 300.000 Juden; 11
Mio. Sonstige
Staatsform
konstitutionelle Monarchie
Staatsoberhaupt:
Her Majesty (Ihre Majestät) Queen Elizabeth II (Amtsantritt:
06.02.1952; Krönung: 02.06.1953)
Regierungssystem
Parlamentarische Demokratie mit zwei Kammern
Vertreter:
His Royal Highness (Ihre Königliche Hoheit) The Prince of
Wales
Regierungschef:
Prime Minister Tony Blair, First Lord of the Treasury and Minister for the Civil Service (Labour, Amtsantritt: Mai 1997, wieder
gewählt am 7. Juni 2001)
Außenminister:
Jack Straw, Secretary of State for Foreign and Commonwealth
Affairs (Labour, Amtsantritt: Juni 2001)
Parlament:
Zwei Kammern:
House of Commons (659 Abgeordnete, Speaker: The Rt. Hon.
Michael Martin). Letzte Wahl am 07.06.2001, nächste Wahl spä62
testens 2006
House of Lords; (z.Z. 679 Sitze, Sprecher: Lord Chancellor: The
Rt. Hon. Lord Falconer of Thoroton)
Regierungspartei:
Labour Party (408 Sitze im Unterhaus, sozialdemokratisch)
Oppositionsparteien:
Conservative Party (162 Sitze im Unterhaus, konservativ)
Liberal Democrats (54 Abgeordnete im Unterhaus)
Scottish Nationalists (5), Plaid Cymru (Welsh Nationalists) (4),
Nordirische Parteien (18); Unabhängige (4); Sprecher und Vertreter (4)
Gewerkschaften:
71 im Trade Union Congress (TUC) zusammengeschlossene
Einzelgewerkschaften mit ca. 7 Mio. Mitgliedern, davon vier
besonders einflussreiche Gewerkschaften mit insgesamt 3,7 Mio.
Mitgliedern
Verwaltungsstruktur des
Landes:
England: 36 Bezirke, 25 Grafschaften und London
Schottland: 32 "Unitary Councils"
Wales: 22 "Unitary Councils"
Nordirland: 28 Bezirke
Mitgliedschaft in internati- Gründungsmitglied:
onalen Organisationen
Vereinte Nationen, ständiges Mitglied im Sicherheitsrat (1945)
Weltbank und IWF (1945)
OEEC/OECD (1948)
NATO (1949)
Commonwealth (1949)
Europarat (1950)
KSZE/OSZE (1975)
Beitritt: EG/EU (1973)
Wichtigste Medien
Rundfunk und Fernsehen:
BBC Radio und TV mit mehreren Programmen (öffentlichrechtlich) sowie zahlreiche Privatsender
Print-Medien
Tageszeitungen mit nationaler Verbreitung (nach Auflagenstärke): Daily Telegraph, Times, Guardian, Independent, Financial
Times
Massenblätter: Sun, Daily Mail, Daily Mirror, Daily Express
Sonntags- und Wochenzeitungen (u.a. Economist, Observer)
Vielfältige Provinzpresse
Bruttoinlandsprodukt
(2002)
1.465,12 Mrd. EUR; BIP pro Kopf: 24.915 EUR
III.
Großbritannien und der Irak
a) die britisch-amerikanischen Beziehungen
Besonders bedeutend für die Haltung Großbritanniens in der Irakfrage ist die besondere Beziehung zu den USA. G.W.Bush sagte einmal, dass er sich „keinen
Besseren Freund“ als Tony Blair wünschen könne. In dieser bilateralen Beziehung
63
sieht sich Großbritannien in der Beraterrolle. Die britische Haltung beruht auf der
Meinung, dass man nur Einfluss auf die US-Politik ausüben könne, wenn man
sich mit den USA solidarisiere. Großbritannien bekommt gelegentlich Geheimdienstinformationen von den USA. Im Gegenzug stimmte England dem Abwehrschirm für Amerika zum Schutz vor Raketen der „Schurkenstaaten“ zu, da auch
Britannien in Zukunft über solch einen Schutz nachdenken müsse auf Grund der
steigenden Terrorgefahr. Zudem funktioniert diese Beziehung so gut, da die beiden Länder weltpolitisch ähnliche Interessen verfolgen. Sie sind sich darin einig,
dass bei der derzeitigen Weltlage, Sicherheit nur durch engste Partnerschaft zwischen Europa und Amerika gewährleistet werden könne. Bereits im Dezember
1998 flog Großbritannien gemeinsam mit den USA Angriffe auf militärische und
sicherheitsrelevante Einrichtungen im Irak ohne UNO-Mandat. Diese Angriffe
waren aus Sicht Großbritanniens nötig, da Saddam Hussein unzureichend mit den
UNO-Waffenkontrolleuren kooperierte. Auch im Afghanistankrieg kämpfte
Großbritannien auf der Seite der USA, genauso wie im zweiten Golfkrieg.
Bereits im Kosovokrieg kämpfte Großbritannien ohne ein entsprechendes UNOMandat. Aber dennoch macht sich Jack Straw, der britische Außenminister, stark
für eine erneute UNO-Resolution, welche den Kampfhandlungen gegen den Irak
eine rechtliche Grundlage geben würde. Dass die USA sich noch einmal an den
Sicherheitsrat wendeten, ist wohl auf das Drängen Großbritanniens zurückzuführen.
b) Grundzüge britischer Außenpolitik und das „Appeasement-Trauma“
Für Blair gehören Hilfsprogramme, Entwicklungshilfe, Entschuldung und militärische Interventionen zusammen. Auch geht es in einer globalisierten Welt nicht
mehr, Menschenrechtsprobleme in so genannten „failed states“ isoliert zu betrachten, sondern sie müssen zur Wahrung des Weltfriedens beseitigt werden. Wenn
dies nicht anders gelingt, ist der Einsatz von militärischen Mitteln legitim. Blair
sagte bereits 1997, dass er Saddam Hussein und sein Regime „Furcht einflößend“
findet und dass er nicht verstehen könne, wie andere Mächte, wie Frankreich z.B.,
so tatenlos zusehen könnten. Ende 2002 wurde von der britischen Regierung ein
Dossier über die Aufrüstung Saddams und eines über die Menschenrechtsverletzungen des Regimes an die Abgeordneten verteilt. Laut Blair hat die Eindämmungspolitik gegenüber dem Irak versagt. Im Herbst 2002 sagte Blair bereits,
64
dass er für den Sturz von Saddam Hussein auch bereit sei einen „Bloodprice“ zu
entrichten. Das Großbritannien sich solche Sorgen über das Regime in Bagdad
macht ist auch darauf zurückzuführen, dass England nicht noch einmal zu lange
tatenlos dem Aufbau eines Terrorregimes zusehen möchte, wie bei Hitler und anderen grausamen Diktatoren. Vielleicht deshalb stößt ein Einsatz militärischer
Mittel nicht auf so große moralische Bedenken in der britischen Bevölkerung, wie
dies beispielsweise in Deutschland der Fall ist. Blair geht nicht davon aus, dass
durch einen Irakkrieg ein Flächenbrand in der Region entsteht, da diese Befürchtungen auch nicht im Kosovo oder in Afghanistan wahr geworden sind. Andererseits weiß London aber auch um die Schwierigkeit, im Irak eine Demokratie zu
errichten, da dies England ja schon einmal versucht hatte und gescheitert war.
c) Bevölkerung
Die Angst vor einer ungerechtfertigten Appeasementpolitik zeigt sich auch deutlich in der Haltung der britischen Bevölkerung. Der enge Schulterschluss mit den
USA, die Bekundung zur Solidarität mit der Amerikanischen Bevölkerung nach
dem 11.September 2001 und der daraus resultierende Krieg in Afghanistan wurden von der Bevölkerung akzeptiert. Die Konservativen bejahen einen Regimewechsel in Bagdad durch militärische Mittel und auch die Labourpartei steht hinter Blair. Nur die Liberaldemokraten warnen vor den unabsehbaren Folgen eines
Irakkrieges. So hat Blair die Mehrheit für seine Politik hinter sich. Etwas mehr als
die Hälfte der britischen Bevölkerung ist jedoch gegen einen Irakkrieg. Wenn
Saddam Hussein aber eklatant und nachweisbar gegen die Resolution 1441 verstößt, würden mehr Briten einen Krieg befürworten. Diese Stimmung könnte jedoch vor allem bei einem langen, verlustreichen Krieg kippen, so dass Blair den
Rückhalt im eigenen Land verlieren könnte. Auch befürchten viele, dass die Terrorgefahr in Großbritannien durch einen Irakkrieg steigen könnte.
Die Mehrheit der Briten hält jedoch laut Meinungsumfragen die Entscheidungen
ihrer Politiker als angemessen. Sie vertrauen darauf, dass die Sicherheitspolitik zu
ihrem Besten sein wird. Zudem ist der britische Premier bei Kriegsentscheidungen
relativ ungebunden gegenüber dem Unter- und Oberhaus und seines Kabinetts, so
dass er auch ohne breite Zustimmung einen Krieg führen könnte. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass Blair nicht versucht, die Zustimmung für seine Politik zu erhal-
65
ten. Deshalb versuch er auch die Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates zu bekommen.
d) ökonomische Interessen Großbritanniens
Ob Großbritannien wegen wirtschaftlicher Interessen einen Krieg gegen den Irak
führen will, ist schwer zu beurteilen. Bis zur Verstaatlichung der irakischen Ölgeschäfte 1972 hielten britische Ölgesellschaften eine Zweidrittel-Mehrheit des irakischen Öls. Doch ab da schloss dass irakische Regime keine Verträge mehr mit
britischen oder amerikanischen Firmen ab. Nach der Etablierung einer proamerikanischen, demokratischen Regierung im Irak könnte Großbritannien seinen
Einfluss in dem irakischen Ölbusiness wieder geltend machen. Schaden würde ein
Krieg den britischen Ölgesellschaften wohl nicht, aber ob es in dieser Richtung
schon geheime Pläne mit den USA gibt, kann nur gemutmaßt werden.
IV.
Großbritanniens Position bzgl. der Irak-Resolution
Großbritannien steht in jedem Fall auf der Seite der USA in einem Krieg gegen
Saddam Hussein. Blair wünscht sich jedoch ein UNO-Mandat für den Krieg.
V.
-
Literaturverzeichnis
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66
Frankreich
I.
Geographische Karte
Quelle: University of Texas,
http://www.lib.utexas.edu/maps/europe/france.gif
67
II.
Basisdaten
Quelle, Auswärtiges Amt
Stand: April 2004
Ländername:
Französische Republik (République
Française)
Klima:
Vier Hauptzonen: atlantische Zone gemäßigtes Meeresklima; kontinentale
Zone - ausgeprägte Temperaturunterschiede (insbesondere im Osten); mediterrane Zone - gemäßigt, warmes Meeresklima; alpine Zone - raues Bergklima
Lage:
Europäische Westküste
Größe:
547.026 qkm (ohne ÜberseeDepartements)
Hauptstadt:
Paris (Ile-de-France [Großraum Paris]
zählt 10,8 Mio. Einwohner, Paris-Stadt
2,1 Mio.)
Bevölkerung:
61,1 Mio. Einwohner, davon 4,5 Mio.
Ausländer (2001)
Landessprache:
Französisch
Religionen:
82% römisch-katholisch; 4-5 Mio. Moslems; ca. 0,8 Mio. Protestanten; 0,7
Mio. Juden
Nationaltag:
14. Juli ("Fête nationale"), Jahrestag des
Sturms auf die Bastille 1789
Regierungsform:
Parlamentarische Präsidialdemokratie
mit 2 Kammern (Nationalversammlung:
577 Abgeordnete (für 5 Jahre gewählt);
Senat: 346 Senatoren (für 6 Jahre gewählt).
Staatsoberhaupt
Präsident der Republik, Jacques Chirac
(UMP), seit 1995, am 5. Mai 2002 für 5
Jahre wieder gewählt
Regierungschef:
Premierminister Jean-Pierre Raffarin
(UMP), seit 07.05.2002
Außenminister:
Michel Barnier (seit 31.03.2004)
68
Parlamentspräsidenten:
Nationalversammlung: Jean-Louis Debré (UMP), Senat: Christian Poncelet
(UMP)
Regierungsparteien:
Union pour un Mouvement Populaire
(UMP), Gründung am 17.11.2002 durch
Neogaullisten (RPR), Liberale (DL) und
Teile der Zentristen (UDF).
Weitere Parteien im Parlament
mit Fraktionsstatus: Parti Socialiste
(PS), Parti Communiste (PC), Union
pour la Démocratie française (UDF);
ohne Fraktionsstatus: Les Verts
(Grüne), Radikale Linke (PRG), Mouvement pour la France (MPF)
Ohne Parlamentssitze:
Génération écologie; Front National
(FN); Mouvement National Républicain
(MNR), Mouvement Républicain et
Citoyen (MRC), Ligue Communiste
Révolutionnaire (LCR), Lutte Ouvrière
(LO), Chasse, Pêche, Nature, Tradition
(CPNT)
Gewerkschaften (Dachverbände):
Conféderation Française Démocratique
du Travail (CFDT), ca. 650.000 Mitglieder; Confédération Générale de Travail (CGT), ca. 600000 Mitglieder;CGT- Force Ouvrière (F.O.), ca.
350.000 Mitglieder; Union Syndicale
des Syndicats Autonomes (UNSA), ca.
300.000 Mitglieder; Confédération
Française des Travailleurs Chrétiens
(CFTC), ca. 150.000 Mitglieder;
Wichtige berufsständische
Gewerkschaften:
Fédération de l'Education Nationale
(FEN), ca. 400.000 Mitglieder; Confédération Générale des Cadres (CGC),
ca. 140.000 Mitglieder. CFDT, FO,
CGT und CFTC sind Mitglieder des
Europäischen Gewerkschaftsbundes
EGB.
Mitgliedschaft in internationalen Organisationen:
Vereinte Nationen, EU, NATO (ohne
militärische Integration), WEU, Weltbank, IWF, OECD, UNESCO, Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen,
OSZE
Wichtigste Medien:
Fernsehen: 2 staatliche Sender (France
2, France 3), 3 private Programme (TF
1, Canal plus, M 6), Deutschfranzösischer Kulturkanal Arte. Viele
private Kabelprogramme und kommerzielle Lokalradios
Überregionale Tageszeitun-
Le Figaro, Le Monde, France-Soir, Li69
gen:
bération, Les Echos, La Croix, Aujourd'hui, La Tribune, L'Humanité,
Größte Regionalzeitungen
(Auflage über 300.000):
Ouest France, Le Progrès, Sud-Ouest,
La Voix du Nord
Größte Wochenzeitschriften:
Paris Match, L'Express, Le Nouvel Observateur, Le Point, L'Expansion
Ansässige Deutsche:
ca. 150.000
Bruttoinlandsprodukt:
1,548 Billionen EUR (2003)
pro Kopf:
24.837 EUR (2002, Angaben für 2003
liegen noch nicht vor)
Arbeitslosigkeit:
9,7%
Jugendarbeitslosigkeit:
20,6%
Frauenerwerbstätigkeit:
62,10%
Beschäftigte im öffentlichen
Dienst:
22% der Erwerbstätigen
Durchschnittliche Arbeitszeit:
35,6 Wochenstunden
DurchschnittlicherVerdienst:
2432 Euro brutto/Monat
III.
Das politische System Frankreichs
a) Die Verfassung
Nach der Verfassung der V. Republik vom 04. Oktober 1958 ist Frankreich ein
laizistischer Einheitsstaat, bestehend aus 22 Regionen, 95 Départements, vier überseeischen Départements, zwei überseeischen Gebietskörperschaften und vier
überseeischen Territorien mit beschränkter Selbstverwaltung. Das Regierungssystem hat parlamentarische und präsidiale Elemente mit einer starken Stellung der
Exekutive.
Am 17.03.2003 wurde eine Verfassungsänderung verabschiedet, die die 1982 begonnene Dezentralisierung weiter vorantreibt. In Artikel 1 der Verfassung heißt es
nunmehr, Frankreichs Organisation ist "dezentral". Die Regionen wurden gestärkt
und Flexibilität bei der Übertragung von Kompetenzen auf die Gebietskörperschaften festgeschrieben. Die Dezentralisierung wird durch eine Reihe von - z.T.
noch nicht verabschiedeten - Gesetzen ausgestaltet, die die direkte Demokratie auf
lokaler Ebene stärken, eine Experimentierklausel einführen, den Kompetenz- und
Personaltransfer präzisieren und die lokalen Finanzen regeln.
70
b) Der Präsident
-
vom Volk auf fünf Jahre direkt gewählt (Wiederwahl von Präsident Chirac
am 05. Mai 2002; erste – damals noch siebenjährige – Amtszeit 1995 –
2002);
-
ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die Minister;
-
führt den Vorsitz im Ministerrat;
-
kann die Nationalversammlung auflösen;
-
kann, auf Vorschlag der Regierung oder des Parlaments, Gesetzesentwürfe
zum Volksentscheid vorlegen;
-
ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und entscheidet allein über den Einsatz der Nuklearwaffen;
-
hat letzte Entscheidungsbefugnis bei Ernennung zu bestimmten zivilen
und militärischen Ämtern;
-
hat in Krisenzeiten außerordentliche Befugnisse zur Notstandsregelung.
Das politische System der Fünften Republik wird geprägt durch die zentrale Rolle
des Präsidenten der Republik. Er genießt eine Sonderstellung innerhalb der Demokratien Europas. Infolge seiner Direktwahl durch das Volk ist er in ähnlicher
Weise wie die Nationalversammlung unmittelbar legitimiert. Durch eine Verfassungsänderung wurde 2002 seine Amtszeit von früher 7 auf 5 Jahre verkürzt. Sie
entspricht damit der Länge des Mandats der Nationalversammlung. Der Präsident
ist Staatsoberhaupt und Hüter der Verfassung. Er ist zugleich oberster Chef der
Exekutive. So führt der Präsident den Vorsitz im Ministerrat und vertritt Frankreich, unter Umständen gemeinsam mit dem Premierminister, auf internationaler
Ebene (z.B. beim Europäischen Rat). Die Außen- und Sicherheitspolitik gilt traditionell vorrangig als seine Zuständigkeit ("domaine réservé"). Die herausgehobene
Stellung des Präsidenten verpflichtet ihn einerseits zur Überparteilichkeit (Repräsentant aller Franzosen), zugleich ist er aber auch Repräsentant einer politischen
Richtung.
Die tatsächliche Machtstellung des Präsidenten wird von den Kräfteverhältnissen
im Parlament mitbestimmt: Hat der Präsident eine Mehrheit der Nationalversammlung hinter sich, bestimmt er die großen Linien der Politik. Möglich ist aber
auch die sog. "Kohabitation", bei der der Staatspräsident keine politische Mehr71
heit im Parlament hat und die Partei des Präsidenten nicht in der Regierung vertreten ist.
Nach seiner Wiederwahl als Präsident am 5. Mai 2002 hat Staatspräsident Chirac
am 6. Mai 2002 Premierminister Raffarin ernannt, der eine bürgerliche Regierung
gebildet hat. Diese wurde nach dem Sieg der bürgerlichen Rechten bei den Parlamentswahlen am 09. und 16. Juni 2002 im Amt bestätigt.
c) Der Premierminister
•
leitet die Tätigkeit der Regierung;
•
ist verantwortlich für die Landesverteidigung und Ausführung der Gesetze;
•
nimmt in Übereinstimmung mit dem Staatspräsidenten Ernennungen zu
zivilen und militärischen Ämtern vor;
•
hat weitreichende Rechtsverordnungsbefugnisse.
d) Regierung und Parlament
Die Regierung ist sowohl vom Vertrauen des Präsidenten als auch des Parlaments
(Misstrauensvotum) abhängig. Sie ist dem Parlament verantwortlich.
Das Parlament besteht aus Nationalversammlung und Senat:
Die Nationalversammlung hat 577 Abgeordnete, die durch reines Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen für fünf Jahre gewählt werden. Das reine Mehrheitswahlrecht führt in der Regel zu klaren Mehrheiten. Die beiden Wahlgänge zu den
letzten allgemeinen Wahlen fanden am 9. und 16. Juni 2002 statt. Die bürgerliche
Rechte (Union pour un Mouvement Populaire/UMP, bestehend aus Neogaullisten,
Zentristen und Liberalen) erreichte die absolute Mehrheit.
Der Senat hat bisher 321, künftig 346 Mitglieder. Das Senatsmandat wurde im
Juli 2003 von neun auf sechs Jahre verkürzt. Nach dem neuen Wahlzyklus wird
künftig alle drei Jahre die Hälfte der Senatoren indirekt von Repräsentanten der
Gebietskörperschaften gewählt (letzte Teil-Neuwahl September 2001). Die Reform gilt ab den Senatsteilwahlen im September 2004. Auch im Senat verfügt die
bürgerliche Rechte über eine deutliche Mehrheit.
72
e) Politische Parteien
Die politischen Parteien des Landes ordnen sich traditionell dem Lager der "Linken" bzw. der (bürgerlichen) "Rechten" zu. Im November 2002 haben RPR (Neogaullisten), DL (Liberale) und Teile der UDF (Zentristen) die bürgerlich-rechte
Sammelpartei "Union pour un mouvement Populaire/UMP" gegründet. Sie verfügt in der Nationalversammlung über eine absolute Mehrheit und stellt die meisten der Regierungsmitglieder. Die Teile der UDF, die sich nicht der UMP angeschlossen haben, bilden in der Nationalversammlung eine eigene Fraktion. Die
UDF stellt einen Minister.
Größte Oppositionspartei ist der PS (Sozialisten). Außerdem sind der PCF
(Kommunisten), der PRG (Radikale Linke) und die Grünen in der Opposition.
Die in zwei Parteien gespaltene extreme Rechte - Front National (FN) und Mouvement National Républicain (MNR) - ist nicht in der Nationalversammlung vertreten.
Die Anfang 2003 verabschiedete Wahlrechtsreform (für die Regional- und Europawahlen) erhöht die Prozentschwelle zur Teilnahme an der zweiten Wahlrunde
der Regionalwahlen von 5 auf 10% der abgegebenen Stimmen. Damit sollen radikale Parteien eingedämmt und das Parteiensystem stabilisiert werden. Gleichzeitig
wird die Tendenz zur Bipolarisierung gefördert.
Seit den Regionalwahlen im März 2004 stellt die Linke erstmals die Präsidentschaft in der Mehrzahl der 22 Regionen.
IV.
Grundzüge der Innenpolitik
a) Grundlinien der Wirtschaftspolitik
Die Regierung Raffarin verfolgt eine marktwirtschaftliche Politik, die auch im
sozialen Bereich eher auf die Autonomie der Tarifvertragsparteien als auf staatliche Eingriffe setzt, letztere aber bei ausbleibender Einigung der Tarifpartner auch
nicht scheut. Die Regierung verfolgt das Ziel, der in den vergangenen fünf Jahren
gewachsenen Kapitalflucht Einhalt zu gebieten und den Standort Frankreich auch
für ausländische Direktinvestitionen wieder attraktiv zu machen. Das World Economic Forum hatte die internationale Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs Ende
73
2003 von Platz 28 auf Platz 26 heraufgestuft (Deutschland nahm 2003 auf dieser
Liste den 13. Rang ein).
b) Aktuelle Wirtschaftslage
Nach einem von 1997-2000 auch im europäischen Vergleich relativ dynamischen
Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3 % pro Jahr sank die Wachstumsrate
auf 1,8 % 2001, gefolgt von 1,0% 2002 und (s.o.) lediglich 0,2% im Jahr 2003.
Die Inflationsrate blieb mit 1,8% 2001 und 1,9% 2002 relativ konstant, stieg jedoch 2003 auf 2,2% an.
Die wirtschaftlichen Aussichten sind gedämpft positiv. Das Wachstum 2004 soll
1,7% erreichen. Die Aussicht auf eine bis Mitte 2004 kaum sinkende Arbeitslosigkeit (von derzeit 9,7%) hat inzwischen auch den privaten Konsum, der in den
vergangenen Jahren regelmäßig stärker wuchs als das BSP und damit einen wesentlichen Konjunkturmotor bildete, zurückgehen lassen Die Unternehmen haben
zum großen Teil die Konsolidierungsphase noch nicht abgeschlossen, das Investitionsverhalten bleibt insgesamt zurückhaltend, zieht aber langsam an. Eine Besserung der Wirtschaftslage im Jahr 2004 ist wahrscheinlich, wird jedoch frühestens
in der zweiten Jahreshälfte spürbare Auswirkungen – insbesondere auf dem Arbeitsmarkt - zeitigen.
c) Energie und Umwelt
Ziele französischer Energiepolitik sind die sichere und preiswerte Energieversorgung bzw. eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit von Energieeinfuhren.
Seit der Ölkrise der siebziger Jahre setzt die Regierung auf einen ausgewogenen
Energiemix bzw. auf die Nutzung der Kernkraft. Der Anteil der Kohle am Primärenergieverbrauch sank seither von 15 % auf 6 %. Gleichzeitig stieg der Anteil der
Kernkraft von 2 % auf 29 %. Erdöl deckt 38 % des Energieverbrauchs, Erdgas 15
%, Wasserkraft 7 % und andere erneuerbare Energien 5 %.
78 % der Elektrizität wird aus Kernkraft gewonnen. 2006 soll das Parlament über
das künftige Konzept der Lagerung radioaktiver Abfälle ("loi Bataille") entscheiden, zu dessen Vorbereitung umfangreiche Forschungsarbeiten durchgeführt werden. Die künftige Ausrichtung der Energiepolitik, insbesondere der Energiemix
74
und der Bau weiterer Kernkraftwerke, ist noch offen. Grundlage der künftigen
Entscheidung der Regierung wird der mit der Energiedebatte vom Frühjahr 2003
hierzu geführte Dialog mit der Zivilgesellschaft sein. Hierbei zeichnete sich eine
Beibehaltung der Nutzung der Kernenergie ab, gleichzeitig soll den erneuerbaren
Energien ein stärkerer Anteil an der Energieversorgung eingeräumt werden. Derzeit wird das Weißbuch zur Vorbereitung des geplanten Energiegesetzes erörtert.
Die aus der Fusion ehemaliger Staatsunternehmen hervorgegangene Total S.A. ist
der viertgrößte Mineralölkonzern der Welt. Electricité de France (EdF) und Gaz
de France (GdF) waren Monopolanbieter. Inzwischen ist der Strommarkt im Einklang mit der EU-Stromrichtlinie zu 30 v.H. geöffnet, ein weiterer Liberalisierungsschritt (Wahlfreiheit des Versorgers für alle gewerblichen Abnehmer) steht
für den 1. Juli 2004 bevor. Die von der EU vorgeschriebene 20prozentige Öffnung
des französischen Gasmarkts wird erst 2004 erreicht.
Die Nutzung alternativer Energien, die seit 1975 bei etwa 5 % stagniert, wird von
der Regierung gefördert. Ein Stromeinspeisungsgesetz mit ähnlichen Regelungen
wie in Deutschland hat in Frankreich zu einem spürbaren Zuwachs der installierten Windkraftleistung geführt; in manchen Gegenden regt sich jedoch der lokale
Widerstand gegen den Zubau neuer Anlagen. Darüber hinaus hegt die Regierung
Raffarin ebenso wie zuvor bereits die Regierung Jospin Zweifel, ob sie der französischen Wirtschaft Erhöhungen der Energiekosten zumuten kann, die ihre
Wettbewerbsfähigkeit schwächen.
Frankreich ist Unterzeichner des Kyoto-Protokolls und setzt sich für die im Rahmen der EU festgelegte Reduzierung der Emissionen ein. 2000 (letzte verfügbare
gemessene Werte) sank die CO2-Emission um 0,5 % auf 106 Mio. t. Bis 2010
werden die CO2-Emissionen voraussichtlich wieder auf 126 Mio. steigen.
V.
Grundzüge der Außenpolitik
a) Gaullistisch geprägte Außenpolitik
Frankreich engagiert sich nachdrücklich für ein nach außen handlungsfähiges Europa, das es als wichtiges Element einer Welt mit mehreren, einander ausbalancierenden Machtzentren sieht. Frankreich wahrt aber auch ein hohes nationales Profil
in der Außenpolitik. Hier wirken die Maximen des Gaullismus noch nach: autonome Verfügungsgewalt über sein militärisches, insbesondere sein Nuklear75
Potential, aktive Rolle in der Welt einschließlich der Bereitschaft zum militärischen Engagement, privilegiertes Verhältnis zu den Staaten der Dritten Welt sowie weltweites Eintreten für Freiheit und Menschenrechte. Das Verhältnis zu den
USA ist von einer historisch vielfach bewährten Partnerschaft einerseits und kritischer Distanz zur wachsenden Vormachtstellung der amerikanischen Supermacht
andererseits geprägt. Frankreich baut seine bilateralen Beziehungen zu anderen
wichtigen strategischen Partnern wie Russland und China, kontinuierlich aus.
Deutschland ist für Frankreich der wichtigste Partner, insbesondere beim weiteren
Ausbau der Europäischen Union.
b) Politik im Rahmen der Vereinten Nationen
Frankreich gehört zu den entschiedensten Verteidigern des multilateralen Systems
mit den VN als zentraler Organisation. Es ist führendes und tragendes Mitglied
der Vereinten Nationen. Es leistet aktive Beiträge zu VN-Missionen und zu humanitären Einsätzen. Es setzt sich für eine Reform der VN ein und spricht sich als
Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats für eine Erweiterung dieses Organs u.a.
durch Deutschland aus. Im Irakkonflikt setzt sich Frankreich gemeinsam mit
Deutschland für eine zentrale Rolle der VN und eine rasche Wiederherstellung der
Souveränität Iraks ein, um ein Abgleiten des Landes ins Chaos zu verhindern.
c) Europapolitik
Angesichts der globalen Herausforderungen hat für Frankreich der weitere Ausbau der Europäischen Union und die Entwicklung ihrer Handlungsfähigkeit nach
außen besonderes Gewicht ("Europe Puissance"). Es vertritt daher das Interesse an
der Entwicklung einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wie vorher schon im Konvent prägt engste Abstimmung zwischen
Deutschland und Frankreich auf politischer und administrativer Ebene die Arbeit
der Regierungskonferenz zur Erarbeitung einer europäischen Verfassung. Ein
starkes und gegenüber anderen Machtzentren der Welt gleichberechtigtes Europa
beruht aus traditioneller französischer Sicht prioritär auf enger intergouvernementaler Zusammenarbeit – daher ist für Frankreich im Rahmen der Regierungskonferenz ein starker Präsident des Europäischen Rates sowie ein das Vertrauen der
Mitgliedstaaten genießender Außenminister von vordringlicher Bedeutung. Mit
dem ehemaligen Europäischen Kommissar und neuen Außenminister Michel Barnier wird ein gemeinschaftsfreundlicher und integrationsorientierter Politiker die
76
französische Europapolitik mit gestalten. Nach innen will Frankreich in Europa
die kulturelle Diversität – und damit auch die französische Sprache – fördern sowie ein 'rheinisches', angelsächsischen Konzepten entgegengestelltes, Sozial- und
Gesellschaftsmodell erhalten, in dem soziale Sicherungssysteme und ein funktionsfähiges Netz öffentlicher Leistungen jedem Bürger zugänglich sind.
d) Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Das französische Verteidigungsbudget ist eines der wenigen Kapitel des Staatshaushaltes, das eine Steigerung erfahren hat (um 4% gegenüber 2003, insgesamt
41,56 Mrd. Euro). Frankreich versteht sich als Nuklearmacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der VN weiterhin als einer der Hauptakteure im Konzert
der Nationen.
Dass die EU sich auch militärisch organisiert, steht für Frankreich in der Logik
einer multipolaren Weltordnung. Dass Frankreich hierbei für sich eine führende
Rolle beansprucht, wurde nicht zuletzt mit dem unter französischer Führung 2003
erfolgreich zu Ende gebrachten ersten Krisenreaktionseinsatz der EU "Artemis" in
Bunia/Kongo deutlich.
e) Mittel-, Ost- und Südosteuropa-Politik
Mit seiner Mittel- und Osteuropapolitik will Frankreich die demokratische und
marktwirtschaftliche Neuordnung durch enge politische, ökonomische und technologische Zusammenarbeit mit den betroffenen Staaten stärken. Paris trägt die
EU-Erweiterung mit. Im Verhältnis zu Russland verfolgt Frankreich eine auf wirtschaftliche und politische Partnerschaft ausgerichtete Politik, auch im Rahmen der
internationalen Organisationen. Es geht von einem baldigen Wiederaufstieg Russlands als Machtfaktor im internationalen System aus.
Frankreich gestaltet die internationalen Bemühungen zur Stabilisierung des Balkan aktiv mit. Es engagiert sich sowohl diplomatisch (Umsetzung des Friedens
von Dayton und des Stabilitätspaktes für Südosteuropa) als auch militärisch (große französische Kontingente bei SFOR in Bosnien-Herzegowina und KFOR im
Kosovo).
77
f) Afrikapolitik
Frankreich sieht sich als Freund und Anwalt Afrikas und betreibt vor allem unter
humanitären Gesichtspunkten eine aktive Afrikapolitik. Zur Befriedung der Elfenbeinküste schickte es 4.000 Soldaten und engagierte sich für die Entsendung
einer VN-Friedensmission (wird ab April 2004 eingesetzt); im KongoBürgerkrieg organisierte es in Bunia die erste ausschließlich von der EU entsandte
Militärmission unter VN-Mandat. Auch auf dem G8-Gipfel Anfang Juni 2003 in
Evian unterstrich Präsident Chirac das Interesse an Afrika auf höchster Ebene.
Ziel ist u.a., die französische Entwicklungshilfe in den nächsten 5 Jahren auf 0,7%
des BSP zu erhöhen.
g) Mittelmeer- und Nahostpolitik
Der Mittelmeerraum, insbesondere der Maghreb, stellt seit langem einen Schwerpunkt der Außenpolitik dar. Die Stabilität der Region hat direkte Auswirkungen
auf die äußere und innere Sicherheit Frankreichs. In Frankreich leben rund 4,5
Mio. Menschen nordafrikanischer Herkunft und über 600.000 jüdische Bürger. Im
Nahostkonflikt fordert Frankreich eine beschleunigte Umsetzung der sog. "road
map" des Nahost-Quartetts, eine internationale Friedenskonferenz, von Israel einen Rückzug aus den besetzten Palästinenser-Gebieten und von Palästina einen
klaren Verzicht auf Terroranschläge, um der Spirale der Gewalt zu entkommen.
h) Französisch-amerikanisches Verhältnis
Frankreich bleibt andererseits um eine Verbesserung seines Verhältnisses zu den
USA bemüht und knüpft dabei insbesondere an seine eigene Rolle als "ältester
Alliierter" der USA an. Die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus ist eng und effizient. Frankreich beteiligt sich – im europäischen Rahmen –
an gemeinsamen Lösungsansätzen für regionale Krisen (Naher und Mittlerer Osten, Afghanistan).
© 1995 - 2004 Auswärtiges Amt
Teilweise gekürzt:
http://www.auswaertigesamt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=11&land_id=46
78
VI.
Frankreich und der Irak
a) Das Verhältnis Frankreich – Irak bis zum 2. Golfkrieg
Frankreichs spezifische Haltung zum Irak lässt sich teilweise auf die außenpolitische Situation während der 70er Jahre zurückführen. Die Kriege gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien von 1954 -1962 und die "Suez-Expedition" von
1956, also der Angriff auf das nasseristische Ägypten zusammen mit Großbritannien und Israel infolge der Nationalisierung des Suez-Kanals, führten zur diplomatischen Isolation von Paris im Mittelmeerraum. Bis wenige Tage vor dem
Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 lieferte Frankreich größere Waffenmengen an
Israel, was seine schwierige außenpolitische Situation jedoch weiter verschärfte.
Daraufhin leitete De Gaulles die „politique arabe“ ein. Unter De Gaulles Nachfolgern Pompidou (1969 - 1974) und Giscard d'Estaing (1974 - 81) kam diese
Politik dann zum tragen. Zunächst baute Frankreich seine Beziehung zu Libyen,
unter Muammar Gaddafi, aus, welches sich jedoch als wenig verlässlicher Bündnispartner erwies. Doch die Einflusssphären im Nahen Osten waren bereits weitgehend aufgeteilt. Saudi-Arabien und der Iran standen in engem Kontakt mit den
USA. Die ehemaligen britischen Kolonien Kuwait und Bahrain standen unter britischem Einfluss.
Doch langsam entwickelte sich der Irak zum devisenkräftigen Land durch die Nationalisierung der ehemals britischen Erdölquellen 1971 durch Saddam Hussein.
Zudem stieg der Ölpreis stetig an, von 1973-1983 um nahezu das fünfzigfache.
Der französische Premierminister Chirac bezeichnet bereits 1975 Saddam Hussein
als einen „persönlichen Freund“. Die Beziehung zwischen Bagdad und Paris basierte vor allem auf Waffenlieferungen Frankreichs an den Irak. In den 70er und
80er Jahren war Frankreich der wichtigste Waffenlieferant des Irak für konventionelle Waffen. Frankreich verhalf Saddam Hussein sogar zu zwei Forschungsreaktoren, welche jedoch von der Israelischen Luftwaffe 1981 zerstört wurden. Frankreich unterstützte dann auch den Irak im Krieg gegen den Iran. Die Sozialisten
bezeichneten diese Beziehung als skrupellose Geschäftemacherei mit einer Diktatur. Als sie jedoch 1981, kurz nach Beginn des ersten Golfkriegs an die Regierungsmacht kamen, blieb es bei der Unterstützung des Irak durch Frankreich.
79
b) Das Verhältnis Frankreich – Irak nach dem 2. Golfkrieg
Im zweiten Golfkrieg 1991 vollzog Frankreich unter Präsident Mitterrand jedoch
eine Kehrtwende und trat nun als „Vermittler“ zwischen den Kriegsparteien auf.
Bei der Befreiung Kuwaits schloss sich Frankreich der US-geführten Allianz an
und so kämpften 15.000 französische Soldaten gegen den Irak. Trotz dieses Einsatzes erhielt Frankreich keine lukrativen Wiederaufbau-Verträge in Kuwait.
In den folgenden Jahren, verstärkt 1995, bauten Paris und Moskau ihre Geschäftsbeziehungen zu Bagdad wieder aus. Es wurden Erdölförder-Verträge zwischen
dem französischen Unternehmen Total und dem russischen Unternehmen Lukoil
mit dem Irak geschlossen, welche jedoch erst mit Beendigung des Embargos
wirksam werden könnten. Die USA akzeptierten zwar das Regime Saddam Husseins, das irakische Öl wollten sie jedoch vom Weltölmarkt fernhalten. So setzten
sie sich verstärkt für Sanktionen ein um den Irak nach außen hin zu schwächen
und zu isolieren. Dies verhinderte das Inkrafttreten dieser Verträge zwischen französischen Firmen und dem Irak über Ölkäufe und Ölförderung. Auch war der Irak
durch die Sanktionen nicht in der Lage seine Schulden bei Frankreich in Höhe von
rund 8 Mrd. US-Dollar zu begleichen. Durch das seit 1996 wirksame „Oil for
Food“-Abkommen wurde die Beziehung zwischen dem Irak und Frankreich jedoch wieder aufgewertet. 1997 konnten sich Elf und Total Kauf- und Förderverträge sichern. So entwickelte sich Frankreich zum zweitgrößten Ölpartner des
Irak. Frankreich investierte 1999 ca. 761 Mio. Euro im Irak, im Jahr 2000 waren
es dann schon knapp 1,4 Mrd. Euro. Frankreich bezieht rund 10% seines Erdölbedarfs aus der Golfregion. So ist es auch nicht verwunderlich, das Frankreich Interesse daran hat, an den Entscheidungen über eine Nachkriegsordnung im Irak beteiligt zu sein, wenn es trotz der französischen Proteste zu einem Krieg kommen
sollte. Auch wird gemunkelt, dass viele „Scheinfirmen“ des Irak ihren Sitz in
Frankreich haben und das Einnahmen des Irak auf Konten der französischen
„Banque Nationale de Paris“ fließen.
c) Die Position Frankreichs in der Irakfrage
Frankreich setzte sich gemeinsam mit Russland und Deutschland in einer Erklärung vom 10.Februar 2003 für die weitere friedliche Entwaffnung des Irak durch
die UNO-Waffenkontrolleure ein. Auch entwarfen sie gemeinsam einen alternativen Resolutionsentwurf zur vorgelegten Resolution der USA und Großbritan80
niens. Russland und Frankreich bieten auch ihre Unterstützung bei der Luftüberwachung des Irak an. Paris betonte immer wieder, dass ein Krieg ohne UNOMandat von ihnen nicht toleriert werde. Andererseits wird jedoch von Frankreich
darauf hingewiesen, dass ein militärisches Eingreifen als letztes Mittel zur Entwaffnung des Irak legitim sei, aber dass eben noch nicht alle friedlichen Mittel
ausgeschöpft seien.
Diese Haltung Frankreichs in der UNO wird oft mit der Konkurrenz um Einfluss
in der Weltpolitik mit den USA erklärt. Dies zeigen auch die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Mächten in der NATO. Bereits weit vor der aktuellen
Irakkrise gab es Konflikte zwischen den USA und Frankreich. Frankreich zog sich
1966 aus den militärischen Strukturen der NATO heraus. Vor allem ging es
Frankreich darum, dass die USA keine Macht über ihre Atomwaffen bekommen.
Als 1996 Chirac den Vorschlag machte, dass Frankreich wieder dem Oberkommando der NATO beitreten würde unter der Bedingung, dass sie mindestens einen
wichtigen Oberbefehl bekämen, z.B. über die NATO-Südflanke, zu dem auch der
Oberbefehl über die Flottenverbände im Mittelmeer zählt, lehnte die USA diesen
Vorschlag entschieden ab. Dennoch hat sich Frankreich seit 1996 wieder verstärkt
in der NATO integriert. Auch sichern sie dem Bündnispartner Türkei militärische
Hilfe im Falle eines Angriffs des Irak zu. Aber die Sorge, dass sich die NATO
allein an der US-Politik ausrichtet, bleibt ein bestehendes Problem zwischen den
USA und Frankreich.
Diese Sorge vor einer Vormachtstellung Amerikas könnte auch das Interesse
Frankreichs an einer starken EU, auch in militärischer Hinsicht, erklären. Die gemeinsamen Resolutionsentwürfe mit Deutschland und Russland setzten ein wichtiges Zeichen für die europäische Identität. Die starke Verbindung zwischen
Deutschland und Frankreich, welche gar als „Motor“ der EU bezeichnet wird,
konnte durch die gemeinsame Ablehnung des Vorgehens von G.W.Bush, noch
gestärkt werden.
Innenpolitisch konnte Chirac sein Ansehen in der Bevölkerung durch sein „Nein“
zum Krieg verbessern. Schätzungsweise sind 70% der Bevölkerung gegen einen
Irakkrieg. Die französische Friedensbewegung wünscht sich ein Veto im Sicherheitsrat gegen eine Resolution nach der Resolution 1441. Auch die Sozialisten
und die Mehrheit der Konservativen sind für solch ein Veto gegen eine Resolution, welche ein militärisches Vorgehen der USA und Großbritanniens legitimieren
81
würde. Nur die politische Rechte, eine Minderheit in Frankreich, bezieht eine proamerikanische Position. Auch gab es viele Antikriegsdemos in Frankreich, in denen sich weite Teile der Bevölkerung für eine friedliche Lösung der Irakkrise einsetzten.
VII. Frankreichs Position bzgl. der Irak-Resolution
Frankreich ist gegen einen Alleingang der USA und Großbritanniens, aber ob
Frankreich in einen Krieg gegen den Irak eintreten würde, wenn eine UNOResolution dafür beschlossen wird, lässt Paris offen.
VIII. Literaturverzeichnis
-
Igor Maksimitschew, Nesavisimaja Gaseta, EIR (2003): „Deutschland, Frankreich und Rußland begründen "großeuropäische Friedensachse"“, unter:
http://www.bueso.deseitenaktuell03-03-03.htm, 8.9.2004
-
Bernhard Schmid:“ Machtpoker unter Zockern - Frankreichs Irakpolitik beruht
auf Konkurrenz zu den USA“, zuerst erschienen in: iz3w - Blätter des Informationszentrums 3. Welt, Nr. 268, erhältlich unter:
http://www.sopos.orgaufsaetze3e888e1b620cb1.phtml, 8.9.2004
-
Mönninger, Michael (2003): „Chiracs kalter Krieg - Gegen Amerika, für - ja,
für was? Frankreich kommt den USA als Sündenbock gerade recht“, in Die
Zeit 14/2003, erhältlich unter: http://www.zeit.de200314Chirac, 8.9.2004
-
„Frankreichs Interessen“, unter:http://www.graswurzel.net227frankreich.shtml, 8.9.2004
-
Cheng Xingyuan, Mitarbeiter des Chinesischen Instituts für Zeitgenössische
Internationale Beziehungen, „Ölinteressen sichern - Einige europäische Länder suchen neue Energiepartner und arbeiten neue Energiestrategien aus“, unter: http://www.bjrundschau.com2003-182003.18-world-2.htm, 8.9.2004
82
Russland
I.
geographische Karte
83
II.
Basisdaten
Quelle: Auswärtiges Amt
Stand: Juni 2004
Ländername:
Russische Föderation (Russland) - Rossiskaja Federazija (Rossija)
Klima:
Von Nord nach Süd Übergang von arktischem zu
kontinentalem Klima (trocken; sehr kalte Winter,
warme bis heiße Sommer)
Lage:
Im östlichen Teil Europas und im nördlichen Teil
Asiens, mit Grenzen zu Norwegen, Finnland, Polen, Mongolei, Volksrepublik China, Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea), Estland,
Lettland, Litauen, Belarus (Weißrussland), Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan
Größe des Landes
Fläche: 17.075.000 qkm
Hauptstadt:
Moskau (ca. 8,75 Mio. Einwohner)
Bevölkerung:
Einwohner 145, 2 Mio. (davon ca. 2/3 im europäischen Teil)
Bevölkerungsdichte: 8,43 Einw./qkm
Anteile der Nationalitäten (Stand 2003):
79,8% Russen
3,8% Tataren
2,0% Ukrainer
1,1% Tschuwaschen
1,1% Baschkiren
0,8% Armenier
0,4% Russlanddeutsche, u.a (insgesamt 160 ethnische Gruppen).
Landessprache:
Russisch
Religionen:
Christentum (russisch-orthodox), Islam, Judentum, Buddhismus
Nationaltag:
12. Juni - Tag der Unabhängigkeit (Souveränitätserklärung der RSFSR 1990)
Regierungsform:
Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau
Staatsoberhaupt:
Präsident der Russischen Föderation Wladimir
Wladimirowitsch Putin (amtierender Präs. seit
31.12.1999, wiedergewählt am 14.03.2004, Amts84
übernahme am 07.05.2004)
Regierungschef:
Amtierender Vorsitzender der Regierung der Russischen Föderation Michail Jefimowitsch Fradkow
(seit 14.03.2004)
Außenminister:
Sergej Wiktorowitsch Lawrow (seit 14.03.2004)
Parlament:
"Föderationsversammlung" bestehend aus
Staatsduma: 450 Deputierte, Vorsitzender Boris
Wjatscheslawowitsch Gryslow ("Einheitliches
Russland", seit 28.12.2003)
Föderationsrat: 178 Vertreter (je zwei entsandt aus
jedem Föderationssubjekt), Vorsitzender Sergej
Michailowitsch Mironow (gewählt am
05.12.2001)
Staatsrat
Gremium, das die Gouverneure der Föderationssubjekte unter Vorsitz des Präsidenten vereint.
Durch Präsidialerlass geschaffen, nicht in der Verfassung verankert, rein beratende Funktion
Sicherheitsrat:
Koordinationsorgan für innen- und außenpolitische Entscheidungen von strategischer Reichweite, die die Sicherheit des Landes berühren, Sekretär des Sicherheitsrats: Igor Sergejewitsch Iwanow
Regierungsnahe
"Einheitliches Russland" (Jedinaja Rossija).
Parteien:
Zusammensetzung
der
gewählten
Staatsduma:
"Einheitliches Russland" (300 Sitze)
Kommunistische Partei Russlands (52 Sitze),
"Liberaldemokratische Partei Russlands" (36 Sitze),
"Heimat" (36 Sitze)
fraktionslose Abgeordnete: 23 Sitze
Gewerkschaften:
Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR,
44 Mitgliedsgewerkschaften mit insgesamt ca. 38
Mio. Mitgliedern)
seit 1990 einige Branchengewerkschaften, Ansätze zu Betriebsgewerkschaften
Mitgliedschaften
Vereinte Nationen (ständiger Sitz im VNSicherheitsrat: UdSSR seit 1945, Russland seit
24.12.1991)
Internationaler Währungsfonds (IWF), seit Mai
1992
Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD) (Weltbank), seit Mai 1992
Internationale Entwicklungsorganisation (IDA),
seit Mai 1992
Nordatlantischer Kooperationsrat (UdSSR seit
seiner Gründung 1991)
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), seit
in Internationalen
Organisationen:
85
Dezember 1991
OSZE, seit Unterzeichnung der Schlussakte von
Helsinki 1975
Ostseerat, seit seiner Gründung im März 1992
Europarat, seit 28.02. 1996
APEC seit 1998
Shanghai Fünf / Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit seit Gründung 1996
Wichtigste
Me-
dien
ihre
und
Websites
Nachrichtenagenturen:
ITAR-TASS / www.itar-tass.ru (halbstaatlich),
RIA-Novosti / www.rian.ru (Teil der staatlichen
Medienholding WGTRK), Interfax /
www.interfax.ru (privat)
Fernsehsender:
National: Perwyj Kanal / www.1tv.ru (1. Kanal,
halbstaatlich), Rossija / www.rutv.ru (2. Kanal,
Teil der staatlichen Medienholding WGTRK),
NTW / www.ntv.ru (gegenwärtig im Mehrheitsbesitz der staatlichen GASPROM), TVS /
www.tvs.tv. (unter dem Dach offizieller, halbstaatlicher Organisationen)
Regional: TVZ / www.tvc.ru (Moskauer Stadtverwaltung), Kultura / www.tvkultura.ru (Teil der
staatlichen Medienholding WGTRK), REN-TV /
www.ren-tv.com (private Sendergruppe):
Radiosender:
Radio Rossii / www.radiorus.ru, Radio Majak /
www.radiomayak.ru, Golos Rossii / www.vor.ru
(alle Teile der staatlichen Medienholding
WGTRK), Echo Moskvy / echomsk.ru (privat)
Radio Swoboda / www.svoboda.ru, dazu zahlreiche regionale und lokale Sender.
Tageszeitungen
(Auflagen in Tausend, nach eigenen Angaben):
Moskowski Komsomolez / www.mk.ru (2250),
Komsomolskaja Prawda / www.kp.ru (797), Trud
/ www.trud.ru (613), Rossiskaja Gaseta /
www.rg.ru (432), Krasnaja Swesda /
www.redstar.ru (80), Iswestija / www.izvestia.ru
(234), Kommersant / www.kommersant.ru (117),
Wremja Nowostjej / www.vremya.ru (52), Gaseta
/ www.gzt.ru. (61),
Wremja-Moskowskije Novosti /
www.vremyamn.ru (50), Wedomosti /
www.vedomosti.ru (59), Nesawisimaja Gaseta /
www.ng.ru (42), Moscow Times /
www.themoscowtimes.com (englischsprachig, 35)
Moskauer Deutsche Zeitung / www.mdzmoskau.de (42),
Wochenzeitungen und Magazine:
Argumenty i Fakty / www.aif.ru (2920), Nowaja
Gaseta / www.novayagazeta.ru (124),
86
Moskowskije Nowosti / www.mn.ru (118), Ogonjok / www.ropnet.ru/ogonyok( 50), Wlast /
http://vlast.kommersant.ru ( 74), Eschenedelni
Journal / www.ej.ru (35), Itogi / www.itogi.ru
(85), Expert / www.expert.ru (60), Nowoje Wremja / www.newtimes.ru (25) Konservator /
www.egk.ru (55), Dengi / www.kommersant.ru/kmoney.ru (101) Russkij Fokus /
www.russianfocus.ru (32)
Reine Internet-Zeitungen:
gazeta.ru, lenta.ru, polit.ru, westi.ru, utro.ru, strana.ru, smi.ru, inosmi.ru.
Entwicklung
des
Bruttoinlandspro-
2000: +9%; 2001: +5%; 2002: +4,3%; 2003:
+7,3%
dukts:
III.
Geschichte Russlands
a) Geschichte bis 1917
Die früheste Geschichte des eigentlichen, europäischen Russlands ist im Norden
geprägt von finno-ugrischen Völkern und Balten, und im Süden von den indogermanischen Steppenvölkern des Kurganvolks, der Kimmerier, Skythen, Sarmaten
und Alanen; später kamen hier noch Griechen, Goten, Hunnen und Awaren hinzu.
In der Mitte, zwischen Dnjepr und Bug, fand die Ethnogenese der slawischen
Völker statt, die sich ab dem 6. Jahrhundert auch nach Norden und Osten auszudehnen begannen.
Ab dem 8. Jahrhundert befuhren schwedische Wikinger die osteuropäischen Flüsse, gründeten Städte und Siedlungen und vermischten sich mit der slawischen
Bevölkerung. Diese auch Waräger oder Rus genannten Kriegerkaufleute waren
maßgeblich an der Gründung des ersten ostslawischen Staates, der "Kiewer Rus"
mit Zentren in Kiew und Nowgorod, beteiligt. Im südlichen Steppengebiet und an
der Wolga waren hingegen Reiche der aus Asien eingeströmten Turkvölker, der
Chasaren und Wolgabulgaren, entstanden, mit denen die Rus Handel trieben, aber
auch mehrfach Kriege führten. Intensive Kontakte mit dem Byzantinischen Reich
führten schließlich 988 zur orthodoxen Christianisierung der Kiewer Rus.
Im 12. Jahrhundert begann die Kiewer Rus zu zerfallen, was es den ab 1223 einfallenden Mongolen erleichterte die zerstrittenen russischen Fürstentümer zu unterwerfen. Die Goldene Horde beherrschte nun für zwei Jahrhunderte einen gro87
ßen Teil Russlands, ein anderer Teil wurde dem Großfürstentum Litauen eingegliedert. Das Großfürstentum Moskau konnte sich schließlich von der mongolischen Fremdherrschaft befreien, und Großfürst Iwan IV. ließ sich 1547 zum ersten
"Zaren der ganzen Rus" krönen. Unter seiner Herrschaft begann auch die Eroberung Sibiriens, die russische Kosaken erstmals im 17. Jahrhundert bis an den Pazifik brachte.
An der Wende zum 18. Jahrhundert öffnete Zar Peter der Große das archaische
russische Reich westeuropäischen Einflüssen und förderte Wissenschaft und Kultur. Zarin Katharina die Große ging Peters Weg weiter und betrieb konsequent
Expansionspolitik, im Laufe derer sie die Schwarzmeerküste von den Türken eroberte und sich an den Polnischen Teilungen beteiligte. 1812 fielen Napoleons
Truppen in Russland ein und eroberten Moskau, wurden schließlich jedoch vernichtend geschlagen. Bald darauf zog Zar Alexander I. als "Retter Europas" in
Paris ein. Russland war nun die führende Macht in Europa und erlebte ein goldenes Zeitalter.
Ab 1825 gab es im unzufriedenen Volk und bei der Intelligenzija immer wieder
Unruhen und Attentate, und in den 1860er Jahren kam es endlich zur Aufhebung
der Leibeigenschaft. Trotz erheblicher Industrieproduktion (Stahl, Kohle, Öl, Militärbedarf) geriet Russland immer mehr ins Hintertreffen gegenüber den westeuropäischen Großmächten. Die Industrialisierung drang nicht in die ländlichen
Provinzen des Riesenreichs vor, und mangelnde Infrastruktur, die Armut der Arbeiter und Bauern und die fehlende Demokratisierung bereiteten große Probleme,
wie das Zarenreich erstmals im Krimkrieg und schließlich 1905 bei der Niederlage gegen Japan schmerzlichst erfahren musste. Allerdings war Zar Nikolaus II.
anscheinend unfähig aus diesen Fehlern zu lernen, wirkliche Reformen blieben
aus. Ein weitgehend funktionsloses Parlament, die Duma, das er notgedrungen
genehmigt hatte, ließ er kurze Zeit später wieder auflösen.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, erfasste das Land neuerlich eine patriotische Welle. Die anfänglichen Erfolge, vor allem gegen Österreich-Ungarn und das
Osmanische Reich, wurden jedoch bald abgelöst von einem zermürbenden Stellungskrieg, bis schließlich 1917 die Moral der russischen Soldaten nachgab und
die Front zusammenbrach. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die desolate
Versorgungslage waren die Ursachen, und der Zar wurde zum Abdanken gezwungen. Eine bürgerliche Regierung unter Kerenski kam an die Macht, der bald darauf die von Lenin und den Bolschewiki initiierte Oktoberrevolution ein Ende
88
machte. Im darauf folgenden Bürgerkrieg zwischen roten und weißen Kräften, der
Millionen Menschen das Leben kostete, gingen die Kommunisten als Sieger hervor. Im Laufe des Bürgerkriegs verlor Russland 1920 Teile Weißrusslands und
der Ukraine (="Ostpolen") an Polen. Aus Russland wurde unter Einbeziehung der
vorherigen russischen Kolonie Sibirien die Russische Sozialistische Föderative
Sowjetrepublik (RSFSR), die den wichtigsten Teil der Sowjetunion darstellte.
b) Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht
Am 30. Dezember 1922 wurde der Zusammenschluss aller sowjetischen sozialistischen Republiken zur UdSSR beschlossen und eine staatlich kontrollierte Wirtschaftspolitik ausgerufen. Die Sowjets wurden als Eigentümer von Boden und
Produktionsmitteln erklärt. Lenins Tod am 21. Januar 1924 führte zu einem erbitterten Nachfolgekampf, im dem sich Josef Stalin gegen Leo Trotzki durchsetzte.
Stalin festigte seine Macht durch gezielten Terror gegen seine Widersacher. Seit
1928 wurde die staatliche Wirtschaft 5-Jahresplänen unterworfen, die Industrialisierung und Infrastruktur, speziell im asiatischen Teil des Landes, vorangetrieben
und die Landwirtschaft kollektiviert.
Im August 1939 unterschrieb Stalin einen geheimen Nichtangriffspakt mit Hitler
und sicherte sich die Eingliederung der ostpolnischen Gebiete, des Baltikums und
Bessarabiens. Nach dem Überfall Deutschlands auf Russland am 22. Juni 1941
trat Russland an der Seite der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg (in Russland
Großer Vaterländischer Krieg genannt) ein. Große Teile der westlichen Landesteile wurden verwüstet, bei der Belagerung Leningrads verhungern über eine Million
Zivilisten. Die Rote Armee fügt den deutschen Truppen bei Moskau, Stalingrad
und Kursk schwere Niederlagen zu. Zu Ende des Krieges besetzten sowjetische
Truppen schließlich japanisches Gebiet im Fernen Osten (Mandschurei, Karafuto,
Kurilen). 1945 bekam die RSFSR nach dem Potsdamer Abkommen das ehemalige
nördliche Ostpreußen, die heutige Kaliningrader Oblast, hinzu. Nach Ende des
Krieges, aus dem die UdSSR als Siegermacht hervorging, entfremdete sich die
Sowjetunion jedoch zunehmend von den Alliierten und sicherte sich großen Einfluss auf die angrenzenden Länder Polen, Bulgarien, Rumänien, Ostdeutschland,
Tschechoslowakei, Ungarn und zeitweise Albanien, wo Hunderttausende sowjetische Soldaten stationiert blieben. Der Kalte Krieg dominiert bis 1989 die Weltpolitik.
89
c) Perestroika und Ende der Sowjetunion
Ende der 1980er Jahre geriet die sowjetische und damit auch die russische Wirtschaft immer mehr in eine Krise. Auf einigen Gebieten der Versorgung herrschte
schwerer Mangel. Im Zuge der Politik Michail Sergejewitsch Gorbatschows (Perestrojka, Glasnost) trat die wirtschaftliche Krise immer klarer zutage. Der Unmut
der Bevölkerung entlud sich immer offener. 1991 erklärten sich im Zuge des
Machtzerfalls der sowjetischen Regierung und nach dem erfolglosen Putsch gegen
Gorbatschow erst Litauen, Lettland und Estland, später auch die übrigen Sowjetrepubliken für unabhängig. Am 8. Dezember 1991 beschlossen die Staatsoberhäupter der letzten drei Unionsrepubliken - der russischen, ukrainischen und weißrussischen - die offizielle Auflösung der Sowjetunion. Die RSFSR trat unter der
Bezeichnung Russische Föderation ihre Rechtsnachfolge an.
d) Die GUS und die Russische Föderation
Gleichzeitig mit der Auflösung der Sowjetunion gründete Russland zusammen
mit Weißrussland und der Ukraine die GUS, der sich später mit Ausnahme der
baltischen Staaten auch die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken anschlossen.
Die GUS als Nachfolgeorganisation der Sowjetunion stellt seitdem eine Art Diskussionsforum zwischen diesen Staaten dar.
1992 ließ der russische Präsident Boris Jelzin einen Föderationsvertrag unterzeichnen, der den Subjekten (Bundesländern) Russlands weitreichende Vollmachten zubilligte. 1993 kam es erneut zu einem Putschversuch in Moskau, als sich der
Machtkampf zwischen dem konservativ dominierten Parlament und dem Präsidenten zuspitzte. Russland blieb in den 1990er Jahren instabil, was sich in z.T.
gravierenden Wirtschaftsproblemen und in Nationalitätenkonflikten (Menschenrechtsverletzungen und Geiselnahmen im Konflikt um Tschetschenien) zeigte.
1998 brach das russische Bankenwesen zusammen, wodurch viele Russen ihr
Guthaben verloren. Seitdem befindet sich Russland aber in einer Phase wirtschaftlicher und politischer Konsolidierung. Der Konflikt um Tschetschenien konnte
auch unter Jelzins Nachfolger Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gelöst werden. Die Politik gegenüber Westeuropa ist zunehmend von Vertrauen und Stabili90
tät geprägt. Gleichzeitig ist Russland bemüht, seinen Einfluss in den Nachbarländern, v.a. in Zentralasien und Weißrussland wieder auszubauen. So wurde mit
Weißrussland eine Wirtschafts-, Verteidigungs- und Zollunion abgeschlossen
(Russisch-Weißrussische Union), die aber auf Grund der unberechenbaren Politik
des weißrussischen Präsidenten Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko zunehmend in Frage gestellt wird. Auch in Russland selbst geht mit der wirtschaftlichen
Stabilisierung eine Einschränkung der demokratischen Rechte einher.
Zusammengesetzt und gekürzt: httpde.wikipedia.orgwikiGeschichte_Russlands, 15.9.2004
IV.
Innenpolitische Entwicklung Russlands
a) Staatsaufbau
Russland befindet sich seit Anfang der 90er Jahre in einem schwierigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozess. Wirtschaftlicher und
sozialer Niedergang und gesellschaftliche Deklassierung wurden für viele die bestimmende Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts. Präsident Putin ist es seit seinem Amtsantritt Anfang 2000 gelungen, die Lage schrittweise zu stabilisieren. Er
sucht nach einer politischen und wirtschaftlichen Modernisierung, die Russlands
alte Stärke nach innen und außen wieder herstellen kann. Putin hat die zentralen
staatlichen Machtstrukturen gestärkt, die Vereinheitlichung des russischen Rechtsraums vorangebracht, wichtige marktwirtschaftliche Reformen auf den Weg gebracht und damit die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Gesundung geschaffen.
Der Präsident besitzt aufgrund der Verfassung weitreichende Machtbefugnisse.
Die Wiederwahl Putins am 14. März 2004 (71,3 Prozent im ersten Wahlgang)
wurde zu einem deutlichen Vertrauensvotum für seine Politik. Der Mangel an
Chancengleichheit unter den Kandidaten gab allerdings Anlass für internationale
Kritik. Bereits zuvor hatte sich Putin in den von der OSZE als "frei, aber nicht
fair" kritisierten Dumawahlen im Dezember 2003 eine komfortable parlamentarische Mehrheit für die Fortsetzung seines Reformkurses gesichert.
b) Parlament
Die Duma steht seit ihrer vierten Konstituierung im Dezember 2003 mit einer
überwältigenden Mehrheit loyal zu Putin. Mit 305 von 450 Sitzen verfügt die
91
rechtszentristische, präsidentennahe Fraktion "Einheitliches Russland" über eine
Zweidrittelmehrheit, die es Putin ermöglicht, bei Bedarf auch Verfassungsänderungen durch die Duma zu bringen.
Neben "Einheitliches Russland" haben lediglich die Kommunisten (52 Sitze) und
die "Liberaldemokraten" des Rechtspopulisten Schirinowski (36 Sitze) den Wiedereinzug in die Duma geschafft. Die am westlichen Vorbild von Demokratie und
Pluralismus orientierten Parteien "Jabloko" und "Union der Rechten Kräfte"
scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde und sind nur durch einige wenige direkt
gewählte Abgeordnete vertreten. Gleichzeitig ist mit dem Wahlblock "Heimat"
eine neue antiliberale Kraft aus dem Stand mit 9 Prozent in die Duma eingezogen.
c) Tschetschenienkonflikt
In Tschetschenien setzt die russische Seite auch nach der Ermordung von Präsident Achmad Kadyrow am 9.05.2004 ihren politischen Prozess fort, den sie mit
der Ausarbeitung einer Verfassung und Abhaltung eines Referendums
(23.03.2003) begonnen hatte. Die Rahmenbedingungen hierfür sind und bleiben
jedoch schwierig: Die Lebenssituation der Menschen in Tschetschenien hat sich
bisher kaum verbessert; es wird weiterhin über Menschenrechtsverletzungen
durch die russischen und lokalen Sicherheitskräfte, aber auch von Verbrechen und
Vergehen der tschetschenischen Rebellen berichtet, Wiederaufbaumaßnahmen
kommen nur schleppend voran. Die Sicherheitslage hat sich mit einer Kette von
Selbstmordanschlägen, bewaffneten Zusammenstößen zwischen Rebellen und
Sicherheitskräften (u.a. schwere Rebellenüberfälle in Inguschetien im Juni 2004)
und Sabotageakten nicht nur innerhalb Tschetscheniens, sondern auch in anderen
Gebieten der Russischen Föderation weiter verschärft. Die EU hat die russischen
Behörden mehrfach aufgefordert, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um einen
wirklichen politischen Prozess zu fördern und ihre Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie OSZE und Europarat zu intensivieren. Nach den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen vom 5.10.2003, aus denen Kadyrow (nach
offiziellen Angaben) mit 80% der Stimmen als Sieger hervorgegangen war, hatten
die EU und andere internationale Organisationen große Sorge geäußert hinsichtlich der Bedingungen, unter denen die Wahlen stattfanden, insbesondere dem
Mangel an echtem Pluralismus bei den Kandidaturen für das Präsidentenamt und
dem Fehlen unabhängiger Medien. Die Neuwahl des tschetschenischen Präsiden-
92
ten wurde auf den 29.8.2004 festgesetzt. Die Situation der tschetschenischen
Flüchtlinge und Vertriebenen im Nordkaukasus bleibt nach Berichten von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen sehr kritisch. Im Februar 2004 besuchte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung im Auswärtigen Amt, Claudia Roth, MdB, Inguschetien, um sich vor Ort ein Bild von der
Situation im Nordkaukasus und der Lage der tschetschenischen Flüchtlinge zu
machen. Das Auswärtige Amt stellte 2003 insgesamt 1,8 Mio. Euro für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Nordkaukasus zur Verfügung.
d) Soziale Lage
Der innere Zustand der russischen Gesellschaft hat unter Putin eine gewisse Stabilisierung erfahren. Niemand erwartet soziale Unruhen, auch wenn Millionen Menschen im Land unter dem Existenzminimum leben. Eine relativ niedrige Arbeitslosenquote (8,2 % Ende 2003) und zuletzt deutlich gestiegene Einkommen signalisieren eine Verbesserung der sozialen Lage. Trotzdem bleibt die Lebenserwartung mit 57 Jahren bei Männern und 62 Jahren bei Frauen sehr gering.
e) Medien
Die Lage der Medien in Russland – auch das Thema Pressefreiheit – muss im gesamtpolitischen und wirtschaftlichen Umfeld gesehen werden. Sie spiegelt in den
letzten Jahren eine generelle Tendenz zur Konsolidierung staatlicher Autorität
wider. Dabei hat es die "Macht" vor allem vermocht, den Einfluss von Partikularinteressen zugunsten staatlicher Einflussnahme zurückzudrängen. Heute ist darüber hinaus eine Tendenz zu beobachten, die Freiräume unabhängiger Akteure
zunehmend einzugrenzen.
Am deutlichsten ist die staatliche Einflussnahme im Bereich der elektronischen
Medien. Alle drei landesweit sendenden TV-Stationen sind entweder direkt in
staatlichem Besitz oder unter staatlicher Kontrolle. Die OSZE hat deutliche Kritik
an der Rolle der Medien während des Dumawahlkampfes im November/Dezember 2003 geübt. Insbesondere das staatliche Fernsehen hatte durch seine Berichterstattung unverhohlen die pro-präsidentielle Partei "Einheitliches
Russland" unterstützt. Im Vergleich dazu bietet das größere Zeitungsangebot im
Großraum Moskau ein deutlich breiteres Meinungsspektrum. Doch hat sich auch
93
dort in vielen Redaktionen ein feines Gespür dafür durchgesetzt, was erlaubt ist
und was nicht ("Selbstzensur").
Viele russische Medien erwirtschaften immer noch kaum oder keinen Gewinn.
Hauptgrund ist eine gewisse Übersättigung insbesondere an Printmedien angesichts eines sich erst langsam entwickelnden Anzeigenmarktes. Häufige Folge der
heiklen Ertragslage ist wirtschaftliche Abhängigkeit von zahlungskräftigen Sponsoren, die leicht in politische Einflussnahme umgemünzt werden kann. Ein Gegengewicht bilden unabhängige Medien mit einer modernen Ausrichtung und einer soliden Ertragslage (z.B. private TV-Sender oder die an Bedeutung gewinnenden Internet-Zeitungen), die außer in Moskau auch in einzelnen regionalen Zentren des Landes zu finden sind.
V.
Außenpolitische Entwicklung Russlands
a) Grundlinien der Außenpolitik
In der Außenpolitik hat Präsident Putin 2001 eine strategische Entscheidung zur
Öffnung nach Westen getroffen, an der er seither festhält. Ziel ist es, durch enge
politische und wirtschaftliche Kooperation mit den USA und Europa Russland zu
modernisieren, zu stärken und seinen internationalen Einfluss wieder zu mehren.
Zugleich und damit eng verbunden rückt in der Außenpolitik die Durchsetzung
russischer Wirtschaftsinteressen stärker ins Blickfeld. Beim Ausbau der unverändert prioritären Beziehungen zu seinen GUS-Nachbarn stehen für Russland neben
den wirtschaftlichen auch sicherheitspolitische Aspekte im Vordergrund. Ebenso
verweist Russland auf seine Fürsorgepflichten gegenüber den dort lebenden russischen Minderheiten. Im multilateralen Bereich kommt aus russischer Sicht den
Vereinten Nationen – als einzige, legitime und universelle Organisation – zentrale
Bedeutung zu. Insbesondere in der Konfliktbeilegung fordert Moskau eine starke
und aktive Rolle des VN-Sicherheitsrats. Dies wurde insbesondere im Verlauf der
Irakkrise deutlich, in der die Allianz mit Deutschland und Frankreich zu einer
wichtigen Referenz geworden ist.
b) Beziehungen zu den USA
Die USA sind ein wichtiger Bezugspunkt, mit dem sich Russland als einstige Supermacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit
94
Nuklearmachtstatus politisch auf gleicher Ebene sieht. Im Vordergrund steht nach
wie vor die Sicherheitspolitik, heute auch die von beiden Seiten stark betonte Terrorismusbekämpfung. So unterstützte Russland die US-Militäroperation in Afghanistan und akzeptiert nolens volens die Einrichtung amerikanischer und anderer
ausländischer Basen in Zentralasien sowie die Anwesenheit amerikanischer Militärberater in Georgien. Die Irakkrise (aber auch innerrusssische Entwicklungen
wie die Jukos-Affäre) haben die Beziehungen belastet, aber nicht erschüttert.
Russland bemüht sich um eine Wiederannäherung an die USA.
c) Beziehungen zu den Ländern der Gemeinschaft unabhängiger Staaten
(GUS)
Die Beziehungen zu den Ländern der GUS haben für Moskau erste Priorität. Es
handelt sich in den Worten Präsident Putins um eine "strategische Interessenssphäre" der russischen Außenpolitik. Russland bemüht sich aktiv um eine Intensivierung der sicherheitspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Vertrag über kollektive Sicherheit, Kampf gegen den internationalen Terrorismus). Daneben geht es Russland um die Schaffung unterschiedlicher Integrationsräume. Neben der GUS selbst zählt hierzu die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die Union mit Weißrussland, die allerdings von politischen Gegensätzen zwischen Russland und Weißrussland gehemmt wird. Das Abkommen über
die Bildung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes (Beschluss GUS-Gipfel Jalta
2003) hat mit der Ratifizierung durch die Parlamente der 4 Teilnehmerstaaten
(Russland, Weißrussland, Ukraine, Kasachstan) eine erste Hürde genommen.
d) Kooperation mit der NATO
Die Kooperation mit der NATO, die Russland im Zusammenhang mit dem Kosovo-Konflikt "eingefroren" hatte, war mit der Vereinbarung des NATO-RusslandRates (NRR) im Mai 2002 in eine neue Phase getreten: Der Mechanismus "zu 27"
ermöglicht Russland und den NATO-Mitgliedsstaaten, heute gleichberechtigt zu
bestimmten Themen wie Terrorismusbekämpfung, Krisenvorsorge u.a. zu beraten
und zu entscheiden. Seit 2001 besteht ein Informationsbüro der NATO, seit Mai
2002 ein militärisches Verbindungsbüro in Moskau. Der NATO-Erweiterung,
insbesondere der Aufnahme der baltischen Republiken, steht Russland zwar weiterhin skeptisch gegenüber hat diese aber hingenommen und ist ungeachtet aller
95
Differenzen zur vertieften Zusammenarbeit im NRR als einem wichtigen Element
der Kooperation Russlands mit dem Westen bereit.
e) Beziehungen zu den Vereinten Nationen
Russland betont als eines der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder mit Vetorecht die zentrale Bedeutung der Vereinten Nationen in der internationalen Politik.
Insbesondere in der Konfliktbeilegung fordert Russland eine starke und aktive
Rolle der VN und ihres Sicherheitsrates. Dies gilt auch für die Gestaltung der
Nachkriegsordnung in Irak. Russland tritt für eine Erweiterung des VNSicherheitsrates ein, um die realen weltpolitischen Verhältnisse besser abzubilden
(Mitgliedschaft der G 8, Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerikas). Der deutsche Wunsch nach einem Ständigen Sitz im höchsten VN-Gremium wird unterstützt.
f) Beziehungen zur OSZE
Russland stellt die Rolle der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) bei der Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur
grundsätzlich nicht infrage. Ihr Stellenwert für Russland ist aber gesunken. So
kritisiert Russland die aus russischer Sicht einseitige Konzentration auf den postsowjetischen Raum und auf Menschenrechtsthemen. Das Mandat der OSZEUnterstützungsgruppe in Tschetschenien wurde Ende 2002 nicht verlängert.
g) Russland und die G8
Für Russland bedeutet seine 2002 erworbene Vollmitgliedschaft in der G8 sowie
der erstmals anstehende G8-Vorsitz 2006 die Anerkennung als eine den großen
Wirtschaftsdemokratien des Westens ebenbürtige Macht. Im Jahr 2003 hat die
Fortsetzung des Wirtschaftsreformkurses durch die Putin-Administration die Rolle Russlands im G8-Kreis weiter gefestigt. Die 2002 beschlossene "Globale Partnerschaft", in deren Rahmen Russland an erster Stelle von den über zehn Jahre
bereitgestellten 20 Milliarden USD für die Entsorgung von Massenvernichtungsmitteln profitieren soll (der deutsche Beitrag für bereits festgelegte Projekte in
Russland liegt bei ca. 300 Mio Euro), ist angelaufen.
96
Russland ist im Februar 1996 dem Europarat beigetreten. Am 20.02.1998 erfolgte
die Ratifizierung der europäischen Menschenrechts- und der Antifolterkonvention. Andere Verpflichtungen des Beitritts wie die Abschaffung der Todesstrafe hat
Russland bis heute nicht erfüllt. Seit 1996 gilt jedoch ein Anwendungsmoratorium
des Präsidenten auf die Todesstrafe, das von Präsident Putin mehrfach bestätigt
wurde. Große Sorge äußerte die Parlamentarische Versammlung im Hinblick auf
die Situation in Tschetschenien und forderte - unter russischem Protest - die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs für Tschetschenien. Beide Seiten
haben gleichwohl ein Interesse an der Weiterführung des Dialogs und der Zusammenarbeit. Berichterstatter des Europarats zu Tschetschenien und zur JukosAffäre besuchen regelmäßig Russland.
h) Beziehungen Russlands zu anderen Staaten:
1) Russische Balkanpolitik
Auf dem Balkan tritt Russland für den Erhalt der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten ein. Mit Sorge verfolgt Russland dabei die Entwicklungen
im Kosovo. Seine Beteilung an SFOR und KFOR hat Russland im Sommer 2003
eingestellt. In Bosnien-Herzegowina beteiligt sich Russland im Rahmen der ESVP
(Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) an der EU-Polizeimission.
2) Beziehungen Russlands zu den baltischen Staaten
Im Vordergrund der Beziehungen Russlands zu den baltischen Staaten steht die
Lage der russischen Minderheiten (vor allem in Lettland und Estland), deren bessere Integration Russland nachdrücklich und beharrlich fordert (Sprachen- und
Staatsbürgerschaftsfrage). Im Zusammenhang mit dem NATO-Beitritt der baltischen Staaten fordert Moskau darüber hinaus ihren Beitritt zum adaptierten KSEVertrag (Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa). Russische Unternehmen investieren verstärkt in den baltischen Staaten, insbesondere im Energiesektor.
3) Beziehungen Russlands zu Belarus
Russland hält am Ziel eines engen Verhältnisses zu Belarus fest (Unionsvertrag
von Dezember 1999), auch wenn die Divergenzen zwischen Moskau und Minsk
97
immer deutlicher zu Tage treten. Während Präsident Putin verschiedene Integrationsmodelle bis hin zum Beitritt Belarus' zur russischen Föderation vorgeschlagen
hat, besteht Präsident Lukaschenko auf Wahrung der belarussischen Souveränität
und Unabhängigkeit. Die Lösung wichtiger Fragen, wie der Einführung des russischen Rubels oder der Energiepreisgestaltung, steht weiterhin aus. So unterbrach
wegen unklarer Vertragslage der russ. Gasmonopolist GASPROM am 18.2.04
kurzfristig seine Pipelinelieferung an Belarus, das nahezu vollständig auf russische Energielieferungen angewiesen ist. Insgesamt bleibt die Perspektive für ein
Zusammengehen beider Staaten in einer Union weiter unklar.
4) Beziehungen Russlands zur Ukraine
Die Beziehungen zur Ukraine haben sich in den vergangenen Jahren grundsätzlich
verbessert (Freundschaftsvertrag, Regelung zur Schwarzmeerflotte, Zwischenregelung der Gasproblematik und verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit).
Russland versucht, ein Abdriften der Ukraine nach Westen zu verhindern. Allerdings bleibt die wirtschaftliche Integration im Rahmen des Einheitlichen Wirtschaftsraums mit Weißrussland und Kasachstan hinter den russischen Erwartungen zurück. Im April 2004 ratifizierte die Duma die Verträge über die Staatsgrenze mit der Ukraine sowie über die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres
und der Meerenge von Kertsch. Die freie zivile Schifffahrt wird garantiert, die
Durchfahrt von Kriegsschiffen aus Drittländern unterliegt jedoch der Zustimmung
beider Staaten. Zur Frage der ukrainischen Schulden für die russischen Gaslieferungen wurde nach langen Verhandlungen eine Regelung gefunden. Mit der
Gründung eines ukrainisch-russischen Gas-Transit-Konsortiums unter Hinzuziehung weiterer Partner, darunter auch aus Deutschland, soll die Voraussetzung für
einen verstärkten Gastransit nach Westeuropa geschaffen werden
5) Beziehungen zu den Staaten des Südkaukasus (Armenien, Aserbaidschan, Georgien)
Im Südkaukasus bleibt Russland um Festigung seiner Präsenz und seines Einflusses bemüht. Im Verhältnis zur neuen Führung in Tiflis strebt Moskau eine Normalisierung der Beziehungen an, bisher mit einigem Erfolg. Präsident Putin unterstrich mehrfach die Notwendigkeit der Bewahrung der territorialen Integrität Georgiens. Nach der russischen Vermittlung in der "Rosenrevolution" wirkte Mos98
kau im Mai 2004 in Adscharien ein zweites Mal an einer unblutigen Konfliktlösung in Georgien mit. Russland unterhält gleichwohl weiterhin engen Kontakt zu
den Führern Süd-Ossetiens und Abchasiens, die eine Loslösung von Georgien
anstreben. Mit Armenien unterhält Moskau traditionell sehr enge Beziehungen.
Die Beziehungen zu Aserbaidschan sind nach einer Einigung über den Status des
Kaspischen Meeres weitgehend störungsfrei.
6) Russische Zentralasien-Politik
Seit seinem Amtsantritt vertieft Präsident Putin die Kontakte zu den Staaten Zentralasiens. Aufgrund der historischen Verbundenheit bestehen enge Beziehungen
zu den dortigen politischen und wirtschaftlichen Eliten. Wichtige russische Ziele
sind die regionale Stabilisierung (Kampf gegen Terrorismus, radikaler Islamismus, Drogen) wie auch die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wobei
Russsland insbesondere im energiewirtschaftlichen Bereich über erhebliche komparative Vorteile verfügt. Solidarität mit den z.T. bevölkerungsstarken russischen
Minderheiten und die Pflege der russischen Sprache und Kultur in Zentralasien
sind weitere politikbestimmende Faktoren.
Die Beziehungen zu Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan können als gut und
vertrauensvoll gelten. Mit diesen Staaten ist Russland auch in der sog. "Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft" verbunden. Im September 2003 wurde im kirgisischen Kant der erste neu geschaffenen russische Militärstützpunkt außerhalb
Russlands eingerichtet. Planungen für einen Stützpunkt in Tadschikistan, wo
Russland aktuell über eine erhebliche Truppenpräsenz verfügt, sind angelaufen.
Moskau duldet die Stationierung von US-Truppen in Zentralasien als Beitrag zum
Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
7) Beziehungen zu weiteren Staaten Asiens
In Asien pflegt Moskau insbesondere seine Beziehungen zu China, Indien, Japan,
Nord- und Südkorea sowie Vietnam. Etwa 80% der russischen Rüstungsexporte
gehen nach China und Indien. Russland ist an verstärkter wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Japan interessiert, ohne dafür bislang Zugeständnisse in der Südkurilenfrage zu machen. Nachdem in den 90er Jahren das (wirtschaftliche) Verhältnis zu Südkorea ausgebaut wurde, hat Moskau die Beziehungen zu Nordkorea in
den letzten Jahren reaktiviert (Freundschaftsvertrag, und Pjöngjang-Besuch Putins
99
2000, Russland-Besuche Kim Jong Ils 2001 und 2002). Russland ist Teilnehmer
der Sechs-Nationen-Gespräche, die zur Lösung der nordkoreanischen "Nuklearkrise" vereinbart wurden und die zum ersten Mal im August 2003 in Peking stattfanden.
8) Beziehungen zum Iran
Die Beziehungen zum Iran haben für Russland neben wirtschaftlichen Aspekten
(u.a. im Rüstungsbereich) auch politische Bedeutung: Es geht um die Stellung
Russlands in Zentralasien, in der Kaspiregion (Statusfrage trotz bilateraler Abkommen zwischen Russland, Kasachstan und Aserbaidschan weiterhin offen) und
in Afghanistan. Russland ist an einer Fortsetzung seiner Nuklearzusammenarbeit
mit Iran interessiert (Atomkraftwerk Busher). Zugleich hat sich Russland nachdrücklich – wie auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien – für eine Verstärkung der iranischen Zusammenarbeit mit der Internationalen AtomenergieBehörde (IAEA) eingesetzt.
9) Russische Haltung zum Nahost-Konflikt
Die russische Haltung zum Nahost-Konflikt ist ausgewogen. Es bestehen keine
wesentlichen Differenzen mit den USA, der EU und den Vereinten Nationen, mit
denen Russland heute im Rahmen des so genannten "Quartetts" eng zusammenarbeitet. Die russische Regierung tritt für die rasche Umsetzung der so genannten
"Road Map" ein und fördert aktiv ihre Indossierung durch den VN-Sicherheitsrat.
Neben die traditionell guten Beziehungen zur arabischen Welt tritt ein verbessertes Verhältnis zu Israel (russische Immigranten, Terrorismusbekämpfung).
VI.
Wirtschaftspolitik
a) Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
Die Beseitigung bestehender Strukturprobleme, eine Verstetigung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Herstellung von marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ein nachhaltigeres, von der Entwicklung auf den internationalen Rohstoffmärkten unabhängigeres Wirtschaftswachstum und ein verbessertes Investitionsklima bleiben auch nach den Wahlen zur Duma (Dezember 2003) sowie den
Präsidentschaftswahlen (März 2004) erklärte Ziele von Präsident Putin und der
100
neuen russischen Regierung, deren personelle Zusammensetzung für eine Fortsetzung markt-liberaler Reformen steht. Wichtige Reformen konnten bereits umgesetzt werden. Beispielhaft sind der Steuerbereich (Reform u.a. der Einkommensund Unternehmensbesteuerung), ein neuer Zollkodex, die Verabschiedung des
Bodenkodex' sowie des Gesetzes über Kauf/Verkauf landwirtschaftlicher Flächen,
der neue Arbeitskodex, die weitgehend abgeschlossene Rentenreform, die Privatisierungsnovelle, das neue Konkursrecht, Gesetze in den Bereichen Deregulierung
und Lizenzierung sowie die Gesetzespakete zur Reform der natürlichen Monopole
Bahn und Strom zu nennen. Die Reform des Gasmarktes ist dagegen noch offen.
Kurz vor den Duma-Wahlen wurden weitere, wichtige Reformgesetze wie das
Einlagensicherungsgesetz (Einstieg in die Bankenreform), eine weitere Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Öffnung des russischen Versicherungsmarktes verabschiedet.
Problematisch bleiben eine oft nur zögerliche und/oder mangelhafte Implementierung der verabschiedeten Reformgesetze, eine z. T. überbordende Bürokratie, deren Reform zentrales Anliegen von Präsident Putin ist, sowie noch bestehende
Defizite bei der Rechtssicherheit. Trotz dieser offenen Probleme hat Moody's,
eine der drei großen, international renommierten Rating-Agenturen, der Russischen Föderation am 08. Oktober 2003 erstmals ein Investitionsrating zuerkannt.
Es ist möglich, dass die beiden anderen Agenturen Standard&Poor sowie Fitch in
den kommenden Monaten ebenfalls eine Höherstufung im Rating vornehmen
werden. Allerdings dürften zunächst der Prozess um M. Chodorkowskij und das
weitere Schicksal des Ölkonzerns Jukos abgewartet werden
b) Aktuelle wirtschaftliche Lage
2003 stieg das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) real um 7,3% auf 13.304
Mrd. Rubel (ca. 433 Mrd. USD). Für das Wachstum waren ein Anstieg der Inlandsnachfrage sowohl beim Konsum als auch vor allem bei den Investitionen
sowie ein konstant hoher Rohölpreis verantwortlich. Für 2004 rechnet die Regierung mit einem Wachstum des BIP von 5,8%-6,4%.
Mit einem Außenhandelsüberschuss von 60,1 Mrd. USD, einem Haushaltsüberschuss von 1,7% des BIP, einem Wachstum der verfügbaren Realeinkommen um
14,5% sowie einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 8,8% Ende 2002 auf
8,2% Ende 2003 wurden beachtliche Eckwerte realisiert. Die Inflationsrate ging
101
von 15,1 % 2002 auf 12,0% 2003 zurück. In dieser Höhe völlig unerwartet nahm
die Investitionstätigkeit nachhaltig zu: die Bruttoanlageinvestitionen stiegen um
12,5% nach nur 2,6% 2002. Besonders hervorzuheben ist auch der (trotz JukosAffaire) erneute erhebliche Rückgang der Kapitalflucht auf lediglich 2,9 Mrd.
USD 2003 (zur ersten Jahreshälfte 2004 widersprüchliche Aussagen). Diese Entwicklung wie der hohe Handelsbilanzüberschuss führten zu einem weiteren kräftigen Anstieg der Gold- und Währungsreserven von 47,8 Mrd. USD Ende 2002
auf 76,9 Mrd. USD Ende 2003 (Tendenz weiter steigend).
c) Staatshaushalt
Das Jahr 2003 zeichnete sich durch eine solide Haushaltspolitik aus. Einnahmen
in Höhe von 2.583 Mrd. Rubel (ca. 87,71 Mrd. USD bei einem Jahresendkurs
2003 von 29,45 RR/USD) standen Ausgaben in Höhe von 2.354,9 Mrd. Rubel (ca.
79,96 Mrd. USD) gegenüber. Der Haushaltsüberschuss betrug 1,7% des BIP und
übertraf damit den geplanten Überschuss von 0,6% des BIP um knapp das Dreifache.
Mit dem im vergangenen November verabschiedeten Haushalt 2004 wird die restriktive Haushaltspolitik der Vorjahre fortgesetzt. Im 5. Jahr in Folge ist ein Überschuss eingeplant (0,5% des BIP). Einnahmen von 2.743 Mrd. Rubel (ca.
87,64 Mrd. USD bei einem von der Regierung angesetzten Wechselkurs von 31,3
RR/USD in 2004) stehen Ausgaben von 2.659 Mrd. Rubel (ca. 84,95 Mrd. USD)
gegenüber.
Die russische Geld- und Währungspolitik verfolgt im wesentlichen drei Ziele:
Inflationsbekämpfung (Schwerpunkt), Wechselkursstabilität (managed floating)
sowie eine positive Entwicklung der Gold- und Devisenreserven des Landes. Seit
2001 wurde eine Reihe wichtiger Erleichterungen bei der Devisenkontrolle vorgenommen, zuletzt im November 2003. Ziel ist es, die Voraussetzungen für die volle
Konvertibilität des Rubel bis 2007 herzustellen.
d) Außenhandel
Der russische Außenhandel betrug 2003 210,9 Mrd. USD und wies einen Überschuss von 60,1 Mrd. USD aus. Der EU-Anteil am gesamten russischen Außenhandel lag 2003 bei ca. 31%. Hohe Ölpreise beim Export sowie ein stabiles
102
Wachstum beim Endverbrauch und den Investitionen waren die wesentlichen
Gründe für diese Entwicklung. In der Warenstruktur russischer Exporte nehmen
unverändert Öl, Ölprodukte, Erdgas, Kohle und Strom eine herausragende Stellung ein, gefolgt von Metallen und Metallprodukten sowie Holz. Bei den Importen dominieren Maschinen, Ausrüstungen, Fahrzeuge, Nahrungsmittel und deren
Vorprodukte sowie chemische Produkte.
e) Deutsch-russische Wirtschaftsbeziehungen
Deutschland bleibt mit Abstand Russlands Handelspartner Nummer Eins. 2003
wurden Waren im Werte von 13,36 Mrd. EUR (+ 1,4% gegenüber 2002) aus
Russland importiert (hauptsächlich Rohstoffe/Energieträger) sowie Waren in Höhe von 12,11 Mrd. EUR (+ 6,5% gegenüber 2002) nach Russland exportiert (insbesondere Maschinen und Ausrüstungen, Gebrauchsgüter). Deutschlands Anteil
am gesamten russischen Außenhandelsumsatz betrug ca. 12,1%.
Deutschland ist größter Investor in Russland. Bei den akkumulierten Auslandsinvestitionen von ca. 57 Mrd. USD liegt Deutschland mit 17,9% bzw. 10,2 Mrd.
USD vor Zypern mit 14,2% bzw. 8,1 Mrd. USD. 2003 gab es erstmals seit Jahren
einen Wechsel an der Spitze: Aufgrund des Einstiegs von BP beim russischen
Ölunternehmen TNK lag Großbritannien mit 4,6 Mrd. USD vor Deutschland mit
4,3 Mrd. USD. Am 8.07. 2004 konnten wichtige Investitionsvereinbarungen in
den Bereichen Energie, Einzelhandel und Technologie getroffen werden.
f) Russland in Internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen
Russland ist Mitglied von IWF und Weltbank, hat bei der OECD Beobachterstatus
und strebt weiter mit Nachdruck die Mitgliedschaft in der WTO an. Die Verhandlungen der EU mit Russland zum russsichen WTO-Beitritt konnten inzwischen
abgeschlossen werden. Neben G8 und GUS ist Russland Mitglied der Eurasischen
Wirtschaftsgemeinschaft, der Schwarzmeerkooperation sowie des Ostseerates.
Russland kam auch 2003 seinen internationalen Schuldenverpflichtungen (Schuldendienst: 17,3 Mrd. USD) voll nach. Laut russischen Angaben betrugen die
staatlichen Auslandsschulden Ende 2002 rd. 122 Mrd. USD (35% des BIP), die
bis zum Jahresende 2003 auf ca. 119 Mrd. USD (27,5% des BIP) weiter gesunken
sind.
103
© 1995 - 2004 Auswärtiges Amt
Teilweise gekürzt:
http://www.auswaertigesamt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=10&land_id=140
VII. Russland und der Irak
a) Russisch-irakischen Beziehungen bis 1990
Im Kalten Krieg war der Irak der wichtigste Verbündete der UdSSR im Nahen
Osten. 1972 wurde ein Freundschaftskooperationsvertrag zwischen den beiden
Ländern geschlossen. Der Irak erhoffte sich davon eine Unterstützung bei seiner
militärischen und politischen Zielsetzung gegen Israel und den Iran. Die UdSSR
hatte dadurch einen Verbündeten gegen die USA. So stand die UdSSR auf der
Seite des Irak im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran 1980-88, und somit gegen Amerika. Die UdSSR belieferte den Irak zwischen 1958 und 1990 mit Waffen
im Wert von ca. 30,5 Mrd. US-Dollar und der Irak produzierte mit sowjetischen
Lizenzen Waffen.
b) Russisch-irakische Beziehungen in den 1990er Jahren
Im zweiten Golfkrieg 1991 vollzog Russland unter Gorbatschow jedoch eine
Kehrtwende und kämpfte auf der Seite der USA gegen den Irak. Die Sowjetunion
gab ihre Zustimmung im UNO-Sicherheitsrat für eine militärische Befreiung Kuwaits. Auch die darauf im Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen gegen den Irak
wurden von Moskau unterstützt. Dieser Wandel könnte auch auf das Ende des
Kalten Krieges und auf den Zerfall der Sowjetunion zurückgeführt werden.
Als jedoch Mitte Dezember 1998 die USA und Großbritannien Luftangriffe auf
militärische und sicherheitsrelevante Einrichtungen im Irak flogen (Operation
„Desert Fox“), mit der offiziellen Begründung, dass der Irak unzureichend mit den
UNO-Waffeninspekteuren kooperiere, forderte Jelzin die sofortige Beendigung
der Angriffe, da sie von Saddam Hussein nicht provoziert worden seien. Er betonte, dass diese Angriffe dem Völkerrecht und der UNO-Charta zuwiderlaufen. Die
Entscheidungsbefugnis für solche Operationen liege allein bei der UNO. Darauf
hin legte die Staatsduma (Unterhaus des Parlaments) eine Schweigeminute für die
Opfer im Irak ein, worauf eine hitzige Debatte über das Vorgehen der USA und
104
Großbritannien folgte, in welcher die Angriffe als „Akt des Terrorismus“ gegeißelt wurden.
c) Russland und das Öl
Trotz der Kehrtwende Gorbatschows im zweiten Golfkrieg war Russland kurz
danach wieder der wichtigste Handelspartner des Irak. Viele russische Ingenieure
arbeiten im irakischen Ölbusiness. Der russische Konzern Lukoil hatte 1997 ein
umfangreiches „production sharing“-Abkommen mit dem Irak beschlossen, welches jedoch wegen den Sanktionen auf Eis liegt. Im August 2002 wurde ein 40
Mrd. US-Dollar-Vertrag zur bilateralen Kooperation im Ölsektor und in anderen
Bereichen unterzeichnet. Mitte Oktober 2002 waren dann auch Experten der russischen Firma Tatneft für Bohrungen im Nordirak. So waren im Herbst 2002 rund
40% des irakischen Öls russischen Firmen sicher über das „Oil for food“Programm. Dieses Öl wurde auch an die USA verkauft. Russische Firmen konnten sich also auch oder gerade durch die Sanktionen Vorteile sichern. Zudem hat
der Irak 12 Mrd. US-Dollar Schulden bei Russland, welche Russland eher nützen,
wenn das Saddam-Regime an der Macht bliebe. Auch die geschlossenen Abkommen könnten als ungültig erklärt werden, wenn Saddam Hussein gestürzt würde.
So bemühte sich die US-Regierung Russland zu versichern, dass der irakische
Kuchen gerecht aufgeteilt würde, wie dies geschehen soll, blieb jedoch unklar.
Auch war es ein Wunsch der USA, dass, wenn es denn zu einem Krieg kommen
sollte und es dadurch erstmal zu einer Verknappung der irakischen Ölförderung
kommt, Russland als Notversorger mit seinem Öl einspringen solle. Dies erscheint
jedoch nicht realistisch, da die russischen Kapazitäten bereits ausgereizt sind. Auf
lange Sicht wäre es jedoch ein Nachteil für die heimische russische Wirtschaft,
wenn der Weltölmarkt mit billigem irakischen Öl überschwemmt würde, da sich
dann das russische Öl, welches momentan viel teurer in der Förderung ist, nur
noch schwierig verkaufen ließe. Es könnte dadurch auch zu einem weltweiten
Preissturz auf dem Ölmarkt kommen
Widersprüchlich ist jedoch die russische Haltung gegenüber den bestehenden
Sanktionen, welche damals mit russischer Zustimmung beschlossen wurden.
Russland hat einerseits dafür gesorgt, Verträge mit dem Irak abzuschließen, welche erst mit der Aufhebung der Sanktionen zum tragen kommen würden, andererseits profitiert der russische Ölsektor von den Bedingungen durch die Sanktionen.
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So ist es Russland momentan möglich, an verbilligtes irakisches Öl zu kommen,
welches innerhalb Russlands verbraucht wird. Dadurch konnte die Exportmenge
des heimischen teuren Öls auf dem Weltmarkt erhöht werden. Bezogen auf die
Sanktionen sind also die Interessen von Frankreich und Russland diametral: Russland profitiert von den Sanktionen, während französische Unternehmen erst ihre
Abkommen mit dem Irak ausschöpfen können, wenn die Sanktionen aufgehoben
werden. Was sie vereint ist jedoch, dass beide Länder nicht von einem gewaltsamen Regimewechsel im Irak profitieren würden.
d) Russlands Haltung in der Irakfrage 2003
In der Irakkrise 2002/2003 steht Präsident Putin unter großem Druck von Politik
und Militär, da die meisten politischen Parteien und die militärische Führung Saddam Hussein als einen Verbündeten Russlands betrachten im Kampf gegen die
Weltmacht USA. Dies wurde auch im Oktober 2002 deutlich: Nachdem Saddam
Hussein scheinbar zu 100% in einem Referendum für eine weitere Amtszeit bestätigt wurde, bekräftigten Nationalisten, Kommunisten und auch Putin nahe stehende Politiker ihre Zustimmung zum Regime Saddam Husseins. Zudem genießen
antiamerikanische Regime in Politik, Militär und Gesellschaft Russlands a priori
Sympathien. Meinungsumfragen zufolge sieht die russische Bevölkerung den
Weltfrieden mehr durch George W. Bush gefährdet als durch Saddam Hussein.
Schätzungsweise sind 70% der Bevölkerung in Russland gegen einen Irakkrieg.
Dies ist jedoch auch auf die Propaganda der Regierung, welche die Medien großteils unter ihrer Kontrolle hat, zurückzuführen.
Der gemeinsame Kampf mit Amerika gegen die Taliban in Afghanistan war eine
Ausnahme, da die Taliban verdächtigt wurden, die Terroristen in Tschetschenien
unterstützt zu haben, durch Trainingscamps auf afghanischem Boden, aber auch
durch Kämpfer aus ihren Reihen im Kampf gegen Russland. Bereits vor dem
11.September 2001 drohte der Kremlsprecher Jastrschembskij Afghanistan in einer Presseerklärung vom 22.Mai 2000 mit einem Präventivschlag gegen einzelne
Regionen, in welchen Trainingslager vermutet wurden. Moskau bezeichnete Afghanistan als einen Instabilitätsfaktor für Zentralasien und Südrussland. Auch der
Europarat wurde beschuldigt, Kontakte mit tschetschenischen Separatisten gesucht zu haben, und damit gegen Russland gehandelt zu haben. Im Juni 2000
wurde mit Bill Clinton eine Zusammenarbeit von Russland und den USA im
106
Kampf gegen den Terrorismus beschlossen. So ist es nicht verwunderlich, dass
Russland im Afghanistankrieg an der Seite der USA stand. Auch machte der
Kreml Zusagen an Usbekistan und Turkmenistan, ihnen bei der Verteidigung ihrer
Südgrenzen gegen Afghanistan zu helfen. Russland und die USA unterstützten
beide die „Nordallianz“, die Opposition gegen die Taliban in Afghanistan. Zudem
ist nicht zu vergessen, dass die Sowjetunion bereits in den 80’er Jahren in Afghanistan gegen die Taliban kämpfte, welche damals noch von den USA unterstützt
wurden, Sie scheiterte jedoch bei ihrem Vorhaben in Afghanistan ihre Einflusszone zu erweitern und zog sich nach einem blutigen Krieg zurück.
Der Kampf Amerikas gegen den Terrorismus wird von Russland akzeptiert, da ja
auch Russland in solch einen „Krieg gegen Terroristen“, so die offizielle Bezeichnung des Tschetschenienkonflikts in Moskau, verwickelt ist. So ist die USA in
Bezug auf den Tschetschenienkonflikt eher ein Verbündeter für Russland, als
Deutschland oder Frankreich, welche gelegentlich die Einhaltung der Menschenrechte fordern, wenn auch meist recht leise. Die USA hingegen dulden den Konflikt stillschweigend. Kurz vor den Auseinandersetzungen im UNO-Sicherheitsrat
setzten die USA dann auch drei tschetschenische Vereinigungen auf ihre Liste von
Terrororganisationen, wohl um Russland noch vor den Verhandlungen umzustimmen.
Ein Krieg gegen den Irak wird jedoch nicht als ein Krieg gegen den Terrorismus
gesehen, auch weil unter den mutmaßlichen Terroristen in Tschetschenien keine
Iraker identifiziert werden konnten. Auch jeder Verbindung zwischen Saddam
Hussein und Al Qaida wird im Kreml widersprochen. Britische Journalisten behaupteten jedoch, das Moskau die irakischen Geheimdienste mit Informationen
versorgt hätten und im Gegenzug dafür Auskünfte über Osama bin Ladens Ausbildungslager für tschetschenische Rebellen erhielten. Die USA beschuldigten
Moskau, das russische Rüstungsgüter an den Irak geliefert würden. Moskau wies
diese Vorwürfe jedoch als „haltlos“ zurück, und beteuerte das Waffenembargo
einzuhalten. Als sicher gilt jedoch, dass der ehemalige stellvertretende sowjetische
Verteidigungsminister Atschalow als Berater für Saddam Hussein tätig war, da er
gerade erst vom irakischen Verteidigungsminister dafür ausgezeichnet wurde.
Dies könnte auch erklären, warum man in Russland der Überzeugung ist, dass die
USA die Schwierigkeiten eines Krieges gegen den Irak weit unterschätzen. Es
wird gar ein „Dritter Weltkrieg“ befürchtet. Auch wird gemutmaßt, dass die USA
Atomwaffen einsetzen könnten, wenn sich eine Sieg nicht anders erzwingen ließe.
107
Ein weiterer wichtiger Punkt aus Sicht von Russland gegen einen Irakkrieg, sind
die Weltmachtbestrebungen Washingtons. Der ehemalige Geheimdienstchef, Außenminister und Ministerpräsident Jewgenij Primakow, ein gelernter Orientalist,
der seit dem Ende der sechziger Jahre persönlich mit Hussein bekannt ist, führte
1996 die Doktrin der "vielpoligen Welt" ein. Darunter versteht er eine Weltordnung, in welcher sich die Großmächte Russland, China, Europa, Japan, die USA
und Indien die Macht untereinander aufteilen. Ein Krieg gegen den Irak wird von
Russland als ein Versuch der USA gewertet, eine „einpolige Welt“ zu errichten.
Um das zu verhindern, will Russland die Rolle der UNO stärken, auch da Russland im Sicherheitsrat noch sein Großmachtattribut geniest, das Vetorecht. Deshalb will Moskau auch, dass alle weltpolitisch relevanten Dinge in der UNO verhandelt werden, damit jegliche Alleingänge Amerikas und Großbritanniens ohne
UNO-Mandat von vornherein verhindert werden können.
In der jetzigen Irakkrise setzt sich Moskau für die friedliche Entwaffnung des Irak
durch UNO- Kontrollen ein. Von Frankreich und Russland wurde der Vorschlag
gemacht, sich an der Luftüberwachung des Irak zu beteiligen, oder gar russische
und französische Truppen in den Irak zu entsenden, um die UNO- Waffeninspekteure bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Auch über eine russische Beteiligung an
einer Friedenstruppe im Irak wurde gesprochen.
VIII. Russlands Position zur Irak-Resolution
Russlands Regierung unter Putin spricht sich gegen einen Krieg gegen den Irak
aus. Eine UNO-Resolution für einen Irakkrieg will Russland mit einem Veto im
Sicherheitsrat blockieren.
IX.
-
Malek,
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und
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109
China
I. Geographische Karte
110
II. Basisdaten
-
Ländername:
Volksrepublik China (Zhonghua Renmin Gongheguo)
-
Klima:
Im Norden kontinental, im Süden subtropisch
-
Lage:
Ostasien, 18° bis 53° nördlicher Breite, 73° bis 135° östlicher Länge
-
Größe des Landes:
9.597.995 qkm (inkl. Taiwan, Hongkong und Macau)
-
Hauptstadt:
Peking (Beijing), Großraum: 13,82 Mio. Einwohner, außerdem annähernd
3 Mio. Wanderarbeiter
-
Bevölkerung:
geschätzt 1,294 Mrd. (Ende 2003), ca. 92% Han-Chinesen, sowie 55 Minoritätengruppen (Zhuang, Mandschu, Hui, Miao, Uighuren, Yi, Mongolen, Tibeter, Buyi, Koreaner u. a), Jahresbevölkerungswachstum 0,6%
-
Landessprache:
Standard-Hochchinesisch ("Putonghua"), Dialekte des Chinesischen;
verschiedene Minderheitensprachen (Mongolisch, Tibetisch, Uighurisch,
Turksprachen, Koreanisch)
-
Religionen / Kirchen:
Atheistische Staatsideologie; Buddhismus, Islam, Taoismus, protestantische und katholische "Staats-Kirchen"
-
Nationalfeiertag:
111
Oktober
-
Unabhängigkeit:
Gründung der Volksrepublik China am 01.10.1949
-
Staats-/Regierungsform:
Sozialistische Volksrepublik
-
Staatsoberhaupt:
Präsident Hu Jintao (seit 2003; Amtszeit 5 Jahre), zugleich Generalsekretär der KPCh
-
Regierungschef:
Ministerpräsident (Vorsitzender des Staatsrats) Wen Jiabao (seit 2003,
Amtszeit 5 Jahre) Mitglied des Politbüros (PBM) des ZK der KPCh
-
Außenminister:
Li Zhaoxing, seit 2003, Mitglied des ZK der KPCh
-
Parlament:
Nationaler Volkskongress (NVK): 1 Kammer, 2.989 Abgeordnete, zuletzt
2003 von den Volkskongressen der Provinzen für 5 Jahre gewählt, Vorsitzender: Wu Bangguo (PBM), NVK wählt u. a. den Staatspräsidenten, Vizepräsidenten und Ministerpräsidenten
-
Regierungspartei:
Kommunistische Partei der VR China (KPCh): Zentralkomitee (193 Mitglieder) mit Politbüro (22 Mitglieder) und dessen Ständigem Ausschuss (7
Mitglieder). Acht weitere (in der Praxis bedeutungslose) Parteien sind zusammen mit Vertretern der Massenorganisationen und der Minderheiten in
der "Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes" als sog.
"Einheitsfront" unter Führung der KPCh zusammengeschlossen
-
Vorsitzender:
Hu Jintao
-
Opposition:
Keine parlamentarische Opposition
-
Gewerkschaft:
112
Kommunistische Einheitsgewerkschaft "Allchinesischer Gewerkschaftsbund"
-
Verwaltungsstruktur:
Zentralregierung in Peking, 22 Provinzen, 5 Autonome Regionen sowie
vier regierungsunmittelbare Städte (Peking, Tianjin, Shanghai, Chongqing), zwei Sonderverwaltungs-Regionen (Hongkong, Macau)
-
Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen:
Vereinte Nationen und zahlreiche Sonderorganisationen,
Weltbank,
IWF(Internationaler Währungsfonds);
WTO (Welthandelsorganisation)
-
Wichtigste Medien:
-
Fernsehen: Chinese Central Television (CCTV);
-
Radio: Volksrundfunk;
-
Presse: Volks-, Wirtschafts-, Rechts-, Arbeiter-, Jugendzeitung, Guangming Ribao und China Daily (englischsprachig)
-
Bruttoinlandsprodukt 2003:
1.377,6 Mrd. USD (ohne Hongkong);
-
BIP pro Kopf ca. 1090 USD
III. Geschichte:
-
18. Jh. v. Chr.:
Anfänge des chinesischen Reiches
-
1066 - 256 v. Chr.:
Politisch zersplitterte, aber kulturgeschichtlich wichtige Zhou-Dynastie
(Konfuzius, Laotse).
-
221 v. Chr.:
Erste Einigung des Landes unter der Qin-Dynastie (daraus abgeleitet auch
der Ländername "China"); sie bleibt in der darauffolgenden Han-Dynastie
113
(206 v.Chr. - 220 n. Chr.) erhalten. Darauf folgt eine erneute Epoche des
Zerfalls und teilweiser Fremdherrschaft.
-
581 n. Chr.:
Sui-Dynastie: China wird wieder vereint.
-
618 – 907 n. Chr.::
Tang-Zeit: außenpolitische Öffnung und kulturelle Blüte (Dichter Li Bai
und Du Fu)
-
960 – 1279 n. Chr.:
Nach kurzer Zeit des Niedergangs tritt unter den Song-Kaisern eine kulturell fruchtbare (Philosophie: Neokonfuzianer), aber außenpolitisch instabile Lage ein, die 1127 zum Verlust des nördlichen Reichsteiles an sinisierte
Nomaden führt.
-
1279 - 1368:
Nach dem Siegeszug des Dschingis Khan beherrschen die Mongolen für
ein Jahrhundert China (Yuan-Dynastie).
-
1368 - 1644:
Chinesische Ming-Dynastie schüttelt die Fremdherrschaft ab.
-
1644 - 1911:
Nach nahezu 300-jähriger Herrschaftszeit wird die Ming-Dynastie durch
die Qing-Dynastie der Mandschu ersetzt, die China erneut unter Fremdherrschaft bringt.
-
1842:
Erste Niederlage Chinas gegen den Westen im Opiumkrieg
-
1900:
Boxeraufstand mit Hassausbrüchen gegen alles Fremde und Ausländische.
-
Februar 1912:
Nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie durch die von Sun Yatsen geführte Revolution, Ausrufung der Republik unter ihrem ersten Präsidenten Yuan Shikai.
-
1916 - 1925:
114
China unter der Herrschaft der Kriegsherren im Norden.
-
1923:
Zusammenschluss der Kuomintang (Nationale Volkspartei) und der 1921
gegründeten Kommunistischen Partei Chinas
-
1927:
Nationalisten unter Chiang Kai-shek beenden dieses Bündnis und erobern
ein Jahr später Peking.
-
1936:
Die anschließende Zeit des Bürgerkriegs zwischen den Nationalisten und
Kommunisten wird nach dem sog. Xian-Zwischenfall durch eine nationale
Front gegen Japan vorerst überwunden; nach der Kapitulation Japans erneut Bürgerkrieg.
-
1949:
Maos Sieg führt zur Ausrufung der Volksrepublik China, Chiang Kai-shek
zieht sich mit Restgruppen der Nationalisten auf die Insel Taiwan zurück
-
Bis September 1976:
Mao-Ära: Bodenreformbewegung 1949 - 52, Genossenschaftsbewegung
1951-56, "Großer Sprung nach Vorn" und Volkskommunenbewegung
1958, Kulturrevolution 1966 - 1976
-
Dezember 1978:
Nach schweren Auseinandersetzungen kann die Gruppe um Deng Xiaoping auf der 3. Plenarsitzung des XI. Zentralkomitees ihr Reformkonzept
durchsetzen und sich in der Folgezeit konsolidieren.
-
1980 / 1981:
Nachfolger Maos, Hua Guofeng, muss seine Ämter als Regierungschef an
Zhao Ziyang und als Parteivorsitzender an Hu Yaobang abgeben, der
seinerseits im Januar 1987 zugunsten von Zhao Ziyang zurücktreten muss.
-
Juni 1989:
Nach der gewaltsamen Niederschlagung des als "Konterrevolutionäre Rebellion" bezeichneten Studenten- und Volksaufstandes wird der reformfreundliche MP Zhao Ziyang seiner Ämter enthoben und steht seither un115
ter Hausarrest. Neuer Generalsekretär der KPCh wird Jiang Zemin, der im
Herbst 1989 nach Rücktritt Deng Xiaopings von seinem Posten als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der KPCh auch dieses Amt übernimmt.
-
März 1993:
Jiang Zemin wird zum Staatspräsidenten gewählt und 1998 in diesem Amt
bestätigt.
-
01.07.1997
Rückgabe von Hongkong
-
20.12.1999
Rückgabe von Macau
-
11.12.2001
Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO)
-
November 2002
Hu Jintao wird beim KP-Parteitag zum neuen KP-Generalsekretär gewählt.
-
März 2003
Hu Jintao wird beim NVK-Plenum zum neuen Staatspräsidenten gewählt.
IV. Innenpolitische Entwicklung
a) Staatsaufbau
Gemäß ihrer Verfassung ist die Volksrepublik China ein "sozialistischer Staat
unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt
wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht". Die Herrschaft der
Kommunistischen Partei wird durch die in der Präambel festgeschriebenen "Vier
Grundprinzipien" (Festhalten am sozialistischen Weg, demokratischer Zentralismus, Führung durch die KP, Marxismus/Leninismus und Ideen Mao Zedongs)
ergänzt, die durch die 1988 beschlossenen Garantien des Privateigentums, das
1993 in die Verfassung aufgenommene Prinzip der "sozialistischen Marktwirtschaft" und die 1999 verabschiedeten Verfassungsänderungen u. a. zur Aufwer-
116
tung der Marktwirtschaft und zur Verankerung der "Herrschaft durch das Recht"
ergänzt werden.
Der einmal jährlich zusammentretende Nationale Volkskongress (NVK) wählt
den Staatspräsidenten, seinen Stellvertreter, und - auf Vorschlag des Staatspräsidenten - den Ministerpräsidenten. Mit der ersten Tagung des 10. NVK im März
2003 begann die derzeitige Legislaturperiode von fünf Jahren. Dem Ministerpräsidenten obliegt die Leitung der Regierung. Er wird von einem "inneren Kabinett", bestehend aus vier Stellvertretern und fünf Staatsräten, in seiner Arbeit unterstützt.
b) Administrative Gliederung
23 Provinzen (unter Einschluss Taiwans), fünf autonome Regionen, vier regierungsunmittelbare Städte (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing).
c) Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macao
Hongkong hat den Status einer Sonderverwaltungsregion (Special Administrative
Region - SAR). Nach dem Grundsatz "Ein Land, zwei Systeme", der der sinobritischen "Gemeinsamen Erklärung" von 1984 über den Souveränitätsübergang
zugrunde liegt, kann Hongkong für 50 Jahre sein bisheriges Gesellschaftssystem
aufrechterhalten und einen hohen Grad an Autonomie genießen. Nach einem ähnlichen Abkommen wurde Macau am 20. Dezember 1999 von Portugal an die
Volksrepublik China zurückgegeben.
Die Wiedervereinigung mit Taiwan bleibt eines der Hauptziele chinesischer Politik.
d) Politische und wirtschaftliche Reformen
China hat sich mit seinem Ende 1990 beschlossenen Zehnjahresprogramm langfristig zur Politik der wirtschaftlichen Reform und Öffnung bekannt. Das Konzept
der "sozialistischen Marktwirtschaft" wurde zunächst in die Parteistatuten, im
März 1993 erstmals auch in die Verfassung aufgenommen und durch ergänzende
Verfassungsänderungen vom März 1999 weiter präzisiert.
117
Das rasante Wirtschaftswachstum infolge der Reform- und Öffnungspolitik hat
den Lebensstandard der meisten Chinesen erhöht, allerdings zu großen Ungleichgewichten bei der Einkommensverteilung zwischen Stadt und Land, Küsten- und
Binnenprovinzen sowie staatlichem und privatem Sektor und zunehmender Arbeitslosigkeit geführt. Privatunternehmern steht seit Mitte 2002 die Aufnahme in
die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) offen.
e) Staat und Partei
Entscheidender Machtträger ist die Kommunistische Partei Chinas. Nach dem
Parteistatut wählt der alle fünf Jahre zusammentretende Parteitag das Zentralkomitee (193 Mitglieder), das wiederum das Politbüro (22 Mitglieder) wählt. Ranghöchstes Parteiorgan und engster Führungskern ist der siebenköpfige "Ständige
Ausschuss" des Politbüros. Der im November 2002 in Peking zusammengetretene
XVI. Parteitag leitete den ersten ordentlichen Führungswechsel seit Gründung der
Volksrepublik ein (Übergang von der "dritten" zur "vierten" Generation). Er wurde mit der Neubesetzung der staatlichen Ämter auf der NVK-Tagung im März
2003 abgeschlossen. Die Volksrepublik China ist administrativ in 22 Provinzen,
die vier regierungsunmittelbaren Städte Peking, Shanghai, Tianjin und Chongqing
(letztere seit 1997) sowie die fünf Autonomen Regionen der nationalen Minderheiten Tibet, Xinjiang, Innere Mongolei, Ningxia und Guangxi unterteilt. Es gibt
sieben Militärregionen, die jeweils verschiedene Provinzen bzw. Teile davon umfassen.
Die Zentrale Militärkommission der Partei leitet die Streitkräfte des Landes. Nach
dem Gesetz zur Landesverteidigung von 1997 sind die Streitkräfte der Partei,
nicht dem Staatsrat unterstellt. Vorsitzender der Kommission, die personalidentisch mit der Staatlichen Zentralen Militärkommission ist, ist weiterhin Staatspräsident a.D. Jiang Zemin, der damit oberster Befehlshaber der Volksbefreiungsarmee bleibt.
f) Menschenrechtsdialog
Die Europäische Union führt mit China einen Menschenrechtsdialog in der Absicht, die chinesische Regierung zur Respektierung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten sowie zu einer stärkeren Kooperation mit den internationalen
Menschenrechtsmechanismen anzuhalten. Dem Ziel einer Verbesserung der Men118
schenrechtslage in China dient auch ein Kleinprojektfonds "Menschenrechte". Ein
von der EU finanziertes Kooperationsprogramm mit den Schwerpunkten Ausund Fortbildung der Justiz-Berufe soll die Rechtsstaatlichkeit in China fördern. In
einem Programm "Village Governance" werden Demokratisierungsansätze unterstützt.
g)
(Aktuelle innenpolitische Situation) Zusatzinfo
1) Allgemein
Die Wahrung der sozialen Stabilität besitzt für die Regierung politische Priorität.
Vor diesem Hintergrund bleiben die Förderung der Landwirtschaft, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Abbau des zunehmenden Wohlstandsgefälles, der
Ausbau des sozialen Netzes und die Reform der Staatsunternehmen auf der wirtschaftspolitischen Prioritätenliste. Auch die großangelegte Erschließung der mittleren und westlichen Provinzen Chinas, von der sich die Führung kräftige gesamtwirtschaftliche Impulse erhofft, soll in den kommenden Jahren energisch
vorangetrieben werden.
Hu Jintao wurde beim KP-Parteitag im November 2002 zum neuen KPGeneralsekretär und beim NVK-Plenum im März 2003 zum neuen Staatspräsidenten gewählt. In beiden Ämtern tritt er die Nachfolge von Jiang Zemin an.
Hu Jintao setzt die von Deng Xiaoping begründete und von Jiang Zemin energisch vorangetriebene Reformpolitik in Wirtschaft und Gesellschaft unter strikter
Wahrung des vom Machtmonopol der KP geprägten politischen Systems fort. Er
wird hierbei von dem ebenfalls neuen Ministerpräsidenten Wen Jiabao unterstützt,
der es sich zum Ziel gesetzt hat, die von Zhu Rongji betriebene wirtschaftliche
Umstrukturierung auf dem Weg in eine "sozialistische Marktwirtschaft" fortzuführen. Die neue Führung beabsichtig dabei, ihr Augenmerk verstärkt auf die zunehmenden sozialen Spannungen sowie die Sorgen der "kleinen Leute" zu richten. Mit der von Jiang Zemin eingeleiteten Öffnung der KPCh für Privatunternehmer soll die soziale Basis der Partei erweitert und so ihr Machtmonopol gesichert werden.
119
2) Menschenrechtsdialog
Die Europäische Union führt mit China einen Menschenrechtsdialog in der Absicht, die chinesische Regierung zur Respektierung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten sowie zu einer stärkeren Kooperation mit den internationalen
Menschenrechtsmechanismen anzuhalten. Dem Ziel einer Verbesserung der Menschenrechtslage in China dient auch ein Kleinprojektfonds "Menschenrechte". Ein
von der EU finanziertes Kooperationsprogramm mit den Schwerpunkten Ausund Fortbildung der Justiz-Berufe soll die Rechtsstaatlichkeit in China fördern. In
einem Programm "Village Governance" werden Demokratisierungsansätze unterstützt.
3) Menschenrechte
Die Volksrepublik China erkennt de iure die grundlegenden Prinzipien der Charta
der Vereinten Nationen (VN) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an. Sie gehört einer Reihe von VN-Übereinkünften zum Schutz der Menschenrechte an und hat am 27.10.1997 den Internationalen Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte und am 05.10.1998 den Internationalen Pakt über
bürgerliche und politische Rechte gezeichnet, letzteren allerdings noch nicht ratifiziert. Am 20.11.2000 hat die chinesische Regierung ein Memorandum of Understanding mit der damaligen VN-Menschenrechtshochkommissarin Mary Robinson unterzeichnet. Am 27.03.2001 hat die Volksrepublik den VN-Wirtschaftsund Sozialpakt ratifiziert, allerdings zum Recht auf die Bildung freier Gewerkschaften einen Vorbehalt eingelegt. Auch die im August 2002 vorgelegte Änderung des Gewerkschaftsgesetzes erhält das Monopol des All-Chinesischen Gewerkschaftsbundes aufrecht. Unabhängige Gewerkschaften werden weiterhin
nicht zugelassen, es wird von Amnesty International und anderen Nichtregierungsorganisationen immer wieder berichtet, dass Organisatoren von Arbeiterprotesten inhaftiert werden.
4) Staat und Religion
Vor dem Hintergrund des ideologischen Verfalls der KP und eines geistigen Vakuums in der Gesellschaft sieht die Partei jegliche Form organisierter Religionsoder Meditationsausübung außerhalb ihrer Kontrolle als Bedrohung an. Die Anhänger der synkretistischen Bewegung Falun Gong bekämpft sie völlig unverhält120
nismäßig mit Verboten, Verhaftungen, Strafverschärfungen und massiver Propaganda. Obwohl der chinesische Staat laut Verfassung fünf Religionen anerkennt
(Buddhismus, Daoismus, Islam sowie protestantisches und katholisches Chritstentum) und Glaubensfreiheit garantiert wird, müssen sich kirchliche Gruppen beim
Religionsamt registrieren lassen und sich einer der offiziell anerkannten Kirchen
unterordnen. Gruppen, die sich gegen diese Registrierung und Kontrolle sperren,
sind Repressalien und Verfolgung ausgesetzt. Gegen Angehörige der islamischen
Minderheit der Uighuren wurden (unter dem Vorwurf separatistischer Bestrebungen) Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt. Während die private und individuelle Religionsausübung in Tibet weitgehend möglich zu sein scheint, bleiben
strukturelle Behinderungen des tibetischen Buddhismus (u.a. Beschränkung der
Anzahl der Mönche) bestehen.
Durch die soziale Dynamik im Gefolge der wirtschaftlichen Reformen gewinnt
die chinesische Gesellschaft aber zunehmend an Offenheit. Die Lebensbedingungen haben sich für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung seit 1978 entscheidend verbessert und erlauben im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Bereich ein deutlich höheres Maß an persönlicher Freiheit. Die Führung unternimmt erhebliche Anstrengungen, um Verwaltungshandeln berechenbarer zu machen, dem Einzelnen gewisse Rechte gegen behördliche Willkür einzuräumen und
das Rechtssystem auszubauen. Dem steht jedoch weiterhin der Anspruch der
Kommunistischen Partei auf die ganze Macht gegenüber, die sie bis auf weiteres
nicht zu teilen bereit ist. Gewaltenteilung und Mehrparteiendemokratie werden
weiterhin ausdrücklich abgelehnt.
5) Medienfreiheit
Im Vorfeld des XVI. Parteitags im November 2002 sowie der Plenartagung des
Nationalen Volkskongresses im März dieses Jahres versuchte die Partei, ihre
Kontrolle über die Medien zu stärken. Der Zugang zu Websites ungenehmen Inhalts, auch zu internationalen Internetportalen und Suchmaschinen, wird zeitweise
blockiert. Verurteilungen von Internetbenutzern zu mehrjährigen Haftstrafen wegen angeblichem "Verrat von Staatsgeheimnissen" haben in jüngster Zeit zugenommen. Nach einem Großbrand in einem nicht behördlich genehmigten Pekinger Internetcafé, bei dem über 20 Menschen den Tod fanden, wurden die Voraussetzungen für die Erteilung von Geschäftslizenzen verschärft. Insbesondere die
121
erforderliche Neuregistrierung zuvor vorschriftsmäßig angemeldeter Cafés wurde
als überzogen kritisiert. Dennoch stellen Internet und E-Mail, zumal in den Großstädten, das Informationsmonopol von Partei und Staat in Frage. Die Zahl der
Internetnutzer wird inzwischen auf nahezu 60 Millionen geschätzt.
Über den Irak-Krieg wurde in den chinesischen Medien sehr ausführlich und
weitgehend
objektiv
berichtet;
teilweise
wurden
die
Bilder
des
US-
Nachrichtensenders CNN vom chinesischen Staatsfernsehen CCTV unmittlebar
übernommen.
Während der SARS-Epidemie haben die chinesischen Medien ausführlich und
teilweise sehr kritisch über die Ursachen und Folgen der Lungenkrankheit berichtet. Fehler in der Informationspolitik der Regierung und Unzulänglichkeiten bei
der Aufklärung der Bevölkerung wurden angemahnt. Mit der erfolgreichen Bekämpfung der Krankheit und der Normalisierung der Lage in Peking wurde die
kritische Berichterstattung allerdings wieder stärker eingeschränkt.
V) Außenpolitische Entwicklung
a) Allgemein
Pekings Mitwirkung an Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen ist
punktuell und an Konditionen geknüpft.
Dem Verhalten Chinas in der Golfkrise liegen zwei Motive zugrunde. Zum einen
die Überwindung der seit dem Massaker vom Sommer 1989 bestehenden Isolation gegenüber den führenden Industriestaaten, zum anderen das Streben nach weiterer Profilierung als Macht mit internationalem Gewicht. Die politischen „Instrumente“, deren China sich bedienen konnte, sind sein Status als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und das Interesse der USA am
Zustandekommen einer geschlossenen Front gegen den Irak. Es erklärte sein Vorhaben, die Waffenverkäufe an den Irak einzustellen, und stimmte für alle VNResolutionen, die Maßnahmen gegen den Irak vorsahen, ausgenommen die Resolution 678 vom 29.November 1990. Da diese die Gewaltanwendung ermöglicht,
falls Irak die früheren Resolutionen nicht bis zum 15. Januar 1991 erfüllt (Offenhalte-Positon) und China die Anwendung militärischer Gewalt zur Lösung der
Krise ablehnt, enthielt sich China folgerichtig der Zustimmung für Resolution
678. China hat aus der Golf-Krise politischen Gewinn geschlagen, indem es sein
122
internationales Gewicht im diplomatischen Tauziehen um die entsprechenden
VN-Resolutionen, insbesondere um die erwähnte Resolution 678, voll zur Geltung brachte. Die Kritik an der Einmischung fremder Mächte am Golf bei gleichzeitigem Verständnis für die saudiarabischen Sicherheitsbelange hat den Eindruck
einer von den Großmächten weitgehend unabhängig agierenden Macht entstehen
lassen.
Chinesische Mitwirkung an der Pariser Friedensregelung für Kambodscha war
1991 von dem Kalkül diktiert, dass damit die Rolle der Drittmächte in Kambodscha klein gehalten und chinesischer Einfluss automatisch wieder zunehmen würde. Bei der Lösung der nordkoreanischen Nuklearfrage und bei Differenzen bezüglich des koreanischen Waffenstillstandsregimes hat China andererseits ein
Eingreifen der Vereinten Nationen verhindert, weil in beiden Fällen aufgrund von
Geografie und Geschichte nur durch bilaterale Geheimdiplomatie eine Optimierung chinesischen Einflusses zu erzielen war. Wenn Peking eine Beachtung internationaler Rüstungskontrollregime – z.B. des Trägertechnologie-Kontrollregimes
(MTCR) – in Aussicht gestellt hat, dann nur gegen materielle Konzessionen des
Verhandlungspartners, in der Regel der USA.
Als bevölkerungsreichstes Land der Welt, ständiges Mitglied des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen, Nuklearmacht und dynamische Volkswirtschaft beansprucht China verstärkt Mitwirkungsrechte in allen bedeutenden weltpolitischen
Fragen. Mit dem Beitritt zur WTO am 11. Dezember 2001 ist China dem Ziel
einer gleichberechtigten Integration in das multilaterale Welthandelssystem ein
großes Stück näher gekommen. China fordert eine Stärkung der Rolle und Verantwortung des VN-Sicherheitsrates im Bereich der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Um weltweite Unterstützung für seine außenpolitischen Ziele zu erhalten, ist Peking entschlossen, auch in der Dritten Welt eine
aktivere Rolle zu spielen. So fand im Oktober 2000 in Peking eine große AfrikaKonferenz statt, an der die Außen- und Handelsminister aus 44 afrikanischen
Staaten teilnahmen. Zugleich zeigen das ASEM-Außenministertreffen am
24./25.05.2001 in Peking, die Gründung der "Shanghai Cooperation Organisation" (China, Rußland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan) am
15.06.2001 in Shanghai sowie der APEC-Gipfel (20.-21.10.2001 in Shanghai) die
zunehmende Bereitschaft Chinas, sich in multilateralen Gremien zu engagieren.
China hat unmittelbar nach dem 11. September 2001 seine Unterstützung für die
internationale Koalition gegen den Terrorismus deutlich gemacht.
123
Die Entscheidung für Peking als Ausrichter der Sommerolympiade 2008 und für
Shanghai als Gastgeber der EXPO 2010 wird von den Chinesen als Zeichen des
Respekts, des Vertrauens und der Sympathie der internationalen Gemeinschaft für
ihr Land gesehen. Das nationale Selbstwertgefühl hat einen kräftigen Schub erfahren.
b) Beziehungen zu den USA
China bot die Golfkrise die Chance, sein Come-back auf internationale Bühne
beschleunigt zu bewerkstelligen. Zwar hatte es bereits durch eine konstruktive
Haltung in der Kambodscha-Frage Schritte in diese Richtung unternommen, aber
das Kambodscha-Problem ist in erster Linie von regionaler Bedeutung, die GolfKrise hat globale Auswirkungen. Der Verzicht auf ein Veto sicherte China die
lange erwünschte Wiederherstellung normaler Beziehungen zu den USA; gleichzeitig demonstrierte es durch seine Stimmenthaltung eine von den USA und den
anderen Großmächten unabhängige Politik. Das Interesse Chinas an der vollen
Wiederherstellung seiner Beziehungen zu den USA und das Interesse der Vereinten Staaten an der chinesischen Stimme im Sicherheitsrat ergaben eine günstige
Konstellation. Beide Regierungen arrangierten sich, wobei Peking in der für Washington wichtigen Menschenrechtsproblematik kein Entgegenkommen 1991
zeigte. Während sich die Menschenrechtslage nach Clintons Abkoppelungsbeschluss vom Mai 1994 deutlich verschlechterte und auch China amerikanischen
Handelssanktionen im Januar 1994 nur knapp entging, vermehrte sich das Risiko
direkter Zusammenstöße. Anders als während des Kalten Krieges wird die ostasiatische Militärpräsenz der USA heute in China nicht mehr gutgeheißen. Im November 1995 machte die chinesische Führung ihre Ablehnung der Stationierung
amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Japan öffentlich. Erst eine Begegnung
zwischen Clinton und Jiang Zemin im Oktober 1994 erbrachte eine geringfügige
Entspannung.
Die Beziehungen zu den USA befinden sich aus Sicht Pekings derzeit auf einem
sehr hohen Niveau. Zwar hat sich Peking gegen den Irak-Krieg ausgesprochen;
direkte Kritik an den USA wird jedoch sorgsam vermieden. Hauptstreitpunkt zwischen Peking und Washington ist die Zusammenarbeit der USA mit Taiwan. Die
Pläne Washingtons zur Schaffung eines Raketenabwehrsystems (Missile Defense)
wertet Peking als unmittelbare Bedrohung der eigenen Sicherheit. Peking hat mit
124
großer Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass die USA bei der alljährlichen
Tagung der VN-Menschenrechts-Kommission (MRK) im Jahr 2003 keinen China-kritischen Resolutionsentwurf eingebracht und sich zur Ein-China-Politik bekannt haben.
c) Beziehungen zur Russischen Föderation und Zentralasien
Die Beziehungen zwischen China und Russland (bzw. der Sowjetunion) wurden nach Jahrzehnten ideologischer Spannungen - Ende der 1980er Jahre auf eine
neue pragmatische Grundlage gestellt. Russland ist heute für China ein zentraler
politischer Partner. Bei dem Staatsbesuch des damaligen Präsidenten Jiang Zemin
in Russland im Juli 2001 wurde ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Auch der
bilaterale Handelsaustausch gewinnt auch an Bedeutung; im vergangenen Jahr hat
er nach chinesischen Angaben um 11,8 % zugenommen.
Peking hat großes Interesse an der Stabilität der benachbarten zentralasiatischen
Staaten. Wichtigstes Instrument der Zusammenarbeit ist die am 15.06.2001 aus
der Gruppe der "Shanghai-Fünf" entstandene "Shanghai Cooperation Organisation". Neben der Bereinigung von Grenzfragen haben sich die beteiligten Staaten
auch über vertrauensbildende Maßnahmen verständigt und ihre Grenzen für den
bilateralen Handel geöffnet. Zunehmend stehen Fragen der Bekämpfung von "nationalem Separatismus, internationalem Terrorismus, religiösem Extremismus und
anderen grenzüberschreitenden Verbrechen" im Mittelpunkt dieser regionalpolitischen Zusammenarbeit
d) Beziehungen zu ASEAN
Die Beziehungen zu ASEAN entwickeln sich überaus positiv. China erweist sich
nach anfänglicher Zurückhaltung mittlerweile immer mehr als Hauptmotor der
Integration im Rahmen ASEAN + China sowie ASEAN + 3 (China, Japan, Südkorea). Die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens zur Gründung einer Freihandelszone mit den ASEAN-Staaten bis zum Jahre 2010/2015 auf dem ASEANGipfel in Phnom Penh (04.11.2002) geht maßgeblich auf das Betreiben des damaligen Premierministers Zhu Rongji zurück. Auch im Territorialstreit um die Spratly- und Paracelsus-Inseln im Südchinesischen Meer gelang in Kambodscha nach
jahrelangen Verhandlungen ein Durchbruch: Die am 04.11.2002 von den Außenministern unterzeichnete "Declaration of Conduct of Parties in the South China
125
Sea" verpflichtet die Parteien zur Zurückhaltung sowie zu vertrauensbildenenden
Maßnahmen, zur friedlichen Konfliktlösung und zur Zurückhaltung sowie zur
Respektierung der freien Schiff- und Luftfahrt in und über dem umstrittenen Seegebiet.
e) Verhältnis zu Indien und Pakistan
Im Verhältnis zu Indien führte die Unterzeichnung eines Abkommens über vertrauensbildende Maßnahmen im Grenzbereich (1996) zu einer vorübergehenden
Periode gegenseitiger Annäherung, die mit den indischen Atomtests vom Mai
1998 ein jähes Ende fand. Seit dem Frühjahr 1999 ist es zu einer weiteren Normalisierung der Beziehungen gekommen. Beim Staatsbesuch von Präsident Narayanan in Peking im Juni 2000 haben beide Länder ihre Bereitschaft zu einer Intensivierung ihrer Beziehungen bekräftigt. Die im Jahr 2001 erstmals zusammengetretene "Eminent Persons Group" behandelt die ganze Bandbreite bilateraler Fragen.
Der Besuch des indischen Premierministers Vajpayee in China (22.-27.06.2003)
hat dem bilateralen Verhältnis neue Impulse gegeben.
Pakistan ist traditioneller Freund und Verbündeter Chinas. Peking ist gleichwohl
über mögliche grenzüberschreitende Auswirkungen der ethnisch und fundamentalistisch-religiös motivierten Gewalt in Pakistan besorgt. Es hat Pakistan in der
Entscheidung bestärkt, mit den USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zusammenzuarbeiten.
f) Beziehungen zu den beiden koreanischen Staaten und Vietnam
Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Südkorea im Jahr 1992 unterhält Peking substantielle Beziehungen zu beiden koreanischen Staaten. Die Krise
um das nordkoreanische Nuklearprogramm erfüllt China mit Sorge. Peking tritt
für eine atomwaffenfreie koreanische Halbinsel und die Fortsetzung des innerkoreanischen Annäherungsprozesses ein. Peking war Gastgeber der "trilateralen"
bzw. der "Sechs-Parteien-Gespräche", bei denen Nordkorea und die USA mit chinesischer Beteiligung zum ersten Mal seit Ausbruch der Nuklearkrise im Oktober
2002 über ihre gegensätzlichen Standpunkte sprachen. China wird beim Konfliktmanagement um die Lösung der nordkoreanischen Nuklearkrise weiter eine
wichtige Rolle als Vermittler spielen.
126
Mit Vietnam wurden alle strittigen Fragen hinsichtlich der Landgrenzen zwischen
beiden Ländern mit einem im Dezember 1999 von den beiden Außenministern
unterzeichneten Vertrag gelöst. Zunehmend rücken wirtschaftliche Fragen in den
Mittelpunkt der zwischenstaatlichen Beziehungen.
g) Grundlinien der Beziehungen zur Europäischen Union
Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China sind dicht und
erstrecken sich von Handel über Direktinvestitionen, Umweltschutz, Wissenschaft
bis zur Unterstützung der besonders wichtigen Reformen in Wirtschaft, Sozialversicherung und Justizwesen. Auf EU-Ebene werden auch Gespräche über illegale
Migration und damit verbundene organisierte Kriminalität geführt. Zur Zeit laufen
Verhandlungen über einen "Authorized Destination Status", mit dem die Schengen-Staaten den Status eines von der chinesischen Regierung zugelassenen Ziels
für chinesischen Gruppentourismus erhalten würden. (Deutschland hat als bislang
einziger EU-Mitgliedstaat diesen Status bereits erhalten).
Das Strategiepapier der EU-Kommission zu China entwickelt Perspektiven der
Zusammenarbeit für den Zeitraum 2002 – 2006 und ordnet die künftigen Vorhaben mittelfristigen Zielen im Rahmen von drei Prioritäten zu: 1. Sozial- und Wirtschaftsreformen, 2. Umwelt und 3. Rechtsstaatlichkeit. Ein wichtiger Fixpunkt
der EU-China-Zusammenarbeit im letzten Jahr war der fünfte Gipfel am
24.09.2002 in Kopenhagen.
h) Außenhandel und Direktinvestitionen
Die EU war 2002 drittgrößter Handelspartner Chinas und fünftgrößter ausländischer Investor in China. Das Profil der EU in China erhöhte sich wesentlich durch
die am 19. Mai 2000 erfolgreich abgeschlossenen bilateralen Verhandlungen, die
schließlich zum Beitritt Chinas zu der Welthandelsorganisation (WTO) mit Wirkung vom 11. Dezember 2001 führten. In den kommenden Jahren wird die weitere Integration der VR China in das Welthandelssystem einen neuen Schwerpunkt
des wirtschaftspolitischen Dialogs zwischen der EU und China bilden.
Ebenso wie zwischen China und den Vereinigten Staaten besteht auch zwischen
der EU und China ein regelmäßiger und intensiver Austausch in Fragen des Handels und der Investitionen.
127
VI) Sozioökonomische Entwicklung
a) Grundlinien der Wirtschaftspolitik
China ist seit Beginn der Reformen Dengs zweifellos von globalen und regionalen
Wirtschaftentwicklungen abhängiger geworden und hat die fast hundertprozentige
soziale Kontrolle des Maoismus zugunsten von Märkten und Mobilität lockern
müssen. Jedoch der schrittweise Übergang zu einer immer stärkeren marktwirtschaftlichen Orientierung hat große Wachstumskräfte in China freigesetzt. Seit
den 1980er und frühen 1990er Jahren waren die Zuwachsraten zwar etwas zurückgegangen, doch meldet die Volksrepublik Wirtschaftsdaten, von denen die
Nachbarstaaten und Konkurrenten nur träumen. China ist inzwischen die sechstgrößte Volkswirtschaft und wahrscheinlich viertgrößte Handelsnation der Welt.
Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von knapp über 1.000 USD bleibt es aber auch
das weltgrößte Entwicklungsland. Die akute Atemwegserkrankung SARS hat im
Jahr 2003 am Beispiel des Gesundheitswesens einige Versäumnisse und Mängel
des "chinesischen Wirtschaftswunders" wieder stärker in den Blickpunkt gerückt.
Auch nach 25 Jahren der "Reform- und Öffnungspolitik" (Beginn: 1978) befindet
sich China immer noch im Übergang zur Marktwirtschaft, von einer primär landwirtschaftlichen zur industriellen und Dienstleistungswirtschaft, von einer geschlossenen zu einer offenen Wirtschaft. Der Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation (WTO) Ende 2001 stellte nicht nur eine umfassende Verpflichtungserklärung Chinas und der WTO-Mitglieder zur Wiedereingliederung des
Riesenlandes in das Weltwirtschaftssystem dar, sondern war auch für die chinesische Öffentlichkeit ein klares Zeichen der Hinwendung ihres Landes zur Welt.
Doch China steht unverändert vor gewaltigen Aufgaben: 800 Mio. Menschen leben auf dem Lande, von denen noch über die Hälfte in ihrer wirtschaftlichen Existenz von der Landwirtschaft abhängt. Die Landwirtschaft trägt aber nur noch
knapp 15 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Ihr Anteil sinkt, während die
Anteile von Industrie (53%) und Dienstleistungen (rund 32%) steigen.
b) Strukturreformen
Mittel- und langfristig bergen die überkommenen Strukturen trotz aller Fortschritte auch Risiken für Chinas wirtschaftliche, soziale und damit auch politische Ent128
wicklung: Die chinesischen Banken sind stark unterkapitalisiert. Deren Hauptkreditnehmer, häufig unprofitable Staatsunternehmen, werden kaum dazu in der Lage
sein, ihre Kredite zurückzuzahlen. Viele Staatsbetriebe sind nicht konkurrenzfähig, sie werden auch in diesem Jahr Millionen von Arbeitnehmern entlassen müssen.
Illegale Streiks und Arbeiterproteste dürften der Staatsführung auch in Zukunft
Sorgen bereiten. Das Hauptziel der chinesischen Wirtschaftspolitik bleibt die
Wahrung der sozialen Stabilität. Dies wird schwieriger, da das Wohlstandsgefälle
in der chinesischen Gesellschaft dramatisch zunimmt. Die ländliche Bevölkerung
sowie West-, Nordost- und Zentralchina werden zu Reformverlierern. Auch in
den prosperierenden Küstenprovinzen klafft die Wohlstandsschere immer weiter
auseinander. Augenfälligste politische Reaktion auf diese Entwicklung ist das
Entwicklungsprogramm für West- und Nordostchina. Die Regierung will in den
nächsten Jahren viele Milliarden in Infrastrukturprogramme für die armen westlichen Provinzen stecken. Hinzu kommen neue Anstrengungen, das traditionelle
industrielle Kerngebiet der nordöstlichen Provinzen zu "revitalisieren". Gleichzeitig sollen das unzureichende Sozialversicherungssystem gestärkt und die Wirtschaftsentwicklung weiter mit "deficit spending" gestützt werden. Mittelfristig
birgt dies trotz der gegenwärtig niedrigen offiziellen Staatsverschuldung beträchtliche Risiken für den Staatshaushalt.
c) Aktuelle Wirtschaftslage Zusatzinfo
1) Allgemein
China 2003: der Boom zu Jahresanfang wurde durch den Ausbruch der SARSKrise gebremst und so eine nicht auszuschließende Überhitzung der Konjunktur
verhindert. Nach dem Ende der SARS-Krise Mitte 2003 erholte sich Chinas Wirtschaft rasch und war mit einer Wachstumsrate von 9,1 Prozent der konjunkturelle
Fixstern in einer ansonsten recht trüben Weltwirtschaft. Als sechstgrößte Volkswirtschaft, wahrscheinlich viertgrößte Handelsnation und mit über 400 Mrd. USD
den weltweit zweithöchsten Devisenreserven ist China zu einer ernstzunehmenden Größe in der Weltwirtschaft und der neben Japan entscheidenden - und dynamischeren - Wirtschaftsmacht in der Region herangewachsen. Ausländische
Unternehmen sehen in China das gelobte Land und investierten wie im Vorjahr
2003 ca. 53,5 Mrd. USD; die Volksrepublik war damit das weltweit attraktivste
129
Zielland für Direktinvestitionen. SARS hat den "Boom" nur kurz unterbrochen,
die "SARS-Delle" konnte den Wachstumsmotor nicht ernsthaft ins Stottern bringen oder gar abwürgen.
Steigende Ölpreise und saisonale Einflüsse bremsten im laufenden Jahr die Deflation des vergangenen Jahres - die Preissteigerungsrate im Einzelhandel lag bei +
1,2%.
2) Außenhandel
2003 dürfte China trotz der SARS-Krise vom sechsten auf den vierten Platz der
größten Handelsnationen der Welt vorgerückt sein. Der chinesische Außenhandel
entwickelt sich angesichts der weltwirtschaftlichen Lage spektakulär, die chinesischen Außenhändler eilen von Erfolg zu Erfolg. Ex- wie Importe haben im vergangenen Jahr jeweils um mehr als 30 Prozent zugenommen, das Außenhandelsvolumen stieg von 620 Mrd. USD auf mehr als 851 Mrd. USD, der Handelsbilanzüberschuss ging auf 25,5 Mrd. USD zurück. Eine andere Zahl illustriert Chinas wachsende internationale Verflechtung: Machte der Außenhandel 1990 erst
einen Anteil von rd. 30 Prozent am BIP aus, so waren es im abgelaufenen Jahr
bereits ca. 60 Prozent - und der Beitritt zur Welthandelsorganisation dürfte diesen
Trend noch verstärken.
Die wichtigsten Exportgüter Chinas sind Maschinen, elektronische Produkte sowie Textilien. Wiederum Maschinen, mineralische und chemische Produkte sowie
Metalle und Textilien dominieren den chinesischen Import, der im vergangenen
Jahr ein Volumen von ca. 400 Mrd. USD erreichte.
3) Bildungspolitik
Wichtigste Aufgabe der Bildungspolitik ist der weitere Ausbau des Schul-, Berufsschul- und Hochschulwesens. Als weitere Prioritäten nennt der 10. FünfJahresplan (2001-2005) der Regierung die landesweite Verwirklichung der neunjährigen Schulpflicht sowie die Verringerung des Analphabetentums. Die Hochschulen haben begonnen, ihre Ausbildungskapazitäten erheblich auszuweiten.
Damit soll einerseits das für die weitere Entwicklung Chinas erforderliche qualifizierte Personal ausgebildet, andererseits aber auch der erhebliche Auslesedruck,
dem chinesische Oberschüler ausgesetzt sind, vermindert werden. Verstärkt sollen
130
auch die Fachhochschulen ausgebaut werden. Die weiterhin nicht ausreichende
Zahl von Studienplätzen und ein allgemein großes Interesse am Ausland lassen
die Zahl chinesischer Auslandsstudenten weiter steigen.
Deutschland ist eines der beliebtesten Ziele für ein Auslandsstudium und hat bei
chinesischen Studienanfängern in den letzten Jahren hohe Steigerungsraten erfahren. Dadurch stellt China seit 2000 die größte Gruppe ausländischer Studierender
an deutschen Hochschulen. Im Jahre 2002 waren über 13.000 chinesische Studenten in Deutschland immatrikuliert. Die Akademische Prüfstelle an der Deutschen
Botschaft Peking überprüft seit ihrer Einrichtung im Sommer 2001 die Bildungsnachweise von chinesischen Studienbewerbern und eröffnet den Bewerbern mit
Hochschulzugangsberechtigung ein beschleunigtes Visumverfahren. Die systematische Überprüfung setzt sichtbare Qualitätsstandards. Sie hat sowohl den Ruf
chinesischer Studenten in Deutschland als auch das Ansehen deutscher Hochschulen in China verbessert. Die chinesische Kultur- und Bildungspolitik befinden
sich in einem tief greifenden Wandel, der durch marktwirtschaftliche Reformen
und den teilweisen Rückzug des Staates aus diesem Bereich bedingt ist. Zahlreiche kulturelle Einrichtungen (Orchester, Museen, Bibliotheken etc.) haben daher
Existenzprobleme.
Der ideologische Anspruch an die Künstler besteht weiter fort. Allerdings versuchen viele bildende Künstler, auf der Grundlage chinesischer Tradition und/oder
westlichen Einflusses, einen eigenen Stil zu finden. Das klassische Musikleben in
Metropolen wie Peking und Shanghai ist sehr vielfältig geworden. Bei der Unterhaltungsmusik finden auch populäre Produkte aus Hongkong und Taiwan sowie
den USA starke Verbreitung.
4) Soziale Sicherheit
Die Volksrepublik China sieht sich zur Jahrtausendwende mit einer beispiellosen
sozialen Krise konfrontiert. Seit 1993 sind auf dem Lande alljährlich mehrere
tausend Protestaktionen zu beobachten, an denen jeweils mindestens mehrere
hundert Personen beteiligt waren und in deren Verlauf es zu erheblichen Personen- und Sachschäden, inklusive Todesfällen, gekommen ist. Gründe für diese
Unruhen sind hohe (insbesondere lokale) Steuern, niedrige staatliche Abnahmepreise für Getreide, die Umwandlung Agrar- in Industrieland, Umweltzerstörung(Staudamm), soziokulturelle Konflikte und Schikanen der Funktionäre. Zähl131
te die Landbevölkerung noch in den 80er Jahren zu den Hauptgewinnern der
Dengschen Reform, ist der Wohlstand hinter den der Städte zurückgefallen. Aber
auch in Chinas Städten werden seit Beginn der zweiten Privatisierungsphase von
zum Teil massiven Unruhen heimgesucht. 1998 und im ersten Quartal 1999 fanden landesweit Tausende, teils gewaltsame, Arbeiterdemonstrationen statt. Bis
Ende 1998 hatten etwa 18 Millionen Arbeiter – entspricht 20% aller Beschäftigten
in Staatsbetrieben – ihre Stellen verloren. Bisher waren die Forderungen demonstrierender Arbeiter rein ökonomischer Natur und richteten sich nicht gegen die
Staats- und Parteiführung.
VII. Chinas Position zur Irak-Resolution
China lehnt den von den USA geplanten Krieg gegen den Irak ab, vermeidet es
jedoch, allzu starke Kritik zu äußern. Diese Zurückhaltung ist unter anderem darin
begründet, dass die Beziehungen Chinas zu den Vereinigten Staaten derzeit verhältnismäßig gut sind, und man diese nicht gefährden will.
VIII. Literaturverzeichnis:
-
Möller, Kay: China zur Jahrtausendwende: Fels in der Brandung, Pulverfass
oder Partner?; Stiftung Wissenschaft und Politik Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP); D-82067 Ebenhausen, Haus Eggenberg; Juni 1999; SWP-AP 3105
-
Möller, Kay: Was treibt Chinas Außenpolitik? -Motive und Methoden-; Stiftung Wissenschaft und Politik Forschungsinstitut für Internationale Politik
und Sicherheit (SWP); D-82067 Ebenhausen, Haus Eggenberg; Juni 1997;
SWP-IP 3022
-
Möller, Kay: Pazifik: Gleichgewicht oder Hegemonie? – Japan-China-USA- ;
Stiftung Wissenschaft und Politik Forschungsinstitut für Internationale Politik
und Sicherheit (SWP); D-82067 Ebenhausen, Haus Eggenberg; April 1996;
SWP-IP 2955
-
Möller, Kay: Chinas Interessen in Westasien- Ein Wettlauf mit dem Westen-;
Stiftung Wissenschaft und Politik Forschungsinstitut für Internationale Politik
und Sicherheit (SWP); D-82067 Ebenhausen, Haus Eggenberg; Juli 1994;
SWP-IP 2852
132
-
Glaubitz, Joachim: Japan, China und der Golf-Konflikt; Stiftung Wissenschaft
und Politik Forschungsinstitut für Internationale Politik und Sicherheit (SWP);
D-82067 Ebenhausen, Haus Eggenberg; Januar 1991; SWP-KA 2677
-
www.auswaertiges-amt.de
-
www.china.org.cn
-
www.swp.org
-
www.china-botschaft.de
133
B. Staaten der arabischen Welt
134
Irak
I. Geographische Karte
Quelle: Globaldefence.net, Projekt: Streitkräfte der Welt, Kulturen im Konflikt,
http://www.globaldefence.net/deutsch/nahost/irak/irak.htm
135
II. Ethnographische Karte
Quelle: American Aid for Children of Nineveh, Iraq (AA-CNI), http://www.iraqkids.org/ethnic.html
136
III.
Basisdaten
Stand: 2001
Quelle: Auswärtiges Amt/ Länderbericht Irak, Nahost Jahrbuch 2001
Ländername
Republik Irak (Al-Jumhuriya Al-Iraqiyya)
Klima
Sehr heiße Sommer (bis über 50°C), feucht am Golf, trocken im
Binnenland; milde Winter (Frost möglich, insbesondere im Bergland); Regenfälle nur im Winter, gelegentlich im Frühling
Lage
Am nordöstlichen Rand der arabischen Halbinsel, nördlich des
Persischen Golfes. Von Nord nach Süd beträgt die größte Ausdehnung des Territoriums fast 1.200 km und von West nach Ost
etwa 500 km. Irak hat eine Seegrenze von nur 60 km, aber eine
Landgrenze von 3.719 km. Die Nachbarstaaten Iraks sind: Im
Norden die Türkei (305 km Grenze), im Osten Iran (1.515 km),
im Westen sind es Syrien (603 km), Jordanien (147 km) und im
Süden Kuwait (254 km) und Saudi Arabien (895 km). Im Hinblick auf die zwischen Irak und Saudi Arabien gelegene neutrale
Zone vereinbarten beide Länder 1982 die Aufteilung dieses Gebietes in Ost-West-Richtung.
Größe
Die Fläche Iraks beträgt 437.393 qkm. Die drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymania bilden die selbstverwalteten kurdischen Gebiete mit einer Fläche von 36.347 qkm.
Hauptstadt
Bagdad mit ca. 7 Mio. Einwohnern
Bevölkerung
Die Bevölkerungszahl beträgt nach irakischen Angaben ca. 23
Mio. Die territoriale Verteilung der Bevölkerung ist im Irak sehr
unterschiedlich. Am dichtesten ist die Besiedelung in den zentrale Provinzen Bagdad und Babylon. In den westlichen Wüstenprovinzen sinkt die Bevölkerungsdichte auf Werte von 4 - 5
Einwohner pro qkm. In den irakischen Städten wohnen ca. 70 %
der Bevölkerung. Etwa 80 % der Bevölkerung sind Araber und
17 % Kurden. Ferner leben Turkmenen, Assyrer, Armenier, Türken und andere Nationalitäten als Minderheiten im Irak. Die kurdische Bevölkerung besiedelt vorwiegend ein relativ begrenztes
Gebiet im Nordosten Iraks.
Landessprachen
Hauptsprache Arabisch; Kurdisch gilt in den Nordprovinzen offiziell als Amtssprache
Religion
Über 60% der Iraker sind Schiiten, hiervon sind die überwiegen137
de Mehrheit Araber. Die arabischen Sunniten stellen eine Minderheit von weniger als 20% dar, die jedoch durch die Geschichte hinweg die Herrschaft ausübte. Die irakischen Kurden sind in
der Regel Sunniten. Eine Ausnahme stellen die schiitischen FailiKurden dar. Der Gegensatz zwischen beiden islamischen Konfessionen hat dazu beigetragen, dass sich Reste zahlreicher altorientalischer Sekten und Splitterkirchen haben behaupten können. So gibt es Yeziden, Mandäer, Sabäer und Angehörige verschiedener (monophysitischer, orthodoxer und katholischunierter) orientalisch-christlicher Kirchen (u.a. Khaldäer, Nestorianer, Gregorianer, römische und syrische Katholiken, armenische Christen, Altsyrisch-Orthodoxe usw.). Die Zahl der noch im
Irak verbliebenen Juden wird auf einige Hundert geschätzt. Alle
Angaben stellen nur grobe Schätzungen dar.
Regierungsform
Sozialistische Republik
Staatspräsident
Saddam Hussein
Regierungschef
Saddam Hussein
Politische Gruppierungen
Offiziell existiert und regiert nur die sozialistische Baath-Partei.
Daneben existieren jedoch weitere Parteien, die sich teilweise im
Irakischer Nationalkongress (irak. Auslandsopposition; Hauptsitz: London) unter dem Vorsitz von Ahmad Chalabi organisiert
haben.
Oppositionelle Parteien:
Kurdisch-Demokratische Partei (KDP, Masud Barzani); Patriotische Union Kurdistans (PUK, Jalal Talabani); "Iraqi National
Accord" (INA, Ayad Allawi); "Supreme Council for Islamic Revolution in Iraq" (SCIRI, Abdul Aziz al- Hakim); "Da'wa"-Partei
(Sprecher: Ibrahim Jafari); Liberaldemokratische Partei (Adnan
Pachachi); Irakische Kommunistische Partei (Rebwar Ahmed);
Islamisch-Irakische Partei (Mohsen Abdul Hamid). Zahlreiche
weitere Parteien seit Kriegsende gegründet.
Mitgliedschaft in intern.
Organisationen
Vereinte Nationen, Arabische Liga, Islamische Konferenz, Bewegung der Blockfreien (zzt. eingeschränkte Mitwirkung)
Bruttosozialprodukt (geschätzt)
2002: ca. 28 Mrd. USD, 2003: ca. 12 – 16 Mrd. USD
Währung
Irakischer Dinar
Quelle:
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
Länderbeitrag Irak, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 2001, Hrsg. v. Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut), Hamburg 1991-2002
138
IV. Irakkrise und Golfkrieg 1990/91
Durch den von 1980 bis 1988 dauernden ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak
war der Irak in eine finanziell schwierige Situation geraten. Die Auslandsschulden
den Irak wurden auf 80 bis 100 Mrd. Dollar geschätzt. Für den Irak würde es immer schwieriger, Kredite zu erhalten, um den Wiederaufbau des Landes finanzieren zu können. Verstärkt wurde die die schwierige Finanzlage durch den Rückgang der Ölpreise und damit der irakischen Öleinnahmen. Eine Möglichkeit, um
aus der finanziellen Situation herauszukommen, lag deshalb in einer Erhöhung der
Ölpreise. Diese waren zeitweise auf 14 Dollar pro Barrel gefallen, wobei, nach
irakischen Angaben, aufgrund der Inflation und der Schwäche des Dollar 25 Dollar pro Barrel „ein fairer Preis“ seien. Mit jedem Dollar, den der Ölpreis falle,
verliere der Irak jährlich eine Milliarde Dollar. Deshalb machte sich der Irak für
eine Erhöhung des Ölpreises stark. Gleichzeitig beschuldigte die irakische Führung „einige Golfstaaten“ (v. a. Kuwait und VAE), durch Überproduktion zum
Preisverfall beigetragen zu haben. Am 16. 7. 1990 beschuldigte der irakische Außenminister Tariq Aziz Kuwait offen, mit seiner Ölpolitik den Irak wirtschaftlich
zu schädigen. Zudem habe Kuwait durch Ölförderung im Rumailafeld dem Irak
2,4 Mrd. US-Dollar gestohlen. Dies komme einer doppelten Aggression gleich.
Zudem forderte Aziz, die arabischen Staaten sollten dem Irak nicht nur die Schulden erlassen, sondern müssten ihm auch durch eine Art „Marschall-Plan“ aus der
Wirtschaftskrise helfen.
Am 27.7. wurde auf der OPEC-Konferenz in Genf die Erhöhung des Ölpreises
von 18 auf 21 Dollar pro Barrel festgelegt. Das war ein Erfolg für den Irak, auch
wenn er seine Forderung nach 25 Dollar pro Barrel nicht durchsetzen konnte.
Der Beginn des Jahres 1990 war von verbalen Attacken von irakischer Seite gegen Israel gekennzeichnet. Auslöser war die Beschlagnahmung eines Atomwaffenzünders am Londoner Flughafen Heathrow am 28. 3. 1990, der aus den USA in
den Irak geschmuggelt werden sollte. Die bis dato aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und dem Streben nach Massenvernichtungswaffen kritische Berichterstattung im Westen verschlechterte sich weiter. Vom Irak wurde diese Medienkampagne als Vorbereitung auf einen möglichen israelischen Angriff auf irakische
Rüstungsanlagen verstanden. Saddam Hussein warnte, im Falle eines Angriffes
„halb Israel auszulöschen“, da er über chemische Kampfstoffe verfüge. Israel ließ
daraufhin wissen, dass der Einsatz chemischer Kampfstoffe gegen Israel einen
139
vernichtenden Gegenschlag zur Folge haben werde, der alle bisherigen Erwartungen übertreffen werde.
In Israel und im Westen hielt man einen Krieg für unwahrscheinlich. Vielmehr
vermutete man, dass Saddam Hussein durch diese verbalen Attacken versuchte,
die arabischen Staaten und vor allem die arabische Öffentlichkeit hinter sich zu
bekommen. Saddam Hussein stieß allgemein auf Zustimmung in der arabischen
Welt, vor allem in der arabischen Öffentlichkeit. Am 18.4.1990 forderte der Generalsekretär der AL die arabischen Staaten zur demonstrativen Solidarität mit dem
Irak auf.
Man verstand das Säbelrasseln Saddam Husseins als ein Manöver in einem innerarabischen Konflikt um die Vorherrschaft in der arabischen Welt. Dadurch versuchte er sich als neuer starker Mann in der arabischen Öffentlichkeit gegenüber
den arabischen Regierungen zu profilieren. Zugleich ging es ihm um die Durchsetzung anderer Ziele, nämlich der Beschaffung von Finanzmitteln. Dieses Ziel
sollte durch eine Erhöhung des Ölpreises erreicht werden. Den Rückgang der Ölpreise erklärte Saddam Hussein mit einer gegen den Irak gerichteten Verschwörung der USA und einiger Golfstaaten, v. a. Kuwait und VAE. Die immer heftigeren Drohungen des Irak gegen Kuwait und der Aufmarsch irakischer Truppen an
der irakisch-kuwaitischen Grenze lösten eine hektische Diplomatie unter den arabischen Staaten aus, um in dem Konflikt zu vermitteln. Am 21. 7. 1990 warf der
Irak Kuwait vor, den Konflikt zu internationalisieren, weil es den UN Sicherheitsrat angerufen habe. Am 25. 7. 1990 erklärte die amerikanische Botschafterin April
Glaspie, dass die USA den Streit als eine innerarabische Angelegenheit betrachteten und sich nicht in ihn einzumischen gedächten. Dies verstand Saddam Hussein
anscheinend als einen „Freibrief“, in Kuwait einmarschieren zu können. Am
2.8.1990 besetzten irakische Truppen Kuwait. Noch am selben Tag forderte der
UNO-Sicherheitsrat in der Resolution 660 den sofortigen und bedingungslosen
Abzug irakischer Truppen aus Kuwait. Am 6.8. verhängte der Sicherheitsrat ein
Handelsembargo gegen den Irak. Einen Tag später ordnete US-Präsident Bush die
Entsendung amerikanischer Truppen nach Saudi-Arabien zu dessen Schutz an.
Am 8.8 wurde Kuwait dem Irak angegliedert, was vom UN-Sicherheitsrat mit der
Resolution 662 am 9.8. für ungültig erklärt wurde. Am 10.8. beschlossen arabische Staaten auf einem Gipfeltreffen in Kairo die Entsendung von Truppen nach
Saudi-Arabien. Um einem möglichen Zweifrontenkrieg zu umgehen, bot Saddam
Hussein dem Iran am 15.8. Frieden und die Erfüllung sämtlicher Forderungen an.
140
Am 10.9. nahmen die beiden Staaten wieder diplomatische Beziehungen zueinander auf.
Mit der Resolution 670 vom 25.9.1990 verhängte die UNO eine Luftblockade
gegen den Irak. Am 29.11.1990 setzte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution
678 dem Irak eine Frist, Kuwait bis zum 15.1.1991 zu räumen, andernfalls würde
der Einsatz militärischer Mittel erlaubt.
Unterdessen versuchte die Sowjetunion den Konflikt friedlich zu lösen. In der
Hoffnung, von der befreundeten UdSSR und von China unterstützt zu werden,
reiste Außenminister Aziz am 5.9. nach Moskau und Vizepremier Ramadan am
6.9. nach Peking. Der persönliche Botschafter Gorbatschows, Primakow, äußerte
sich zum Abschluss seiner Gespräche mit Saddam Hussein optimistisch über die
Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Konfliktes. Eine Beteiligung sowjetischer Truppen an einer Militäraktion gegen den Irak lehnte Außenminister Schewardnadse ab. Ein weiterer sowjetischer Versuch der friedlichen Beilegung des
Konfliktes durch eine zweite Reise Primakows am 28.10. blieb ohne Erfolg.
Am 17.1. 1991 begannen die alliierten Luftangriffe gegen strategische und militärische Ziele in Kuwait und dem Irak. Bereits am darauf folgenden Tag schoss der
Irak erstmals Scud-Raketen mit konventionellen Sprengköpfen auf Israel ab. Israel verzichtete jedoch auf Drängen der USA auf einen Gegenschlag und hielt sich
aus den Kampfhandlungen heraus. Am 15.2. gab Radio Bagdad bekannt, dass der
„Kommandorat der Revolution“ (KRR) die Resolution 660 des Sicherheitsrates
angenommen habe, einschließlich des Abzugs irakischer Truppen aus Kuwait.
Zugleich stellte der Irak zahlreiche Bedingungen, wie dem Rückzug Israels aus
den besetzten Gebieten, sowie Syriens aus dem Libanon, sofortiger Waffenstillstand und Abzug der alliierten Truppen innerhalb von 30 Tagen und dem Erlass
der irakischen Auslandsschulden. Diese Bedingungen waren für die USA nicht
akzeptabel.
Am 24.2.1991 setzte die alliierte Bodenoffensive zur Befreiung Kuwaits ein. Am
26.2. erklärte Saddam Hussein, er habe den Rückzug der irakischen Truppen aus
Kuwait angeordnet. Da es nicht die Annahme der UNO-Resolutionen enthielt,
wurde das Rückzugsangebot von den Alliierten abgewiesen. Am 27.2. gab der
Irak in einem Schreiben an die UNO seine Bereitschaft zum Waffenstillstand bekannt, forderte aber eine sofortige Feuerpause. Da dies einer Bedingung gleichkam, wurde das Angebot von den Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates zu-
141
rückgewiesen. Daraufhin schickte der Irak ein weiteres Schreiben an den UNSicherheitsrat, indem er erklärte, alle UNO-Resolutionen bedingungslos zu akzeptieren. Am 28.2. erklärte Bush, dass das Ziel der Alliierten, die Befreiung Kuwaits, erreicht sei und er daher die Kampfhandlungen einstellen werde. Am 2.3.
verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 686 mit den vom Irak zu
erfüllenden Bedingungen für ein Ende der Kampfhandlungen und für ein Aufheben des Wirtschaftsembargos. Am 3.3.1991 akzeptierte der Irak die Resolution
686 in einem Schreiben an den UN-Generalsekretär.
V. Innenpolitische Entwicklung 1991 – 2001
Nach der Niederlage im Golfkrieg von 1991 war die Herrschaft Saddam Husseins
innenpolitisch geschwächt. Im Süden kam es zu einem Aufstand der Schiiten, im
Norden rebellierten die Kurden. Während der Aufstand im Süden durch Einheiten
der Republikanischen Garde blutig niedergeschlagen wurde und es ihnen schon
bald gelang, die Kontrolle über die Städte Basra, Nedschef und Kerbala zurückzugewinnen, gestaltete sich die Lage im Norden komplizierter. Nachdem der Aufstand Anfang April niedergeschlagen wurde, verurteilte der UN-Sicherheitsrat am
5.4. 1991 in der Resolution 688 die Unterdrückung der Zivilbevölkerung, insbesondere der Kurden.
Die von der Entwicklung in Osteuropa 1990 beeinflusste Entscheidung des Ba’thRegimes, im Irak einen Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozess einzuleiten, wurde aufgrund der innenpolitischen Schwäche des Regimes ein Ende gesetzt. Das Ausscheiden des Ministerpräsidenten Hammadi aus der Staats- und
Parteiführung auf dem 10. Regionalkongress der Ba’th-Partei vom 12.-13.9.1991
beendete den Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozess endgültig.
Saddam Hussein konnte seine Macht durch verschiedene innenpolitische Repressions- und Terrormaßnahmen (die auch aufgrund der schwierigen sozioökonomischen Situation aufgrund des UN-Embargos „notwendig“ waren; siehe „sozioökonomische Entwicklung“) festigen. Dennoch kam es immer wieder zu Putschund Attentatsversuchen, auch aus engsten politischen Kreisen und aus Reihen der
Armee. So soll nach Angaben der vom Ausland operierenden Opposition eine
Einheit der Republikanischen Garde am 29.6.1992 einen Putschversuch unternommen haben, der jedoch von regierungstreuen Einheiten verhindert worden
war.
142
Mitte der 90er Jahre verringerte sich Saddam Husseins Machtbasis, die sich aus
Mitgliedern des eigenen Familienklans und aus anderen loyalen Klans zusammensetzte. Mitte 1995 kam es zu einem lokalen Aufstand des Dulaimi-Klans in Ramadi westlich von Bagdad. Dieser wurde von Innenminister Watban Ibrahim,
einem Halbbruder Saddam Husseins, blutig niedergeschlagen. Im Vorfeld hatten
bereits andere wichtige Stämme, wie der al-Duri Klan, Saddam Hussein die Loyalität aufgekündigt. Hinzu kam die „spektakuläre“ Flucht von General Husain Kamil Hasan al-Majid, dem Minister für Industrie und Bodenschätze und in den
1980er Jahren verantwortlich für das irakische Rüstungsprogramm einschließlich
der Entwicklung von Atomwaffen, zusammen mit seinem Bruder Oberst Saddam
Kamil Hasan, dem Chef der Leibwache Saddam Husseins und ihren Ehefrauen,
beides Töchter des Präsidenten, nach Amman in Jordanien am 8.8.1995. Anlass
für die Flucht des zeitweise zweitmächtigsten Mann des Irak war ein Streit mit
dem ältesten Sohn Saddam Husseins, Udai. Die Flucht hatte umfangreiche Liquidierungs- und „Säuberungs-Aktionen“ zur Folge. Nachdem Husain Kamil jedoch
aufgrund seiner Nähe zu Saddam Hussein von der irakischen Opposition in Amman gemieden wurde, fühlte er sich isoliert. Da sich auch kein europäisches Land
oder die USA bereit erklärten, ihm Asyl zu gewähren, kehrte er am 20.2. 1996
nach Bagdad zurück, nachdem ihm von Saddam Hussein und dem KRR versichert
wurde, dass die für Oppositionelle erlassene Amnestie auch für ihn gelte. Nach
ihrer Rückkehr wurden die beiden Schwiegersöhne Saddam Husseins liquidiert.
Aufgrund der wachsenden Illoyalitäten innerhalb des eigenen und anderer wichtiger Familienklans griff Saddam Hussein verstärkt auf die Arabische Sozialistische
Ba’th-Partei als eigentliche Machtbasis zurück.
Am 12.12. 1996 wurde ein Anschlag auf den ältesten Sohn Saddam Husseins,
Udai, verübt. Udai wurde schwer verletzt, konnte jedoch vollständig geheilt werden. Zu den Anschlägen bekannten sich mehrere Widerstandsgruppen u.a. auch
eine schiitische. Die Attentäter mussten nach allgemeiner Einschätzung Verbindung zum innersten um Saddam Hussein gehabt haben, da sie über Informationen
der Fahrtroute Udais an dem entsprechenden Tag verfügten. Als Motiv für den
Anschlag wurde Rache für die Exekution eines Generals angegeben. Im Zusammenhang mit dem Anschlag sollen rund 600 Personen, darunter 20 hohe Offiziere
verhaftet worden sein. Umfangreiche Umbesetzungen innerhalb der Geheimdienste sollen zudem erfolgt sein. Das Attentat deutete auch auf eine Verschärfung des
Machtkampfes innerhalb der Takrit-Familie hin. Mehrere teils enge Verwandte
143
Saddam Husseins wurden unter Hausarrest gestellt. Das Attentat an Udai führte
auch zu einem Machtgewinn des zweiten Sohnes von Saddam Hussein, Qusai.
Dieser konnte sich mehr und mehr Ämter und Kompetenzen, vor allem in der
Armee und in den Geheimdiensten, aneignen. In einem internen Erlass legte Saddam Hussein 1999 fest, dass sein Sohn Qusai seine Nachfolge antreten solle. Dadurch kam es zum einen zu Auseinandersetzungen zwischen dem wieder genesenen Udai und Qusai, da Udai die Nachfolge für sich beanspruchte, zum anderen
legte Saddam Hussein damit eine dynastische Nachfolgeregelung fest, wodurch
die Rolle der Ba’th Partei weiter geschwächt wurde. Im Jahre 2000 ließ sich Udai
ins Parlament wählen. Udai strebte wohl auch die Rolle des Parlamentspräsidenten an, wurde jedoch von seinem Vater im letzten Augenblick daran gehindert.
Die Wahl ins Parlament sollte vor allem die Rolle Udais gegenüber seinem jüngeren Bruder Qusai stärken, wodurch eine offene Rivalität der beiden verhindert und
die Stabilität der Herrschaft Saddam Husseins gesichert werden sollte.
Die erste Hälfte des Jahres 2001 stand ganz im Zeichen der Festigung des Regimes. Zum einen erfolgte Mitte April eine Regierungsumbildung, zum anderen
wurde Qusai in die engste Parteiführung berufen. Dadurch wurde offensichtlich,
dass Qusai den Machtkampf gegen seinen älteren Bruder gewonnen hatte. Tariq
Aziz, stellvertretender Ministerpräsident und Außenminister, erinnerte den Präsidenten daran, dass dieser der Partei versichert habe, eine Dynastie im Irak nicht
gutzuheißen. Damit geriet Tariq Aziz in das Visier Qusais. Nachdem Qusai die
Absetzung Aziz’ als Außenminister durchsetzen konnte, weigerte sich Saddam
Hussein jedoch, eine weitere Demontage zuzulassen, denn Aziz galt im Westen
als vorzeigbar. Qusai ließ daraufhin Zi-ad, den Sohn von Tariq Aziz, wegen angeblicher illegaler Schmuggelgeschäfte verhaften. Das darauffolgende Angebot
von Tariq Aziz, von allen Ämtern zurückzutreten, wurde von Saddam Hussein
abgelehnt. Saddam Hussein war sich jedoch mit seinem Sohn einig, die Machtstrukturen weiter zu zentralisieren und den individuellen Einfluss von bestimmten
Personen zu minimieren.
Die zweite Hälfte des Jahres 2001 stand im Zeichen der Terroranschläge vom 11.
September. Während das Regime in Bagdad versuchte, die Aufnahme des Irak in
den Kreis möglicher Ziele des Anti-Terror-Krieges zu verhindern, sah vor allem
die von London aus operierende Opposition, die sich im Irakischen Nationalkongress (INK) konstituierte, die Möglichkeit, das Regime von Saddam Hussein zu
stürzen. Nachdem der INK aufgrund seiner Zerstrittenheit jahrelang nicht in der
144
Lage gewesen war, konzertierte Aktionen gegen Saddam Hussein durchzuführen,
sah man jetzt die Möglichkeit, mit Hilfe der Anti-Terror-Koalition Saddam zu
stürzen. INK-Chef Chalabi behauptete immer wieder, dass das irakische Regime
ein weltweites Terrornetz unterhalte, Verbindungen zum Hauptattentäter Muhammed Atta gepflegt habe, über Massenvernichtungswaffen verfüge und diese
auch mit Sicherheit einsetzen werde. Die USA und der Westen hätten deshalb die
Verpflichtung, mit Hilfe des INK das Regime in Bagdad zu stürzen. Der INK versicherte sich der Unterstützung namhafter republikanischer Abgeordneter und
Regierungsmitglieder und reichte im Dezember 2001 mit dem Joint Chiefs of Staff
einen Plan zum militärischen Sturz Saddam Husseins ein, der massive Luftangriffe und den Einsatz amerikanischer Bodentruppen an der Seite der irakischen Opposition vorsah. Saddam Hussein sah den Aktivitäten des INK jedoch gelassen
entgegen, zum einen, weil die Bevölkerung dem INK nur wenig Beachtung
schenkte und er deshalb nur wenig politischen Rückhalt in der irakischen Bevölkerung hatte und daher die politische Verankerung im Irak nur sehr gering war,
und zum anderen, weil die innere Zerrissenheit des INK gemeinsame Aktionen
nahezu unmöglich machte und der INK daher keine vernünftige politische Alternative darstellte.
VI.
Außenpolitische Entwicklung 1991 – 2001
a) das Verhältnis zur UNO
Nach dem 2. Golfkrieg war der Irak international weitestgehend isoliert. Das
Wirtschaftsembargo der UN, welches es dem Irak nicht möglich machte, Erdöl zu
exportieren, schwächte die irakische Wirtschaft sehr und führte zu innenpolitischen Krisen. Das außenpolitische Hauptinteresse des Irak bestand also darin, das
UN-Embargo so schnell wie möglich zu beseitigen, um wieder Erdöl exportieren
zu können. Über Jahre hinweg konnte sich der Irak jedoch nicht dazu entschließen, die Bedingungen der Vereinten Nationen für eine Aufhebung des Embargos
vollständig zu akzeptieren. Unter anderem sah der Irak darin seine nationale Souveränität gefährdet. Zu den Bedingungen der Vereinten Nationen gehörten unter
anderem, die Abrüstung der Irakischen Armee und die vollständige Vernichtung
aller Massenvernichtungswaffen. Das „Katz und Maus-Spiel“, welches der Irak
mit den UN-Inspektoren spielte, sollte auch die Herrschaft Saddam Husseins im
Inland stärken, da die UNO-Inspekteure von der Bevölkerung weitestgehend abgelehnt wurden. Dies führte jedoch nicht gerade dazu, eine gegenseitige Vertrau145
ensbasis aufzubauen. Bereits am 28.2.1992 drohte der UN-Sicherheitsrat dem Irak
mit ernsten Konsequenzen und militärischen Aktionen, weil eine am 21.2.1992
angereiste Inspektorengruppe an der Zerstörung von Material zur Herstellung von
Raketen gehindert wurde. Zu solchen Krisen kam es im Laufe des Jahres 1992
immer wieder. Anfang 1993 eskalierten die Spannungen zwischen dem Irak und
der UNO bzw. den Alliierten unter der Führung der USA, als der Irak nördlich des
36. und südlich des 32. Breitengrades, den von der UNO verhängten Flugverbotszonen, die zum Schutz der Kurden und Schiiten eingerichtet wurden, Luftabwehrraketen stationierte. Dadurch sahen die Alliierten die Sicherheit ihrer in den beiden Zonen operierenden Flugzeuge gefährdet. Der Konflikt verschärfte sich, als
der Irak am 7.1.1993 zum einen UNO-Flugzeugen die Landung im Irak verweigerte und zum anderen die neu festgelegte Grenze zu Kuwait verletzte. Die Provokationen von Seiten des Irak wurden dahingehend gedeutet, dass die irakische
Führung den neuen US-Präsidenten testen wollte. Da der Irak sämtliche Warnungen von Seiten der UNO und der Alliierten ignorierte, griffen am 31.1.1993 irakische Stellungen in den Verbotszonen an. Im Laufe des Jahres antworteten die
USA auf irakische Provokationen immer wieder mit Luftangriffen. Am
26.11.1993 erklärte der Irak sich bereit, die langfristige Kontrolle der Entwaffnung durch UN-Waffeninspekteure zu akzeptieren, wodurch er die UN-Resolution
715 anerkannte. Anfang November 1993 sagte der Leiter der Internationalen Atomenergie Agentur (IAEA), Hans Blix, dass nach 21 Inspektionen das geheime
Atomwaffenprogramm des Irak entweder vollständig zerstört, oder zumindest
neutralisiert sei. Am 11.2.1994 installierte die IAEA zur Überwachung der Nuklearanlagen Kameras und am 12.2.1994 wurde die letzte Ladung von 7 kg nichtangereicherten Urans nach Russland transportiert. Damit befand sich nach Angaben
der IAEA kein atomwaffenfähiges Material mehr im Irak. Der Sicherheitsrat
konnte sich jedoch nicht zu einer Aufhebung des Embargos entschließen, da der
Irak die Bedingungen anderer UN-Resolutionen (wie die Anerkennung Kuwaits)
nicht erfüllt hatte. Auf die Verlängerung des Embargos reagierte der Irak mit erneuten Drohungen gegen die Kurden. Mitte des Jahres 1994 kam es zu einer Erneuten Krise, als nach Angaben der USA der Irak im Süden Truppen aufmarschieren lasse, welche eine Bedrohung für Kuwait darstelle. Am 12.10 erklärte USAußenminister Christopher, dass der Irak begonnen habe, seine Truppen zurückzuziehen. Am 10.11. erkannte der Irak Kuwait und seine Grenzen offiziell an.
Dennoch verlängerte der Sicherheitsrat das Embargo, da dem Irak weiterhin systematische Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Zudem warf der
146
Leiter der U.N. Special Commission on Disarming Iraq (UNSCOM), Rolf Ekeus,
dem Irak vor, dass er keine genauen Kenntnisse über das irakische Waffenprogramm habe. Am 23.1.1995 erklärte Ekeus, dass der Irak 20-30t Bakterienkulturen geheimgehalten habe. In einem erneuten Bericht vom 29.5.1995 zur Untersuchung des irakischen biologischen Waffenprogramms erklärte Ekeus, dass dem
Irak nicht bescheinigt werden könnte, die Bedingungen der UN-Resolutionen für
eine Aufhebung des Wirtschaftsembargos erfüllt zu haben. Daraufhin machten
sich die USA für eine Fortführung des Embargos stark, Russland, Frankreich und
die VR China plädierten für eine Aufhebung des Embargos, da sie inzwischen
Wirtschaftsabkommen mit dem Irak für die Zeit nach dem Embargo abgeschlossen hatten (s.u.). Auch im jahr 1996 kam es immer wieder zu Problemen bei der
Kontrolle der Entwaffnung des Irak durch dir UN-Inspekteure. Dies hinderte die
UN jedoch nicht daran, dem Irak den Verkauf von Erdöl in Höhe von 2 Mrd. Dollar für den Kauf von Nahrungsmitteln und Medikamenten zu gestatten. Am
10.12.1996 trat das Abkommen in Kraft. Das „Öl für Lebensmittel-Programm“
führte im Laufe des Jahres 1997 zu einer spürbaren Verbesserung für die Bevölkerung.
Am 12.1.1998 beschuldigte der Irak die UNSCOM-Inspektorengruppe und der
Leitung des Amerikaners Scott Ritter der Spionage. Der Irak erklärte, dass diese
Gruppe keine weiteren Kontrollen durchführen dürfe. Die Gruppe dürfe erst dann
ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, wenn die Zusammensetzung ausgewogen und
den Machtverhältnissen im Sicherheitsrat widerspiegele. US-Präsident Clinton
drohte dem Irak daraufhin mit Militäraktionen. Saddam Hussein verschärfte den
Konflikt noch, indem er erklärte, dass die Inspektoren erst dann ihre Tätigkeit
wieder aufnehmen dürften, wenn die Sanktionen aufgehoben würden. Am 19.2.
konnte UN-Generalsekretär Kofi Annan in einem Gespräch mit Saddam Hussein
die bedingungslose Wiederaufnahme der Waffeninspektionen erreichten. Nach
seinem Rücktritt gab Scott Ritter am 30.9.1998 zu, tatsächlich eng mit Israel zusammengearbeitet zu haben.
Während das Wirtschaftsembargo ständig verlängert wurde, wurde im Gegenzug
auch das „Öl für Lebensmittel-Programm“ verlängert und erweitert. Der Irak durfte immer mehr Öl im Rahmen des Programms exportieren. Immer wieder kam es
zu Problemen und Zwischenfällen bei den Waffeninspektionen. Die UNSCOM
warf dem Irak vor, sie in die Irre zu führen und sie bei der Arbeit zu behindern.
Am 10.1.1999 erklärte Saddam Hussein, die UN-Resolutionen als für den Irak
147
ungerecht nicht mehr anzuerkennen. Am 3.2.1999 verließen die amerikanischen
und britischen Inspekteure den Irak, womit sie sich der Ausweisungsanordnung
des Irak beugten. Im Laufe des Jahres setzten die USA und Großbritannien ihre
Angriffe gegen Stellungen des Irak in den Verbotszonen fort. In Verhandlungen
mit der UNO ging es größtenteils um die Rückkehr der Inspekteure. Am
17.12.1999 gründete der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1284 die UN Monitoring, Verification and Inspection Commission (UNMOVIC), ein neues Inspektorenteam, dessen Leiter Hans Blix wurde. Eine Rückkehr der Inspekteure lehnte
der Irak jedoch ab. Hingegen akzeptierte der Irak eine Inspektion durch die Internationale Atomenergiebehörde, welche am 22.1.2000 ihre Arbeit aufnahm.
Großbritannien und die USA erkannten, dass sie durch das verhängte Embargo
lediglich die Bevölkerung in eine schlimme Situation brachten, das Regime sich
inzwischen jedoch wieder stabilisieren konnte. Zudem wollte eine immer größere
Zahl von Staaten wieder mit dem Irak Handel treiben (s.u.). Dies führte 2001 dazu, dass das bisherige Sanktionsregime überdacht wurde. „Elegante“ Sanktionen
(smart sanctions) sollten das bisherige System ablösen, Dies sah vor, die Handelsbeschränkungen für zivile Güter, die die Bevölkerung besonders hart traf,
fallen zu lassen und die Beschränkungen lediglich auf militärische Güter und Produkte mit doppelter Nutzbarkeit (sog. dual use-Produkte) zu beschränken. Der
Irak lehnte den Plan vehement ab. Russland erarbeitete einen eigenen Plan, der
das Ende des Embargos in Aussicht stellte, wenn die Inspekteure im Rahmen des
UNMOVIC Programms ihre Arbeit aufnehmen könnten. Der Schlussbericht der
UNMOVIC müsse jedoch nicht abgewartet werden. Die USA und Großbritannien
lehnten den Plan ab, daraufhin kündigte Moskau sein Veto gegen den angelsächsischen Plan an. Der Irak war der Gewinner der Zerstrittenheit des Sicherheitsrates,
denn dadurch konnte er auch weiterhin Erdöl über Drittländer am Embargo vorbei
ins Ausland schmuggeln. Die Ablehnung des smart sanctions-Planes durch den
Irak verschärften jedoch sicherlich die Spannungen zwischen dem Irak und den
USA nach den Terroranschlägen von 11. September 2001.
b) Die Entwicklung der bilateralen Beziehungen
Nach dem 2. Golfkrieg von 1991 war der Irak international isoliert. Die Staaten
der internationalen Staatengemeinschaft zeigten wenig Bereitschaft, wieder mit
dem Irak auf politischer und wirtschaftlicher Ebene zusammenzuarbeiten. Dies
148
änderte sich jedoch Mitte der 1990er Jahre, weil mehr und mehr Staaten mit dem
Irak Handel treiben wollten. Ende der 1990er Jahre war es dem Irak gelungen,
seine internationale Isolation durch bilaterale Verhandlungen und Abkommen zu
verringern, wodurch sich die USA im Jahr 2000 gezwungen sahen, ihre harte Haltung gegenüber dem Irak zu überdenken und das bisherige, starre Embargo durch
smart sanctions zu ersetzen.
Das Verhältnis zum Iran war nach dem 2. Golfkrieg auf der einen Seite von dem
beiderseitigen Wunsch geprägt, zur Normalität in den Beziehungen zurückzukehren, welches sich vor allem in den Verhandlungen zum Gefangenenaustausch äußerte, auf der anderen Seite warfen sich die Staaten gegenseitig vor, sowohl Widerstandsgruppen zu unterstützen, als auch geheimdienstliche Tätigkeiten auf dem
jeweils anderen Territorium durchzuführen. Zudem arbeitete der Irak bei seinen
Schmuggelgeschäften offenbar mit dem Iran zusammen. Am 6.8.2000 brachte der
Iran ein in Belize registriertes Schiff auf, welches irakisches Erdöl schmuggelte.
Das Verhältnis des Iraks zur Türkei war ähnlich gespalten. Auf der einen Seite
waren beide Staaten am gegenseitigen Handel interessiert, auf der anderen Seite
führten die gegen Kurden gerichteten Operationen der türkischen Armee, welche
häufig auf irakischen Territorium agierte, zu Spannungen. Letztlich überwiegten
jedoch die beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen, wodurch sich die Beziehungen im Laufe der 1990er Jahre normalisierten.
Der wichtigste Handelspartner kurz nach dem 2. Golfkrieg war Jordanien, da über
Jordanien Nahrungsmittel importiert wurden. Auch wenn es 1995/1996 wegen der
Flucht der Schwiegersöhne Saddam Husseins zu Spannungen zwischen den Staaten kam, blieb Jordanien doch im Laufe der 1990er Jahre ein wichtiger Handelspartner für den Irak.
Infolge der Verschlechterung der Beziehungen des Iraks zu Jordanien verbesserten sich die Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Der
Hafen von Dubai wurde als Handelsroute zunehmend Amman vorgezogen, da die
Händler von Dubai flexibler und die VAE weniger abhängig von den USA waren,
als Jordanien. Deshalb bereitete der Import bestimmter „sensibler“ Güter über
Dubai weniger Probleme, als über Amman. 1997 nahm die Zahl der in Dubai registrierten Unternehmen mit irakischem Kapital um mehr als 100 auf 185 zu.
Auch die Beziehungen zwischen dem Irak und Frankreich verbesserten sich. Bereits 1994 kam es zu zahlreichen Kontakten zwischen den beiden Staaten. 1995
149
reiste eine Delegation von sechs französischen Parlamentariern in den Irak, denen
gegenüber Saddam Hussein den Wunsch des Irak nach privilegierten Beziehungen
zu Frankreich äußerte. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten waren vor
allem durch gegenseitige Besuche gekennzeichnet. Unter anderem besuchte der
irakische Ölminister regelmäßig Paris. Am 16.10.1996 unterzeichneten Paris und
Bagdad ein Kooperationsabkommen im Sozialbereich und im Dezember gab die
irakische Führung bekannt, 100.000t Weizen aus Frankreich zu kaufen. Die guten
Beziehungen zum Irak führten dazu, dass sich Frankreich im UNO-Sicherheitsrat
für eine Beendigung des Emargos aussprach.
Auch Russland war an guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum
Irak interessiert. Im April 1994 führte eine irakische Delegation in Moskau Gespräche über die Erschließung des Ourna-Ölfeldes und am 9.9.1994 unterzeichnete Handelsminister Salih in Moskau mehrere Protokolle über Kooperationen im
Ölsektor, in der Industrie und im Handel mit einem Gesamtwert von 10 Mrd. US
Dollar. Auch im Laufe des Jahres 1995 kam es zu zahlreichen bilateralen Gesprächen und Verhandlungen. So reiste unter anderem am 26.2.1995 Amir Rashid,
Leiter der Organisation für Rüstungsindustrie, zu Verhandlungen nach Moskau.
Berichte über die Lieferung von 4000 Panzern an den Irak wurden jedoch von
Russland dementiert. Am 21.3.1997 schlossen Russland und Irak einen Vertrag
über die Erschließung des Ölfeldes Ourna ab. Zudem kam es zu mehreren Abkommen über technische und kulturelle Zusammenarbeit und in der Katastrophenbekämpfung. Saddam Hussein dankte Russland im Jahr 2001 für seine entscheidende Rolle bei der Verhinderung der smart sanctions. Im selben Jahr kündigte Handelsminister Salih ein wirtschaftliches Kooperationsabkommen mit
Russland an, welches 72 Projekte im Wert von 40 Mrd. US Dollar umfasse.
Auch China war an wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Irak interessiert. Am
4.6.1997 schloss der Irak einen Vertrag über Kooperation im Ölsektor mit China
ab. Am 6.8.1997 begann in Peking die 9. Sitzung der gemeinsamen irakischchinesischen Kommission. Auch China plädierte für eine Aufhebung des UNEmbargos.
Mit den Vetomächten Frankreich, Russland und China hatte Irak drei wichtige
Partner, die das außenpolitische Ziel des Iraks, die Aufhebung des UN-Embargos,
unterstützten. Dies führte zu einer Spaltung des Sicherheitsrates mit den USA und
Großbritannien auf der einen und Frankreich, Russland und China auf der anderen
150
Seite. Zudem versprach Saddam Hussein den drei Ländern ökonomische Vorzugskonditionen für die Zeit nach dem Embargo.
VII.
Sozioökonomische Entwicklung
Die Wirtschaft des Irak wurde durch den Einmarsch in Kuwait und dem daraus
resultierenden Handelsembargo der UNO (Resolution 661) schwer geschädigt.
Die Ölexporte kamen nach dem 2.8.1990 völlig zum Erliegen. Die schweren Luftangriffe der Alliierten zerstörten so gut wie das gesamte Kommunikationswesen,
90% des Stromnetzes und 80% der Ölförderanlagen und Raffinerien. Aufgrund
der Nahrungsmittelknappheit, welche unter anderem auf mangelnde Bewässerung
aufgrund des zerstörten Stromnetzes entstand, erhöhten sich die Preise um bis zu
1.500%. Das Angebot der UNO, Ölexporte im Wert von 1,6 Mrd. $ zuzulassen,
um dafür Nahrungsmittel und Medikamente zu kaufen, wurde vom Irak abgelehnt,
da man dadurch die nationale Souveränität gefährdet sah. Den extremen Preissteigerungen versuchte die Regierung mit Gehaltserhöhungen von bis zu 50% zu begegnen. Hinzu kam ein Wertverlust der Währung. Während der offizielle Wechselkurs 1991 bei 1 ID = 3 US-$ lag, wurden auf dem Schwarzmarkt über 10 ID für
einen US-$ gezahlt.
Verhandlungen zu Beginn des Jahres 1992 des Irak mit der UNO über ein Ende
des Embargos und die Wiederaufnahme der Ölexporte scheiterten, weil der Irak
sich nicht dazu entschließen konnte, die Resolution 706, die Exporte nur bis zu
einem Wert von 1,6 Mrd. $ innerhalb von 6 Monaten erlaubt und die Resolution
712, die Bedingungen für den Verkauf und die Verwendung der Einnahmen festlegt (u.a. 30% für Reparationen), anzunehmen. Statt der Aufhebung des vom UNSicherheitsrat mit der Resolution 661 verhängten Wirtschaftsembargos wurde es
alle 60 Tage erneuert.
Währenddessen wurde die Inflation zum größten Problem der irakischen Wirtschaft. Lag der Kurs auf dem Schwarzmarkt bei 95 Irakische Dinar je Dollar, verschlechterte sich der Kurs der Währung ein Jahr später auf 400 ID je $. Ende 1995
ging der Kurs noch einmal auf 2500 ID je $ zurück, während Anfang 1996 bereits
3000 Dinar für einen Dollar gezahlt wurden.
Die irakische Führung versuchte mit verschiedenen Maßnahmen der Inflation zu
begegnen. Zum einen ging man rigoros gegen Wucherer vor und verhängte harte
Strafen Wucherei. Zudem ging man mit harten Strafen gegen Händler vor, die
151
wegen des Währungsverfalls ihre Geschäfte geschlossen hatten, um Verluste zu
vermeiden. Die getroffenen Maßnahmen führten jedoch nicht zu dem gewünschten Erfolg. Die Währung stabilisierte sich erst wieder, nachdem der Irak ab 1996
wieder Öl im Rahmen des „Öl für Nahrungsmittel“-Programms der Vereinten
Nationen exportierte.
Das andere große Problem der irakischen Wirtschaft war die Nahrungsmittelknappheit. Im Zusammenhang mit dem Verfall der Währung traf dies die Bevölkerung besonders hart. Um den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte an staatliche Stellen zu gewährleisten, erhöhte die Regierung regelmäßig die Vergütung der
Bauern. Auch im Lebensmittelbereich ging die Regierung gegen Wucherer vor.
Jeder Händler, der einen höheren Preis verlangte als den, der von der Regierung
festgelegt wurde, sollte mit der Todesstrafe bestraft werden. Mit der Aufnahme
des Erdöl für Nahrungsmittel-Programms 1996 verbesserte sich die Situation der
Bevölkerung, auch wenn die UNO beklagte, dass der Irak für das exportierte Öl
zu wenig Nahrungsmittel ordere und anscheinend auch die Medikamente nicht
alle verteilen ließe.
Durch gemeinsame Wirtschaftsinteressen des Irak und einigen Staaten der Region, vor allem der Türkei, Syrien und den VAE und durch bilaterale Abkommen
mit wichtigen internationalen Akteuren wie Frankreich und Russland wuchs der
Druck auf die UN, das Embargo gegen den Irak aufzuheben. Gleichzeitig gelang
es dem Irak, über die VAE und den Iran Öl am Embargo vorbei ins Ausland zu
schmuggeln. Durch diese illegalen Ölexporte erhöhte der Irak seine Einnahmen
zusätzlich, welche jedoch nicht der Bevölkerung zu Gute kamen. Vielmehr benutzte die irakische Führung die Leiden der Bevölkerung als Propaganda gegen
das Handelsembargo.
VIII.
Quellen und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Veranstalter des Friedenspolitischen Ratschlags, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak
-
American Aid for Children of Nineveh, Iraq (AA-CNI),
http://www.iraqkids.org/ethnic.html
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
Globaldefence.net, Projekt: Streitkräfte der Welt, Kulturen im Konflikt,
http://www.globaldefence.net
152
Literatur:
-
APuZ, B 24-25/2003 (Irak), online unter:
http://www.bpb.de/publikationen/U9ZGRR,0,0,Irak.html
-
Cromwell, David: Das Nicht-Thema Irak, online unter: http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/cromwell.html
-
Irak: Chronik eines angekündigten Krieges, online unter: http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/Chronik/Welcome.html
-
Länderbeitrag Irak, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v. Koszinovski,
Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut), Hamburg 1991-2002
-
von Sponeck, Hans-Christof: Politisch wirkungslos und menschlich eine Katastrophe, Elf
Jahre Wirtschaftssanktionen gegen den Irak, online unter: http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak/sponeck2.html
153
Iran
I.
Geographische Karte
Quelle: The Middle EastGenWeb Project, A WorldGenWeb Project,
http://www.rootsweb.com/~mdeastgw/maps/iran.gif
154
II. Basisdaten
Stand: Mai 2004
Quelle: Auswärtiges Amt
Ländername:
Islamische Republik Iran, Dschomhuri-je Islami-je Iran
Klima:
Kontinental-trocken bis auf die Randgebiete am Kaspischen
Meer und Persischen Golf
Lage:
Zwischen 25° und 40° nördlicher Breite sowie zwischen 44°
und 64° östlicher Länge. Grenzt im Norden an das Kaspische
Meer, im Süden an den Persischen Golf. Nachbarländer im
Westen Türkei und Irak, im Osten Pakistan, Afghanistan und
Turkmenistan, im Norden Aserbaidschan und Armenien
Größe
1.648.000 qkm
Hauptstadt (Einwohnerzahl):
Teheran (ca. 14 Mio. Einwohner)
Bevölkerung:
66 Mio., etwas mehr als die Hälfte Perser sowie Aseris, Kurden,
Luren, Araber, Belutschen, Kaschkai, Turkmenen und andere;
Bevölkerungswachstum ca. 1,8%
Landessprachen:
Offizielle Sprache Farsi (Persisch), daneben werden Turksprachen, Kurdisch, Arabisch, Belutschisch und andere gesprochen
Religionen / Kirchen:
Mehr als 98% Muslime (davon ca. 90% Schiiten, 10% Sunniten); daneben Christen, Zarathustrier, Baha'i, Juden
Nationaltag:
11. Februar
Unabhängigkeit:
Iran (Persien) war nie Kolonie, aber zeitweise unter britischem
und russischem, danach amerikanischem Einfluss
Staatsform/Regierungsform: Islamische Republik (seit 1. April 1979)
Staatsoberhaupt:
Führer der Islamischen Revolution Ayatollah Seyed Ali Musavi
Khamenei, seit 6. Juni 1989, durch die vom Volk gewählte Expertenversammlung auf unbestimmte Zeit berufen
Kein Vertreter
Präsident und Regierungschef:
Präsident der Islamischen Republik Iran Hodschatoleslam Seyed Mohammad Khatami, gewählt am 23. Mai 1997, Wiederwahl
am 8. Juni 2001 (für 4 Jahre)
Vertreter:
Mohammad Reza Aref, Erster Vizepräsident der Islamischen
Republik Iran, vom Präsidenten ernannt.
Außenminister:
Dr. Kamal Kharrazi
Parlament:
Versammlung des Islamischen Rates (Madschlis), eine Kam155
mer, 290 Sitze, Präsident: Hodschatoleslam Mehdi Karrubi,
Wahlen alle vier Jahre, zuletzt zur 7. Madschlis im Februar
2004 (erste Sitzung 27. Mai 2004)
Regierungsparteien:
Keine Parteien im westeuropäischen Sinne
Opposition:
Siehe oben
Gewerkschaften:
Keine
Verwaltungsstruktur des
Landes:
28 Provinzen, 172 Gouvernements, 499 Distrikte
Internationale Organisationen:
Vereinte Nationen und ihre Unter- und Sonderorganisationen,
OPEC (Organisation erdölexportierender Staaten), ECO (Economic Cooperation Organisation, Wirtschaftsbund mittelasiatischer Staaten), OIC (Organisation der Islamischen Konferenz),
Blockfreien-Konferenz (jeweils Gründungsmitglied)
wichtigste Medien:
IRIB (Staatliche Rundfunk und Fernsehanstalt); Zeitungen: Etelaat, Kayhan, Jomhuri Islami, Hamshahri, Nutzung von Satellitenfernsehen und Internet verbreitet sich zunehmend
Bruttoinlandsprodukt
(2002/2003)
117 Mrd. USD
Pro-Kopf-Einkommen
1.500 USD
III.
-
Geschichte bis 1989
550 v. Chr.:
Der Perserkönig Kyros der Große besiegt die Meder; mit seinen
Siegen über die Lyder (546 v. Chr.) unter Krösus
und der Eroberung Babylons (539 v. Chr.) begründet
er das persische Großreich-
500 v. Chr.:
Beginn der Perserkriege gegen die griechischen Staaten.
-
331 v. Chr.:
Alexander der Große beseitigt das Perserreich.
-
323-240 v. Chr.:
Persien ist Teil des Seleukidenreiches.
-
240 v. Chr. Bis 224 n. Chr.:
Herrschaft der Parther
156
-
224 bis 642/651:
Herrschaft der Sassaniden
-
642:
Schlacht von Nehawend, die Araber unterwerfen das Perserreich,
Beginn der Islamisierung
-
8. Jh. bis 13. Jh.:
Unter dem Abbasidenkalifat Entstehung versch. Lokaldynastien (Tahiriden,
Samaniden, Bujiden, Ghasnawiden u. a.)
-
1220 und 1252:
Mongolische Eroberung, anschließend Herrschaft der Ilchane
-
1501:
Ismail I. begründet die Dynastie der Safawiden (bis 1722);
er erobert Armenien und Mesopotamien
-
1588 bis 1629:
Höhepunkt des pers. Safawidenreiches unter Schah Abbas I., d. Gr.,
der die Hauptstadt 1598 nach Isfahan verlegt
-
1794:
Dynastie der turkmenischen Kadjaren gelangt zur Macht, (Hauptstadt Teheran);
Verlust Georgiens an Russland zw. 1801 und 1810
-
19.Jh.:
Persien verliert Armenien und Teile Aserbaidschans an Russland
(1813, 1828), kann aber seine Unabhängigkeit wahren
-
1921:
Staatsstreich von Resa Khan, der 1925 die Kadjaren-Dynastie beseitigt
und sich als Resa Pahlewi vom Parlament zum Schah wählen
lässt
-
1935:
Iran wird amtl. Name des Staates
-
1941:
157
Besetzung durch britische, amerikanische und sowjetische Truppen, Resa Schah
wird zum Rücktritt gezwungen, Nachfolger wird sein Sohn Mohammed Resa Pahlewi (Krönung 1967)
-
1960:
Beginn der »weißen Revolution« (Reformen)
-
1975:
Grenzabkommen mit Irak bezüglich des Schatt el-Arab
-
1978:
Blutige Unruhen, Proteste gegen die Schah-Regierung unter Führung
der islamischen Geistlichkeit (Ajatollah Khomeini)
-
1979:
Der Schah verlässt Iran, Khomeini ruft nach seiner Rückkehr aus dem Exil (Februar) eine islamische Republik aus (1. 4.) und wird als »Führer der Nation« bestimmende politische Figur. »Säuberungen« finden besonders in Verwaltung
und Armee durch Revolutionsgerichte statt.
-
1980:
Beginn des Irak-Iran-Krieges (1. Golfkrieg)
-
1988:
Waffenstillstand
-
1989:
Tod Khomeinis,
A. Rafsandjani wird Staatspräsident,
A. Khamenei wird geistliches Oberhaupt („Führer der Revolution“)
Quelle: Der Brockhaus in einem Band, 9. vollständig überarbeitete und aktualisierte
Auflage, Leipzig – Mannheim. Online unter:
http://www.iran.at/index.php?module=pagemaster&PAGE_user_op=view_page&PAGE_id=11&
MMN_position=27:27
158
IV. Die islamische Verfassung
Quelle: Finacial Times Deutschland,
http://www.ftd.de/cms/gate2?pStyle=plainhtml&pAssetID=1077011645738&pAssettype=FtdArtic
le
Der Staatsaufbau des Iran ist demokratischer als der anderen Staaten der Region.
Das Volk wählt sowohl das Parlament, als auch den Präsidenten. Allerdings hat
sowohl der (religiöse) Revolutionsführer, welcher auf Lebenszeit von der Expertenversammlung ernannt wird, erheblichen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess und kann unter Umständen vom Parlament beschlossene Gesetze verhindern,
sofern sie die Grundsatze der islamischen Politik verletzen. Außerdem prüft der
traditionell konservative Wächterrat, ob eine Person, welche sich zur Wahl stellt,
dafür „geeignet“ ist. Hierfür werden Kriterien wie religiöse Bildung etc. herangezogen. Häufig wird jedoch die Institution den Wächterrates von den Konservativen dazu missbraucht, reformorientierte Kräfte erst gar nicht zur Wahl zuzulassen.
Insgesamt verhindert bzw. erschwert dieser Staatsaufbau die Durchführung innenpolitischer Reformen, da sowohl der Revolutionsführer sich auf seine Funktion als
„Wächter der islamischen Grundsätze“ berufen kann, als auch der Wächterrat Reformorientierte Kräfte von vornherein von der Wahl ausschließen kann. Die vom
Volk gewählten Institutionen Parlament und Präsident sind dem gegenüber relativ
schwach und dem Wohlwollen anderer Institutionen ausgeliefert.
Seit Mitte der 1990er Jahre wird das Parlament durch reformorientierte Kräfte
dominiert, welche dem seit 1997 amtierenden Präsidenten Khatami nahe stehen.
Dem steht eine konservative „Opposition“, bestehend aus Revolutionsführer
159
Khamenei und dem Wächterrat gegenüber. Dies führt zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Lagern.
V. innenpolitische Entwicklung 1990 – 2001
Die Zeit nach dem Tode Ajatollah Khomeinis war zunächst von einem innenpolitischen Machtkampf zwischen „pragmatischen“ und „radikalen“ Kräften geprägt.
Staatspräsident Rafsanjani als Vertreter einer pragmatischeren Politik wollte den
Iran vor allem wirtschaftlich liberalisieren und innenpolitisch öffnen. Die innenpolitische Öffnung kam 1991 ins Stocken, als die Radikalen ihre Position in einigen wichtigen Bereichen, wie dem Parlament und in der Presse, besser als erwartet behaupten konnten. Gleichzeitig nahm die Unzufriedenheit in der Bevölkerung
mit der islamischen Regierung zu, welche sich in öffentlichen Protestaktionen
bemerkbar machte. 1993 glaubte kaum noch jemand, dass Rafsanjani es schaffen
würde, das Land wirtschaftlich wie politisch zu liberalisieren. Zu Groß war der
Widerstand der herrschenden Eliten, die von dem dirigistischen Wirtschaftssystem
profitierten. Bei aller Rivalität blieben die unterschiedlichen Machtzentren der
Islamischen Republik einig gegen jede Liberalisierung, da diese das System als
Ganzes gefährden konnte. 1994 wurden die radikalen Kräfte, die sowohl eine innen- wie außenpolitisch harte Linie verfolgten und für eine totale Abschottung der
iranischen Gesellschaft gegen jede Form der „kulturellen Aggression“ eintraten,
stärker. Am 20.9.1994 wurden Teile des Gesetzesentwurfs zum völligen Verbot
des Satellitenfernsehens verabschiedet. Die Radikalisierung der politischen Elite
führte zum einen zu öffentlich vorgetragener Kritik, wie z.B. mit einem von 134
Schriftstellern unterschriebenen Manifest gegen Zensur und Schikanierung der
Intellektuellen vom 23.10.1994, zum anderen zu einer Reihe von Gewaltakten. So
wurden im Laufe des Jahres 1994 etliche Terroranschläge verübt. Auch lokale
Aufstände mussten von Revolutionswächtern blutig niedergeschlagen werden. Die
wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Islamischen Republik, vor
allem wegen der sich weiter verschlechternden wirtschaftlichen Situation, bereitete der herrschenden Klasse im Iran ernste Sorgen. Auch 1995 kam es zu offenen,
lokalen Aufruhren, die von Revolutionswächtern niedergeschlagen wurden. 1996
wurden die Konfliktlinien zwischen den konservativen Hardlinern und den reformbereiten Pragmatikern anlässlich der bevorstehenden Parlamentswahl noch
deutlicher. Die reformorientierten Pragmatiker, die Staatspräsident Rafsanjani
nahe standen, konnten trotz einiger Querschüsse von Seiten den konservativ do160
minierten Wächterrates (der Wächterrat, ein sechsköpfiges Gremium, entscheidet
u. a. darüber, ob ein Kandidat die nötige „Qualifikation“ hat zur Wahl anzutreten),
eine Mehrheit im Parlament erringen. Zur Präsidentschaftswahl 1997 durfte Rafsanjani aufgrund der Bestimmungen in der islamischen Verfassung, die nur zwei
Amtszeiten zulässt, nicht mehr antreten. Zur Wahl traten neben dem Parlamentssprecher und Favoriten Ali Akber Nateq-Nuri der ehemalige Minister für „Islamische Führung“ Saivid Mohammad Khatami an, der 1992 wegen Kritik der Konservativen an seiner toleranten Kulturpolitik sein Ministeramt niederlegen musste.
Khatami, der zunächst chancenlos galt, stellte in seiner Kampagne die Notwendigkeit einer weltoffeneren und toleranteren islamischen Ordnung in den Vordergrund und traf damit die Stimmung der schweigenden Mehrheit der Wähler. Khatami wurde schnell landesweit bekannt, obwohl ihn die staatlichen Medien vernachlässigten. Die Wahl fiel sensationell deutlich aus: Bei einer Rekordwahlbeteiligung von über 88% bekam Khatami 69% der Stimmen.
Der ehemalige Staatspräsident Rafsanjani wurde vom geistlichen Führer Khamenei zum Vorsitzenden des Rates zur Feststellung des Interesses des (islamischen)
Systems (Feststellungsrat) ernannt. Rafsanjani versuchte in den kommenden Monaten, den Feststellungsrat zu einer Art „Überregierung“ umzuwandeln, da seiner
Meinung nach die Beschlüsse des Feststellungsrates über den Gesetzen und der
Verfassung des Landes standen. Zudem näherte sich Rafsanjani sowohl in Rhetorik, als auch in praktischer Politik mehr und mehr den Konservativen an.
Die Wahl Mohammad Khatamis zum Staatspräsidenten läutete eine Wende in der
iranischen Politik ein. Die Auseinandersetzungen zwischen den Reformkräften um
Khatami, die das Land innen- wie außenpolitisch öffnen wollten, auf der einen
Seite und den konservativen Hardlinern auf der anderen Seite nahmen an Schärfe
zu. Die Konservativen nutzten dabei ihre Schlüsselpositionen im Wächterrat, in
der Justiz und den Sicherheitsapparaten, um gezielt gegen die Reformbestrebungen Khatamis vorzugehen. Khatami, der vor allem die Unterstützung der Bevölkerung genoss, hatte kaum Möglichkeiten der Einflussnahme, als die Konservativen
in den kommenden Monaten eine „Gegenoffensive“ starteten. Es wurden Zeitungen, die den Reformkräften nahe standen, verboten und wichtige Verbündete Khatamis, wie der Teheraner Bürgermeister, wurden verhaftet und verurteilt. Die Zeitungsverbote nutzten jedoch nicht viel, da die verbotenen Organe sich unter neuem Namen neu gründeten. Aufgrund des Widerstandes der konservativen Kräfte
waren innenpolitische Reformen kaum durchführbar. Dass die Bevölkerung jedoch weiterhin Khatamis Reformkurs unterstützte zeigte sich bei den Parlaments161
wahlen im Jahr 2000, als der Wahlsieg der Reformkräfte noch deutlicher als bei
den Parlamentswahlen ausfiel. Von 225 Mandaten, die bereits im ersten Wahlgang entschieden waren, konnten die Reformkräfte 170 gewinnen. Die Konservativen konnten dahingehend nur 45 Mandate gewinnen. Zudem zogen 10 Unabhängige in das Parlament ein. Für die übrigen 65 Sitze waren Nachwahlen erforderlich.
Nachdem das Ausmaß der Wahlschlappe der Konservativen bekannt wurde, zogen diese alle Register, um den Druck auf das Reformlager zu erhöhen. Der
Wächterrat ließ fast ein Drittel der Stimmen neu auszählen und es dauerte über
drei Monate, bis der Wächterrat das Wahlergebnis bestätigte. Erneut starteten die
Konservativen eine Offensive gegen die, Khatami nahe stehende, kritische Presse.
Wieder wurden Zeitungen verboten. Nachdem die Reformkräfte nach den noch
ausstehenden Stichwahlen weitere 47 Sitze gewannen, und damit eine deutliche
Mehrheit von 70% im Parlament inne hatten, strebten sie zunächst eine schnellstmögliche Lockerung der Restriktionen für ihre Presseorgane an. Um dies zu verhindern, machte der geistliche Führer Khamenei von seiner Machtfülle gebrauch
und ordnete kurzerhand an, die Vorlage für Änderungen am Pressegesetz von der
Tagesordnung zu streichen. Dadurch mussten die Reformer einen weiteren Rückschlag bei der innenpolitischen Öffnung hinnehmen. Zudem nutzten die Konservativen ihre Positionen in der Justiz, um wichtigen Schlüsselpersonen des Reformlages einen Prozess zu machen und politisch zu demontieren.
Obwohl Khatami viele seiner Reformen aufgrund des Widerstandes der konservativen Kräfte nicht durchsetzen konnte, wurde er dennoch von der iranischen Bevölkerung 2001 mit großer Mehrheit wieder gewählt. Wie 1997 wurde er vor allem von Jugendlichen und Frauen gewählt, die weiterhin große Hoffnungen in den
Reformer Khatami setzten.
VI.
außenpolitische Entwicklung 1990 – 2001
Auch über den zukünftigen Außenpolitischen Kurs war die politische Klasse nach
dem Tode Ajatollah Khomeinis gespalten. Versuchte das Lager der Pragmatiker
einen langsamen Weg der Entspannung vor allem in den Beziehungen zu den
USA, die seit der Revolution von 1979 ihre diplomatischen Beziehungen zu Iran
abgebrochen hatten, zu gehen, setzten die Radikalen weiter auf Konfrontation.
Die Annäherung an die USA problematisch, da dies Munition für die Propaganda
der Radikalen war und entsprechend ausgeschlachtet wurde. Die USA versuchten
162
hingegen, den Iran international zu isolieren, um die iranische Wirtschaft zu schädigen und die wirtschaftlichen Probleme des Iran zu verschärfen.
Zwar schwierig, aber weniger problematisch waren die Beziehungen zu den europäischen Staaten. Ein Hindernis für gute Beziehungen war vor allem das Kopfgeld
auf den Schriftsteller Salman Rushdie, welches von der iranischen Führung aufgrund seines Buches „Satanische Verse“ ausgesetzt wurde. Gerade zu Frankreich
und Großbritannien entspannten sich die Beziehungen Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre. Großbritannien eröffnete im Februar 1989 seine Botschaft
in Teheran wieder. Die EG führte 1990 monatelange Geheimverhandlungen, die
schließlich zur Aufhebung der EG-Sanktionen am 22.10.1990 führten. Die Beziehungen kühlten sich jedoch in den Folgejahren wieder ab, weil der Iran seine außenpolitische Rhetorik verschärfte und unter anderem den Mordaufruf gegen Salman Rushdie bekräftigte.
Traditionell gute Beziehungen pflegte Iran zu Russland. Mit Russland arbeitete
der Iran vor allem in Rüstungs- und Militärpolitischen Fragen zusammen. Für
Russland waren die Rüstungsverkäufe an Iran ein lukrativen Geschäft, während
Iran seine Militärmacht ausbauen konnte. Langfristig strebte der Iran rüstungspolitische Autarkie an, welche durch mit Technologietransfers und entsprechenden
Abkommen vor allem mit Russland, aber auch mit der VR China, verwirklicht
werden sollte. Das 1995 von US-Präsident Clinten verhängte Handelsembargo
gegen den Iran (welches vor allem wegen der Rolle Irans im Nahost-Konflikt
(s.u.), dem von den USA vermuteten Nuklearprogramm zur Herstellung von atomaren Massenvernichtungswaffen und der (vermuteten) Unterstützung islamistischer Terroristen im Ausland verhängt wurde) hatte nur Auswirkungen für die
US-Wirtschaft, da sich die europäischen Staaten und Russland dem Handelsembargo nicht anschließen. So schloss 1995 der französische Konzern Total einen
Vertrag mit der iranischen Regierung ab, nach dem Total 600 Mio. Dollar in die
iranische Erdölerschließung investieren wollte.
Zu den Staaten der Golfregion verbesserten sich die Beziehungen während der
Kuwait-Krise, weil der Iran sich taktisch klug verhielt. Es gelang ihm das Kunststück, auf der einen Seite die Annexion Kuwaits durch den Irak zu verurteilen, auf
der anderen Seite die US-Intervention abzulehnen und die Beziehungen zum Irak
zu verbessern. Nach dem 2. Golfkrieg versuchte der Iran, Anerkennung für das
gewachsene eigene Gewicht in der Region zu finden. Trotz des Ausschlusses Irans aus dem geplanten neuen Sicherheitsbündnis für den Golf (sog. DamaskusErklärung des Golf Kooperationsrates (GKR), Ägyptens und Syriens), welchem
163
der Iran beitreten wollte, um den Einfluss der Großmächte in der Region, v. a. der
USA, zurückzudrängen, war der Iran bemüht, bei den Nachbarstaaten Vertrauen
zurück zu gewinnen. Als der Iran jedoch 1992 die Insel Abu Musa (56 km vor der
Küste der VAE), welche Iran bereits seit 1971 besetzt hatte, aber seit dem zusammen mit den VAE verwaltete, für sich allein beanspruchte und alle aus den
VAE geholten Gastarbeiter auswies, kühlten sich die Beziehungen zu den Nachbarstaaten wieder ab. Die AL und der GKR verurteilten die „illegale iranische
Besetzung“ und solidarisierten sich mit den VAE, während Iran das Vorgehen mit
der Verärgerung Irans über den Ausschluss von den Sicherheitspakten der Golfstaaten und die Sorge vor der Errichtung eines US-Stützpunktes auf Abu Musa
begründete. Zudem wurde die Annexion mit „historischen Dokumenten“ gerechtfertigt.
Lediglich zu Syrien pflegte der Iran gute Beziehungen. Der Iran akzeptierte die
faktische Besetzung des Libanon durch Syrien, dafür ließ Syrien die vom Iran
unterstützte Hisbollah im Südlibanon gegen Israel kämpfen. Zusätzlich zur Hisbollah soll Iran auch andere extremistische Organisationen wie Hamas oder Islamischer Jihad finanziell unterstützen und damit eine aktive Rolle im NahostKonflikt spielen.
Die schwierige außenpolitische Situation des Iran verbesserte sich erst entscheidend, als der Reformer Mohammad Khatami 1997 zum Staatspräsidenten gewählt
wurde. Anders als in der Innenpolitik konnte Khatami in der Außenpolitik beachtliche Erfolge erzielen. Vor allem in den Beziehungen zu den USA setzte eine
deutliche Entspannung ein, auch weil Khatami einige iranische Tabus brach. Einen solchen Tabubruch stellte zum Beispiel das Interview Khatamis im USFernsehsender CNN dar, welches für iranische Hardliner eine Provokation darstellte, auch wenn der „Revolutionsführer“ Khamenei Khatami bescheinigte, die
iranischen Standpunkte gut vertreten zu haben.
Auch die Beziehungen zu den europäischen Staaten verbesserten sich mit der
Machtübernahme Khatamis. Zum einen versuchte man, mit einem Ausbau der
Wirtschaftsbeziehungen „gute Geschäfte“ zu machen, zum anderen sollten die
verbesserten und intensivierten Beziehungen zu den europäischen Staaten die Reformkräfte innenpolitisch gegenüber den Konservativen stärken.
Die Beziehungen zu den Nachbarn am Golf verbesserten sich unter Khatami. Vor
allem die Beziehungen zu Saudi-Arabien verbesserten sich auf wirtschaftlicher
Basis, was auch eine Entspannung der politischen Beziehungen zur Folge hatte.
Lediglich die VAE betrachteten die Verbesserung der Beziehungen der Golfstaa164
ten (v. a. Saudi-Arabiens) zu Iran argwöhnisch, aufgrund des bisher ungelösten
Konfliktes um die Insel Abu Musa. Durch wirtschaftliche Kooperation und mit
den Staaten der Region und durch Wirtschaftsabkommen mit europäischen Staaten und Russland konnte Khatami trotz ausbleibender innenpolitischer Reformen
die wirtschaftliche Lage Irans verbessern und die Auslandsschulden erheblich
senken (ca. 8 Mrd. im Jahr 2001 gegenüber 16,8 Mrd. beim Amtsantritt Khatamis
1997).
VII. Bevölkerung
Die wirtschaftlich schlechte Situation und die hohe Arbeitslosigkeit verstärkten
die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den politischen Eliten und dem System
insgesamt. Auch die streng ausgelegten religiösen Vorschriften (unter anderem
die strenge Kleiderordnung für Frauen) sorgten für zunehmende Unzufriedenheit,
vor allem bei Frauen und Jugendlichen. Die Folge waren immer wieder auftretende, aber meist lokal begrenzte Aufstände, die meist von Revolutionswächtern
(Pasdaran und Basijis – paramilitärische, revolutionstreue Truppen; die Basijis
waren Kriegsfreiwillige im Irak-Iranischen Krieg) Trotz alle dem sind Antiamerikanismus und auch Antisemitismus in der iranischen Bevölkerung weit verbreitet,
was sich von den radikalen und konservativen Kräften bei Bedarf mobilisieren
lässt. Dies macht eine von den Reformkräften angestrebte Annäherung an den
Westen, vor allem den USA, besonders schwierig. Dennoch steht ein großer Teil
der Bevölkerung, vor allem die Jugendlichen und Frauen, denen Khatami sowohl
1997 als auch 2001 die Wahl zum Staatspräsidenten verdankte, hinter den Reformkräften, die vor allem eine offenere, islamische Gesellschaft durchsetzen und
die Macht der Geistlichkeit beschränken wollen. Khatami selbst spricht von einer
„islamischen Demokratie“.
An den Wahlsieg Khatamis 1997 knüpften viele Menschen die Hoffnung nach
einer offeneren Gesellschaft und besseren Lebendbedingungen. Viele neue Zeitungen gründeten sich, die den Reformprozess unterstützen wollten. Die Konservativen reagierten darauf mit Zeitungsverboten und Prozessen gegen reformorientierte Journalisten. Das Pressegesetz, welches die Reformkräfte lockern und die
Konservativen verschärfen wollten, war daher auch ein Kampf um die Meinungshoheit in der Bevölkerung.
Die nach dem Wahlsieg Khatamis 2001 nur, wenn überhaupt, schleppend voran
gehenden innenpolitischen Reformen führten zwar zu Frustration in der Bevölke165
rung, dennoch haben viele Menschen die Hoffnung auf eine offenere Gesellschaft
nicht aufgegeben.
VIII. Politische und ökonomische Interessen
Nach dem Tode Ajatollah Khomeinis verfolgte der Iran das Ziel, militärische,
politische und wirtschaftliche Stärke wiederzugewinnen, mit dem Ziel, eine bedeutende Hegemonie- und Großmachtstellung zu erlangen. Eine Hegemonie des
Iran sollte in dreifacher Hinsicht errecht werden. Zum einen verfolgte der Iran das
Ziel, Hegemonialmacht in der Golfregion zu werden. Dieses Ziel konnte unter
anderem durch einen regionalen Sicherheitspakt unter Führung des Iran erreicht
werden. Zudem verstand der Iran sich zunehmend als Schutzmacht der kleineren
Staaten der Region. Dies sollte zum einen die hegemonialen Ansprüche des Iran
unterstreichen, zum anderen den Einfluss westlicher Mächte, vor allem der USA,
zurückdrängen. Dies war auch im eigenen Sicherheitsinteresse, denn die zunehmende Präsenz der Amerikaner in der Region betrachtete der Iran als eine Bedrohung für die Existenz der islamischen Republik.
Außerdem versuchte der Iran sich selbst als Mittelpunkt der islamischen Welt für
alle Muslime darzustellen. Iran beanspruchte für sich eine kulturelle Hegemonie
über die muslimische Welt, die weit über die Golfregion hinausging. Konflikte
gab es vor allem mit Saudi-Arabien, da das Königshaus Saud sich als „Hüter der
heiligen Städte“ betrachtete und daher das kulturelle Zentrum der muslimischen
Welt für sich beanspruchte.
Drittes Ziel der iranischen Politik war eine Hegemonialstellung in Zentralasien.
Die nach dem Zerfall der Sowjetunion neu entstandenen, muslimischen Staaten
Zentralasiens sollten durch wirtschaftliche Abkommen und infrastrukturellen Anbindungen, wie zum Beispiel den Bau von Eisenbahnstrecken nach Teheran, an
Iran gebunden werden. Allerdings hatte der Hegemonieanspruch in Zentralasien
seine Grenzen, da der Iran Konflikte mit seinem wichtigsten Partner, Russland,
vermeiden wollte. So beeilte der Iran sich nicht bei der Anerkennung der neuen
zentralasiatischen Staaten und im Tschetschenien-Konflikt kritisierte der Iran lediglich die Härte, mit der Russland vorging, bestätigte aber, dass der Iran Tschetschenien als Teil Russlands betrachtete.
Das Hegemoniestreben Irans in Zentralasien führte aber teilweise auch zu Konflikten mit der Türkei, da Teile des (meist rechten) politischen Spektrums der
166
Türkei hegemoniale Ansprüche über die in Zentralasien lebenden Turkvölker für
die Türkei beanspruchen.
Um diese Ziele zu erreichen, war zum einen ein guten Verhältnis zu Russland, als
dem wichtigsten Partner in Rüstungs- und Militärpolitischen Fragen, wichtig, zum
anderen mussten die wirtschaftlichen Probleme beseitigt werden, welches die Regierung Rafsanjani durch wirtschaftliche Liberalisierung zu erreichen versuchte.
Diese wirtschaftliche Liberalisierung stieß jedoch auf Ablehnung weiter Teile der
herrschenden Elite, die von dem dirigistischen Wirtschaftssystem profitierten und
um ihre Pfründe fürchteten.
IX.
Haltung zum Irak und zur Irak-Frage
Grundsätzlich war das Verhältnis des Irans zum Irak seit dem 1. Golfkrieg zerrüttet. Die beiden Staaten gaben sich gegenseitig die Kriegsschuld und es herrschte
Streit über Fragen des Austausches von Kriegsgefangenen und über Reparationen.
Beim zweiten Golfkrieg verurteilte der Iran die Annexion Kuwaits durch den Irak,
verurteilte aber auch das Eingreifen der USA. Zudem „parkte“ der Iran irakische
Kampfflugzeuge während des 2. Golfkrieges auf seinem Territorium, um sie vor
der Zerstörung durch US-Angriffe zu schützen. Nach dem 2. Golfkrieg weigerte
sich der Iran jedoch, die Kampfflugzeuge dem Irak zurückzugeben mit der Begründung, dass dies als Reparationsleistung für die Schäden des vom Irak verursachten Krieges einbehalten werde.
Außerdem wurde das Verhältnis der beiden Staaten dadurch gestört, dass jeder
Staat Oppositionsgruppen des jeweils anderen von seinem Territorium aus operieren ließ. So operierte die iranische Oppositionsgruppe Mojahedin-e Khalq vom
Irak aus, die der Iran immer wieder mit Angriffen zu bekämpfen versuchte.
Im Laufe der 1990er Jahre kam es zu keiner nennenswerten Annäherung zwischen
den beiden Staaten, da die offen stehenden Fragen bzgl. des gegenseitigen Gefangenenaustausches (welcher jedoch vereinzelt stattfand), der Kriegsschuldfrage
(welche die Vereinten Nationen dem Irak zuschrieb), der Reparationen und der
irakischen Kampfflugzeuge nicht hinreichend geklärt werden konnte. Zudem überwog das gegenseitige Misstrauen.
Bezüglich des von den Vereinten Nationen verhängten Handelsembargos gegen
den Irak hielt sich die iranische Führung mit offiziellen Statements zurück. Es ist
jedoch zu vermuten, dass ein wirtschaftlich, politisch und militärisch geschwächtes Baath-Regime dem iranischen Sicherheitsinteresse entgegen kam. Zudem er167
höhte die außenpolitische Isolation des Irak Anfang der 1990er Jahre die Chancen,
die eigenen Hegemoniebestrebungen in der Golfregion zu verwirklichen. Einen
von den USA und ihren Verbündeten geführten Krieg gegen den Irak zum Zwecke eines regime change kann jedoch nur bedingt im Interesse des Iran sein. Zum
einen bestünde für den Iran die Gefahr, dass an der eigenen Westgrenze dauerhaft
amerikanische Truppen stationiert werden, welches die iranische Führung (vor
allem das konservativ-klerikale Lager um „Revolutionsführer“ Khamenei) als
Bedrohung empfinden würde, zum anderen wird der iranischen Führung ein geschwächtes Saddam-Regime, welches keine Bedrohung darstellt, lieber sein als
ein neues, amerikafreundliches Regime.
X.
Irans Position zur Irak-Resolution
Iran lehnt einen US-geführten Krieg gegen den Irak ab. Zum einen, weil ein Krieg
eine weitere Stationierung amerikanischer Truppen in der Region nach sich zöge,
was der Iran sowohl aus ideologischen, als auch aus sicherheitspolitischen Überlegungen ablehnt, zum anderen, weil Iran ein existentielles Interesse an der territorialen Integrität des Irak hat. Ein Sturz des irakischen Regimes könnte ein Machtvakuum im Irak auslösen, separatistische Strömungen fördern (zum Beispiel Kurden), und damit die gesamte Region destabilisieren.
168
XI. Sekundärliteratur:
Mangol, Bayat-Philipp: Die Beziehungen zwischen den USA und Iran seit
1953
Quelle:
http://www.bpb.de/publikationen/IINLG9,0,0,Die_Bezieh
ungen_zwischen_den_USA_und_Iran_seit_1953.html
Aus
Politik
und
Zeitgeschichte
(B
9/2004)
Die Beziehungen zwischen den USA und
Iran seit 1953
Mangol Bayat-Philipp
Inhalt
Einleitung
Berührungspunkte durch den Zweiten Weltkrieg
Der Sturz von Mosaddeq
Die Rolle der USA bei der Modernisierung in Iran
Der Weg zur iranischen Revolution
Carters Politik als Katalysator der Revolution
Geiseldrama und innenpolitischer Machtkampf
US-Außenpolitik, Wahlkampf und der Iran-ContraSkandal
Innere Widersprüche auf beiden Seiten
Einleitung
Übersetzung aus dem Englischen: Martina Boden, Winsen
(Aller). Richard Cottam, US-Iran Relations: Areas of Tension and Mutual Interest, in: H. Amirahmadi/E. Hoogland
(Hrsg.), U.S.-Iran Relations.
"Am 19. August 1953 machte die amerikanische Regierung
einen Fehler von wahrhaft tragischen historischen Ausmaßen. Wir beteiligten uns am Sturz des Regimes in Iran
(...), der, wie ich denke, unser natürlicher strategischer
und ideologischer Verbündeter war (...) Die EisenhowerRegierung missverstand (...) die Situation und eliminierte
eine liberal-nationalistische Elite, indem sie die Durchführung des Putsches gegen Dr. Mosaddeq unterstützte."1 So
äußerte sich Richard Cottam, der amerikanische Experte
für Iran im 20. Jahrhundert, 1994 bei einem Symposium in
Washington, D.C. Zum Zeitpunkt des Putsches war er ein
junger Karrierediplomat und einer der wenigen, die sich
gegen die Iran-Politik der US-Regierung aussprachen.
1994 waren die meisten Regierungsbeamten und Wissenschaftler, egal ob konservativ oder liberal, zu der gleichen
Schlussfolgerung gelangt.[1]
169
Biographie
Mangol
Bayat-Philipp
Ph. D., geb. 1937; Professorin emerita; Lehrtätigkeit an den
Universitäten von Shiraz (Iran), Harvard, Iowa, Bonn, Jerusalem und am Massachusetts Institute of Technology.
Anschrift: 199 Coolidge Ave., Unit no. 504, Watertown, MA
02472,
USA.
E-Mail: [email protected]
Veröffentlichungen u. a.: Mysticism and Dissent: SocioReligious Thought in Qajar Iran, Syracuse 1982; Iran's First
Revolution: Shi'ism and the Constitutional Revolution, Oxford
1991; Iran's First Revolution (i.E.).
Der Kalte Krieg ist vorbei, und eine neue Weltordnung
kommt langsam, wenngleich noch nicht klar umrissen, zum
Vorschein. Die Zerstörung des alten bipolaren Systems und
der noch amorphe Charakter der neuen Weltordnung haben nicht nurein Machtvakuum geschaffen. Gerade kleine
Nationen wie Iran wurden auch von einem Gefühl großer
Unsicherheit und Verletzlichkeit erfasst. Der Statuswechsel
vom abhängigen Staat, der unter dem Schutz der Führungsmacht der freien Welt stand, zum "Schurkenstaat",
der westliche Interessen bedroht, lässt sich durch die Islamische Revolution von 1979 allein nicht erklären. Das
revolutionäre Regime in Teheran hat es nicht geschafft,
sich als eine durchsetzungsfähige militärisch-ökonomische
Macht zu etablieren, wie es der Aggressivität seiner politischen Rhetorik entspräche. Tatsächlich ist das Land heute
ein erheblich schwächerer Staat. Welcher Logik folgen die
amerikanisch-iranischen Beziehungen nach dem Ende des
Kalten Krieges?
Berührungspunkte durch den Zweiten Weltkrieg
Vor dem Zweiten Weltkrieg beschränkten sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Iran auf
eine begrenzte diplomatische und wirtschaftliche Repräsentanz sowie auf einige protestantische missionarische
Aktivitäten. Mit der Öffnung einer Versorgungsroute in die
Sowjetunion während des Krieges nahm das Engagement
der USA in Iran jedoch beträchtlich zu. Im Dezember 1942
wurden amerikanische Truppen entsandt, um die Versorgung zu unterstützen. Anfang 1944 waren rund 30 000
amerikanische Soldaten in Iran stationiert. 1943 und 1944
versuchten US-Ölgesellschaften mit Unterstützung der
amerikanischen Botschaft in Teheran, Öl-Konzessionen in
Iran zu erhalten. Die Notwendigkeit, die kooperativen Beziehungen zu dem Kriegsverbündeten aufrechtzuerhalten,
verhinderte jedoch die Einmischung der USA in die inneren
Angelegenheiten Irans. Aus demselben Grund machten die
USA auch keine Anstalten, die Übergriffe der Sowjetunion
in Aserbaidschan 1944 und 1945 zu blockieren. USPräsident Franklin D. Roosevelt hatte sogar versucht, die
Sowjetunion bei der Teheraner Konferenz der Alliierten
1943 auf Kosten Irans zu besänftigen.[2]
Als jedoch unmittelbar nach dem Krieg die Spannungen
zwischen den USA und der Sowjetunion wegen des Bür-
170
gerkriegs in Griechenland, wegen der Spannungen in Mitteleuropa sowie der Ereignisse in Aserbaidschan und im
iranischen Kurdistan wuchsen, führte dies zu direkten amerikanischen Interventionen in Iran. Als die Amerikaner
die sowjetischen Truppen im Mai 1946 erfolgreich zum
Rückzug aus Iran zwangen,[3] wurde dies von der iranischen Regierung begrüßt. Sie erbat mehr diplomatische
Unterstützung und finanzielle Hilfe. Im Rahmen der Truman-Doktrin, die Milliarden von US-Dollar für Länder im
östlichen Mittelmeer zur Verfügung stellte, erhielt Iran im
Jahr 1947 jedoch nur minimale Hilfen. Die Belegschaft der
Botschaft wurde aber bald vergrößert und 1947 ein CIAStützpunkt geschaffen. Von dort starteten die USA verdeckte Aktionen zur Unterminierung des Einflusses der
Sowjetunion und der Tudeh-Partei des Iran (TPI), einer
Moskau-orientierten kommunistischen Partei. Diese Spionageaktivitäten richteten sich letztlich gegen die Sowjetunion.
Der Sturz von Mosaddeq
Zu Beginn des Jahres 1950 änderten die USA ihre globale
Strategie. Damit einher ging eine grundlegende Neueinschätzung der Politik gegenüber Iran. Vor dem Hintergrund
sowjetischer Kernwaffentests und der Etablierung einer
kommunistischen Regierung in China entwickelten USRegierungsvertreter eine aggressivere Strategie zur Eindämmung des sowjetischen Expansionismus. In der Studie
des Nationalen Sicherheitsrates NSC-68 vom April 1950
wurde "eine erneuerte Initiative im Kalten Krieg"[4] gefordert. Erstmals tauchte der Begriff "perimeter defense" auf.
Die US-Führung verstärkte die militärische Präsenz in der
Region und die Wirtschaftshilfen für Länder, "die wie Iran
an der Peripherie der sowjetischen Einflusssphäre liegen".
US-Politiker äußerten erstmals ihre Sorge hinsichtlich der
politischen Stabilität Irans. Die"Nationale Front", eine Organisation, die unter der Führung von Mohammad Mosaddeq allenationalistischen Parteien zusammenbrachte, baute
ihre Macht in der politischen Arena aus, und die TudehPartei, seit einem gescheiterten Mordanschlag auf den
Schah 1949 geächtet, nahm ihre Aktivitäten wieder auf.
Nach Teheran entsandte Regierungsvertreter kehrten mit
alarmierenden Berichten über eine "gefährliche und explosive" Situation in die USA zurück und warnten vor der
Möglichkeit, dass Iran "ein neues China" werden könne.[5]
So wurde ein Vier-Punkte-Programm entwickelt, das darauf zielte, den USA eine entscheidende Rolle in innenpolitischen Angelegenheiten Irans zu sichern.
Mohammad Mosaddeq wurde 1951 zum Premierminister
ernannt. Die Dachorganisation "Nationale Front", der er
vorstand, warb für die Nationalisierung des iranischen Öls,
das bis dahin im Rahmen der so genannten Anglo-Iranian
Oil Company (AIOC) in britischem Besitz war. Die Mitglieder der Organisation - die weltlichen, modernistischen
liberalen Parteien - teilten dieses Ziel mit der Tudeh-Partei.
Will man die alarmierenden Beschreibungen der USRegierungsvertreter über Iran bewerten, sollte man die
immense Popularität der Mosaddeq-Regierung nicht unterschätzen. Ein halbes Jahrhundert Reformen hatte eine
gebildete, moderne akademische Mittelschicht geschaffen,
politisch anspruchsvoll und bereit, Macht zu übernehmen.
Sie bildete weder eine neue Elite noch agierte sie in einem
sozialen Vakuum. Eine wachsende Arbeiterklasse, eine
nationalistisch gesinnte Schicht von Händlern und eine
militante Schicht von Oberschülern und Universitätsstu-
171
denten bildeten ein eindrucksvolles, die Klassengrenzen
überschreitendes Wählerpotenzial für die "Nationale Front".
"Auch wenn Großbritannien und verschiedene iranische
Akteure offensichtlich wichtige Beiträge zum Sturz von
Mosaddeq leisteten, lässt sich aus der Beweislage schließen, dass das Mosaddeq-Regime wahrscheinlich überlebt
hätte, wenn die USA nicht eingegriffen hätten."[6] Die
Tudeh-Partei konnte hinsichtlich der Popularität nicht mit
Mosaddeq konkurrieren. Zudem wurde sie von britischen
und US-amerikanischen Geheimagenten infiltriert; diese
inszenierten fingierte kommunistische Straßendemonstrationen und provozierten abscheuliche Taten, um in der
Öffentlichkeit Angst vor der Gruppierung zu schüren.[7]
Die "Operation Ajax" - so der Codename des Putsches der
Geheimdienste CIA und MI6 - wurde mit Verweis auf eine
unmittelbar drohende kommunistische Machtübernahme
gerechtfertigt. Es war das erste Mal in dieser Region, dass
die Vereinigten Staaten eine ausländische Regierung stürzten. Der Putsch markierte auch den Beginn einer politischen Vorherrschaft der USA im Mittleren Osten - auf Kosten des Verbündeten Großbritannien. Dieser verlor überdies sein Monopol auf das iranische Öl, als ein Konsortium
internationaler - meist amerikanischer - Firmen die Rechte
an Produktion und Export übernahm und der iranischen
National Oil Company einen Teil der Exportentscheidungen
sowie Exklusivrechte in inländischen Öl-Angelegenheiten
überließ.[8] Die Sowjetunion hatte nichts zu verlieren - mit
Ausnahme des Vertrauens der iranischen Kommunisten.
Die Rechtfertigung des Putsches mit dem Kalten Krieg war
nichts weiter als eine Verschleierung der weit komplexeren
geo-ökonomischen Strategie, die dahinter stand.[9]
Inzwischen ist bekannt, dass Harry S. Truman und seine
Regierung - trotz ihrer Sorge um den Schutz der Peripherie
- nicht an eine unmittelbare Bedrohung in Iran glaubten
und keine Notwendigkeit sahen, Mosaddeq zu stürzen.
Tatsächlich fiel die Entscheidung zwei Wochen nach der
Übernahme des Präsidentenamtes durch Dwight D. Eisenhower - obwohl es im US-Außenministerium, bei der CIA
und unter Experten Widerstand gegen die Intervention
gab. Die neue Regierung formulierte eine neue globale
Strategie, die als "New Look" bekannt wurde. Dabei handelte es sich um eine Fortschreibung des Truman'schen
Ansatzes der Peripherie-Verteidigung; mit ihr sollten aggressivere verdeckte Aktionen vorangetrieben werden. Die
Brüder John und Allen Foster Dulles übernahmen die Kontrolle der amerikanischen Außenpolitik, der eine als Außenminister, der andere zunächst als stellvertretender
Direktor und später als Direktor der CIA.[10] Iran diente
als Testfall: Das Land sollte ein Satellitenstaat werden,
politisch stabil und wirtschaftlich fähig, ein rasches Modernisierungsprogramm zu stützen, das der Gesellschaft zugute kommen und das Image der USA in der Welt verbessern sollte. Bis 1955 wandelte sich Iran "von einer schwachen Nation, die traditionell eine 'neutrale` Position in
internationalen Angelegenheiten einnahm, zu einem Aktivposten gegen den Kommunismus"[11]. Für die US-Führung
war Iran "von entscheidender Bedeutung" für die nationale
Sicherheit und bot eine Basis für die Durchführung nachrichtendienstlicher Operationen gegen die Sowjetunion, für
grenzüberschreitende Spionage und, ab 1957, für die elektronische Überwachung militärischer Einrichtungen in
Zentralasien. Die verdeckten Aktionen der CIA halfen dem
Pahlewi-Regime bei der Aufdeckung oppositioneller Netzwerke sowie staatsgefährdender Verschwörungen. Schon
172
im Herbst 1953 kam ein US-Oberst nach Teheran, um dort
eine neue nachrichtendienstliche Einheit aufzubauen, die
dann offiziell dem iranischen Militär unterstellt wurde. Das
nachrichten- und sicherheitsdienstliche Netz des ganzen
Landes wurde auf diese Weise zentralisiert und zu einer
hoch effizienten, modernen und mächtigen Organisation
ausgebaut, die alle Bedrohungen der monarchischen Diktatur abwehrte. Die berüchtigte SAVAK war das mächtigste
Instrument des Pahlewi-Regimes zur Kontrolle aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Auslandssektion unterstützte die USA beim Sammeln nachrichtendienstlicher
Informationen und bei der Implementierung ihrer Politik in
der Region. Der israelische Geheimdienst Mossad unterstützte die CIA beim Training und bei der Ausrüstung der
SAVAK-Mitarbeiter.
Die Rolle der USA bei der Modernisierung in Iran
Der zunehmende Nationalismus im Mittleren Osten führte
zu einem Wandel der US-Politik gegenüber Schah Mohammed Reza Pahlewi. Aufgrund der Revolution, die 1958 zum
Sturz der Monarchie in Irak führte, wegen der politischen
Unruhen in anderen arabischen Monarchien und des weitreichenden Einflusses des ägyptischen Präsidenten Gamal
Abdel Nasser (der 1956 aus Protest gegen die guten Beziehungen des Schahs zu Israel die diplomatischen Beziehungen mit Iran abbrach) empfahlen Fachleute des USGeheimdienstes, Druck auf den Schah auszuüben, damit
dieser wirtschaftliche und politische Reformen in Angriff
nehme. Doch im letzten Amtsjahr von US-Präsident Eisenhower wurde das Thema nicht mehr aufgegriffen. Sein
Nachfolger John F. Kennedy widmete sich der Aufgabe,
Amerikas Politik gegenüber der Dritten Welt zu reformieren. Seinem Vorgänger warf er dessen starre Haltung vor,
die Krisen in Südostasien, Afrika und Kuba nicht verhindert
zu haben. Die neue Administration bevorzugte eine "flexiblere Antwort" und ergriff eine Reihe von politischen Maßnahmen, um Unruhen vorzubeugen; so baute sie Wirtschaftshilfe und Kulturprogramme aus. Die neue Regierung
schränkte außerdem die Zahl der verdeckten Aktionen
drastisch ein; Botschaftsangehörige trafen sich in Teheran
mit Oppositionsführern und ermutigten den Schah, Kontakt
mit diesen aufzunehmen.[12]
Von größerer Bedeutung war jedoch der Einfluss Kennedys
auf die vom Schah durchgesetzten und vorangetriebenen
Reformen. Die Agrarreformen beschnitten die Macht der
Großgrundbesitzer und ermöglichten Bauern die Besitznahme von Land. Das Gesetz zum Schutz der Familie von
1962 bis 1964 gestand Frauen das aktive und passive
Wahlrecht zu und ermöglichte ihnen den Zugang zu höherer Bildung, auch wenn ihr männlicher Vormund dies ablehnte. Polygamie wurde zwar nicht abgeschafft, aber das
neue Gesetz machte es für einen Mann praktisch unmöglich, mehr als eine Frau zu haben. Diese Reformen zum
rechtlichen Status der Frau in der Gesellschaft beschnitten
den Einfluss der religiösen Institutionen erheblich; bis dahin hatte das Familienrecht der Rechtsprechung der Mullahs unterstanden. Unter den enteigneten Landbesitzern
befanden sich auch einige reiche Mitglieder religiöser Einrichtungen; als die Reformvorhaben des Schahs bekannt
wurden, erhoben sie sich in der so genannten "weißen
Revolution". Konservative Teile der Gesellschaft, die viel zu
verlieren hatten, schmähten die Reformvorhaben als einen
imperialistischen Anschlag der USA auf die nationale Souveränität des Landes. US-Regierungsvertreter hätten bes-
173
tätigt, dass die USA eine wichtige Rolle dabei spielten.[13]
Der Sicherheitsapparat des Schahs unterdrückte den Aufstand vom Juni 1963 unbarmherzig. Die gemäßigte Opposition, insbesondere weltliche Liberale, saßen zwischen
allen Stühlen: Einerseits befürworteten sie prinzipiell die
progressiven Reformen des Schahs, andererseits waren sie
gegen seine absolute politische Macht. Viele von ihnen
marschierten bei den Demonstrationen mit, hielten zwar
Abstand zu den Konservativen, trugen aber Transparente
mit dem Slogan: "Ja zu Agrarreformen, nein zu politischer
Diktatur." In diesen Tagen des Aufruhrs begann die politische Karriere Ayatollah Khomeinis, der - im Schulterschluss mit den konservativen Landbesitzern - dem Schah
verfassungswidrige Herrschaft vorwarf. Nach mehrfachen
Warnungen von staatlicher Seite wurde er gefangen genommen und ins Exil nach Nadschaf verbannt, der heiligen
Stadt der Schiiten in Irak. Von dort aus entwickelte er seine revolutionäre Theorie von der rechtmäßigen Herrschaft
der schiitischen Theologen.
Der Weg zur iranischen Revolution
Viele Beobachter sind zu dem Schluss gekommen, dass der
Samen für die Revolution 1979 bereits in den Jahren 1953
und 1963 gesät worden sei. Der Sturz von Mosaddeq habe
das Versagen des weltlichen Nationalismus als Ideologie
für die iranischen Massen unterstrichen. Zur gleichen Zeit
erlangte Khomeini im Exil eine Bedeutung als Führungspersönlichkeit wie kein anderer Oppositionsvertreter. Eine
zu rasche Modernisierung hatte demnach das soziale Gefüge der iranischen Gesellschaft zerrissen, und der schiitische Islam ersetzte erfolgreich die weltlichen Ideologien
bei der Mobilisierung der revolutionären Massen.
Die islamische Erneuerungsbewegung war Mitte der fünfziger Jahre von der Regierung initiiert worden, um den
Kampf gegen den Kommunismus und die radikale Linke
aufzunehmen. Neben dem Eintreten für eine Ausweitung
der Reformen hatte sie die Schaffung sozio-religiöser Einrichtungen unterstützt, die eine gemäßigte, sozial progressive Interpretation des schiitischen Islam vertraten; diese
sollten die jungen Iraner von weltlichen sozialistischen
Ideologien fern halten. Viele Ayatollahs, die sich an diesem
vom Staat geförderten Programm beteiligten - wie Mahmut
Tabatabai, Morteza Motaheri und Mohammad Hosain Beheshti -, schlossen sich während der Revolution Khomeini
an, zusammen mit ihren Schülern und einem Netz von
Gefolgsleuten. Das Programm war während des Kalten
Krieges integraler Bestandteil der US-Politik in der muslimischen Welt und sollte die Rolle des Islam als Bollwerk
gegen den Kommunismus unterstreichen. Diese Politik war
in Iran in den fünfziger Jahren und bis hinein in die siebziger Jahre unbestreitbar erfolgreich.
Nach Nassers Tod wurde diese Politik auch in Ägypten sowie in Sudan, in Indonesien, Malaysia, Algerien und im
Südlibanon verfolgt, um nur einige Länder zu nennen. Die
islamischen Laien-Ideologen, die für die sozio-religiösen
Einrichtungen eine modernistische Sichtweise des Islam
entwickelten (Mehdi Bazargan, Ibrahim Yazdi, Ali Shariati,
Abolhasan Banisadr und andere), hatten nahezu ausnahmslos europäische und amerikanische Universitäten
besucht und nicht die traditionellen theologischen Seminare. Vor Ort setzten sich die religiösen Netzwerke aus Absolventen nichtkirchlicher staatlicher Schulen und Universi-
174
täten zusammen, an denen nach westlichen Studienplänen
unterrichtet wurde. Die theologischen Schulen zogen die
intellektuell weniger begabten Studenten an, meist aus
ärmeren Städten und Dörfern auf dem Land. Dabei boten
die staatlichen Schulen und Universitäten, die sich in den
siebziger Jahren im ganzen Land stark vermehrten, allen
Studenten aus städtischen wie ländlichen Regionen eine
kostenlose Ausbildung an.
Die Innenpolitik des Schahs förderte nach 1953 - mit Unterstützung der USA und der amerikanischen Finanzhilfe
zur bildungspolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen
Entwicklung - das Wachstum der Mittelschicht und der
unteren Mittelschicht. Der dramatische Anstieg des internationalen Ölpreises Anfang der siebziger Jahre machte die
iranische Regierung finanziell unabhängig von amerikanischer Freigebigkeit und erleichterte die Ausweitung der
Bildungsprogramme im In- und Ausland. Die gebildete
Mittelschicht und die untere Mittelschicht dieses amerikanischen Satellitenstaates, die weitgehend ein Produkt der
Pahlewi-Politik darstellte, bildete die Basis für die Revolution von 1979. Denn die wirtschaftliche und soziokulturelle
Entwicklung ging einher mit politischer Unterentwicklung.
Der Ölreichtum der siebziger Jahre gab dem Schah und
seinen Beratern die Mittel an die Hand, um das Militär aufund das Land zu einer Regionalmacht auszubauen. Die
Ambitionen des Schahs deckten sich mit den politischen
Interessen der USA. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich
Großbritannien vom Persischen Golf zurückgezogen. Washington entschloss sich dazu, Iran als neuen Polizisten in
der Region einzusetzen - in der Annahme, das Land bleibe
politisch stabil und auf westlicher Linie. Am 30. Mai 1972
machten US-Präsident Richard M. Nixon und Außenminister
Henry A. Kissinger auf dem Rückweg von Moskau Station
in Teheran. Dieses Treffen führte zu einer radikalen Neuausrichtung der amerikanisch-iranischen Beziehungen. In
einer zweistündigen Diskussion soll Nixon den Schah freimütig gebeten haben: "Beschützen Sie mich."[14] Dieser
kam der Aufforderung gerne nach. Denn Nixon hatte seinerseits zugesagt, Iran hoch entwickelte Militärtechnologie
zu verkaufen. In den folgenden vier Jahren kaufte der
Schah moderne Waffen im Wert von rund neun Milliarden
US-Dollar. In der Folge verwickelte er Iran in regionale
Konflikte wie am Horn von Afrika. Iranische Soldaten
kämpften auch im Auftrag der Westmächte, um in Oman
einen Aufstand gegen den Herrscher - einen Protegé der
Briten - zu unterdrücken. Bis 1975 unterstützte Iran rebellierende Kurden in Irak - im Einklang mit den USA und
Israel, die versuchten, das revolutionäre Regime in Bagdad
zu destabilisieren.
Über den wachsenden Widerstand gegen diese militärischen Abenteuer des Schahs, die sich - im Bündnis mit den
nichtmuslimischen Staaten USA und Israel - gegen muslimische Bruderstaaten richteten, ist viel geschrieben worden. Das gilt auch für die Feindseligkeit des Schahs gegenüber den arabischen Ländern; diese ging so weit, dass
Iran im Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 Israel mit Öl
versorgte.
Auch die Korruption der herrschenden Elite in Iran und der
Verlust der kulturellen Identität sind beschrieben worden.
Mitte der siebziger Jahre, als selbst ernannte GuerillaGruppen Gewalt gegen amerikanische Beamte und Ziele
ausübten, schrillten in Washington die Alarmglocken,. Die
175
iranische Opposition war allerdings noch sehr zersplittert
und uneins. Als Präsident Jimmy Carter 1976 sein Amt
antrat, glaubte die neue Regierung, Iran könne gerettet
werden. Carter wahrte zwar sehr viel mehr Distanz als
seine Vorgänger, hielt aber an der amerikanischen Überzeugung fest, ein sicherer und stabiler Iran sei von großer
Bedeutung für die strategischen Interessen der USA in der
Region.
Carters Politik als Katalysator der Revolution
Die Menschenrechtspolitik von US-Präsident Carter und
seine Entschlossenheit, die amerikanischen Waffenverkäufe zu reduzieren und auf die Regionen zu beschränken, in
denen die USA Länder in Abhängigkeitsbeziehungen halten
wollten, erwies sich als Katalysator der bisher unterdrückten Spannungen und Konflikte. Die westlichen Medien einschließlich der amerikanischen - begannen offener über
die Unterdrückung durch das Pahlewi-Regime zu schreiben. In Büchern wurden die Brutalität des von Amerikanern und Israelis trainierten Geheimdienstes SAVAK, die
weit verbreitete Korruption und die dunklen Geschäfte des
Regimes mit westlichen Unternehmen beschrieben. Bei
einem Besuch in Washington kam es zu Straßendemonstrationen gegen den Schah und seine Frau, angeführt von
iranischen Oppositionsgruppen. In Fernsehinterviews wurden nun - anders als in der Vergangenheit - keine Anstrengungen mehr unternommen, ein positives Bild des
Monarchen zu zeichnen. US-Regierungsvertreter rieten
dem Schah, sein Regime zu liberalisieren und die Korruption im Land zu bekämpfen, allem voran in seiner Familie.
Die Reformen griffen zu kurz und kamen zu spät. Im Oktober 1978 diskutierten einige US-Regierungsexperten und
wissenschaftliche Berater bereits über Verhandlungen mit
Ayatollah Khomeini, der sich damals in Frankreich aufhielt
und eine triumphale Rückkehr nach Iran vorbereitete.
Dem bisher zugänglichen Material über die Revolution nach
zu urteilen, war die Regierung Carter in der Frage der Reaktion auf die Ereignisse in Iran stark gespalten. Sie stand
dabei mehreren außenpolitischen Problemen gegenüber:
der Vertrag zur Begrenzung strategischer Waffen mit Moskau, die Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und
Israel in Camp David, die Normalisierung der Beziehungen
zu China und nicht zu vergessen die sowjetische Einmischung in Afghanistan. Die US-Politiker und ihre Berater
standen vor der zentralen Frage: "Wie können die amerikanischen Interessen in der Region gewahrt werden, wenn
der Schah stürzt?"[15] Einerseits versicherten sie den
Schah in regelmäßigen Abständen der amerikanischen
Unterstützung und stimmten dem Verkauf von Waffen an
Teheran zu, um den Aufruhr zu bekämpfen. Andererseits
suchten einige Regierungsvertreter unter den Führern der
gemäßigten Opposition und den Mullahs nach möglichen
neuen Gesprächspartnern. Von November 1978 bis zur
Flucht des Schahs im Januar 1979 sorgten einander widersprechende Szenarien für Iran für hitzige Debatten; dabei
standen sich das Weiße Haus auf der einen Seite und das
US-Außenministerium auf der anderen Seite gegenüber.
Zbigniew Brzezinski, der nationale Sicherheitsberater von
Präsident Carter, befürwortete eine Unterstützung für den
Schah; Henry Precht, der Chef der Iran-Abteilung im Außenministerium, und später auch Außenminister Cyrus
Vance selbst sprachen sich dafür aus, auf Khomeini zu
setzen. Khomeini, von den moderaten Kräften im Exil als
gemäßigt beschrieben, wurde als eine Persönlichkeit dargestellt, die helfen würde, in Iran eine wahrhaft legitime
176
und liberale Regierung wiederherzustellen. Die Sprecher
Khomeinis in Europa und den USA charakterisierten ihn als
eine ernsthafte, rationale Persönlichkeit des öffentlichen
Lebens und versicherten der westlichen Öffentlichkeit, dass
Iran ein verlässlicher Verbündeter des Westens bleiben
werde. Mehdi Bazargan, den Khomeini als InterimsPremierminister vorschlug, sowie die anderen Mitglieder
der provisorischen Regierung waren moderne, westlich
gebildete und weltlich orientierte Liberale.
Was nur wenige Monate zuvor noch nicht als unausweichlich erschien, wurde nun Realität: Der Schah wurde gestürzt, und Khomeini kehrte nach Teheran zurück, von
großen Massen als Retter der Nation gepriesen. In dieser
frühen Phase der Revolution war das Wesen des neuen
Regimes noch nicht klar erkennbar. Zwischen den verschiedenen Fraktionen tobte ein heftiger Machtkampf. Zudem war Khomeini noch nicht als unumstrittener, alleiniger
Führer des revolutionären Iran akzeptiert. Die rhetorischen
Täuschungsmanöver der verschiedenen Gruppen und die
gegenseitigen Anschuldigungen vermochten kaum die Tatsache zu verdecken, dass die ideologisch vielschichtige
Allianz, die zum Sturz des Schahs geschmiedet worden
war, auseinanderbrach.
Auch wenn es nach außen hin so schien, war die Situation
doch nicht komplexer als 1953. Die Mittelschicht war breiter und stärker geworden. Die weltlichen Kräfte waren
bereit, die Macht zu übernehmen. Sie hatten nichts dagegen, dass Khomeini nominell als Kopf der revolutionären
Bewegung agierte. Denn sie vertrauten darauf, dass er
sich - wie er es versprochen hatte - in seine Moschee zurückziehen werde, sobald seine Mission erfüllt war. Hatten
die säkularen Kräfte ihre Fähigkeit, die Mullahs zu überstimmen, überschätzt? Die inzwischen veröffentlichten
Memoiren einiger Akteure von damals lassen darauf schließen, dass Khomeini alle überrascht hat. Viele sprachen von
der "entführten Revolution".
Geiseldrama und innenpolitischer Machtkampf
Zweifellos haben westliche Medien und Experten die Rolle
der säkularen Kräfte heruntergespielt und die religiösen
Elemente der Revolution betont, die Dritte-Welt-Slogans,
die antiamerikanischen, antiwestlichen und antimodernen
Slogans.[16] Nach den Fernsehbildern zu urteilen, die täglich in den USA und Europa gezeigt wurden, hatte sich Iran
beinahe über Nacht gegen alles gewandt, was das Land in
rund einem Jahrhundert erreicht hatte. Dennoch: Universitäten und andere Institutionen der höheren Bildung verteidigten ihre Autonomie gegen den Einfluss der Mullahs.
Frauen demonstrierten auf den Straßen gegen den Schleier. Wichtiger noch, im Hintergrund arbeiteten Mitglieder
der neuen Regierung daran, freundschaftliche Kontakte zur
US-Botschaft aufzubauen. Interims-Premierminister Mehdi
Bazargan traf US-Präsidentenberater Brzezinski anlässlich
einer Konferenz in Algerien, um über Waffenlieferungen zu
sprechen, die das Schah-Regime bereits bezahlt hatte. Das
Bild vom Handschlag der beiden Männer wurde in der iranischen Presse veröffentlicht und lieferte den radikalen
Kräften einen Vorwand, um den Premierminister und sein
Kabinett aus gemäßigten Liberalen zu demontieren. Es
wurde als Hinterlassenschaft des Pahlewi-Regimes verunglimpft und zum Rücktritt gezwungen.
Den Anschlag auf die US-Botschaft in Teheran und das
177
darauf folgende Geiseldrama interpretierte die US-Führung
als klaren Beweis für Khomeinis unversöhnliche antiamerikanische Haltung. Die so genannten "studentischen Gefolgsleute der Khomeini-Linie", wie sie sich selbst bezeichneten, führten nach eigenen Angaben Anordnungen ihres
Führers aus. Es gab jedoch keinen Hinweis darauf, dass
Khomeini Kenntnis von der Aktion hatte, auch wenn er sie
umgehend sanktionierte. Der Anschlag auf die amerikanische Botschaft kam daher einer Palastrevolution gleich:
Khomeini übernahm die gesamte Macht im Land.
Das Geiseldrama, das 444 Tage andauerte und sicher der
Grund für die Wahlniederlage Carters 1980 war, ist noch
nicht eingehend untersucht. Im Oktober 1979 bat der
schwer krebskranke Schah um Aufnahme in ein USKrankenhaus. Das Außenministerium sandte Henry Precht
nach Teheran, um die Entscheidung mit iranischen Regierungsvertretern zu besprechen. Precht vertrat den Standpunkt, es handle sich um eine rein humanitäre Frage, die
keine politische Bedeutung habe. Bruce Laingen, Geschäftsträger in der US-Botschaft, forderte zusätzlichen
Polizeischutz an, der vom Teheraner Polizeichef persönlich
überwacht werden sollte. Premierminister Bazargan und
Ibrahim Yazdi, der iranische Außenminister, äußerten ihre
Besorgnis über die möglichen Folgen, welche die amerikanische Entscheidung im Hinblick auf die instabile politische
Lage im Land mit sich bringen könne. Am 22.Oktober traf
der Schah in New York ein; am 1.November fand das Treffen in Algier statt, am 4.November wurde die US-Botschaft
in Teheran besetzt. Zum selben Zeitpunkt versicherte Yazdi Laingen im Außenministerium, dass sich die Situation in
wenigen Tagen entspannen werde. Tatsächlich trat Premierminister Bazargan jedoch am nächsten Tag zurück.
Die Geiselnahme war vor allem ein innenpolitisches Thema; sie zielte auf die provisorische Regierung und deren
Verbündete. Bazargan und seine Kollegen hatten gerade
eine Verfassung für die neue Demokratische Republik Iran
konzipiert. Sie wollten dem Land einen liberalen und pluralistischen Rahmen geben. Khomeini und seine Berater
entwarfen in der Zwischenzeit ihr eigenes Konzept einer
Islamischen Republik Iran. Bei dem heftigen Ringen beider
Lager ging es um nicht weniger als die künftige Machtstruktur und die politische Kultur des Landes. Viele der
politisch aktiven Gruppen, darunter auch einige eher gemäßigte und unpolitische Mullahs, befürworteten den Entwurf Bazargans. Diese Gruppen waren gegen Khomeinis
Doktrin der "Herrschaft der Geistlichen", die dieser in die
Verfassung aufnehmen wollte. Diese Doktrin hatte es in
der Geschichte des Iran noch nie gegeben, und sie war
auch nicht Teil der schiitischen Lehre.[17] Es handelte sich
um eine revolutionäre Innovation.
Irans Revolutionäre verteidigten den Angriff auf das "Nest
der Vipern", wie sie die US-Botschaft nannten, als Akt legitimer Selbstverteidigung gegen die teuflischen Absichten
des "Großen Satan" - die USA - und seines Verbündeten,
des "Kleinen Satan" Israel. Mit dem Reißwolf vernichtete
Dokumente, die auf dem Botschaftsgelände in Teheran
gefunden und akribisch wieder zusammengesetzt wurden,
sollten der Öffentlichkeit als Beweis für die konspirativen
Pläne der Amerikaner dienen, die diese angeblich mit Hilfe
der iranischen Verräter gegen die Nation schmiedeten.
Washington verurteilte diese offenkundige Verletzung internationalen Rechts in schärfster Form. Die Verhandlungen zwischen den Regierungen dauerten Monate. Die Hoff-
178
nung auf eine Freilassung der Geiseln zerschlug sich rasch
wieder. Gerüchte machten die Runde, dass die USA über
geheime Kanäle auch mit Mitgliedern aus Khomeinis Kreis
verhandelten. Im Frühjahr 1980, der Präsidentschaftswahlkampf war in vollem Gange, stand das Geiseldrama
ganz oben auf der politischen Agenda Carters.
Im April setzten die Entscheidungsträger zunehmend auf
eine militärische Lösung zur Beendigung der Geiselnahme.
Bis dahin hatte Washington keine Gelegenheit ausgelassen, um eine diplomatische Lösung der Krise herbeizuführen. Berichten zufolge "schien die militärische Besetzung
Afghanistans durch die Sowjetunion im Dezember 1978
erneute Beweise dafür geliefert zu haben, dass die USA
und Iran grundlegende Sicherheitsinteressen teilten, egal
wie weit ihre Politik auch voneinander abweichen mochte
(...) Zu diesem Zeitpunkt eine militärische Aktion gegen
Iran zu führen hätte zur politischen Destabilisierung regionaler Regierungen geführt und die amerikanischen Bemühungen um die Schaffung eines regionalen Sicherheitsrahmens unterbrochen"[18]. Sowohl Präsident Carter als
auch Außenminister Vance teilten die Haltung zur Außenpolitik im Allgemeinen und zur Sowjetunion im Besonderen. Sie glaubten an die Bedeutung der Diplomatie und
waren "grundsätzlich davon überzeugt, dass der Weg zum
Frieden über vorsichtige Kommunikation und fortgesetzte
Diskussion derThemen führe und nicht über wilde Drohungen"[19].
Das Scheitern aller Bemühungen veranlasste den nationalen Sicherheitsberater Brzezinski, die militärische Option
vorzubereiten. Jedoch misslang die Rettungsoperation am
24. April, über die in Abwesenheit von Außenminister Vance entschieden worden war. Schlechtes Wetter und technische Probleme brachten einen der eingesetzten Hubschrauber zum Absturz, weshalb Carter die Mission abbrechen musste. In den Meinungsumfragen stürzte der USPräsident deutlich ab, Außenminister Vance trat aus Protest gegen den Militäreinsatz zurück. Die diplomatischen
Verhandlungen wurden zwar fortgesetzt, aber sie gingen
nicht rasch genug voran, um Carters Wiederwahl zu sichern. Die Geiseln wurden schließlich am Tag der Amtseinführung Ronald Reagans - am 20. Januar 1981 - freigelassen.
Die Einzelheiten der Verhandlungen, die schließlich zur
Freilassung der amerikanischen Diplomaten führten, wurden erst nach dem Ende von Reagans Präsidentschaft bekannt. In der Amtszeit von George Bush sen. nahm sich
Gary Sick, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates unter
Carter und verantwortlich für die Iranpolitik, viel Zeit für
eine gründliche Untersuchung. Seine Analyse - zunächst in
Form einer Kolumne in der "New York Times" veröffentlicht
- bestätigte einige der wildesten Gerüchte, die im Herbst
1980 kursierten. Reagans Wahlkampfmanager hatten einen geheimen Deal mit einigen Beamten Khomeinis geschlossen: militärische Hilfe und Waffenlieferungen als
Gegenleistung für eine Verschiebung der Freilassung der
Geiseln bis nach den US-Präsidentschaftswahlen. Um "Überraschungen" auszuschließen, hatten Reagans Männer
die diplomatischen Bemühungen Carters sabotiert und die
Rettung der amerikanischen Diplomaten unnötig hinausgezögert. Der Bericht Sicks erschütterte die politischen Zirkel
Washingtons. Denn das umstrittene Buch brachte auch
George Bush sen. ins Spiel, der als Vize-Präsident angeblich von den geheimen Treffen mit iranischen Abgesandten
179
in Europa wusste.[20] Dementis und Anschuldigungen
folgten, und noch immer halten viele die Enthüllungen
Sicks für eine Konspirationstheorie. Waren sie das?
US-Außenpolitik, Wahlkampf und der Iran-ContraSkandal
Im September 1980 führte Saddam Hussein eine Invasion
gegen die ölreiche südiranische Provinz Khusistan durch.
Der Krieg sollte acht Jahre dauern, zwei Millionen Opfer
fordern und Milliarden von US-Dollar kosten. Beide Länder
gingen aus dieser Auseinandersetzung, in der es keinen
Sieger gab, geschwächt hervor. Beide Seiten erhielten
Waffen und logistische Unterstützung von den Vereinigten
Staaten; diese sahen in dem ersten Golfkrieg eine Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: erstens
Iran am Export seiner Revolution in die Region zu hindern
und zweitens allen Ambitionen Iraks vorzubeugen, das mit
dem Tod des Schahs entstandene Machtvakuum am Golf
zu füllen.
Der internationale Skandal während der Amtszeit Reagans
schien eine beunruhigende Tatsache zu bestätigen: die
Existenz einer geheimen Außenpolitik. Im Dezember 1986
veröffentlichte eine schiitische Zeitung in Beirut eine Geschichte, die beinahe zur Amtsenthebung des USPräsidenten geführt hätte. Der Bericht betraf amerikanische Geiseln, die in Südlibanon von radikalen schiitischen
Gruppen festgehalten wurden. In dem Artikel war von geheimen Verhandlungen zwischen Beamten des Weißen
Hauses, israelischen und iranischen Regierungsvertretern,
libanesischen, iranischen, saudischen und israelischen Mittelsmännern und internationalen Waffenhändlern die Rede.
Demnach hätten die Amerikaner zugesichert, Waffen und
Ersatzteile für militärisches Gerät im Austausch gegen die
Geiseln zu verkaufen. Diese Geheimtreffen fanden zu einer
Zeit statt, als Washington lauthals verkündete, es lehne
Verhandlungen mit Gruppierungen und Regierungen, die
internationales Recht missachteten, kategorisch ab. Berichten zufolge verwendete die US-Führung die Gewinne,
um die Untergrund-Aktivitäten der Contra-Rebellen in Nicaragua zu unterstützen, was der US-Kongress verboten
hatte. Der Iran-Contra-Skandal brachte verfassungswidrige
Handlungen ans Licht, die im Weißen Haus geplant und
entschieden worden waren: die illegale Finanzierung von
CIA-Operationen, die noch geheimer als üblich waren, und
die Einmischung nicht gewählter Beamter in hoch empfindliche internationale Angelegenheiten.
In den Gerichtsverfahren, die auf die Enthüllungen in der
Presse folgten, war von "rogue individuals" die Rede, von
"schurkischen Einzeltätern."[21] Die entscheidendere Frage, ob es rechtmäßig war, Angelegenheiten von so großer
internationaler Tragweite in solch unverantwortlicher Weise
zu handhaben, wurde dagegen nicht einmal gestellt.
Innere Widersprüche auf beiden Seiten
Die Politik Irans war von inneren Widersprüche gekennzeichnet. So nahm das Regime zu Beginn der Revolution
eine negative Haltung gegenüber Israel ein, baute aber
innerhalb weniger Monate enge Beziehungen zu Tel Aviv
auf. Während der Iran-Contra-Affäre denunzierte Teheran
Israel und versicherte den Iranern und allen Muslimen,
dass der Weg zur Befreiung Jerusalems über Bagdad führe.
Gleichwohl kaufte Iran für den Kampf gegen die muslimischen Brüder in Irak Waffen von Israel. Die Aufsplitterung
180
der politischen Macht in mehrere Fraktionen, die jeweils
über eine eigene wirtschaftliche und institutionelle Basis
verfügten, machte die Entscheidung schwierig, welcher
Gesprächspartner in den Dialog eingebunden werden sollte.
Neue Regierungen in den USA und in Iran brachten in den
späten achtziger und neunziger Jahren keine entscheidenden Veränderungen, weder für die diplomatischen Beziehungen noch in den politischen Standpunkten. Nach außen
hin beharrten beide Seiten auf ihren Positionen. 1987 erließ die Reagan-Regierung eine Importsperre für die meisten iranischen Güter, einschließlich Teppichen. 1989 verhärtete sich Washingtons Haltung gegenüber Iran im Zuge
der Salman-Rushdie-Affäre weiter. Viele gläubige Muslime
in Großbritannien und Indien hielten die Neuerscheinung
des Schriftstellers, die "Satanischen Verse", für antiislamisch. Khomeini verhängte eine Fatwa, ein religiöses Dekret, mit dem er den Autor zum Tode verurteilte. Menschenrechtsvertreter und Intellektuelle in Europa und den Vereinigten Staaten waren empört. Die Situation verschlimmerte sich, als muslimische Fanatiker Übersetzer des Buches
in Europa und Japan ermordeten, angeblich in Ausführung
der Anordnung Khomeinis. Rushdie musste sich viele Jahre
lang verstecken. Auch als die Demokraten unter Bill Clinton in den USA wieder an die Macht kamen, verbesserten
sich die amerikanisch-iranischen Beziehungen nicht. Der
Präsident räumte dem arabisch-israelischen Konflikt Vorrang ein, und einige proisraelische Berater ließen auch
weiterhin Annäherungsversuche gemäßigter iranischer
Kräfte abblitzen.
Mit den unbeweglichen Positionen auf beiden Seiten zog
die "Konfrontationsspirale", so Richard Cottam, an.[22]
Dabei stimmten beide Länder in einer Reihe von regionalen
Fragen überein, etwa hinsichtlich Afghanistans, im aserbaidschanisch-armenischen Konflikt und später gegenüber
Bosnien und Kosovo. Martin Indyk, Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat und früherer Direktor einer proisraelischen Denkfabrik, des Washingtoner Instituts für
Nahost-Politik, verkündete 1993 die neue Politik des "dual
containment", der doppelten Eindämmung von Iran und
Irak; diese ersetzte die bisherige Politik eines Machtgleichgewichts zwischen beiden Ländern. Sowohl Iran als auch
Irak galten nach dem Ende des ersten Golfkrieges sowie
nach dem Krieg der Alliierten gegen Irak als besonders
verwundbar.
Die neue Politik sollte diese Verletzbarkeit nutzen. Die "dual containment"-Politik nannte fünf Punkte, in denen Iran
sein Verhalten ändern sollte, bevor die USA einer Wiederannäherung zustimmen könnten: die Unterstützung des
internationalen Terrorismus, die Unterstützung für die palästinensische Organisation Hamas und die Zurückweisung
von arabisch-israelischen Friedensgesprächen, die Unterstützung für subversive islamische Bewegungen in der
ganzen Welt, die militärische Aufrüstung und der Erwerb
von Massenvernichtungswaffen.[23] Alle amerikanischen
Entscheidungen in Bezug auf Iran waren von dieser Strategie bestimmt; damit waren auch die vorsichtigen Versuche Irans obsolet, die Beziehungen zu den USA zu verbessern. US-Außenminister Warren Christopher bezeichnete
Iran vor dem Senat als international geächteten Staat und
setzte das Land mit Irak gleich. Er wies mehrfach auf die
Notwendigkeit eines Regimewechsels in beiden Ländern
181
hin.
Die Medien brachten nahezu täglich Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Iran, über die iranische Zurückweisung des Existenzrechts Israels und die Unterstützung des Landes für den Terrorismus. Einige US-Vertreter
waren mit dieser Dämonisierung des Landes nicht einverstanden und argumentierten, es sei Iran, das bedroht und
international isoliert sei.[24] Der Umgangston blieb jedoch
unverändert hart, härter als unter allen vorangegangenen
Regierungen, ob demokratisch oderrepublikanisch. Paradoxerweise stiegen in den Jahren 1992 und 1993 die Exporte
der USA nach Iran und die Ölimporte aus Iran, was zu
öffentlicher Kritik der amerikanischen Hardliner führte. Am
30. April 1995 verkündete Clinton weitere Wirtschaftssanktionen gegen Iran. Die USA verhängten eine totale Sperre
über alle Importe und Exporte und blockierten die Kreditvergabe seitens internationaler Finanzinstitute, sowohl an
die iranische Regierung als auch an einzelne Bürger des
Landes. Am 25. Mai 1995 hielt der Direktor für Nahostund Südasien-Angelegenheiten des Nationalen Sicherheitsrates eine Rede, in der er die neuen Maßnahmen begründete. Er schloss: "Wir sind noch immer bereit, in einen
Dialog mit autorisierten Vertretern der iranischen Regierung einzutreten. Wir glauben, dass Druck und Dialog zusammenwirken können (...). Die Politik des Containment
(...) erfordert eine umfassende Reihe einseitiger Maßnahmen ebenso wie eine Reihe multilateraler Bemühungen."[25] Gary Sick äußerte bei diesem Treffen heftige
Kritik an den Sanktionen; er machte geltend, es gebe kein
"auslösendes Ereignis", das dies rechtfertige. Obwohl die
Vereinigten Staaten nun die einzige Supermacht seien,
könnten sie Iran ihren Willen nicht ohne die Unterstützung
vieler anderer Länder aufzwingen, die diplomatische und
wirtschaftliche Beziehungen zu Teheran unterhalten. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt, fügte Sick hinzu, gebe es nur
zwei Staaten, die der amerikanischen Strategie zustimmten: die USA und Israel. "Eine der Schwächen unserer
Politik", stellte er fest, "ist ihre Unverhältnismäßigkeit. Wir
sind dabei, gegen den Iran sehr viel härtere Sanktionen zu
verhängen, als wir gegen die Sowjetunion verhängt haben,
die eine tatsächliche Bedrohung der amerikanischen nationalen Sicherheit darstellte, besonders auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges." [26]
Der jetzige US-Präsident George W. Bush versprach im
Wahlkampf, er werde sich nicht mehr so intensiv der Nahostpolitik widmen wie sein Vorgänger Clinton. Zudem äußerte er die Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten
der Welt ein weniger arrogantes Gesicht zeigen und bescheidener auftreten müssten. Er vertraue auf mitfühlenden Konservatismus, so Bush junior. Inzwischen ist jedoch
deutlich geworden, dass er einen Krieg gegen Irak von
Beginn seiner Regierungszeit an als notwendig erachtete.
Bushs Kabinett und sein Beraterkreis bestehen aus Neokonservativen, die nun ihre Agenda umsetzen: globale
Hegemonie durch einseitige Handlungen sowie eine Verteidigungsstrategie, die weniger als in der Vergangenheit auf
Europa und die Vereinten Nationen baut und auf einer
manichäischen Weltsicht beruht. In seiner Rede zum
Amtsantritt bezeichnete Bush Iran, Irak und Nordkorea als
"Achse des Bösen". Die Tragödie vom 11. September 2001
hat den Irak-Krieg nicht ausgelöst; dieser stand bereits auf
der Agenda der Neokonservativen.[27] Ist Iran als nächstes Land an der Reihe? Die starke Beanspruchung der amerikanischen Ressourcen in Irak lässt daran zweifeln.
182
Mehr noch: Die meisten politischen Berater verneinen jede
Absicht eines Angriffs auf Iran und äußern ihr Vertrauen in
das iranische Volk, das sich früher oder später gegen das
Regime in Teheran erheben werde.
Die Politik im Kalten Krieg war rationaler, und die bipolare
Weltordnung ermöglichte die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung. Ideologische Auseinandersetzungen
sind kein Thema mehr; kulturelle und religiöse Konflikte
haben sie ersetzt. Samuel Huntington, dessen Thesen vom
"Zusammenstoß der Zivilisationen" zum Zeitpunkt ihrer
Veröffentlichung von einem Großteil der amerikanischen
Intellektuellen als erfunden und gefährlich zurückgewiesen
wurden, kann nun den Anspruch erheben, dass ihm die
Geschichte Recht gegeben habe. Hat sie das? Die Bücher,
die amerikanische neokonservative Gelehrte in den neunziger Jahren veröffentlicht haben, sagten in der Tat Chaos
und Anarchie voraus, religiöse und ethnische Kriege, eine
menschliche Gesellschaft, die auf den ursprünglichen Zustand des Überlebens der Stärkeren zurückgeworfen sei.
Handelt es sich also um eine "self-fulfilling prophecy"?
Fußnoten
5
Vgl. M. Gasiorowski/M.Byrne (Hrsg.), Mohammad Mossadeq and the 1953
Coup in Iran, Syracuse 2003; Stephen Kinzer, All the Shah's Men. An
American Coup and the Roots of Middle East Terror, Hoboken, N. J. 2003.
Vgl. Y. Alexander/A. Nanes (Hrsg.), The United States and Iran. A Documentary History, Washington, D. C. 1980, S. 93 - 99.
Vgl. B.R. Kuniholm, The Origins of the Cold War in the Near East, Princeton
1980, Kap. 5 und 6.
M. Gasiorowski, U.S. Foreign Policy and the Shah. Building a Client State in
Iran, Ithaca 1991, S. 55.
Ebd., S. 56.
6
Ebd., S. 80.
7
Vgl. ebd., S. 68f.
8
9
Vgl. J.A. Bill/W. M. Roger Louis (Hrsg.), Musaddiq, Iranian Nationalism, and
Oil, Austin 1988.
Vgl. ebd., S. 192.
10
Vgl. J.L. Gaddis, Strategies of Containment, New York 1982, Kap. 5.
11
12
U.S. National Security Council, U.S. Policy toward Iran (NSC 5504), January
15, 1955, S. 1, zit. in: M. Gasiorowski (Anm. 5), S. 95.
Vgl. ebd., S. 98.
13
Vgl. ebd.
14
Nicht genannte Quelle, zit. in: G. Sick, All Fall Down: America's Tragic
Encounter with Iran, New York 1986, S. 16.
Ebd., S. 47.
1
2
3
4
15
18
Vor einigen Jahren sendete das ABC-Fernsehen eine Serie von Berichten
zur eigenen Berichterstattung des Senders über die iranische Revolution
und die Geisel-Krise. Die darin interviewten Kameraleute gaben zu, dass sie
sich vor allem auf die Menschenmenge konzentriert hätten, die antiamerikanische Slogans rief, um das auf dem Bildschirm dargestellte extremistische Klima zu unterstreichen, während nur wenige Meter vom Botschaftsgebäude entfernt die Menschen ihren normalen Alltagsgeschäften
nachgingen, ruhig und gleichgültig gegenüber der Botschaftsszene.
Vgl. Mangol Bayat, The Iranian Revolution of 1978 - 79: Modern or Fundamentalist?, in: Middle East Journal, (1983). Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung bezeichneten viele Wissenschaftler, einschließlich des Herausgebers der Zeitschrift, diesen Artikel als "umstritten". Heute stellt diese
Analyse die allgemeine Sicht dar.
G. Sick (Anm. 15), S. 331.
19
Ebd., S. 342.
20
Vgl. ders., October Surprise: American Hostages and the Election of Ronald
Reagan, New York 1991; R. Parry, Trick or Treason: The October Surprise
Mystery, New York 1993.
16
17
183
21
22
Vgl. A. Ben-Menashe, The Profits of War: Inside the Secret US-Israeli Arms
Network, New York 1992; Leslie Cockburn, Out of Control, London 1987;
J.Marshall/P.D. Scott/J.Hunter, The Iran-Contra Connection: Secret Teams
and Covert Operations in the Reagan Era, Boston 1987; J. Tower/E.
Muskie/B. Scowcroft, The Tower Report, New York 1987; S. Segev, The
Iranian Triangle, New York 1988.
R. Cottams (Anm. 1).
25
Diese Politik wurde zuerst in einer Rede vor dem Washington Institute
angekündigt und dann in dessen Zeitschrift veröffentlicht: Policy Watch,
(1993) 84. Eine ähnlich harte Linie findet sich auch bei Patrick Clawson,
Iran's Challenge to the West: How, When? Why?, in: Policy Paper, (1993)
33.
Vgl. The Clinton Administration and the Future of US-Iran Relations, in:
Middle East Insight, (1993) 3.
Middle East Policy Council, Washington, D. C., 25. Mai 1995.
26
Ebd.
27
Das "Projekt für das Neue Amerikanische Jahrhundert" ist eine Gruppe, die
1997 gegründet wurde, angeführt von William Kristoll and Robert Kagan.
Kagan schrieb zusammen mit Garry Schmitt and Thomas Donnelly den
Bericht "Rebuilding America's defenses", der im Jahr 2000 veröffentlicht
wurde. Es ist die Ausarbeitung eines Entwurfes für eine Verteidigungsstrategie, die Dick Cheney 1992 verfasst hatte, als er Verteidigungsminister in
der Regierung von Bush Senior war. Letzterer hatte diesen Bericht rasch
unterdrückt. Vgl. A. Schlesinger, Eyeless in Iraq, in: New York Review of
Books vom 22. September 2002.
23
24
XII. Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
Auswärtiges Amt, www.auswaertiges-amt.de
-
The Middle EastGenWeb Project, A WorldGenWeb Project,
http://www.rootsweb.com/~mdeastgw/iran.html
Literatur:
-
APuZ B 9/2004 (Iran), online unter:
http://www.bpb.de/publikationen/E43WP8,0,0,Iran.html
-
Irans Reformer und Hardliner messen Kräfte, in: Financial Times Deutschland Online, online unter:
http://www.ftd.de/cms/gate2?pStyle=plainhtml&pAssetID=107701164573
8&pAssettype=FtdArticle
-
Länderbeitrag Iran, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
184
Saudi-Arabien
I.
Geographische Karte
Quelle: Globaldefence.net – Das Netzwerk für Politik, Militär und Hintergründe
http://www.globaldefence.net/index.htm?http://www.globaldefence.net/deutsch/nahost/saudiarabie
n/saudiarabien.htm
185
II.
Basisdaten
Quelle: Auswärtiges Amt
Stand: März 2004
Ländername
Königreich Saudi-Arabien; Al-Mamlaka alArabia as-Saudia
Klima
Überwiegend arides Wüstenklima, in Meeresnähe hohe Luftfeuchtigkeit, geringe Bergwaldbestände im äußersten Südwesten
Lage
Arabische Halbinsel
Größe des Landes
2,15 Mio. qkm, sechsmal so groß wie Deutschland (ca. 80 % der arabischen Halbinsel)
Hauptstadt
Riad (ca. 5 Mio. Einwohner)
Bevölkerung
Über 22 Mio. Einwohner, davon ca. 6 Mio.
legal im Land lebende Ausländer, besonders
aus arabischen Ländern (v.a. Ägypten, Jordanien, Sudan) und aus Südasien (v.a. Pakistan,
Indien, Philippinen, Indonesien), Wachstumsrate: 3,5 % (eine der höchsten der Welt)
Landessprache
Arabisch, als Geschäftssprache ist zusätzlich
Englisch verbreitet
Religion
Islam (Staatsreligion; überwiegend wahhabitische Sunniten); schiitische Minderheiten hauptsächlich in der Ostprovinz
Nationaltag
23. September
Unabhängigkeit
1932 Proklamation des Königreichs SaudiArabien
Regierungsform
Absolute Monarchie auf religiöser Grundlage
Staatsoberhaupt und
Regierungschef
König Fahd bin Abdulaziz Al Saud (Titel:
"Diener der beiden Heiligtümer")
186
Außenminister
Prinz Saud al-Faisal
Parlament
Kein Parlament, aber Beratende Versammlung
("Madjlis al-Shura"), 120 Mitglieder, vom König ernannt
Regierungspartei
Keine
Opposition
Keine
Gewerkschaften
Keine
Verwaltungsstruktur
13 Provinzen, gegliedert in Bezirke und Unterbezirke. An der Spitze der regionalen Verwaltung stehen Emire im Ministerrang
Mitgliedschaft in
internationalen Organisationen
Vereinte Nationen und Sonder-Organisationen,
OPEC, OAPEC, Arabische Liga, Organisation
der Islamischen Konferenz (OIC; Sitz Djidda),
Muslim World League (MWL; Sitz Mekka),
Golf-Kooperationsrat (Gulf Cooperation Council, GCC; Generalsekretariat in Riad)
Wichtigste Medien
Staatlicher Rundfunk und Fernsehen (u.a. Satellitenkanal "Al Ikhbaria"); Tageszeitungen:
"Al Watan", "Asharq Al Awsat", "Okaz", "Ar
Riyadh", "Arab News"
Bruttoinlandsprodukt
ca. 185 Mrd. USD
Pro-KopfEinkommen
ca. 8.400 USD
III.
Geschichte bis 1990
-
Bis 7. Jh.
Vorislamische Zeit, reiche archäologischer Funde aus prähistorischer Zeit und
Antike (z.B. Dilmun-Kultur an der nördlichen Golfküste, Nabatäer-Reich im
Nordwesten)
-
Seit 7. Jh.
Prophet Mohammed, Arabien rückt in den Mittelpunkt der Weltgeschichte.
Entstehung des Islam in Mekka und Medina und sein von den arabischen Heeren
getragener Siegeszug im 7. und 8. Jahrhundert sind die entscheidenden Bezugs-
187
punkte des nationalen und religiösen Selbstverständnisses auch des heutigen, noch
relativ jungen Staates Saudi-Arabien.
-
7.-14. Jh.
Die aus dem Hedschas hervorgegangene arabische und islamische Kultur hatte
ihre Blütezeit. Bereits unter den ersten Kalifen, den geistlichen und weltlichen
Nachfolgern Mohammeds, verlagerte sich der Schwerpunkt des arabischislamischen Kulturkreises wieder von der Arabischen Halbinsel in die Kerngebiete der vorislamischen Hochkulturen, vor allem das Zweistromland und Ägypten.
-
Ab 16. Jh. bis 1. Weltkrieg
Arabische Halbinsel gehörte teilweise zum Osmanischen Reich.
-
Anfang 20. Jh.
Abdulaziz bin Abdulrahman bin Faisal Al Saud, genannt Abdulaziz Ibn Saud, ein
Stammesführer aus dem zentralen Nedschd, erobert unter dem Banner des Wahhabismus, einer im 18. Jhdt. von Sheikh Mohammad Bin Abdul Wahhab gegründeten puritanischen Reformlehre des Islam, den Großteil der Halbinsel
-
1932
Proklamation des Königreichs Saudi-Arabien
-
1938
Aufnahme der Erdölförderung
-
1944
Aufnahme des Ölexports
-
Seit 70er Jahren
Wirtschaft, Infrastruktur und Erziehungswesen entwickeln sich stürmisch und
verliehen dem Königreich wachsendes wirtschaftliches und politisches Gewicht.
Quelle: Auswärtiges Amt; online unter: http://www.auswaertigesamt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=9&land_id=146
IV.
innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
Die innenpolitische Entwicklung Saudi-Arabiens zu Beginn der 1990 war geprägt
von der Irak-Krise und der irakischen Invasion Kuwaits. Saudi-Arabien fühlte sich
durch die zunehmende Stationierung irakischer Truppen an der saudisch188
irakischen Grenze zunehmend bedroht. Ein Angebot Osama Bin Ladens, mit Hilfe
ehemaliger Afghanistan-Kämpfer Saudi-Arabien vor den irakischen Aggressor zu
schützen, lehnte König Fahd ab. Stattdessen bat der die USA um Hilfe. Dem Hilferuf kamen die Amerikaner nach und stationierten 500.000 Soldaten in SaudiArabien. Die Stationierung „ungläubiger“ Soldaten (darunter auch viele Soldatinnen) im Land von Mekka und Medina, stieß sowohl bei weiten Teilen der eigenen
Bevölkerung, als auch bei Teilen der Königsfamilie und Geistlichen auf Ablehnung. König Fahd und die Herrscherfamilie insgesamt gerieten innenpolitisch
während der Irak-Krise und des anschließenden Krieges zunehmend unter Druck.
Oppositionsgruppen sahen in der Stationierung amerikanischer Truppen eine
„Entweihung“ und warfen der Saudi-Dynastie „Verrat am Islam“ vor. Kassetten
mit Polemiken gegen die Saudi-Dynastie zirkulierten durch die Moscheen und
Gemeinden.
Der Aufmarsch mehrerer hunderttausend amerikanischer Truppen im bis dahin
weitestgehend von westlichen Einflüssen abgeschirmten Saudi-Arabien blieb innenpolitisch nicht ohne Folgen. So mussten saudische Behörden erstmals die Einfuhr von Bibeln genehmigen und die Abhaltung christlicher Gottesdienste zulassen. Durch das selbstbewusste Auftreten amerikanischer Soldatinnen kam es häufig zu Zwischenfällen mit der religiösen Sittenpolizei. Am 6.11.1990 kam es in
Riad zu einer Demonstration von 70 Frauen, die gegen das für sie geltende generelle Fahrverbot für Frauen demonstrierten. Auch die saudischen Medien erlebten
während der Golfkrise einen Liberalisierungsschub. Am 1.9.1990 plädierte die
Zeitung Arab News in einem Leitartikel für die Pressefreiheit „als einzigen Weg,
um künftige Saddam Husseins zu stoppen“ (NJ 1990).
Das von Seiten liberaler und islamistischer Kräfte unter Druck geratene saudische
Königshaus reagierte mit dem Versprechen einer „baldigen“ Einberufung einer
konsultativen Versammlung (der sog. Shura). Da ähnliche Versprechen von saudischen Königen bereits 1962, 1979 und 1980 gemacht und niemals eingelöst
wurden, wurde die Ankündigung von Kritikern und Oppositionellen skeptisch
aufgenommen.
Auch nach dem Golfkrieg nahmen die Kritik und die Forderungen nach Reformen
nicht ab. Im April 1991 wurde in ägyptischen Zeitungen eine an den König gerichtete Petition von 43 Vertretern der Hochschulen und der Geschäftswelt veröffentlicht, in der diese eine beratende Versammlung, grundsätzliche Trennung von
administrativen und religiösen Instanzen, eine Reform der Religionspolizei und
189
Pressefreiheit forderten. Zudem sollte die Frau die gleichen Rechte genießen wie
der Mann. Eine ähnliche Petition wurde im Mai mit den Unterschriften von 400
Rechtsgelehrten (ulama), Imamen und Professoren dem Herrscher vorgelegt.
Nach dem Golfkrieg reagierte das Herrscherhaus auf Kritik mit repressivem Vorgehen, welches sich vor allem in einem rigorosen Vergehen der Religionspolizei
gegen alle, die ihrer Meinung nach die religiösen Vorschriften zu wenig beachteten, bemerkbar machte.
Durch den Golfkrieg und dessen Folgen erhielten die Islamisten in Saudi-Arabien
weiteren Auftrieb. Ihre Botschaften übermittelten sie durch Kassetten, die durch
religiöse Zentren und Moscheen zirkulierten. Hauptkritikpunkte der Islamisten
waren die Stationierung von „Ungläubigen“ im Land von Mekka und Medina, die
Unterstützung eines Krieges gegen ein arabisches Bruderland und die Unterstützung der Nahost-Friedensgespräche. Auch innenpolitische Missstände wie Korruption, Zensur und die Vergeudung von öffentlichen Geldern wurden angeprangert. Zudem stellten Islamisten die Legitimität der (Erb-) Monarchie offen in Frage. Die Tatsache, dass die Vorwürfe der Islamisten von vielen Vertretern der offiziellen Geistlichkeit geteilt wurden, bedrohte die Autorität und Legitimität der
Königsherrschaft insgesamt. König Fahd warne die Islamisten, gewisse Grenzen
nicht zu überschreiten, sonst müsse er zu anderen Methoden greifen (NJ 1992).
Am 1.3.1992 erließ König Fahd drei Dekrete, welche zum einen die Bildung des
bereits 1990 angekündigten Konsultativrates, zum anderen die Erlassung eines
Grundgesetzes und einer Provinzordnung vorsah. Dies war freilich keine demokratische Entwicklung im eigentlichen Sinn, bedeutete aber dennoch gemessen an
der bisherigen saudischen Politik einen großen Einschnitt. Der Konsultativrat bestand aus einem Vorsitzenden und 60 Mitgliedern (1997 auf 90 Mitglieder erhöht), welche vom König ernannt wurden. Der Konsultativrat hat ausschließlich
beratende Funktion. Seine „Macht“ beschränkt sich auf die Beratung und die Unterstützung der Regierung, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zudem
soll er internationale Abkommen erörtern, die Jahresberichte der Ministerien und
anderer Regierungsinstitutionen prüfen und Empfehlungen dazu aussprechen. Er
kann Gesetzesentwürfe und –änderungen ausarbeiten, welche von mindestens 10
Mitgliedern eingebracht und vom Vorsitzenden an den König weitergeleitet werden.
190
Das Grundgesetz weist das Herrschaftssystem als monarchisch aus. Die Wahl des
Thronnachfolgers bleibt weiterhin dem Königshaus vorbehalten. Durch Einbeziehung der Enkel des Reichsgründers wurde die Zahl des Wahlgremiums auf 500
erhöht. Die Rechte des Bürgers werden erheblich gestärkt. Das Recht der Regierung, zu verhaften und zu bestrafen, wird eingeschränkt. Dies richtet sich vor allem gegen die in die Kritik geratene Willkür der Religionspolizei. Private Wohnungen dürfen nur noch mit Zustimmung des Besitzers betreten werden.
Die neue Provinzordnung sollte die Effizienz der Verwaltung und die Entwicklung der Provinzen fördern. Jeder Provinz steht ein Emir vor, der dem Innenministerium verantwortlich ist. Zudem soll in jeder Provinz ein Provinzrat eingesetzt
werden, bestehend aus dem Emir, Vertretern der Administration und zehn Vertretern der Öffentlichkeit.
Trotz der innenpolitischen Reformen wurde weiterhin Kritik am bestehenden System geübt. Im Juli 1992 richteten 105 religiöse Würdenträger, Theologen und
Rechtsgelehrte ihr „Memorandum der Ermahnung“ an den König, in dem sie die
Zustände im Lande (v. a. Korruption in der Verwaltung und die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Missstände) anprangerten. Sie forderten die Annullierung
sämtlicher Militärverträge, die die Souveränität des Landes berührten, die Abzug
sämtlicher ausländischer Truppen, die vollständige Trennung von Exekutive und
Judikative, die Beseitigung der staatlichen Kontrolle über die theologische Lehre
und völlige Meinungsfreiheit.
Anfang Mai 1993 wurde die Gründung des Komitees zur Verteidigung der legitimen Rechte (KVLR) durch sechs saudische Intellektuelle unter der Führung von
Abdallah al Mas’ari bekannt gegeben. Diese Oppositionsgruppe, die der fundamentalistischen (islamistischen) Bewegung nahe stand, welche bereits durch das
„Memorandum der Ermahnung“ auf sich aufmerksam machte, wurde kurze Zeit
später vom Ältestenrat der Ulema, der höchsten religiösen Instanz in SaudiArabien, als illegal eingestuft und verboten. Ein Jahr später gründete sich das
KVLR in London neu, weil in Saudi-Arabien alle „Möglichkeiten und Methoden
der freien Meinungsäußerung und der Reform“ unmöglich seien (NJ 1994). Das
KVLR rief alle saudischen Bürger zum Widerstand gegen das Unrechtsregime
auf, bis die „Unterdrückung beseitigt und Gleichheit und Gerechtigkeit erreicht“
seien (NJ 1994). Zu den Mitgliedern des KVLR gehörte unter anderem Osama
Bin Laden, welcher bereits einige islamistische Aktivitäten in Saudi-Arabien geleitet hatte. Bin Laden, der sich seit 1992 im Exil im Sudan befand, wurde die
191
saudische Staatsangehörigkeit aberkannt. Die Staatsführung reagierte auf die
Gründung des KVLR mit Verfolgungen und Verhaftungen von Mitgliedern und
Sympathisanten. Einigen dem KVLR nahe stehenden Universitätsprofessoren
wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Der KVLR in London berichtete über Massenverhaftungen von über 1500 Personen.
In den kommenden Jahren spitzte sich die Konfrontation zwischen Regierung und
Opposition weiter zu. Verstärkt kam es nun auch zu Terroranschlägen. Am
13.11.1995 kam es zu einem schweren Attentat in Riad, bei dem eine Autobombe
6 Personen tötete und über 60 verletzte. Unter den Toten befanden sich 5 Amerikaner. Der Anschlag lenkte die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf den KVLR,
welcher jegliche Beteiligung abstritt, die Anschläge allerdings auch nicht verurteilte. 1996 kam es zu einem erneuten schweren Terroranschlag. Am 25.6.1996
explodierte eine Bombe in einer Kaserne in Khubar. 19 Amerikaner wurden getötet und über 300 Personen (darunter 147 Saudis) wurden verletzt. Als möglicher
Hintermann und Organisator wurde Osama Bin Laden vermutet. Aber auch Oppositionsgruppen der unterdrückten, schiitischen Minderheit unter Beteiligung des
Iran wurde verdächtigt. Eine Beteiligung des KVLR von al Mas’ari war unwahrscheinlich, weil die Gruppe aufgrund innerer Streitigkeiten und finanzieller
Schwierigkeiten kaum noch Einfluss hatte. In einem Interview mit dem amerikanischen Nachrichtensender CNN erklärte Bin Laden am 11.5.1997 den in SaudiArabien stationierten US-Soldaten den Jihad (Heiligen Krieg) und forderte amerikanische Zivilisten zum Verlassen Saudi-Arabiens auf.
Aber nicht nur der Terror, sondern auch der Gesundheitszustand des Königs drohte das Land zu destabilisieren. Als König Fahd im Dezember 1995 erstmals in ein
Krankenhaus eingeliefert wurde, kamen Spekulationen über die Nachfolge und
die Frage, inwieweit der Übergang auf den Nachfolger ohne innenpolitische Probleme vonstatten gehen würde, auf. Anfang 1996 gab der König die Amtsgeschäfte
an den Kronprinzen Abdallah ab. Mitte Februar nahm der König die Amtsgeschäfte wieder an sich, angeblich wegen Differenzen zwischen dem Kronprinzen
und anderen Mitgliedern des Königshauses, insbesondere im Hinblick auf die Politik Saudi-Arabiens gegenüber den USA. Es war bekannt, dass Kronprinz Abdallah die enge Zusammenarbeit Saudi-Arabiens mit den Vereinigten Staaten kritischer sah, als König Fahd oder Verteidigungsminister Sultan. Allerdings verschlechterte sich im Laufe der Jahre der Gesundheitszustand des Königs, so dass
192
Abdallah mehr und mehr die Amtsgeschäfte übernahm, sich um die Tagespolitik
kümmerte und Saudi-Arabien international anstelle des Königs vertrat.
V.
Außenpolitische Entwicklung 1990 – 2001
Außenpolitisch stand die Entwicklung Saudi-Arabiens zu Beginn der 1990er Jahre
ganz im Zeichen der Irak-Krise. Saudi-Arabien weigerte sich, die Forderung Iraks,
die Ölförderungen zu drosseln, um den Ölpreis zu erhöhen, zu erfüllen. Dies ermutigte auch Kuwait, dem irakischen Druck nicht nachzugeben.
Während des Irak-Krieges spielte Saudi-Arabien neben den Alliierten, Kuwait
und Irak eine Hauptrolle, da es sich von Irak bedroht fühlte und daher die USA,
trotz innenpolitischen Widerstands, um Hilfe bat. Die USA nutzten daraufhin
Saudi-Arabien als Aufmarschgebiet für die Befreiung Kuwaits. Der Irak-Krieg
war in der arabischen Welt nicht unumstritten. Gerade Jordanien und die PLO
verurteilten den Krieg gegen den Irak und die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien. Nach dem Irak-Krieg genoss Saudi-Arabien aufgrund seiner Rolle im Irak-Krieg internationales Ansehen. Auch das Ansehen und die Autorität König Fahds in der Region erreichten nach dem Golfkrieg einen bis dahin
nicht gekannten Höhepunkt.
Nach dem Golfkrieg stand die Suche nach einer neuen Ordnung zur Sicherung des
Friedens und des bestehenden Kräftesystems im Vordergrund der Außenpolitik.
Um in Zukunft eine Bedrohung durch ein Land wie dem Irak zu verhindern, einigten sich die Länder des Golfkooperationsrates (GKR), Syrien, Ägypten und SaudiArabien am 6.3. 1991 auf eine gemeinsame Strategie (sog. DamaskusDeklaration). Zudem zog Saudi-Arabien aus dem Golfkrieg die Konsequenz, die
eigene Militärmacht stärken zu müssen, um das Land in Zukunft möglichst aus
eigener Kraft verteidigen zu können. Die USA befürchteten dadurch eine Veränderung im Kräftegleichgewicht des Nahen Ostens zugunsten Saudi-Arabiens und
lieferten (aus Rücksicht auf Israel) nur zögerlich von Saudi-Arabien bestellte Rüstungsgüter.
Die bilateralen Beziehungen zu den Ländern des Nahen Ostens waren nach dem
Irak-Krieg unterschiedlich gut und unterschiedlich intensiv. Grundsätzlich unterschied Saudi-Arabien in jene Staaten, welche Irak im Golfkonflikt unterstützte
(Jordanien, Sudan, Jemen und die PLO) und jene, die auf Seiten der USA (und
damit Saudi-Arabien) standen. Ersteren warf Saudi-Arabien „Verrat“ vor. Jene
193
Länder „bestrafte“ Saudi-Arabien in den folgenden Jahren, indem beispielsweise
Öllieferungen oder finanzielle Unterstützungen gekürzt wurden, oder indem ein
unterkühltes, bilaterales Klima aufrechterhalten wurde, was sich auf den gegenseitigen Handel auswirkte. Mit Jordanien und der PLO normalisierten sich die Beziehungen jedoch schnell wieder. Mit Jemen hingegen blieb das Verhältnis aufgrund bilateraler Grenzstreitigkeiten gespannt. Erst im Jahr 2000 konnte ein
Grenzvertrag mit Jemen unterzeichnet werden. Mit Ägypten und Syrien verbesserten sich die bilateralen Beziehungen. Die Länder sprachen sich vor allem im
Nahost-Konflikt und in der Palästina-Frage ab, unterstützten sich gegenseitig und
koordinierten ihre gemeinsamen Strategien. Trotz zeitweiliger Differenzen, die
meist durch negative Berichterstattung in der Presse über das andere Land ausgelöst wurden, blieb die „Achse Damaskus – Riad – Kairo“ über die 1990er Jahre
hinweg erhalten. Seit der Machtübernahme Mohammad Khatamis in Teheran
1997 gab es auch deutliche Entspannungen in den Beziehungen zum Iran. Es kam
zu den verschiedensten, vor allem wirtschaftlichen, Kooperationen. Auch die iranischen Pilgerquoten wurden mehr und mehr erhöht.
Die Beziehungen zum Irak brach Saudi-Arabien nach der irakischen Invasion in
Kuwait und den darauf folgenden Golfkrieg ab. Saudi-Arabien unterstützte die
USA in ihrer harten Haltung gegenüber Saddam Hussein und plädierte auch für
eine Beibehaltung des UN-Wirtschaftsembargos.
Den Kern des Problems im Nahen Osten sieht Saudi-Arabien in der PalästinaFrage. Deshalb beteiligte sich Saudi-Arabien aktiv am Friedensprozess. Allerdings glaubt Saudi-Arabien nicht daran, dass ein Frieden ohne die USA möglich
ist. Saudi-Arabien unterstützte daher die Friedensbemühungen der USA im Nahost-Konflikt. Überhaupt sieht Saudi-Arabien in den USA sowohl einen Garant für
dauerhafte Stabilität im Nahen Osten, als auch den wichtigsten außenpolitischen
Partner. Mit keinem anderen westlichen Land pflegt das Königreich so intensive
Beziehungen, wie zu den Vereinigten Staaten. Zum einen sind die Vereinigten
Staaten der wichtigste Handelspartner beim Erdölexport, zum anderen sind die
USA der mit Abstand wichtigste Lieferant für Rüstungsgüter. Die bilateralen Beziehungen der beiden Länder verschlechterten sich Mitte der 1990er Jahre, als die
Kritik und der Druck der islamistischen Opposition in Terroranschläge umschlugen, vor allem gegen Amerikaner und amerikanische Einrichtungen. In der amerikanischen Öffentlichkeit diskutierte man lebhaft über die innenpolitische Stabilität
des Königreiches, was bei der saudischen Führung zunehmend Verärgerung er194
zeugte. Zudem heizte der labile Gesundheitszustand von König Fahd, die Frage
der Nachfolge und ob der Übergang zum Nachfolger unblutig vonstatten gehe, die
Diskussion um die Stabilität Saudi-Arabiens an. Zudem sorgten Gerüchte über
unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der Königsfamilie, vor allem was die
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten anging, für Misstrauen beim amerikanischen Verbündeten. Nach dem de facto Scheitern des Friedensprozesses kritisierte
Saudi-Arabien verstärkt die israelische Siedlungspolitik und die Behandlung der
palästinensischen Bevölkerung durch Israel. Der saudische Außenminister Prinz
al-Faisal betonte 1998 den Zusammenhang zwischen der Weigerung der irakischen Führung, die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates zu befolgen und der Ignorierung der Beschlüsse des UNO-Sicherheitrates durch Israel. Indirekt schloss er
sich damit der in der arabischen Öffentlichkeit weit verbreiteten Kritik an der
„doppelgleisigen“ Nahost-Politik der USA an (NJ 1998). Saudi-Arabien kritisierte
auch den Beschluss des US-Kongresses aus dem Jahre 1997, Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israel anzuerkennen. Dies bedeute nicht nur eine Missachtung
der UNO-Beschlüsse, sondern ignoriere auch den muslimischen Anspruch auf
Jerusalem (NJ 1997). Saudi-Arabien versuchte durch verschiedene Initiativen
(„Land für Frieden“) den Nahost-Friedensprozess wieder in Gang zu bringen und
machte sich damit zu einem glaubhaften Partner im Nahost-Friedensprozess, der
ein ernsthaftes Interesse am Frieden signalisierte. Von den USA distanzierte sich
Saudi-Arabien, vor allem seitdem Prinz Abdallah die Regierungsgeschäfte de facto übernahm, jedoch mehr und mehr, wohl auch aufgrund des wachsenden innenpolitischen Drucks. Denn die saudische Bevölkerung erwartete von ihrer Führung
eine stärkere Unterstützung der Palästinenser (NJ 2001). Nach Ansicht SaudiArabiens war die einseitig pro-israelische Haltung der USA die Ursache für die
Unbeugsamkeit Israels. Seit Beginn der al-Aqsa-Intifada im Herbst 2000 unterstützte Saudi-Arabien die palästinensische Seite. Das Saudische Komitee zur Unterstützung der al-Aqsa-Intifada unter Vorsitz des saudischen Innenministers Nayif verteilte Hilfeleistungen an die Familien der Märtyrer, Gefangenen und Verwundeten (NJ 2001). Zudem wurden palästinensische Organisationen finanziell
unterstützt. Am 8.11.2001 bestätigte der ehemalige saudische Geheimdienstchef
Prinz Turki, dass Kronprinz Abdallah einen Brief an US-Präsident Bush geschrieben habe, in dem er warnte, dass die bilateralen Beziehungen aufgrund der Entwicklungen im Nahostkonflikt an einem Wendepunkt angekommen seien (NJ
2001).
195
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 geriet das Königreich aufgrund der Tatsache, dass 15 der 19 Attentäter saudische Staatsbürger waren, erneut in die Kritik. Amerikanische Medien beklagten die fehlende saudische Kooperation bezüglich der Sperrung von Konten, die der Finanzierung des Terrorismus dienten (NJ 2001). Bis zum Ende des Jahres 2001 bestritt die saudische Führung, dass es sich bei den Attentätern tatsächlich um saudische Staatsangehörige
handele. Das Königreich versuchte sich zum einen damit zu verteidigen, dass es
sich grundsätzlich der „Anti-Terror-Koalition“ anschloss, zum andern wurde immer wieder betont, dass der Kopf der al-Kaida und mutmaßliche Organisator und
Finanzier der Anschläge, Osama Bin Laden, bereits 1994 die saudische Staatsbürgerschaft verloren habe (NJ 1994; NJ 2001). Saudi-Arabien unterstellte den westlichen Medien eine „Schmutzkampagne“.
Der Beginn des Afghanistan-Krieges verschlechterte die Beziehungen zu den
USA weiter. Im Vorfeld der Kampfhandlungen hatte Saudi-Arabien erklärt, keine
logistische Hilfe zu leisten. Lediglich der saudische Luftraum dürfe überflogen
werden. Den in Saudi-Arabien stationierten US-Kampfflugzeugen wurde von der
saudischen Führung die Teilnahme an den Kampfhandlungen untersagt, was eine
deutliche Beeinträchtigung der amerikanischen Kriegsvorbereitungen bedeutete.
Nach dem Afghanistankrieg näherten sich die USA und Saudi-Arabien, wohl auch
aufgrund der gemeinsamen ökonomischen Interessen, wieder an. US-Präsident
Bush führte auf seiner Ranch in Texas lange Gespräche mit Kronprinz Abdallah.
Anschließend bestätigten beide Seiten das Ende der Krise in den saudischamerikanischen Beziehungen. Saudi-Arabien hatte eine neue Rolle erhalten: vom
Alliierten gegen den Kommunismus in Zentralasien war es zum Sprecher der Araber geworden (NZZ vom 8.6.2002).
VI.
Bevölkerung
Es ist äußerst schwierig zu sagen, welche Einstellung ein Großteil der saudischen
Bevölkerung zum saudischen Staat und zur saudischen Politik einnimmt, da es
dazu nur wenige Erkenntnisse gibt. Denn nach offizieller wahabidischer Lehre
führt die sharia (die islamischen Gesetze) zu einer gerechten Gesellschaft, in der
Opposition und Pluralismus nicht notwendig ist.
Es gibt jedoch einige Daten, aus denen man Denkweisen und Einstellungen der
saudischen Bevölkerung ableiten kann.
196
a) Arbeitslosigkeit
Nach offiziellen Angaben betrug die Arbeitslosenquote im Jahr 2001 15 Prozent.
Nach inoffiziellen Schätzungen betrug sie aber bis zu 30 Prozent (NJ 2001). Von
der Arbeitslosigkeit scheinen vor allem Jugendliche betroffen zu sein. Dies lässt
auf massive sozioökonomische Probleme schließen, die sich aufgrund der massiven Bevölkerungsexplosion (3 Prozent Bevölkerungswachstum pro Jahr) noch
verschärfen werden. Die saudische Regierung versucht dieses Problem durch
„Saudisierung“ des Arbeitsmarktes (Verringerung der in Saudi-Arabien arbeitenden Ausländer) in den Griff zu bekommen. Zudem versucht die Regierung durch
vorsichtige Reformen der Wirtschaft neue Impulse zu schaffen, um dadurch neue
Arbeitsplätze zu schaffen. Seit Jahren versucht die saudische Regierung eher erfolglos, den Staat aus der Abhängigkeit vom Ölexport zu befreien, indem man
andere Wirtschaftszweige fördert. Auch dadurch sollen neue Arbeitsplätze entstehen. Weltbank und IWF betrachten die saudische Wirtschaftspolitik allerdings als
unzureichend, da die Hauptprobleme des Landes, Abhängigkeit vom Öl und der
große Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, dadurch nicht gelöst würden.
b) soziale Ungleichheit
Nach einer Erhebung des Ministeriums für öffentliche Arbeit und Wohnungswesen aus dem Jahre 2000 (siehe NJ 2000) hatten rund 40 Prozent der Familien ein
monatliches Einkommen von weniger als 6000 SR (ca. 1300 Euro) und nur 9 Prozent der Familien verfügten über ein höheres Einkommen, während 51 Prozent
über gar kein festes Einkommen verfügten. Geht man davon aus, dass die Familien ohne festes Einkommen in aller Regel auch weniger als 6000 SR monatlich zur
Verfügung haben, bedeutet das, dass 91 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger arm sind (da man aus der Statistik nicht herauslesen kann wie viel weniger
als 6000 SR die Familien zur Verfügung haben), während eine Minderheit von 9
Prozent entweder als gut verdienend oder als äußerst wohlhabend gelten kann.
c) Islamismus
Islamisten werfen der saudischen Königsfamilie vor, sich selbst nicht an die sharia zu halten, während sie bei der Bevölkerung auf eine strenge Einhaltung der
islamischen Gesetze achtet. Sie werfen der saudischen Monarchie Korruption,
Geschäftemacherei mit dem „ungläubigen“ Westen und einen „unislamischen“,
197
westlichen Lebensstil vor. Hinzu kommt, dass amerikanische Truppen in SaudiArabien stationiert sind und dass die saudische Führung während des NahostFriedensprozesses mit dem „zionistischen Feind“ (Israel) verhandelt hat. Das 15
der 19 Attentäter des 11. September saudische Staatangehörige waren und die
Tatsache, dass die Attentäter alle aus den ärmeren Provinzen (Hijaz und Asir) im
Südwesten des Landes kamen ist ein Indiz dafür, dass die islamistische Kritik an
der bestehenden Ordnung zumindest in den ärmeren Provinzen auf Sympathien
trifft. Dies deutet auf schwerwiegende, innere Konflikte hin.
VII. Politische und ökonomische Interessen
Saudi-Arabien nimmt für sich aufgrund der Funktion als „Hüter der heiligen Stätten“ Mekka und Medina eine Führungsrolle in der (sunnitischen) islamischen
Welt in Anspruch. Diese Führungsrolle versucht Saudi-Arabien unter anderem
durch massive Expansion der wahabidischen Lehre (eine strenge, fundamentalistische Interpretation des Islam, auf der sich der saudische Staat stützt) zu verwirklichen, indem es Koranschulen im Ausland gründet und finanziert. Kritiker werfen
Saudi-Arabien vor, in diesen fundamentalistisch orientierten Koranschulen auch
einen ideologischen Nährboden für (gewaltbereiten) Islamismus geschaffen zu
haben, welcher sich in letzter Konsequenz auch gegen den saudischen Staat selbst
richtet.
Eine der außenpolitischen Hauptinteressen von Saudi-Arabien ist eine Lösung des
Nahost-Konfliktes. Saudi-Arabien sieht im Nahostkonflikt die Hauptursache für
die Instabilität der Region. Die von der arabischen Bevölkerung wahrgenommene
Unterdrückung der Palästinenser durch Israel bringe den Islamisten Sympathien
ein, was wiederum die innenpolitische Stabilität des eigenen Landes gefährde.
Eine Lösung des Nahostkonfliktes ist auch ein sicherheitspolitisches Interesse
Saudi-Arabiens, um die dauerhafte, innenpolitische Stabilität zu sichern und zu
gewährleisten.
Mitte der 1990er Jahre arbeitete Saudi-Arabien daher aktiv am Friedensprozess
mit. Mit dem Ausbruch der al-Aqsa-Intifada unterstützte Saudi-Arabien den Aufstand der Palästinenser, da aus der Sicht Saudi-Arabiens die Behandlung der Palästinenser durch Israel der Hauptgrund für das Scheitern des Friedensprozesses
war. Gleichzeitig konnte Israel seine harte Haltung gegen die Palästinenser nur
aufrechterhalten, weil sie von den USA einseitig unterstützt wurden, so die saudi198
sche Sichtweise. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 drängte
Saudi-Arabien, als Reaktion auf Ariel Sharons Definition, das harte Vorgehen
gegen die Palästinenser sei Teil des internationalen „Kampfes gegen den Terror“,
darauf, die Gewaltakte der Palästinenser als „Freiheitskampf“, und nicht als „Terrorismus“ zu definieren. Gleichzeitig bezeichneten Mitglieder der saudischen Regierung das Vorgehen Israels selbst als „Terrorismus“.
In der Irak-Frage unterstützte Saudi-Arabien die USA in ihrer harten Haltung.
Man unterstützte die Aufrechterhaltung des UN-Embargos und die Abrüstung der
irakischen Militärmacht durch Waffeninspektionen. Zum einen befürchtete man
ein Widererstarken des Iraks nach dem Fall des Embargos, was zu einer erneuten
Golfkrise und damit zur Destabilisierung der Region führen könnte. Zum anderen
musste Saudi-Arabien (mit ca. 8 Mio. b/d der größte Ölexporteur und damit Führungsmacht der OPEC) befürchten, dass der Irak nach dem Fall des Embargos,
nach der Sanierung irakischer Ölförderanlagen und der Erschließung neuer Ölfelder durch westeuropäische, russische und chinesische Ölkonzerne, zu einem ernsten Konkurrenten werden und die saudische Führungsposition in der OPEC gefährden könnte. Gleichzeitig könnte der Irak den Weltmarkt mit billigem Öl überschwemmen, was zu einem Verfall des Ölpreises führen könnte. Davon wäre Saudi-Arabien direkt betroffen, da die Haupteinnahmequelle des Königreiches der
Ölexport ist.
Besonders wichtig für Saudi-Arabien sind die Beziehungen zu den USA (siehe
„außenpolitische Entwicklung“). Der Irak-Krieg 1991 und die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien war jedoch einer der Hauptkritikpunkte der
Islamisten am saudischen Staat. Durch die Nähe Saudi-Arabiens zu den USA geriet der Staat unter innenpolitischen Druck. Bei einem erneuten Krieg der USA
mit saudischer Unterstützung gegen ein muslimisches Bruderland (wie beispielsweise dem Irak), welcher eventuell sogar wie 1991 von saudischem Territorium
aus geführt würde, könnte den Islamisten weiteren Auftrieb geben und damit das
saudische Königreich insgesamt gefährden. Ein erneuter Irakkrieg der USA kann
also aus Gründen der innenpolitischen Stabilität nicht im Interesse Saudi-Arabiens
sein.
199
VIII. Saudi-Arabiens Position zur Irak-Resolution
Saudi Arabia will not take part in war against Iraq
The Kingdom of Saudi Arabia will not take part in a war against Iraq, it was announced in Saudi Arabia last night.
Addressing the nation on Saudi Arabian television on behalf of Custodian of the
Two Holy Mosques King Fahd bin Abdul Aziz, Crown Prince Abdullah bin Abdul Aziz, Deputy Premier and Commander of the National Guard, said that the
Kingdom’s armed forces would not step onto Iraqi territory.
The Crown Prince highlighted the inviolability of Iraq’s territorial integrity, independence, resources and internal security. He said that the Kingdom is against any
military occupation of Iraq.
The Crown Prince said that Saudi Arabia expects the war to end as soon as the
provisions of United Nations Security Council resolution 1441-to disarm Iraq of
its weapons of mass destruction-are implemented. However, he said that if inappropriate action was taken, or the war was used for any purpose other than to disarm Iraq of its weapons of mass destruction, Saudi Arabia would consider what
action to take. Prince Abdullah said that the Kingdom expects serious endeavours
to be made in the immediate future towards reaching a prompt settlement to the
problem of Palestine, the core of conflict in the region. He reiterated that the
Saudi people are primarily concerned with following the Islamic Shariah and observing their national unity.
Following is a translation of the text of the address to the nation on behalf of Custodian of the Two Holy Mosques King Fahd bin Abdul Aziz, by Crown Prince
Abdullah bin Abdul Aziz, the Deputy Premier and Commander of the National
Guard:
“I address you amidst very grave circumstances, when the entire region faces
grave events, to tell you what your country has done to prevent war and what your
country’s position will be if war broke out, God forbid.
Since the war loomed on the horizon several months ago, the Kingdom of Saudi
Arabia has exerted all its efforts both individually and collectively with its Arab
and Muslim brothers to reach a peaceful settlement.
We have pursued every possible avenue: the Security Council and the capitals of
its permanent members, and Arab and Islamic meetings. We have introduced
200
clear, fair and logical ideas which are based, on the one hand, on the need for
Iraq’s full compliance with international resolutions and, on the other hand, on
giving diplomatic efforts every opportunity to resolve the conflict peacefully. We
have been motivated in our endeavours by our Arab and Islamic principles, and by
our realization that war is lost by both the winner and loser: for when a bullet is
fired, it does not distinguish between soldier and child.
We have constantly borne in mind that, in spite of the mistakes of the Iraqi government, the brotherly Iraqi people should not pay the price of war, and that the
principle of keeping Iraq unified, free and independent this is non-negotiable.
But unfortunately, neither our efforts nor those of our peace-loving brothers and
friends have achieved the desired results. Let me be candid: if it were not for the
obvious weakness of the Arab world, we would have taken an effective, unified
Arab stand that bypassed declarations and statements. To promote this objective,
we introduced a serious initiative to reform the deteriorating Arab situation and
find a new mechanism for Arab cooperation. But the escalating crisis disrupted
discussion of this initiative, which is still on the agenda of the summit; we are
looking forward to its discussion in the near future.
The countdown to war seems to have begun. Our efforts, which have so far focused on averting war, should now be taking a new direction: to spare our beloved
country and our people the negative impact and ramifications of war; to protect
the country and its sacred places, and to safeguard its integrity and safety. The
government has taken the following decisions, which I am sure correlate with
your principles, embody your commitment to Arab and Islamic values, and will
receive your unanimous approval.
First - The Kingdom will under no circumstances participate in the war against
brotherly Iraq. The Saudi armed forces will by no means cross one inch into Iraqi
territories.
Second - We expect the war to end upon implementation of Security Council resolution 1441 to disarm Iraq of its weapons of mass destruction. We categorically
reject any infringement of Iraq’s territorial integrity, independence, wealth, internal security or it being subjected to military occupation. We have informed the
U.S. Administration of this clear Saudi stance.
Third - The extraordinary circumstances that have for 12 years surrounded this
crisis dictate that we do not engage in an uncalculated adventure that subjects our
201
country’s security and people to danger. However, should events take a different
course from that which we have stated, or should military activity surpass its declared goals, we will take a different stand.
Fourth - We expect that the coming period will witness an earnest, effective endeavour to reach a swift settlement of the Palestinian problem, based on the Arab
peace initiative, namely land for peace. Of this stand, we informed the world
community. In all our consultation with U.S. Administration, we clearly stressed
that the Palestinian issue lies at the core of the solution for guaranteeing stability
in the Middle East.
Dear Brothers, We have said on many occasions, and now we reiterate, that for
the Saudi people, the Islamic faith and national unity are fundamentally beyond
question. Current difficult circumstances dictate, more than ever, that we hold fast
to our Islamic principles, national unity, developmental reformist course, and the
maintenance of our achievements, against any internal or external violation.
Dear Nation, Preservation of the security of our country is the responsibility of us
all. Every honest citizen is a partner in the country’s unity and stability. Therefore,
all of us must undertake the responsibility of protecting our country against evildoers. This calls for joining our ranks, each in his own position. We must not allow intruders to meddle with our Islamic and Arab values, upon which our society, stability and security are based.
We pray to Almighty God to protect our dear homeland, honoured as it is with
custody of the Two Holy Mosques, and with serving its Arab and Muslim brothers. We also pray that Almighty God may protect each and every one of our citizens, for He is our best protector and to His power we entrust our safety.”
Quelle: Saudisches Informationsministerium v. 19.3.2003; online unter:
http://www.saudinf.com/main/y5532.htm
IX.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
Globaldefence.net – Das Netzwerk für Politik, Militär und Hintergründe
202
http://www.globaldefence.net/index.htm?http://www.globaldefence.net/de
utsch/nahost/saudiarabien/saudiarabien.htm
Literatur:
-
Länderbeitrag Saudi-Arabien, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001,
Hrsg. v. Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut), Hamburg 1991-2002
-
Kozsinovski, Thomas: Unterdrückt: Islamische Opposition in SaudiArabien, in: Orient Journal Herbst 2001, hrsg. v. Deutschen OrientInstitut, Hamburg 2001, S. 17, online unter:
http://www.duei.de/doi/de/content/onlinepublikationen/orientjournal/journ
al101/index.html
-
Steinberg, Guido: Die innenpolitische Lage Saudi-Arabiens nach dem 11.
September 2001, in: DOI Focus Nr. 8 Februar 2003, hrsg. v. Mattes, HansPeter (Deutsches Orient-Institut), Hamburg 2003, online unter:
http://www.duei.de/doi/de/content/onlinepublikationen/focus8.pdf
203
Syrien
I.
geographische Karte
Quelle: The Middle EastGenWeb Project, A WorldGenWeb Website, http://www.rootsweb.com/~mdeastgw/
Quelle: Merriam-Webster’s Atlas, http://www.merriam-webster.com/cgi-bin/nytmaps.pl?syria
204
II.
Basisdaten
Stand: August 2004
Quelle: Auswärtiges Amt
Ländername:
Arabische Republik Syrien (al-Jumhuriya al-arabiya as-suriya =
(wörtl.) Syrische Arabische Republik)
Klima:
in der Küstenzone mediterran; in Damaskus, Aleppo und im Innern kontinental mit heiß-trockenem Sommer und mildem bis
kaltem, teils feuchtem Winter; Niederschläge im Küstenbereich
600 - 1.000 mm, in der Steppenregion 400 mm, im Osten und
Südosten bis auf 100 mm fallend
Lage:
zwischen 32° und 37° nördlicher Breite sowie 35° und 42° östlicher Länge; Syrien grenzt im Norden an die Türkei, im Osten an
Irak, im Süden an Jordanien und im Westen an Israel, den Libanon und das Mittelmeer
Größe:
185.180 qkm
Hauptstadt:
Damaskus (ca. 2 Mio. Einwohner, Groß-Damaskus mindestens
3,5 Mio. Einwohner)
Bevölkerung:
ca. 18,5 Mio.; jährliche Zuwachsrate rd. 2,4%; überwiegend Araber (Syrer; ca. 320.000 Palästinenser); ethnische Minderheiten:
Kurden (500.000 bis 800.000), Armenier (150.000 bis 200.000),
Turkmenen, Tscherkessen
Landessprache:
Arabisch (gebräuchliche Fremdsprachen: Englisch und Französisch)
Religionen:
72% sunnitisch-muslimisch; 12% Alawiten (islamische Sekte);
10% Christen; 4% Drusen; 1% Ismaeliten; ca. 60.000 schiitische
Muslime; ca. 200 Juden
Nationaltag
17. April 1946 (Aeid el-Jalaa, Abzug der letzten französischen
Mandatstruppen)
Unabhängigkeit:
28. September 1941 (nominell)
Staatsform:
sozialistisch-volksdemokratischer Staat; Präsidialregime; Volksversammlung mit 250 Abgeordneten,
Staatsoberhaupt:
Dr. Bashar al-Assad (seit 17.07.2000), Präsident der Republik;
Baath-Partei; Direktwahl alle 7 Jahre
205
Vertreter:
Abd al-Halim Khaddam, Zuhair Masharka (beide seit 1984)
Regierungschef
Ministerpräsident Dr. Muhammad Naji Otri (seit September
2003); Baath-Partei
Außenminister
Farouk al-Shara’a (seit 1985); Baath-Partei
Parlament:
Volksversammlung; 250 Abgeordnete; Sprecher (Präsident):
Mahmoud al-Abrash (seit 2003); letzte Wahl: 01./02.03.2003;
Wahl alle 4 Jahre
Regierungsparteien:
Baath-Partei, Arabische Sozialistische Partei, Arabische Sozialistische Union, Kommunistische Partei Syriens, Syrisch-Arabische
Sozialistische Union, Vereinigte Sozialistisch-Demokratische
Partei - als Blockparteien zusammengeschlossen zur "Progressive National Front"
Opposition:
nicht existent
Gewerkschaften:
Allgemeine Föderation der Arbeitergewerkschaften (Dachverband von rd. 20 staatlich kontrollierten Einzelgewerkschaften);
Allgemeiner Bauernbund; Berufsverbände
Verwaltungsstruktur des
Landes:
13 Provinzen und Hauptstadtdistrikt
Mitgliedschaft in internati- Vereinte Nationen (24.10.1945); UNESCO (16.11.1946), ITU
onalen Organisationen,
(28.06.1962), WMO (15.08.1952), ILO (30.10.1961), IBRD
(Beitrittsdatum):
(10.04.1947), IDA (28.06.1962), IAEO (06.06.1963), IFC, IMF
(10.04.1947), WHO (07.04.1948), UPU (01.01.1966), FAO, UNIDO (21.06.1985), Arabische Liga (1945), Islamische Konferenzorganisation (1970), OAPEC (1968), Blockfreienbewegung
Wichtigste Medien:
staatlicher Rundfunk und Fernsehen; Tageszeitungen: al-Baath,
al-Thaura, al-Tishrin (alle arabischsprachig), The Syria Times
(englischsprachig); Wochenzeitung: al-Iqtissadiye (arabischsprachig)
Bruttoinlandsprodukt
2003: 19,3 Mrd. USD
Prokopf- BIP
2003 ca 1.000 USD
Wechselkurs
1 EUR = 61,90 Syrische Pfund (SP); 1 SP = 0,01616 EUR, Daten
vom 17. Juni 2004
III.
Geschichte bis 1990
-
und 1. Jahrtausend v. Chr:
Region des heutigen Syriens im Machtbereich Ägyptens, Babyloniens, der Churriter, Hethiter, Assyrer und Perser
206
-
301 v. Chr.:
Aufteilung auf Ptolemäer und Seleukiden
-
195 v. Chr.
Region gänzlich seleukidisch
-
ab 64 v. Chr.
Römische Provinz
-
ab 395
Zugehörigkeit zum Oströmischen Reich
-
634
Eroberung durch muslimische Araber, Damaskus wird Hauptstadt des Omayadenreichs
-
ab 750
Region gerät in Abhängigkeit der Abassiden-Kalifen von Bagdad.
-
11. bis 13. Jh.
Christliche Kreuzzüge (Sultan Saladin)
-
13. bis 15. Jh.
Mongolenstürme; anschließend unter der Herrschaft der Mameluken in Kairo
-
ab 1517
Teil des Osmanischen Reiches
-
1920
Syrien kommt als Völkerbundmandat unter französische Herrschaft und wird in
autonome Gebiete aufgeteilt (u.a. Abtrennung des Libanon).
-
1946
Unabhängigkeit nach dem Abzug der letzten französischen Truppen, Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga 1945.
-
1958
Syrien geht in der von Ägypten dominierten Vereinigten Arabischen Republik
auf, die bereits 1961 wieder zerfällt.
-
1963
207
Aus internen Machtkämpfen geht Baath-Partei als Sieger hervor.
-
1966
Militärputsch des linken Flügels der Baath-Partei
-
1967
Junikrieg gegen Israel: Verlust des größten Teils der Golanhöhen
-
1970
General Hafiz al-Assad übernimmt die Macht: Einleitung eines Reformprogrammes mit der sog. "Korrekturbewegung"
-
1971 - 2000
Hafiz al-Assad ist Staatspräsident
-
1973
Oktoberkrieg: Golanhöhen können nicht zurück erobert werden
-
1975
Pendeldiplomatie von US-Außenminister Kissinger führt zu neuer Waffenstillstandslinie, "Golanhauptstadt" Quneitra kommt zurück in den Staatsverband
-
1981
Annexion der Golanhöhen durch Israel
Quelle: Auswärtiges Amt; online unter:
http://www.auswaertigesamt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=9&land_id=166
IV.
Innenpolitische Entwicklung seit 1991
Zu Beginn der 1990er Jahre bewegte die Perestroika in der Sowjetunion und die
Demokratisierungsbewegungen in Osteuropa das politische System Syriens. Unter
dem Druck der Ereignisse in Osteuropa regten sich in Syrien Hoffnungen, dass die
politische Führung zu Liberalisierungs- und Demokratisierungsmaßnahmen gezwungen sein könnte. Zu mehr als der Verabschiedung eines neuen Investitionsgesetzes konnte sich die Regierung jedoch nicht bewegen. Insgesamt blieb es bei
dem System einer sozialistischen Staatswirtschaft, auch wenn sich privatwirtschaftliche Teilbereiche herausbildeten. Auch im politischen System änderte sich
nur wenig: Die sozialistische Ba’th-Partei regierte weiterhin das Land und 1991
208
wurde Präsident Hafiz al-Assad für eine vierte (siebenjährige) Amtszeit von 99,98
% der Bevölkerung „wieder gewählt“. Annäherungen gab es zu den islamistisch
orientierten Muslimbrüdern, dessen Aufstand 1987 vom Regime niedergeschlagen
wurde und deren führende Köpfe sich seitdem in Jordanien aufhielten. Teilweise
kehrten die Muslimbrüder wieder zurück in ihr Heimatland und die Regierung ließ
inhaftierte Muslimbrüder frei.
Aufgrund des sich verschlechternden Gesundheitszustandes des Präsidenten wurde dessen ältester Sohn, Basil, langsam zu dessen Nachfolger aufgebaut. Bereits
1991 übernahm Basil erste außenpolitische Aktivitäten. Innenpolitisch versuchte
sich Basil mit Kampagnen gegen Korruption und Rauschgifthandel zu profilieren.
Am 21.1.1993 verunglückte Basil bei einem Autounfall tödlich. Die „Thronfolge“
wurde nun dem zweitältesten Sohn Assads, Bashar al-Assad übertragen, welcher
nach dem Tode Afiz al-Assads im Jahre 2000 die Nachfolge seines Vaters antrat
und zum Präsidenten gewählt wurde. Die Wahl Bashar al-Assads zum Präsidenten
wurde von der Hoffnung auf innenpolitische und wirtschaftliche Reformen begleitet. Während die Privatwirtschaft wirtschaftliche Reformen herbeisehnte, erhofften sich weite Teile der Bevölkerung eine innenpolitische Öffnung des Landes.
Nach der Wahl Bashars zum Präsidenten Syriens bildeten sich überall im Lande
Debattier-Klubs. Parlamentarier wie der aus der Privatwirtschaft stammende bekannte und beliebte Riyad Saif forderten eine Liberalisierung des politischen Systems. Das Komitee zur Belebung der Zivilgesellschaft forderte in einer Erklärung,
die 1000 Intellektuelle, Künstler und Geschäftsleute unterschrieben (die sog. Erklärung der Tausend), eine Beendigung des Ausnahmezustandes, die Freilassung
aller politischen Häftlinge, die Aufnahme rückkehrwilliger Exilanten, politische
und wirtschaftliche Freiheit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Beendigung
des Machtmonopols der Ba’th-Partei. Präsident Assad betonte vor der ausländischen Presse, dass er nichts gegen die Debattier-Klubs habe, solange sie sich an
die Verfassung hielten (NJ 2001). In Wahrheit jedoch reagierte das Regime mit
Einschüchterung, Auflagen (z.B. vorherige Anmeldung) und Verhaftungen (z.B.
Riyad Saif am 6.9.2001) auf die Debattier-Klubs. Einige Klubs versuchte das
Ba’th-Regime auch zu unterwandern, indem es Regimeanhänger in den Klubs
auftreten ließ. Auch die Muslimbrüder beteiligten sich an der Demokratisierungsbewegung und plädierten für den Schutz der Menschenrechte und des Einzelnen.
209
Amnesty International kritisiert seit Jahren Menschenrechtsverletzungen in Syrien
und die (oft jahrzehntelange) Inhaftierung politischer Oppositioneller ohne ordentlichen Gerichtsprozess.
V.
Außenpolitische Entwicklung seit 1991
Zu Beginn der 1990er Jahre stand die Golfkrise im Mittelpunkt der außenpolitischen Entwicklung Syriens. Syriens Präsident Assad verurteilte die Invasion Kuwaits durch den Irak und stellte sich demonstrativ auf die Seite der Anti-IrakKoalition und damit auf die Seite der Amerikaner. Syrien beteiligte sich, indem es
insgesamt 18.000 Mann nach Saudi-Arabien entsandte. Für die syrische Führung
war es nach jahrelanger antiisraelischer und antiamerikanischer Propaganda
schwer, diese Haltung der eigenen Bevölkerung klarzumachen, zumal Saddam
Hussein in weiten Teilen der syrischen Bevölkerung Sympathien genoss. Die syrische Propaganda versuchte dem entgegenzuwirken, indem man behauptete, dass
die Politik Saddam Husseins den zionistischen und amerikanischen Interessen
entgegenkomme, wie die vermehrten US-Waffenlieferungen an Israel bewiesen
(NJ 1990). Nach der Golfkrise war das politische Ansehen Syriens in der arabischen Welt aufgrund der Haltung während der Golfkrise gestiegen. Politisch führte dies dazu, dass die Staaten Ägypten, Saudi-Arabien und Syrien in der so genannten Damaskus-Deklaration vereinbarten, ihre Politik in Zukunft aufeinander
abzustimmen, um eine erneute Krise in der Golfregion in Zukunft frühzeitig erkennen und verhindern zu können. Zudem sollte dadurch die arabische Position
insgesamt gestärkt werden. Aber auch ökonomisch zahlte sich die Solidarität aus,
denn Syrien konnte mit großzügigen Finanzhilfen rechnen, vor allem aus SaudiArabien (Finanzhilfen in Höhe von 2 Mrd. $ von den Golfstaaten, davon 1,25
Mrd. $ aus Saudi-Arabien; NJ 1991).
Im Mittelpunkt des außenpolitischen Interesses Syriens waren in der ersten Hälfte
der 1990er Jahre der Friedensprozess im Nahen Osten und die Friedensverhandlungen mit Israel. Syrien habe, so betonte Assad mehrfach, ein „strategisches Interesse“ an einem Frieden mit Israel. Hauptstreitpunkt in den Verhandlungen war
die vollständige Rückgabe der Golan-Höhen an Syrien. „Totaler Friede für totalen
Rückzug“ war die syrische Position. Ein totaler Rückzug von den Golan-Höhen
widersprach jedoch den Sicherheitsinteressen Israels, zumal man in Tel Aviv an
einem ernsthaften Friedensinteresse von Seiten Syriens zweifelte. Denn zum einen
210
duldete Syrien aus Rücksicht auf die Interessen Teherans und als „Faustpfand“ für
weitere Verhandlungen mit Israel die Aktivitäten der Hisbollah im Südlibanon
(Syrien war nach dem Libanonkrieg de facto Besatzungsmacht im Libanon), zum
anderen lehnte Assad Friedensverhandlungen auf höchster Ebene ab, welche Israel mehrfach anbot (z.B. 1994, siehe NJ 1994). So kam es nie zu direkten Verhandlungen zwischen Assad und Rabin. Syrien wurde in seiner Position zum einen von
den Staaten der Damaskus-Deklaration, zum anderen durch den Iran gestützt, mit
dem Syrien gute Kontakte pflegte. Gleichzeitig versuchte Syrien einen Separatfrieden anderer arabischer Staaten mit Israel zu verhindern, um die eigene Position nicht zu schwächen. Die USA versuchten, zwischen Israel und Syrien zu vermitteln, um den Friedensprozess voran zu bringen, wobei sie einige wichtige
Teilerfolge erzielen konnten. Anschläge in Israel und im Südlibanon, mit denen
Syrien in Verbindung gebracht wurde, aber auch israelische Militäroperationen
belasteten die Friedensverhandlungen. Dennoch gingen die Friedensgespräche,
auch wegen der ständigen Vermittlung der USA, voran. 1995 schien die Rückgabe
des Golan an Syrien bereits als beschlossen. Uneinigkeit gab es nur noch über den
Zeitraum des Rückzugs der israelischen Truppen. Während Syrien von einem
Zeitraum von 18 Monaten sprach, veranschlagte Israel 4 Jahre für den Rückzug.
Im Gegenzug einigten sich beide Staaten auf ein umfangreiches Sicherheitsabkommen, welches die israelischen Sicherheitsinteressen berücksichtigen sollte.
Nach der Ermordung Rabins im November 1995 verschärften sich die Fronten
aufgrund von Anschlägen in Israel und im Südlibanon und darauf folgenden israelischen Vergeltungsschlägen jedoch wieder. Der neue Ministerpräsident Netanjahu verschärfte den Ton und kündigte demonstrativ an, im Golan nach Öl bohren
zu wollen, was in Damaskus als Provokation aufgefasst wurde. 1997 beschloss
der Knesset die Nichtrückgabe des Golan, was von Syrien als weiteres Abrücken
Israels vom Friedensprozess verstanden wurde. Syrien verlangte für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen die Fortsetzung der mit der Ermordung Rabins beendeten Friedensverhandlungen, während Netanjahu die Friedensverhandlungen
neu beginnen wollte und behauptete, dass Rabin niemals die Rückgabe des Golans
an Syrien versprochen habe. Syrien sah mit einem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu keine Grundlage für die Wideraufnahme der Verhandlungen. Mit
dem Wahlsieg Baraks 1999 keimte zunächst Hoffnung auf, dass der Friedensprozess nun fortgesetzt werden könnte. 1999 und 2000 kam es zu erneuten Verhandlungen zwischen beiden Staaten in West Virginia unter der Leitung von USPräsident Clinton, wobei jedoch keine Ergebnisse erzielt wurden. Mit dem Wahl211
sieg der Likud, dem verschärften Vorgehen Israels gegen die Palästinenser und
dem Ausbruch der al-Aqsa-Intifada gilt auch der Friedensprozess zwischen Israel
und Syrien als gescheitert.
Auch die Kooperation von Israel und der Türkei ab 1997, vor allem im militärischen Bereich, führten zu Spannungen mit Syrien. Mit der Türkei hatte Syrien
bereits ein gespanntes Verhältnis, zum einen wegen der Frage der Wasserversorgung (der Euphrat entspringt in der Türkei, welcher maßgeblich die Wasserversorgung Syriens sichert), zum anderen weil die Türkei Syrien vorwarf, die PKK
inklusive deren Anführer Öcalan auf syrischem Gebiet zu dulden. Als sich der
Konflikt mit der Türkei 1998 verschärfte und der türkische Ministerpräsident Yilmaz ankündigte, die „finsteren Machenschaften“ Syriens zu beenden (NJ 1998),
lenkte Syrien ein, um den Konflikt um die PKK zu beenden und der Türkei keinen
Grund für eine militärische Aktion zu liefern (Adana-Abkommen v. 20.10.1998).
Offenbar erfüllte Syrien alle türkischen Forderungen (inklusive Ausweisung Öcalans). Danach verbesserten sich die Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei
deutlich. Inzwischen haben Syrien und die Türkei ihre Differenzen weitestgehend
ausgeräumt und gelten nun als strategische Partner.
Die israelisch-türkische Militärkooperation führte dazu, dass Syrien sich dem Irak
annäherte. 1997 kam es zu ersten Gesprächen, um vor allem die wirtschaftliche
Zusammenarbeit zu verstärken. Syrien beteiligte sich am „Öl für Nahrungsmittel“-Programm. Die seit 18 Jahren geschlossene Grenze zum Irak wurde wieder
geöffnet. Der Irak war offenbar auch an einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Syrien interessiert, um die außenpolitische Isolierung weiter zu überwinden. Dies wurde jedoch von Syrien abgelehnt, um die guten Beziehungen zu
den Golfstaaten (v.a. Saudi-Arabien) nicht zu gefährden. Die Irak-Politik stimmte
Syrien mit Iran ab. Offenbar sah man sowohl in Damaskus, als auch in Teheran
die Möglichkeit einer zukünftigen Achse Damaskus-Bagdad-Teheran, was vor
allem die Position Syriens gegenüber Israel, und damit auch die Position Teherans
im Libanon, stärken würde (NJ 1998). 1999 wurde die Ölpipeline Kirkuk-Banias
fertig gestellt, welche 2000 in Betrieb genommen wurde. 2000 betrug das Handelsvolumen mit dem Irak 500 Mio. $, was 6-7 % des syrischen Außenhandels
entsprach (NJ 2000). Mit der Eskalation des Israelisch-palästinensischen Konfliktes 2001 und der Gefahr einer direkten Konfrontation Syriens mit Israel kam der
Irak aber auch zunehmend als politischer Partner in Frage. Der Annäherung an
den Irak waren jedoch weiterhin Grenzen gesetzt, weil Syrien auf die Staaten am
212
Golf Rücksicht nehmen musste. Denn Saudi-Arabien und Kuwait verfolgten die
syrisch-irakische Annäherung bereits mit Misstrauen. Der Resolution 1441 gegen
den Irak aus dem Jahr 2002 stimmte Syrien zwar zu, meinte jedoch, dass den
Waffeninspektoren genügend Zeit eingeräumt werden müsse.
Die Beziehungen Syriens zu Europa waren davon geprägt, dass sich Syrien eine
stärkere Rolle der EU im Friedensprozess wünschte. Syrien versuchte, die Beziehungen zu den europäischen Staaten und zur EU zu verbessern. Auch eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zur EU war im Interesse Syriens. 1994 hob
das Europäische Parlament das Waffenembargo gegen Syrien auf. Wiederholt gab
es gegenseitige Besuche, wobei Syrien versuchte, die EU für die syrische Position
im Friedensprozess zu gewinnen. Insgesamt konnte die EU jedoch nur wenig Einfluss auf den Friedensprozess nehmen und auch nach dem Scheitern des Friedensprozesses beschränkten sich die Beziehungen vor allem auf wirtschaftliche Belange.
Die Beziehungen zur Sowjetunion waren traditionell gut. Die UdSSR galt als
Schutzmacht des (sozialistischen) Syriens. Nach dem Niedergang der UdSSR kam
es zunächst zu Differenzen über Altschulden, die Syrien der UdSSR schuldete.
Syrien erkannte Russland nicht als den Nachfolgestaat der UdSSR an, weshalb es
sich (zunächst) weigerte, die Schulden zu bezahlen. Im Laufe der 1990er Jahre
wurden die Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt, wobei Russland nun
vor allem als Waffenlieferant fungierte, was von den USA zunehmend kritisiert
wurde (so 1999 vor der Lieferung moderner Panzerabwehrraketen; NJ 1999).
Die Beziehungen zu den USA waren zum einen davon geprägt, dass die USA eine
wichtige Vermittlerrolle im Friedensprozess einnahmen und Syrien daher offiziell
konsultierten, was für Syrien eine gewisse außenpolitische Aufwertung bedeutete.
Auf der anderen Seite führten die USA Syrien auf der Liste der TerrorismusUnterstützenden Staaten, was sich vor allem seit den Terroranschlägen vom 11.
September 2001 negativ für Syrien auswirkte. Obwohl Präsident Assad am 12.
September 2001 den Terrorismus in allen seinen Formen verurteilte und den USA
eine Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus zusicherte, kam es
immer wieder zu Drohungen von Seiten der USA. Syrien versucht seitdem als
verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terror zu gelten, wobei dies nicht für
palästinensische Extremisten gilt, da Syrien diese nicht als Terroristen, sondern
als Freiheitskämpfer definiert.
213
VI.
Bevölkerung
Nachdem Bashar al-Assad zum Präsidenten Syriens ernannt wurde, erhofften sich
viele Menschen eine innenpolitische Öffnung des Systems. Die Privatwirtschaft
erhoffte sich eine Liberalisierung des Wirtschaftssystems, um das Investitionsklima zu verbessern und Wachstum um privatwirtschaftlichen Sektor zu erreichen.
Während sich eine innenpolitische Öffnung und Demokratisierung des Systems
nicht entwickelte, sind bei der Liberalisierung der Wirtschaftsstrukturen einige
kleine Reformen gemacht worden. Insgesamt gehen aber auch die Wirtschaftsreformen eher langsam voran.
Die Bevölkerung Syriens nahm in den 1990er Jahren mit durchschnittlich 2,4%
Bevölkerungswachstum zu, wobei ca. 45% der Bevölkerung jünger als 14 Jahre
ist (Stand: August 2004; Auswärtiges Amt). Die versteckte Arbeitslosigkeit ist
sehr hoch (Nach inoffiziellen Schätzungen betrug die Arbeitslosigkeit im Jahr
1999 20 %; NJ 1999). Durch das starke Wachstum der Bevölkerung verschärft
sich das Problem zusätzlich. Bei einem Bevölkerungswachstum von 3,3 % (im
Jahre 1998) müsste die Wirtschaft jährlich um 10 % wachsen und 150.000 bis
200.000 Arbeitsplätze müssten jährlich geschaffen werden, damit die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigt (NJ 1998). Dennoch spielen Armut und soziale Not in
Syrien keine Rolle, denn das sozialistische Baath-Regime stützt sich, neben einer
loyalen Armee und den Geheimdiensten, auf einem breiten Sozialsystem. 1996
betrug das Pro-Kopf-Einkommen 850 USD. Dies sichert den sozialen Frieden im
Land und damit trägt damit zur Stabilisierung der Baath-Herrschaft bei.
Die jahrelange politische Indoktrination der Bevölkerung durch die syrische (antiisraelische und antiamerikanische) Propaganda scheint gefruchtet zu haben. So
hatte die syrische Regierung Probleme, die antiirakische (und damit proamerikanische) Haltung im 2. Golfkrieg 1991 der Bevölkerung nahe zu bringen. Israel
vermutete 1994, dass Assad durchaus zu einem Frieden mit Israel bereit sei, jedoch auf die Stimmung in der Bevölkerung Rücksicht nehmen und deshalb äußerst vorsichtig sein müsse, um eine innenpolitische Krise zu vermeiden. (NJ
1994)
Deshalb ist davon auszugehen, dass die syrische Bevölkerung einen von den USA
geführten Krieg gegen den Irak, wie bereits 1991, ablehnen wird.
214
VII. Politische und ökonomische Interessen
Außenpolitisches Hauptinteresse Syriens ist seine Sonderstellung als „Frontstaat“
der arabischen Welt in israelisch-arabischen Konflikt zu behalten. Ein Frieden mit
Israel soll ohne Syrien nicht möglich sein. Deshalb beansprucht Syrien für sich
auch eine gewisse Führungsrolle der arabischen Staaten im Umgang bzw. Friedensprozess mit Israel. Syrien versucht deshalb, Separatfrieden anderer arabischer
Staaten mit Israel zu verhindern, um sowohl die arabische Position als ganze nicht
zu schwächen, aber auch um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Dieses
Ziel wurde nicht immer erreicht, wie es der Friedensvertrag zwischen Israel und
Jordanien aus dem Jahr 1994 zeigt. Während sich der ebenfalls von der BaathPartei regierte Irak Richtung Osten orientierte, „träumte“ Syrien von der Wiederherstellung eines „Großsyriens“, das den Libanon, Palästina/Israel und Jordanien
einschließen soll. Da eine Erreichung dieses Ziels wenig realistisch ist, ist Syrien
bereit und in der Lage, realpolitische Kompromisse einzugehen. Obwohl die beiden Staaten Syrien und Irak von der Baath-Partei (arabische, sozialistische Partei)
regiert werden und sich damit zumindest ideologisch Nahe stehen müssten, waren
sie jahrzehntelang verfeindet. Dies rührt zum einen daher, dass in den beiden
Ländern unterschiedliche Flügel der Baath-Partei regieren, zum anderen, dass die
Staaten im jeweils anderen Staat einen potentiellen Konkurrenten sahen. Beide
Staaten unterstützten bzw. duldeten die jeweiligen Oppositionsgruppen des anderen auf dem eigenen Territorium. Aus der Zeit des Irak-Iran-Krieg von 1980 bis
1988 kommt daher das Bündnis zwischen dem Iran und Syrien, obwohl beide
Staaten durch sehr unterschiedliche Systeme gekennzeichnet sind. Mit der Golfkrise 1990 und dem Golfkrieg 1991 sah Syrien die Möglichkeit, den Konkurrenten zu schwächen. Deshalb unterstützten sie die Anti-Irak-Koalition.
Mit der Annäherung von Israel an die Türkei sah sich Syrien gezwungen, seine
Position in der Irakfrage zu überdenken. Beide Staaten näherten sich einander an.
Zum einen sah man im Irak einen Absatzmarkt für die in Syrien produzierten,
aber aufgrund der niedrigen Qualität nicht für den Weltmarkt geeigneten Produkte, zum anderen sah man im Irak, vor allem seit dem Ausbruch der al-AqsaIntifada und der zunehmenden Verschärfung des israelisch-palästinensischen
Konfliktes, einen potentiellen politischen und militärischen Partner, falls es zu
Auseinandersetzungen mit Israel kommen sollte. Bei der Annäherung an den Irak
muss Syrien jedoch Rücksicht auf die Partner der Damaskus-Deklaration, vor al-
215
lem Saudi-Arabien, nehmen, um dieses wichtige Bündnis nicht aufs Spiel zu setzen.
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 versucht sich Syrien als verlässlicher Partner im Anti-Terror-Kampf zu profilieren, wohl auch, um den „eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen“, da Syrien von den USA als TerrorismusUnterstützender Staat gelistet wird. Ausgenommen sind jedoch palästinensische
Terrororganisationen, welche Syrien nicht als Terroristen, sondern als Freiheitskämpfer, die einen legitimen Freiheitskampf führen, definiert. Angeblich sollen
sich auch weiterhin in Syrien Kämpfer der Hamas und anderer Organisationen
aufhalten.
Syrien kann kein Interesse an einem US-geführten Krieg gegen den Irak haben,
welcher ein regime change zur Folge hat, da zum einen Syrien inzwischen gute
Kontakte zum Saddam-Regime pflegt, zum anderen, weil ein Amerika- und Israelfeindlicher Irak unter Saddam Hussein Syrien allemal lieber sein sollte, als ein
den USA freundlich gesinntes Regime, welches unter Umständen auch zu einem
Separatfrieden mit Israel bereit wäre. Geostrategisch hätte dies eine Isolation Syriens im Konflikt mit Israel zur Folge, da die Nachbarstaaten Syriens, die Türkei
im Norden, der Irak im Osten und Jordanien im Süden bereits gute Beziehungen
bzw. Frieden mit Israel hätten. Dies würde die Verhandlungsposition Syriens erheblich schwächen und könnte Syrien unter Druck setzen. Im Falle eines erfolgreichen regime change und der Installation einer stabilen, neuen Ordnung im Irak,
könnten die USA im Interesse eines stabilen, dauerhaften Friedens im Nahen Osten auch einen regime change in Syrien anstreben. Zum anderen könnten durch
einen erfolgreichen regime change im Irak die innenpolitischen Kräfte, welche
eine Liberalisierung und Demokratisierung des Systems anstreben, gestärkt werden.
Im Falle eines Nicht-Gelingens des regime change im Irak müsste Syrien einen
Bürgerkrieg im Nachbarland fürchten. Dies könnte aufgrund der kurdischen Minderheit auch zu einem Problem Syriens werden und könnte Syrien selbst destabilisieren. Syrien hat deshalb ein großes Interesse an der territorialen Integrität und
Stabilität eines Amerika- und Israelkritischen Irak.
216
VIII. Syriens Position bzgl. der Irak-Resolution
Syrien lehnt eine US-Invasion und einen regime change im Irak, und damit auch
die amerikanische Resolution, entschieden ab. Zum einen sieht es dadurch seine
Position in Verhandlungen mit Israel geschwächt, zum anderen fühlt sich Syrien
indirekt selbst bedroht. Denn geostrategisch wäre Syrien für den Fall eines geglückten regime change im Irak „umzingelt“ von gemäßigten Staaten, die entweder bereits einen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen haben (Jordanien), oder
intensiv mit Israel zusammenarbeiten (Türkei), oder grundsätzlich zu einem Frieden bereit wären (amerika- und israelfreundliches Regime im Irak). Dadurch würde Syrien seine Rolle als „Frontstaat“ der arabischen Welt im Friedensprozess mit
Israel verlieren und der internationale Druck auf Syrien könnte steigen, auch für
Syrien ungünstigere Abkommen mit Israel zu akzeptieren.
Syrien kündigte daher auch mehrfach an, im Falle einer amerikanischen Invasion
im Nachbarstaat irakische Widerstandsgruppen unterstützen zu wollen.
IX.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Region Syrien, http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Syrien
-
AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Region Irak, http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Irak
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
The Middle EastGenWeb Project, A WorldGenWeb Website,
http://www.rootsweb.com/~mdeastgw/
Literatur:
-
Länderbeitrag Syrien, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
-
Kneissl, Karin: "Zwischen Terrorismus und Widerstand ist klar zu trennen", Hintergrundartikel und Interview mit Hassan Nasrallah, in: Perspektive Süd, Zeitschrift für eine internationale Diskussion, online unter:
http://perspektive.sued.sedunia.org/ausgabenr3/nr3kneissl.htm
217
-
Nadim, Mustafa: Auf dem Weg ins „Lager der Guten“, Syrien nach dem
Irakkrieg, in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.,
Heft 34, Juli 2003, online unter: http://www.unikassel.de/fb10/frieden/regionen/Syrien/nadim.html
218
Ägypten
I.
geographische Karte
219
II.
-
Basisdaten
Ländername
Arabische Republik Ägypten; Gumhuriyat Misr Al Arabiya
-
Klima
mediterran (Küste, Nildelta) bis wüstenhaft (Kairo, Mittel- und Oberägypten)
-
Lage
im Nordosten des afrikanischen Kontinents; zwischen 22. Grad und 32.
Grad nördlicher Breite und 26. Grad und 33.Grad östlicher Länge
-
Größe des Landes
1 Mio. qkm, davon ca. 4% landwirtschaftlich nutzbar
-
Hauptstadt
Kairo (Al Qahira); 16 – 17 Mio. Einwohner
-
Bevölkerung
ca. 69,4 Mio.; Ägypten zählt wegen Konzentration der Bevölkerung im
Niltal und -delta zu den am dichtesten besiedelten Ländern der Welt (1.120
Einwohner/qkm; Kairo: 28.500-120.000 Einwohner/qkm)
-
Landessprache
Schriftsprache: modernes Hocharabisch,
Umgangssprache: ägyptisch-arabischer Dialekt; als Geschäfts- und Bildungssprachen sind Englisch und in geringerem Ausmaß
Französisch verbreitet
-
Religionen
220
ca. 90% Islam (sunnitisch); 8-10% Christentum (Kopten)
(staatliche und kirchliche Zahlenangaben differieren stark)
-
Nationaltag
23. Juli (1952), Revolutionstag
-
Unabhängigkeit
28. Februar 1922
-
Regierungsform
Republik, Präsidialregime; Parlament mit zwei Kammern:
Volksversammlung (454 Sitze) und Schura-Rat (258 Sitze)
-
Staatsoberhaupt
Mohamed Hosni MUBARAK, Präsident der Republik; seit 13. Oktober
1981
-
Regierungschef
Dr. Atef Mohammed EBEID, Ministerpräsident; seit 05.10.1996; National-Demokratische Partei (NDP)
-
Außenminister
Ahmad MAHER al-Sayyed, seit 15. Mai 2001
-
Parlamentspräsident
Volksversammlung: Dr. Ahmed Fathi SOROUR
Shura-Rat: Dr. Mustafa Kamal HELMI
-
Regierungspartei
National-Demokratische Partei (NDP)
-
Opposition
Parlamentarische Opposition:
•
Neo-Wafd (national-liberal)
•
Fortschrittlich-Nationale Sammlungspartei ("Tagammu")
•
Liberale Partei
221
Grössere, nicht im Parlament vertretene Oppositionsparteien (von insgesamt
16 zugelassenen Parteien):
•
Sozialistische Partei der Arbeit (Zusammenarbeit mit Muslimbrüdern)
•
Nasseristen
-
Gewerkschaften
•
organisiert in der Egyptian General Trade Union
•
Federation (EGTUF)
-
Mitgliedschaft in internationalen Organisationen
•
Vereinte Nationen, IAEA (Internationale
•
Atomenergie-Organisation), ILO (Internationale Arbeitsorganisation),
FAO
•
(VN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung), UNESCO (VNOrganisation
•
für Erziehung, Wissenschaft und Kultur), UNRWA (VN-Hilfswerk für
•
Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), WHO, IWF, ICAO (Internat.
•
Zivilluftfahrt-Organisation), UPU (Weltpostverein), WMO (Weltorganisation
•
für Meteorologie), WTO, AU Afrikanische Union), Arabische Liga, Bewegung der
•
Blockfreien
-
Wichtigste Medien
•
Fernsehen:
staatlich, zwei nationale, sechs regionale, zwei Satellitenkanäle
•
Rundfunk:
Radio Kairo, staatlich, lokale Sendungen in acht, Überseeprogramme in
über
30 Sprachen (darunter Deutsch)
•
Zeitungen und Zeitschriften, die der Regierung nahe stehen:
222
Al Ahram, Abendausgabe "Al Ahram Al Masai"
Al Akhbar,
Al Gumhuria, Abendausgabe "Al Missa"
Al Aalam Al Yom (Wirtschaftszeitung)
Egyptian Gazette
Le Progrès Egyptien
Al Ahram Weekly (wöchentlich)
Al Ahram Hebdo (wöchentlich) u.a.
•
Oppositionsblätter:
Al Wafd, (Neo-Wafd-Partei)
Al Shaab, (Sozialistische Partei der Arbeit)
Al Ahali, Tagammu (linkssozialistisch)
Al Ahrar (Liberale Partei)
Al Nour (islamische Zeitschrift, wöchentlich)
Watany (koptisch, wöchentlich)
•
Nachrichtenagentur:
Middle-East News Agency (MENA), staatlich
-
Wechselkurs (02/04)
1 EUR = LE 7,8248; 1 LE = 0,1277 EUR
III.
-
Geschichte
1517
Ägypten wird Provinz des Osmanischen Reiches
-
1798-1801
Französische Besatzung unter Napoleon
223
-
1805
Muhamed Ali, osmanischer General, begründet eigene Dynastie
-
1869
Einweihung des Suezkanals
-
1882
Britische Besetzung Ägyptens
-
1914
Ägypten wird britisches Protektorat
-
1922
Ägypten wird nach Aufhebung des Protektorats nominell unabhängiges
Königreich
-
1952
Staatsstreich der "Freien Offiziere"
-
1956
Verstaatlichung des Suez-Kanals; 1. Sinai-Krieg
-
1958-1961
Zusammenschluss Ägyptens und Syriens zu "Vereinigter Arabischer Republik (VAR)"
-
1961
Sezession Syriens; verschärfter sozialistischer Kurs in Ägypten
-
1965
Abbruch der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland (13.05.)
-
1967
Sinai-Krieg (Verlust des Sinai an Israel)
-
1970
Tod Gamal Abdel Nassers und Amtsübernahme durch Anwar As-Sadat
-
1972
224
Wiederaufnahme
diplomatischer
Beziehungen
zur
Bundesrepublik
Deutschland (08.06.)
-
1973
Ausweisung der sowjetischen Militärexperten; Yom Kippur-Krieg (Oktober)
-
1977
Sadats Besuch in Jerusalem (20.11.)
-
1978
Gipfelkonferenz in Camp David
-
1979
Friedensvertrag mit Israel
-
1981
Ermordung Sadats (06.10.); Übergang der Macht auf Vize-Präsident
Mohamed Hosni Mubarak
-
1982
Vollständige Räumung des Sinai durch Israel
-
1987/88
Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit allen arabischen Staaten
außer Syrien, Libyen, Libanon und Algerien
-
1989
Taba-Abkommen (26.02., Flaggenhissung 15.03.)
-
1989
Wiederzulassung Ägyptens zur Arabischen Liga (AL) auf Gipfel in Casablanca (23.06.)
-
1990
Sondergipfel der AL nach irakischem Einmarsch in Kuwait (10.08.)
-
Ermordung des Präsidenten der Volksversammlung Dr. Refaat AlMahgoub (12.10.), Neuwahlen zur Volksversammlung (29.11.)
225
-
1991
Kampfhandlungen gegen Irak
-
1992
Konflikt zwischen Ägypten und Sudan um Grenzregion "Halaib"
-
1993
Attentat auf Innenminister Al-Alfi (18.08.)
-
1994
Unterzeichnung des Gaza-Jericho-Abkommens unter Schirmherrschaft
Mubaraks (04.05.)
-
1995
Parlamentswahlen (Nov./Dez.) bestätigen Mehrheit für Regierungspartei
-
1996
Internationales Gipfeltreffen in Sharm Ash-Sheikh im März zur Rettung
des Friedensprozesses und Bekämpfung des Terrorismus;
Arabischer Gipfel am 22./23.06. in Kairo bestätigt arabischen Willen zum
Frieden, erteilt Ägypten Mandat, gegenüber Israel auf Fortsetzung des
Friedensprozesses zu drängen; Mena-Konferenz in Kairo (12.-14.11.)
-
1997
Tote bei Anschlägen auf Touristen vor dem Ägyptischen Museum in Kairo
(18.9.) und vor dem Hatschepsut-Tempel in Luxor (17.11.), starker Rückgang des Tourismus.
-
1998
Unterzeichnung des Wye II-Abkommens in Sharm Ash-Sheikh zur Aktualisierung des Zeitrahmens und graduellen Korrektur des Abkommens von
Wye Plantation (04.09.); Ägypten fungiert als Co-Garant.
-
Wiederwahl Präsident Mubaraks für vierte Amtszeit (26.09.)
-
2000/2001
Neuwahlen zum Parlament (Volksversammlung und Shoura). In beiden
Kammern dominiert die Partei des Staatspräsidenten NDP mit über 2/3
Mehrheit.
226
-
2002
Eröffnung der Bibliotheca Alexandrina (16.10.)
-
2004
Konstituierung des Hohen Rates für Menschenrechte
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
a) Allgemein
Präsident Mubarak hat nach seinem Amtsantritt versucht, die von der "Öffnungspolitik" verursachten akuten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme
abzumildern. Importbeschränkungen für Luxusgüter und Korruptions- prozesse
zeigten, dass Mubarak den Einfluss der "neuen Klasse" einzuschränken versuchte.
Innenpolitische Unruhen zwangen Präsident Mubarak jedoch auch gegen islamistische Gruppierungen mit starker Militärpräsenz vorzugehen.
Nach vermehrten Attentaten kommt es zu Verhaftungswellen und zahlreichen
Todesurteilen, da z. B. die militante Untergrundorganisation „Gamaa Islamija“
(Islamische Vereinigung), die die Errichtung eines islamischen Staates auf der
Grundlage des Koran fordert, der weltlichen Regierung Hosni Mubaraks den
Krieg erklärt. Am 18. September 1997 werfen Islamische Extremisten vor dem
Ägyptischen Museum in Kairo Brandsätze in einen Touristenbus. Dabei kommen
neun deutsche Urlauber und der einheimische Busfahrer ums Leben. Weitere
sechs Personen werden z.T. lebensgefährlich verletzt. Die Terroristen wollen mit
ihren Anschlägen den Fremdenverkehr, die wichtigste Devisenquelle Ägyptens
(rund 4 Millionen Urlauber pro Jahr), zum Erliegen bringen und dadurch langfristig den Sturz der weltlichen Regierung unter Präsident Hosni Mubarak herbeiführen. (Die Regierung wäre beim Versiegen dieser Geldquelle gezwungen, die Subventionen für importierte Lebensmittel zu kürzen bzw. ganz zu streichen; dies
wiederum würde unter der armen Bevölkerung unweigerlich zur Unzufriedenheit
mit der derzeitigen Regierung führen und sie für die Versprechungen der Islamisten, deren Ziel ein islamischer Gottesstaat ist, empfänglicher machen.)
Am 17. November 1997 erschießen sechs mit Maschinenpistolen bewaffnete islamische Terroristen vor bzw. in dem 3.400 Jahre alten Hatschepsut-Tempel in
der Nähe der oberägyptschen Stadt Luxor 58 ausländische Urlauber, darunter fünf
Deutsche und 31 Schweizer. 50 weitere Personen werden z.T. schwer verletzt.
227
Dies ist der weltweit bislang blutigste Terroranschlag auf Touristen. Die Zahl der
Touristen, die seit 1992 in Ägypten bei Anschlägen von muslimischen Extremisten ums Leben kamen, erhöht sich damit auf 96. Die sechs Attentäter werden nach
einer mehrstündigen Verfolgungsjagd von Sicherheitskräften erschossen. Die ohnehin gespannte Lage zwischen Ägypten und Sudan verschärft sich zunehmend,
da Präsident Hosni Mubarak die sudanesische Regierung als Urheber des Attentats bezichtigt.
Die „Gamaa Islamija“ (Islamische Vereinigung) bekennt sich in einem Schreiben
zu dem Massaker bei Luxor am 18. November 1997; allerdings sei ursprünglich
„nur“ die Entführung der Touristen geplant gewesen, um sie zur Freipressung des
religiösen Führers, Scheich Omar Abderrahman (wegen geplanter Anschläge auf
öffentliche Bauwerke Anfang 1996 in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt),
einsetzen zu können. Darüber hinaus kündigt die islamisch-extremistische Splittergruppe „Vanguard of Conquest“ (Speerspitze der Eroberung) weitere Anschläge in Ägypten an.
Trotz massiver Wirtschaftsreformen (u.a. Privatisierung von Staatsunternehmen)
liegt die Auslandsverschuldung Ägyptens – es ist mit 1.001.449 Quadratkilometern fast dreimal so groß wie Deutschland – noch immer bei fast 28 Milliarden
US-Dollar. Eines der Hauptprobleme ist das nur schwer unter Kontrolle zu bringende rasante Bevölkerungswachstum (jährlich etwa 2,4%). Auch der Rückgang
des Fremdenverkehrs, eine der Hauptdeviseneinnahmequellen, wegen der Bombenanschläge im Jahr zuvor, hat dem Land große wirtschaftliche Einbußen beschert.
In Kairo beginnt am 1. Februar 1999 vor dem Obersten Militärgericht ein Massenprozess gegen mehr als 100 mutmaßliche Terroristen verschiedener islamistischer Untergrundorganisationen, von denen sich allerdings nur etwa die Hälfte in
Gewahrsam befindet.
Nachdem die „Gamaa Islamija“ erklärt, künftig auf jegliche bewaffnete Aktionen
im In- und Ausland verzichten zu wollen, entlässt die Regierung am 30. April
1999 als Geste der Aussöhnung rund 1.000 Mitglieder der Organisation aus den
Gefängnissen.
Gleichzeitig kündigt jedoch die Untergrundorganisation „Dschihad“ („Heiliger
Krieg“/Jihad) – sie wird von dem aus Saudi-Arabien stammenden und derzeit in
Afghanistan lebenden Multi-Millionär Osama bin Laden unterstützt – weitere Anschläge an.
228
b) Grundzüge
Die politische Lage ist durch eine lange Kontinuität in der politischen Führung
des Landes gekennzeichnet. Präsident Mohamed Hosni Mubarak ist seit über 20
Jahren im Amt. Er hält unbeirrbar trotz aller Rückschläge grundsätzlich am Nahost-Friedensprozess fest, setzt einen deutlichen Schwerpunkt auf die Stabilisierung der inneren Sicherheit durch Zurückdrängung islamistischer Tendenzen. Er
spricht sich für eine wirtschaftliche Öffnung und Privatisierung sowie eine vorsichtige Demokratisierung aus – all dies aber, ohne Risiken für die politische und
soziale Stabilität einzugehen. Zuletzt wurde Präsident Mubarak am 26.09.1999
durch ein Referendum für eine vierte, sechsjährige Amtsperiode bestätigt.
c)
Religion
Fast 94 % Muslime (Sunniten), 6 % koptische Christen, Minderheiten von Katholiken, Protestanten, Griechisch-Orthodoxen und Juden.
Die Scharia, das islamische Recht, ist eine Quelle der Gesetzgebung. Staatsreligion ist der Islam, zu dem sich nach den Ergebnissen der Zählung von 1986 rd. 94
% der Bevölkerung bekannten (Schätzungen für 1994 nennen um 90 % Islamisten
sunnitischer Richtung). Die übrigen rd. 6 % gehören ganz überwiegend der koptisch-orthodoxen Kirche an, die in Ägypten, Sudan und anderen Ländern zusammen um 10 Mio. Mitglieder besitzt. Hinzu kommen kleine Gemeinden verschiedener christlicher Kirchen (Griechisch-Orthodoxe, Katholiken, Armenische
Apostolen, Protestanten) und einige Hundert Juden (1986: 794). Trotz latenter
Spannungen, die in gelegentlichen Zusammenstößen zwischen militanten Islamisten und Kopten zutage treten, ist die neuere Geschichte von der nationalen
Einheit von Muslimen und Kopten geprägt. Zum Nachfolger des im März 1996
verstorbenen konservativen Großscheichs der Al-Azhar Universität (wichtigste
Rechtsinstitution im sunnitischen Islam), Ali Gadd al-Haqq, ernannte Mubarak
am 27. März 1996 den "liberalen" Scheich Muhammed Sayed Attiyah Tantawi.
Zum Hohen Rat der Islamischen Verkündigung gehören der Großscheich, Präsident und Vizepräsident der Al-Azhar Universität, der Minister für islamische Angelegenheiten, der Großmufti (Nasr Wassel) und der Gen.-Sekretär des Hohen
Rats für islamische Angelegenheiten.
229
d) Regierung
Premierminister Atef Ebeid ist seit seiner Ernennung durch Präsident Mubarak im
Oktober 1999 im Amt. In der Praxis sind die Kompetenzen der Regierung eingegrenzt auf die Bereiche Wirtschaftsreformen und Sozialpolitik; insbesondere die
Außen- und Sicherheitspolitik des Landes werden de facto vom Staatspräsidenten
bestimmt. Die anhaltend schwierige wirtschaftliche Situation Ägyptens und die
fehlende Perspektive einer nachhaltigen Bekämpfung der beträchtlichen Armut
und Arbeitslosigkeit hat der Regierung Ebeid bereits viel Kritik eingebracht.
e) Parlament
Das ägyptische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Volksversammlung mit
454 Abgeordneten (davon 444 gewählt, 10 vom Präsidenten ernannt) als Gesetzgebungsorgan und der "Schura" mit beratender Funktion. In beiden Kammern
dominiert deutlich die regierende National-Demokratische Partei, deren Vorsitzender Präsident Mubarak ist. Eine Parteienlandschaft im westlichen Sinne gibt es
nicht wirklich.
Die letzten Wahlen zur Volksversammlung fanden im November/Dezember 2000
statt. Erneut kam eine große Mehrheit für die National-Demokratischen Partei
zustande. Die Oppositionsparteien konnten nur vereinzelte Sitze erringen. Die
Muslimbrüder, die unter das Verbot religiöser Parteibildung fallen und keinen
offiziellen Wahlkampf führen konnten, errangen dennoch 17 Sitze im neuen Parlament. Die entsprechenden Abgeordneten gehörten formal zur Gruppe der Unabhängigen. Die Wahlen fanden erstmals unter direkter richterlicher Aufsicht statt.
Dennoch gab es Klagen über Wahlmanipulation durch Einschüchterungen und
Behinderungen außerhalb der Wahllokale.
Im Dezember 2003 wurden Nachwahlen zu einer Reihe von Parlamentssitzen erforderlich, nachdem die Wahl einiger Abgeordneter vom Verfassungsgericht für
ungültig erklärt worden war. Die Durchführung dieser Nachwahlen war sehr umstritten und ist derzeit Gegenstand eines neuen Verfahrens vor dem Verfassungsgericht.
230
f) Militanter Islamismus und Terrorismus
Die Regierung scheint den Kampf gegen militante Islamisten bisher weitgehend
erfolgreich bestanden zu haben. Starke Sicherheitsvorkehrungen und hartes
Durchgreifen der Regierung gegenüber Extremisten haben terroristische Aktivitäten weitgehend zum Erliegen gebracht, menschenrechtliche Standards werden
dabei nicht immer beachtet. Der politische Islam als gesellschaftliche Kraft ist
aber nach wie vor präsent. Das öffentliche Leben in Ägypten und die dazu gehörigen Wertvorstellungen werden traditionell erheblich von der islamischen Religion
geprägt, wobei die gemäßigt-sunnitische Ausrichtung der Azhar Universität dominiert.
g) Aktuelle Situation
Sowohl die politischen Strukturen als auch die Situation der Menschenrechte sind
unbefriedigend. Im Frühjahr 2003 ist das seit 1981 ununterbrochen geltende Notstandsrecht erneut verlängert worden. Folter und Misshandlung sind nach wie vor
weit verbreitet. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass im regionalen
Vergleich die Demokratieansätze im politischen System und die Presse- und Meinungsfreiheit relativ ausgeprägt sind. Der Ruf nach weiterer Demokratisierung,
Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Respektierung der Menschenrechte nimmt
zu. Die Mitglieder des mit Gesetz vom Juni 2003 geschaffenen Nationalen Rates
für Menschenrechte wurden im Januar 2004 ernannt; an der Spitze dieses neuen
Organs wird Boutros Boutros-Ghali, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten
Nationen, stehen. Der Rat soll demnächst seine Arbeit aufnehmen, die dann erweisen muss, ob sie zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beitragen
kann.
Auf dem Parteitag der Regierungspartei NDP unter dem Motto "Neues Denken –
die Rechte des Bürgers stärken" (26.-29.9.2003) hat Präsident Mubarak weitere
gesellschaftliche und politische Reformen angekündigt. Sie betreffen so vielfältige
Bereiche wie das Bildungssystem, das Recht der politischen Parteien, die Jugendpolitik, Gesundheitsversorgung und Versorgung der Bevölkerung mit Basisgütern,
die Gleichstellung der Frau und stärkere Partizipation der Bevölkerung bei politischen Entscheidungsprozessen. Es bleibt abzuwarten, wie diese Ankündigungen
in die Praxis umgesetzt werden.
231
Das Anfang Juni 2002 verabschiedete Gesetz über Stellung und Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NRO) trägt starke Züge staatlicher Kontrolle, u.a. durch
die in diesem Gesetz vorgeschriebenen bürokratischen Verfahren. Der Aufbau
einer Zivilgesellschaft wird dadurch auch weiter klar reglementiert. Politische
Stabilität und strikte staatliche Kontrolle des öffentlichen Lebens bleiben oberste
Maxime des innenpolitischen Handelns.
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
Seit der Rückkehr Ägyptens in die Arabische Liga 1990 ist Kairo wieder Hauptsitz der panarabischen Organisation. Der langjährige ägyptische Außenminister
Amr Moussa wurde im März 2001 neuer Generalsekretär der Arabischen Liga.
Seit der Überwindung seiner Isolierung im arabischen Lager ist es Ägypten unter
Präsident Mubarak gelungen, die Führungsposition in der arabischen Welt zurückzugewinnen.
Ägypten lebt seit 1979 mit dem Nachbarstaat Israel im Frieden. Die politischen
Beziehungen werden durch die Entwicklungen im Nahost-Friedensprozess bestimmt. Seit Beginn des Prozesses setzt Ägypten sein volles politisches Gewicht
für die Schaffung einer dauerhaften Friedensordnung ein und nutzte sein Vertrauenskapital bei Israelis und Palästinensern für die Überwindung von Hindernissen.
Im September 1993 sprach der israelische Außenminister Shimon Peres vor der
Vollversammlung der Vereinten Nationen. Erstmals seit Bestehen Israels blieben
fast alle arabischen Staaten im Saal. Ägypten hatte nach Abschluss des Friedensvertrages 1979 hinsichtlich Verständigung und Kooperation den Anfang gemacht.
Es war kein Zufall, dass gerade Ägypten - also der Staat, der am meisten im
Kampf gegen Israel gelitten hat - zuerst mit Israel Frieden schloss. Diese Grundvoraussetzungen für den Verhandlungserfolg kann es als Vermittler weitergeben
wie kein anderer Staat dieser Region. Hinzu kommt aber auch, dass es nach Israel
die zweithöchste Militär- und Entwicklungshilfe der USA erhält. Alle Bemühungen für den Friedensprozess in Nahost entsprechen den ägyptischen Intentionen.
Das schließt vor allem die UN-Sicherheitsrates-Resolutionen 242 und 338 zur
Palästinenserfrage ein. Die beiden Resolutionen beinhalten, dass Israel sich wieder auf die Grenzen von 1967 zurückziehen muss und Ostjerusalem die Hauptstadt des palästinensischen Staates wird. Alle Friedensschritte, die Ägypten von
1994 bis heute realisiert hat, vor allem die von Sharm El-Sheikh in diesem Jahr,
beruhen auf der Grundlage der Entscheidungen der UNO. Seit Ausbruch der neu232
en Intifada im September 2000 und erst recht nach der Wahl Ariel Sharons zum
israelischen Premierminister sind die Beziehungen zu Israel belastet, der ägyptische Botschafter in Tel Aviv wurde vor zwei Jahren zurückberufen, der Posten ist
seither vakant. Ägypten unterstützt die Friedensbemühungen der USA, zu denen
eine strategische Partnerschaft besteht. Trotz gelegentlicher Irritationen und Meinungsunterschiede z.B. wegen der künftigen Rolle Arafats, ist die Zusammenarbeit eng und vertrauensvoll, wenngleich das Verhältnis in letzter Zeit, vor allem
seit dem Prozess gegen den ägyptisch-amerikanischen Staatsangehörigen Prof.
Saadeddin Ibrahim etwas abgekühlt ist. Amerika weiß jedoch die Unterstützung
Ägyptens, nicht erst seit dem 11.09.2001, im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus zu schätzen. Im Kontext des Nahost-Friedensprozesses und der IrakPolitik der USA bemüht Ägypten sich, arabische Solidarität und Loyalität zu seinem strategischen Hauptverbündeten miteinander in Einklang zu bringen. Kairo
strebt den Ausbau der Beziehungen zur Europäischen Union an. Die Mitwirkung
der EU an der Förderung des Nahost-Friedensprozesses - komplementär zu Bemühungen der USA - wird begrüßt. Die Stellungnahmen der EU zum Status von
Jerusalem und die Berlin-Erklärung vom März 1999 wurden als besonders hilfreicher europäischer Beitrag zum Friedensprozess gewürdigt. Von der Entwicklung
der Partnerschaft zur EU und der Mittelmeer-Zusammenarbeit im BarcelonaProzess erwartet Ägypten wirtschaftliche und politische Impulse für sich und die
Region. Die Paraphierung des Assoziationsabkommens steht noch aus. Ohne den
Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten gäbe es heute den Vermittler Ägypten im Nahen Osten nicht. Nur der kann ein arabischer Vermittler sein, der mit
Israel ein Friedensabkommen abgeschlossen und damit seine Loyalität gegenüber
beiden Verhandlungspartnern bekundet hat und dem ein gewisses Vertrauen der
verhandelnden Parteien entgegengebracht wird.
VI.
Wirtschaft Ägyptens
a) Außenhandel
Zu den wichtigsten Importgütern gehören landwirtschaftliche Produkte, Fahrzeuge, chemische Stoffe, Maschinen für den Bergbau sowie Metallwaren. Die wichtigsten Lieferstaaten dieser Produkte sind die USA, Deutschland, Italien, Frankreich und Japan. Aufgrund des rapiden Bevölkerungswachstums wurde das Land
immer mehr von Lebensmittelimporten abhängig, insbesondere von Weizen, Mehl
und Fleisch. Zu den wichtigsten Exportgütern zählen Rohöl und Erdölprodukte,
233
die mehr als die Hälfte der Einnahmen ausmachen; darüber hinaus werden auch
Rohbaumwolle, Baumwollgarn und -stoffe sowie Nahrungsmittel ausgeführt. Die
Hauptabnehmerländer für diese Erzeugnisse sind Italien, Rumänien, Deutschland,
Großbritannien, Frankreich und Japan.
Trotz umfangreicher Investitionen und strikter staatlicher Kontrolle hat Ägypten
eine negative Handelsbilanz. Ende der siebziger Jahre stiegen die Staatseinnahmen nach der Wiedereröffnung des Suezkanals. Mit dem Abschluss des Friedensvertrags mit Israel und der allmählichen Rückgabe der besetzten Gebiete auf der
Sinai-Halbinsel (einschließlich der Ölfelder) stiegen die Staatseinnahmen durch
den verstärkten Tourismus und die Ölproduktion rasch an. Mitte der neunziger
Jahre war Ägypten bei den westlichen Industrienationen mit insgesamt 14 Milliarden US-Dollar verschuldet. Die Handelsbilanz Ägyptens ist defizitär.
b) Wirtschaftslage
Die Anfang des Jahres geäußerten pessimistischen Prognosen über eine wirtschaftliche Talfahrt als Auswirkung des Irak-Krieges haben sich nicht bewahrheitet. Die Einnahmen aus dem Suez-Kanal entwickelten sich überdurchschnittlich
positiv. Auch der Tourismus hat wieder angezogen. 2003 besuchten mit über 6
Mio. Gästen mehr Touristen das Land als je zuvor. Deutschland stellte in 2002
mit über 730.000 Ankünften die stärkste Besuchernation und lag 2003 mit ca.
693.000 Touristen auf Platz zwei nach Italien. Die ägyptische Wirtschaft bleibt
anfällig für exogene Faktoren, da die Deviseneinnahmen zu über 50% aus dem
Tourismusgeschäft, Suez-Kanal-Einnahmen, Ölexporten und Gastarbeiterüberweisungen stammen.
Viel versprechender Wachstumsmotor der ägyptischen Wirtschaft ist die Gasförderung. Die nachgewiesenen Gasvorkommen sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Exportkapazitäten werden erheblich ausgebaut: Pipeline nach Jordanien, Syrien, Libanon sowie Verflüssigungsanlagen an der Mittelmeerküste zum
Gasexport nach Europa. Großangelegte petrochemische Projekte sind im Aufbau.
c) Wirtschaftspolitik der ägyptischen Regierung
Soziale und politische Stabilität haben für die ägyptische Regierung höchste Priorität. Wirtschaftliche Reformen kommen nur langsam voran. Potentiell unpopuläre
234
Entscheidungen wie Privatisierungen werden auch wegen ihrer negativen Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote nicht forciert. Es gibt kein umfassendes Wirtschaftsprogramm zur weiteren Ankurbelung der Wirtschaft. Der World Competitiveness Report 2001/02 des Weltwirtschaftsforums gibt deutliche Hinweise auf
ägyptische Defizite im Vergleich zu anderen Staaten der Region. Dringender
Nachholbedarf besteht u.a. bei der Förderung neuer Technologien, Deregulierung
des Arbeitsmarktes, Verbreitung und Nutzung des Internets, Investitionsförderung
bei Forschung und Entwicklung. Dringend reformbedürftig sind der Banken- und
Versicherungssektor, der Zoll, die überbordende Bürokratie, die Beteiligung von
Frauen im Wirtschaftsprozess (viermal größere Arbeitslosigkeit bei Frauen als bei
Männern) und das Management, besonders auch bei den Ausbildungsinhalten (die
Lehrpläne sind zum großen Teil noch auf dem Stand der 60er Jahre).
d) Arbeitsmarktlage
Die größte Herausforderung für die ägyptische Regierung wird in den kommenden Jahren die Schaffung neuer Arbeitsplätze sein, vor allem auch für junge Akademiker. Schon heute sind über 3 Mio. Akademiker arbeitslos. Jedes Jahr kommen fast 900.000 Schulabgänger neu auf den Markt, aber nur ca. 250.000 Jobs
werden jährlich geschaffen.
Ägypten braucht, wie andere Staaten der Region auch, mehr Handel und Investitionen zur Stimulierung von Wachstum und größerer wirtschaftlicher Dynamik.
Mehr Handel, vor allem aber eine weitere Liberalisierung des Handels und mehr
Investitionen sind essentielle Voraussetzung auch zur Reduzierung von Armut,
Anhebung des Lebensstandards der Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung, zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur Verbesserung von Wissen, Fähigkeiten
und Produktivität des enormen ägyptischen Arbeitskräftepotenzials.
e) Wirtschaftsbeziehungen zur Europäischen Union
Das Gesetz zum Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen vom 25.06.01 wurde von Ägypten am 07.04.03 ratifiziert. Ein EU-Ägypten-Interimsabkommen ist
am 01.01.2004 in Kraft getreten. Als "Block" ist die EU mit Abstand der größte
Handelspartner Ägyptens.
235
VII. Ägypten und der Irakkonflikt 2003
a)
Pressemitteilungen zum Irak-Konflikt
„SPIEGEL ONLINE: Mubarak: "Gerhard Schröder geht einen guten Weg"
Ägyptens Staatspräsident lobt deutsch-französischen Friedenskurs / Arabischer
Gipfel soll gemeinsame Anti-Kriegs-Stellungnahme abgeben / Mahnung an
USA, das Palästina-Problem zu lösen
Hamburg, 18. Februar 2003
Der ägyptische Präsident Husni Mubarak hat sich strikt gegen einen Irak-Krieg
ausgesprochen. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE wirbt er für die Politik von
Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac. Auf
einem Friedensgipfel will er die arabischen Länder auf eine gemeinsame AntiKriegs-Linie einschwören.
Mubarak, der zu Beginn einer Europareise am Dienstag in Berlin eintrifft, setzt
bei den diplomatischen Bemühungen zur Beilegung der Irak-Krise voll auf den
Beistand von Deutschland und Frankreich. "Gerhard Schröder, Jacques Chirac
und andere gehen einen guten Weg", sagte er in dem Interview mit SPIEGEL
ONLINE. "Wir unterstützen alle ehrlichen Bemühungen, der Kriegsgefahr entgegenzuwirken."
Mubarak trifft am Dienstag in Berlin mit Bundesaußenminister Joschka Fischer
und am Mittwochmorgen mit Bundeskanzler Schröder zusammen, bevor er weiter
zu Konsultationen mit Jacques Chirac nach Paris fliegt. "Ich will keinen Krieg",
sagte Mubarak zu den von ihm forcierten diplomatischen Friedensbemühungen,
die sich auf einen in der kommenden Woche in Scharm al-Scheich stattfindenden
Sondergipfel der Arabischen Liga konzentrieren. Ägyptens Präsident hofft, als
Gastgeber dieses Treffens eine einheitliche Position der Araber durchsetzen zu
können. "Die arabischen Staatsoberhäupter werden sich auf ihrem nächsten Gipfel
Ende des Monats zu einer einmütigen Stellungnahme aufraffen. Das ist sicher,
sonst hätte ich zu diesem Gipfel erst gar nicht aufgerufen."
Trotz des von den Amerikanern vorangetriebenen Truppenaufmarsches am Golf
sieht Mubarak noch immer eine Chance, den Waffengang mit Bagdad zu vermeiden. Der Weg über verstärkte Inspektionen im Irak sei dafür der einzig richtige:
"Ich glaube, dass die friedlichen Mittel, die es ja gibt, ausreichen, um einen Krieg
236
zu verhindern." An die Adresse der Amerikaner richtete Ägyptens Staatsoberhaupt zugleich die Mahnung: "Solange das Palästina-Problem ohne Lösung bleibt,
wird die ganze Region nicht zur Ruhe kommen."
Zu dem Arabergipfel in Scharm al-Scheich, auf dem die Sprecherrolle vom Libanon auf Bahrein übergeht, haben die Ligastaaten das Erscheinen ihrer Staats- und
Regierungschefs angekündigt. Nur Libyens Revolutionsführer Muammar alGaddafi will dem Treffen fernbleiben. Den Irak wird Saddam Husseins Stellvertreter Taha Jassin Ramadan repräsentieren.“
b) „Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union lehnen einen Irak-Krieg ab“
Die Afrikanischen Union hat auf ihrem Gipfeltreffen 4. Februar in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba einen Krieg gegen Irak entschieden abgelehnt. Die
aus 53 Staaten bestehende Union, die im vergangenen Jahr aus der Organisation
der Afrikanischen Einheit (OAU) hervorging, äußerte die Befürchtung, dass ein
Irak-Krieg ernste Folgen für die Wirtschaft des Kontinents haben könnte, vor allem durch den erwarteten Anstieg des Ölpreises. Die AU forderte zudem, dass
jegliche Entscheidung über einen Angriff auf Irak im UN-Sicherheitsrat gefällt
werden müsse. Der südafrikanische Präsident und derzeitige Vorsitzende der AU,
Thabo Mbeki, verwies darauf, dass viele Wirtschaftsprobleme des Kontinents
ihren Ausgangspunkt im starken Ölpreisanstieg nach dem Nahostkrieg von 1973
gehabt hätten. Sollte sich dies wiederholen, könnte die Neue Partnerschaft für
Afrikas Entwicklung (NEPAD) in ihrem Ansatz stecken bleiben. Das Programm
soll Investitionen auf dem Kontinent fördern“
Quelle: Lybien-News.de vom 04.02.2003, online unter:
www.libyen-news.de/februar_2003_teil_1.htm
VIII. Ägyptens Position zur Irak-Resolution
Ägypten lehnt einen Krieg gegen den Irak ab und daher auch die amerikanische
Resolution. Ägypten sieht die Probleme der Region eher in der ungelösten Palästina-Frage, als im Irak. Dabei nutzt Ägypten seine Rolle als Führungsmacht der
arabischen Welt, um eine einheitliche, arabische Position in der Irakfrage zu finden und zu formulieren.
237
IX.
-
Literaturverzeichnis
Ihlau, Olaf; Windfuhr, Volkhard: „Gehrhard Schröder geht einen guten
Weg“, Interview mit dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak, in:
Spiegel Online v. 18.02.2003, online unter:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,236529,00.html
-
Länderbeitrag Ägypten, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg.
v. Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
-
Lybien-News.de vom 04.02.2003, online unter:
http://www.libyen-news.de/februar_2003_teil_1.htm
238
Algerien
I. Geographische Karte
239
II. Basisdaten
-
Ländername
Demokratische Volksrepublik
Algerien (El-djumhuriya el-djazairiya ed dimukratiya esch-schaâbiya)
-
Klima
Mittelmeerklima in der Küstenzone, sonst Wüstenklima
-
Lage
1.200 km lange Mittelmeerküste,
6.000 km Grenze zu Tunesien, Libyen, Niger, Mali, Mauretanien, Westsahara und Marokko
-
Größe
2,38 Mio. qkm (7-fache Größe Deutschlands)
-
Hauptstadt
Algier (über 3 Mio. Einwohner)
-
Bevölkerung
rund 32 Mio. Araber und Berber, Wachstumsrate ca. 2% p.A. (rückläufig),
66% unter 30 Jahren (D: 33%)
-
Landessprache
Arabisch, Mazirisch; Verkehrssprache auch Französisch
-
Religion
Islam, sunnitisch (Staatsreligion), unter 3% Christen
-
Nationaltag
240
November (Beginn des Unabhängigkeitskampfes 1954)
-
Unabhängigkeit
5. Juli 1962
-
Regierungsform
Republik
-
Parlament
zwei Kammern: Nationalversammlung und Senat
-
Staatsoberhaupt
Abdelaziz Bouteflika (seit 1999; 2004 für 5 Amtsjahre wiedergewählt)
-
Regierungschef
Ahmed Ouyahia
-
Außenminister
Abdelaziz Belkhadem
-
Parlamentspräsident
Amar Saïdani (FLN, seit 23.6.2004
-
Senatspräsident
Abdelkader Bensalah
-
Regierungsparteien (in Klammern Sitze bei der letzten Parlamentswahl
am 30. Mai 2002, insgesamt 389 Sitze)
•
FLN - Front de Libération
•
Nationale (199), aus dem Befreiungskampf hervorgegangene ehe-
malige
•
Einheitspartei;
•
RND - Rassemblement National Démocratique (47), dem Präsiden-
ten nahestehende
•
Sammlungsbewegung, die sich ideologisch in der Nähe europäi-
scher
•
Sozialdemokraten sieht;
241
-
-
-
•
MSP - Mouvement de la Société pour la Paix (38), ex-Hamas,
•
gemäßigt-islamisch;
•
PRA - Parti du Renouveau Algérien (1)
Opposition im Parlament:
•
MRN - Mouvement de la Réforme
•
Nationale (43), islamistisch;
•
PT - Parti des Travailleurs (21), trotzkistisch;
•
FNA - Front National Algérien (8)
•
MN - Mouvement Ennahda (1), islamistisch;
•
MEN - Mouvement de l Entente Nationale (1);
•
Unabhängige (30)
Gewerkschaften
•
Gewerkschaftsdachverband UGTA
•
(Union Générale des Travailleurs Algériens) sowie unabhängige
•
Einzelgewerkschaften
Verwaltungsstruktur
48 Verwaltungsbezirke (Wilayate), aufgeteilt in 1541 Gemeinden
-
Mitgliedschaft in internationalen Organisationen
•
Vereinte Nationen, ILO, WHO, FAO,
•
ITU, UPU, ICAO, UNICEF, UNIDO, IAWA, Weltbank, IWF, AU
(Afrikanische Union),
•
-
Arabische Liga, OPEC, UMA (Union des Arabischen Maghreb)
Wichtigste Medien
•
Radio und Fernsehen
•
(nur staatlich): ENTV (Entreprise Nationale de la Télévision);
ENRS (Entreprise Nationale de la Radio sonore);
•
Tageszeitungen (Auswahl):
242
•
französisch: Le Quotidien d’Oran, Liberté, El Watan, L'Authenti-
que, Le Matin,
El Moudjahid, La Tribune, La Nouvelle République, Le Jeune Indépendant
•
-
arabisch: El Khabar, El Youm
Währung
1 Euro entspricht etwa 90 algerischen Dinar (DA)
-
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
54,7 Mrd. USD (2001)
-
BIP pro Kopf
o
-
USD
Entwicklungsstand
lt. Weltentwicklungsbericht 2002 des UNDP steht Algerien unter 173 berücksichtigten Ländern auf Platz 106 (D steht an 17. Stelle)
III.
-
Geschichte:
ab ca. 1500 v. Chr.
Die Entwicklung des heutigen Staatsgebiets von Algerien war von der ersten
nachweisbaren Besiedlung bis zur Unabhängigkeit im Jahre 1962 geprägt
von Invasionen verschiedener Volksstämme und Kulturen: Berber, Phönizier, Karthager, Römer, Vandalen und Araber (Islamisierung ab dem
7Jahrhundert).
-
1529-1830
Zugehörigkeit zum osmanischen Reich
-
1830-1962
Französische Kolonialzeit
-
01.11.1954
Beginn des Unabhängigkeitskrieges
243
-
05.07.1962
Erlangung der Unabhängigkeit, Beginn der Schaffung einer zentralistischen
sozialistischen Planwirtschaft unter den ersten beiden Staatspräsidenten
-
1962-1965 / 1965-1979
Ben Bella und Boumédienne.
-
1979-1992
Staatspräsident Chadli Bendjedid
-
05.10.1988
Volksaufstand führt zu umfassenden Reformen
-
1989
Demokratische Verfassung wird per Referendum angenommen (Trennung
von Partei und Staat, parlamentarische Verantwortung, Pluralismus, politische Freiheiten und Garantien der Menschenrechte).
-
1991
Erste freie Parlamentswahlen: Die Islamische Heilspartei (FIS) erhält im
ersten Wahlgang 188 von 430 Sitzen. Die Armee greift ein, der Wahlvorgang wird abgebrochen und Staatspräsident Chadli abgesetzt, der Notstand
wird ausgerufen und die Islamistenpartei FIS verboten. Der "Hohe Staatsrat"
unter Vorsitz von Mohamed Boudiaf übernimmt das Präsidentenamt und
veranlasst die Auflösung des Parlaments; ein großer Teil der Islamisten geht
in den Untergrund, um sich dembewaffneten Kampf anzuschließen. Der Terror fordert in 90er Jahren weit über 100.000 Opfer
-
1992
Ermordung von Boudiaf
-
1996
Neue Verfassung
-
1997
Parlamentswahlen, Ernennung und Wahl von General a.D. Zéroual zum Präsidenten, demokratischer Reformprozess wird in Gang gesetzt.
244
-
April 1999
Wahl und Amtsübernahme von Präsident Abdelaziz Bouteflika
-
Sept. 1999
Volksabstimmung über neue Versöhnungspolitik
-
Jan. 2000
Auslaufen der Amnestiefrist für reuige Islamisten, Selbstauflösung der AIS
als bewaffneter Arm der FIS
-
März 2000
Unbefristete Verlängerung des Amnestieangebotes durch Staatspräsident
Bouteflika
-
30. Mai 2002
Parlamentswahlen
(Wahlbeteiligung lag bei ca. 46%) - Sieg der früheren Einheitspartei FLN
-
8. April 2004
Staatspräsident Bouteflika wird mit 85% der abgegebenen Stimme wiedergewählt
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
a) Allgemein
Nach der Verfassung von 1996 ist Algerien eine parlamentarische Demokratie, die
auf den Säulen von Arabität, Islam und Berberität beruht. Der Präsident wird für
maximal zwei Amtszeiten von je fünf Jahren direkt gewählt.
Neben der nach Verhältniswahlrecht (mit 5%-Klausel) gewählten Nationalversammlung (Assemblée Populaire Nationale) besteht eine zweite Kammer (Conseil
de la Nation oder Sénat), deren Mitglieder zu einem Drittel vom Präsidenten bestimmt und zu zwei Dritteln von den Gemeindevertretern gewählt werden. Der
Senatspräsident vertritt den Staatspräsidenten.
Der Verwaltungsaufbau des Landes ist zentralistisch. Das Land ist in 48 Regierungsbezirke, "Wilayate", untergliedert, denen jeweils ein Wali (Gouverneur) vorsteht. Dieser ist dem Innenministerium in Algier unterstellt.
245
Präsident Bouteflika übernahm sein Amt im April 1999 und wurde im April 2004
mit einer deutlichen Mehrheit (ca. 85%) für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt.
Oberstes Ziel seiner Politik ist die Wiederherstellung des inneren Friedens und
eine nationale Aussöhnung (weitgehende Straffreiheit für reuige Terroristen). Diese Politik wurde in einem Referendum im September 1999 mit überwältigender
Zustimmung bestätigt. Ende Mai 2002 fanden Neuwahlen für das Parlament statt,
bei denen die Front de Libération Nationale (FLN) eine absolute Mehrheit der
Mandate erringen konnte.
Die Regierung unter Regierungschef Ahmed Ouyahia verfügt über eine breite
Mehrheit im Parlament. Ihr gehören die frühere Einheitspartei FLN, die Sammlungsbewegung RND, die islamisch-konservative Partei MSP und die Kleinpartei
PRA an. Wichtige Reformvorhaben der Regierung sind der Aufbau einer Marktwirtschaft, Modernisierung der Staats- und Verwaltungsstrukturen, Liberalisierung des Bank- und Finanzsystems, Justiz- und Bildungsreform.
Die offizielle Anerkennung ihrer Sprache ist eine der Forderungen der Protestbewegung in der berberischen Region der Kabylei. Im April 2002 hat das Parlament
mit einer Verfassungsänderung die berberische Sprache (Mazirisch oder Tamazight) zur zweiten Landessprache erhoben. Die gewaltsamen Unruhen, die sich
seit Ende April 2001 gegen alle staatlichen Einrichtungen und vor allem gegen die
Gendarmerie in der Kabylei richten, konnten damit aber nicht beendet werden.
Die Lösung der besonderen Probleme dieses Landesteils und die Wiederherstellung des Friedens ist eine der dringendsten Aufgaben der neuen Regierung.
Algerien ist den wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten. Die Verfassung verspricht einen hohen Grundrechtsschutz. Neben verschiedenen Nicht-Regierungsorganisationen soll auch eine staatliche Institution die
Einhaltung der Menschenrechte fördern. Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen haben mit dem Rückgang des Terrorismus seit 1998 schrittweise abgenommen, bestehen jedoch fort. Die Aufklärung des Schicksals in den Wirren des Terrorismus "verschwundener" Personen bleibt eine schwere Hypothek. Die Regierung versichert, allen internationalen Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen und Verstöße durch staatliche Organe im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zu verfolgen und zu bestrafen.
246
b) Das politische System
Die algerische Politik scheint sich im Kreis gedreht zu haben. Das zeigt sich nicht
zuletzt daran, dass Algerien seit fast vier Jahrzehnten von den gleichen Personen,
welche in wechselnden militärischen und politischen Schlüsselpositionen auftauchen, regiert wird. Dazu gehört der heutige Präsident, Bouteflika, der schon vor
über 35 Jahren als Außenminister amtierte. Geändert hat sich lediglich, dass die
algerischen Generäle im Gegensatz zu den achtziger Jahren nicht mehr die innenund außenpolitischen Entscheidungen in einem Einparteiensystem auf diese Weise steuern, sondern in einem formell pluralistischen System.
c) Algerischer Bürgerkrieg (1992-1997)
Bei den Wahlen 1990 und 1991 wurden (meist noch aus Protest) die Islamisten
gewählt, doch bevor im entscheidenden zweiten Wahlgang die Islamisten die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen erringen konnten, putschte das Militär.
In dem darauf folgenden Bürgerkrieg in Algerien, welcher von 1991 bis 1997
dauerte, bekämpften sich das (sozialistische) Militärregime und islamistische Rebellen. Die Anzahl der Todesopfer des Bürgerkrieges wird alleine von 1991 bis
1997 auf mindestens 100.000 Tote geschätzt. Systematische Folter, geheime Gefängnisse, 5000 «Verschwundene», mindestens 50’000 politische Gefangene und
die zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der gesamten algerischen Gesellschaft prägten das Land.
1991 hatte das algerische Militärregime die algerischen Wahlen abgebrochen, als
sich ein Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) abzeichnete. Die fundamentalistische
FIS
forderte
einen
Gottesstaat
und
ist
in
Algerien
verboten.
Seit 1991 herrschte in Algerien Bürgerkrieg, Der militärischer Arm der FIS, die
AIS (Islamische Armee des Heils), vor allem aber die Splittergruppe GIA (Bewaffnete Islamische Gruppe), terrorisieren die Bevölkerung mit Massakern und
Attentaten. Die GIA bezeichnet ihre Bluttaten als "Opfergabe an Gott".
Zwischen 1993 und 1995 forderte der Algerische Bürgerkrieg wöchentlich
manchmal über 500 Todesopfer.
Der Krieg nahm beispiellose Formen und eine bislang unbekannte Gewalt an,
besonders seit der Verbreitung der Milizen in ländlichen und vorstädtischen Gebieten.
247
Zwischen 1993 und 1997 stellten drei große Herausforderungen eine Bedrohung
für die algerische Regierung dar:
•
die Herausbildung einer politischen Alternative,
•
das Entstehen einer islamistischen Guerilla
•
und der finanzielle Ruin des Staates.
Das Hervortreten der zahlreichen paramilitärischen Gruppen (Milizen, „Todesschwadronen“, Spezialeinheiten etc.) und die sich ständig spaltenden bewaffneten
islamistischen Gruppen hatten das Wesen des Krieges bestimmend verändert. Es
gab nicht mehr den Krieg der „Islamisten“ gegen eine „Sozialistische Regierung“,
es gab einen Bürgerkrieg der sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung, gegen
Frauen und Kinder richtete und in Massakern im Jahre 1997 seinen Höhepunkt
fand: nachts wurden Dörfer und Städte überfallen, den Frauen, Kindern, sogar
Babys wurden die Kehlen durchschnitten oder sie wurden geköpft. Am 30.09.97
berichtete die Nachrichtenagentur Reuter davon, dass muslimische Fundamentalisten elf Lehrerinnen überfallen und ermordet haben. Auch ihnen wurden die
Kehlen durchgeschnitten. Zuvor waren die Frauen mehrfach bedrängt worden,
ihre Arbeit aufzugeben.
Paradoxerweise schien gerade die in Anbetracht dieser Massaker drohende „Gewaltausweitung“ den Anlass dafür zu geben, dass innerhalb der Armee und der
islamistischen Verbindung von AIS und FIS die Bedingungen für eine Versöhnung geschaffen wurden. Das kollektive Morden von Kindern, Frauen und Greisen im Laufe des Jahres 1996/97 hatte bewirkt, dass sich die politische Klasse
Algeriens und auch die internationale Gemeinschaft zunehmend des Dramas bewusst wurden. Die Massaker stellen einen Wendepunkt in dem Bürgerkrieg dar.
Durch diese kollektiven Ermordungen wurde die Armee um den Erfolg gebracht,
den sie aufgrund der positiven Ergebnisse ihrer Sicherheitspolitik seit dem Abbruch des Wahlverfahrens für sich verbuchen konnte. Es war dem Militärregime
ja tatsächlich gelungen, verschiedene bewaffnete, islamistische Gruppierungen zu
zerschlagen.
•
Gleichzeitig mussten die politischen Parteien der Opposition, die
sich für eine friedliche Lösung des Konflikts aussprachen, als offensichtliche Tatsache anerkennen, dass die algerische Armee wieder eine wichtige
Machtinstanz war. Eine Lösung des Konflikts konnte nach den Massakern
nur mit – und nicht gegen die Militärregierung erfolgen.
248
•
Die islamistischen Fundamentalisten selbst verloren mit den Mas-
sakern letztendlich die Unterstützung der Bevölkerung. Diese fehlende
Unterstützung schwächte die islamistischen Gruppierungen erheblich Eine
Guerilla, die sich unter der Zivilbevölkerung nicht mehr wie der „Fisch im
Wasser“ bewegen und verbergen kann, verliert ihre Schlagkraft.
•
Die vier Menschenrechtsorganisationen amnesty international,
Human Rights Watch, Internationale Liga für Menschenrechte und Reporter ohne Grenzen forderten am 15.10.97 in einer gemeinsamen Erklärung
die UN-Menschenrechtskommission auf, eine Sondersitzung über die Lage
in Algerien einzuberufen. Auch die EU – und damit vor allem auch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich - sei gefordert.
Inzwischen hatte allerdings der interne Harmonisierungs- und Befriedungsprozess
Algeriens begonnen.
Mit Ausnahme der Islamischen Rettungsfront (FIS) nahmen im Juni 1997 alle
Parteien, die bis dahin die so genannte „Verweigerungsfront“ bildeten, an den
Wahlen teil und erklärten sich bereit, ihre Sitze in der algerischen Nationalversammlung einzunehmen. Im September desselben Jahres kündigte der bewaffnete
Arm des FIS, die Islamische Armee des Heils (AIS), die Einstellung des bewaffneten Kampfes an, die am 1. Oktober in Kraft trat.
Seit 1997 gehen die meisten Schätzungen von weniger als 500 Toten im Monat
aus. Die Zahlen stützen die Position der Regierung, die von einer Verbesserung
der „öffentlichen Sicherheit“ spricht.
Die 1993 vor der Zahlungsunfähigkeit stehende Regierung von Ahmed Ouyahyia
verkündet Ende des Jahres 1997, dass sie über eine Währungsreserve von 8,5 Milliarden Dollar verfügt und nicht beabsichtigen würde, den Strukturanpassungsplan
im Jahr 1998 zurückzuziehen. Innerhalb von wenigen Jahren gelang es dem algerischen Regime, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden. Dieselbe Regierung,
die 1993 kurz vor dem Zusammenbruch stand, bezeichnete 1997 die Gewaltakte
innerhalb des Landes als eine „Randerscheinung“.
Al die fürchterlichen Massaker in Algerien bekannt wurden, denen zu Beginn des
Jahres teilweise mehrere hundert Menschen zum Opfer fielen, schreckte die Weltöffentlichkeit auf. Die Lage im Land selbst wurde immer undurchsichtiger: Das
Regime löste das staatliche Gewaltmonopol auf und bewaffnete ca. 200.000 "Patrioten" zur Selbstverteidigung. Diese führen nun auf eigene Rechnung Krieg. Da249
bei verschärfen sich die Kämpfe, die hinter den Kulissen ausgetragen wurden. Der
für Februar 1999 angekündigte vorzeitige Rücktritt des Präsidenten-Generals Zeroual ebenso wie die Entmachtung seines wichtigsten Ratgebers, des früheren
Geheimdienstchefs General Betchine führten zu einem Machtwechsel, der im April 1999 zur Wahl eines neuen Präsidenten - Abdelaziz Bouteflika – führte.
Auch unter Bouteflika fand der Bürgerkrieg kein Ende. Die Erwartungen, die viele auf Bouteflika gesetzt hatten, wurden enttäuscht. Die einzigen Erfolge, die er
erringen konnte, waren außenpolitischer Natur. So konnte er sowohl die Beziehungen zu Frankreich verbessern (was ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen zu erklären ist, denn Paris kümmert sich traditionell wenig um die Menschenrechtssituation in den ehemaligen Kolonien), als auch im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea eine konstruktive Rolle als Vermittler spielen. Um die Lage im
Land steht es dagegen nach wie vor schlecht.
Arrangiert hatte sich lediglich der bewaffnete Arm der Islamischen Heilsfront, die
AIS-Islamische Rettungsarmee, aus deren Reihen der Großteil der insgesamt
5.500 Reuigen" kommt.
Andere bewaffnete Gruppen setzen ihren Kampf mit unverminderter Härte fort
und scheinen auch über genügend Nachwuchs zu verfügen. "Islamische" Züge
trägt deren "Kampf" keineswegs. Die Überfälle auf die - meist ländliche - Zivilbevölkerung dienen sowohl der unmittelbaren Erbeutung von Rindern und Schafen, als auch der Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung von ihren Grundstücken.
Nach einem Bericht des algerischen militärischen Sicherheitsdienstes sind im Jahr
2000 insgesamt 1.025 "islamistische" Untergrundkämpfer getötet worden. Dem
standen 603 getötete Sicherheitskräfte und 117 "Dorfwächter" gegenüber.
Algeriens blutiges Jahrzehnt wurde während Bouteflikas erster Amtszeit Vergangenheit (ab 1999) langsam beendet. Tausende von Kämpfern stiegen von ihren
Bergen und nahmen die versprochene Amnestie an.
V. Außenpolitische Entwicklung von 1990-2001
a)
Allgemein
Die außenpolitische Grundorientierung Algeriens war lange Zeit ideologisch fundiert.
250
Im 2. Golfkrieg war die algerische Regierung strikt gegen den Einmarsch der
Streitkräfte der USA in den Irak und versuchte eine friedliche arabische Lösung
herbeizuführen. Dadurch wurde die Beziehung zu Iran intensiver, jedoch die
Spannung zwischen USA und den Alliierten zu Algerien größer.
Durch die Bestrebung der Abgrenzung von Frankreich sowie der Glaube an den
sozialistischen Entwicklungsweg entstand im Rahmen der Außenpolitik eine offensive Strategie, die einerseits die eigene nationale Unabhängigkeit, aber andererseits auch die arabische Einheit und die Kooperation mit anderen Entwicklungsländern umspannte. Mittels des soliden Nachdrucks, mit dem Algerien versuchte, die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Frankreich zu lösen, um weitgehende Unabhängigkeit zu erlangen, unterschied sich die algerische Führung von
der Marokkos oder Tunesiens. Durch die daraus resultierende wesentlich geringer
ausgeprägte Abhängigkeit von Einfuhrquoten und Tarifregularien bezüglich des
europäischen Marktes, war es Algerien anders als Marokko und Tunesien möglich, gegenüber der EU aus einer Position relativer Stärke zu verhandeln und nicht
nur nach europäischen Bedingungen zu reagieren.
Ferner versuchte Algerien schon während des Ost-West-Konflikts in den 70er und
80er Jahren seine internationalen Beziehungen außerhalb der Einflussgebiete
Moskaus und Washingtons zu organisieren und setzte auf die Institutionalisierung
der Kooperation mit Entwicklungsländern im Rahmen der Blockfreienbewegung
und multilateralen Organisationen. Einem Wandel unterzog sich die algerische
Außenpolitik erst in den 80er Jahren, wobei die größtenteils ideologisch ausgerichteten Fragmente zu Gunsten wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Interessen wichen. Die Beziehung Algeriens zur EU kamen im Jahr 2002 durch den
Abschluss eines Assoziierungsabkommens einen wesentlichen Schritt voran,
wenn man bedenkt, dass das EU-Büro in Algier im Jahr 1994 aus Sicherheitsgründen geschlossen und erst 1997 wieder geöffnet wurde. Des Weiteren wurde
die außenpolitische Orientierung auf die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Agitation für ausländische Investitionen festgelegt, da Algeriens Handelsbilanz, trotzt der bedeutenden Rohstoffvorkommen und der Tatsache, dass
Algerien als eine der reichen Nationen Afrikas bezeichnet wird, negativ ist. Ein
weiteres wichtiges Anliegen der algerischen Außenpolitik war außerdem der Ausbau von Militärkooperationen, vorauf die Reiseaktivitäten (Weißrussland, Ukraine, Türkei, Indien, Südafrika, Deutschland und Brüssel) des Generalstabchefs
Lamari hindeuten. Auf regionaler Ebene hat diese Bestrebung schon erste Erfolge
251
erzielt, die sich in Form der Unterzeichnung eines Militärabkommens am
21.11.2001 mit Tunesien niedergeschlagen haben. Mit dem Nachbarstaat Marokko konnte bislang jedoch noch kein Durchbruch in den Beziehungen erreicht werden, da wie in den Vorjahren die Westsaharafrage(s.u.) und Grenzunstimmigkeiten die Intensivierung des Kontakts verhinderten.
b)
Westsaharakonflikt
Die früher spanische Kolonie Westsahara wurde 1975 von Spanien aufgegeben,
als 350000 unbewaffnete Marrokaner im „Grünen Marsch“ das Land besetzten.
1976 wurde das Land mit Mauretanien geteilt, wobei Marokko vor die Kontrolle
über die Gebiete mit reichen Phosphatvorkommen errang. Nachdem Mauretanien
sich 1979 aus der Westsahara zurückzog, besetzte Marokko auch diese Landesteile.
Allerdings bildete sich bald der militärische Widerstand der einheimischen Bevölkerung unter der POLISARIO, der von Libyen und Algerien unterstützt wurde.
Dieser Krieg führte zu einer schweren Belastung für die marokkanische Wirtschaft. Mit Hilfe eines Grenzwalls konnte die marokkanische Armee die Guerillaaktionen der POLISARIO eingrenzen. Die meisten einheimischen Bewohner flohen nach Algerien, wo 180.000 Saharauis in Lagern bei Tindouf leben.
Seit 1988 bemüht sich die UNO um eine Lösung des Konflikts. Mehrere vereinbarte Waffenstillstände hielten aber nicht lange. 1997 kam es aber unter USVermittlung zur Vereinbarung eines Referendums über die Zukunft der Westsahara. Allerdings konnte Marokko bisher ein solches verhindern, da Streit über die
Anzahl der beim Referendum teilnahmeberechtigten Menschen herrscht. Dies ist
vor allem deshalb von Bedeutung, weil seit einiger Zeit verstärkt Marokkaner in
der Westsahara angesiedelt werden. Eine wirkliche Lösung des Konflikts ist bisher nicht in Sicht.
VI.
Wirtschaft Algeriens
a)
Wirtschaftslage, Wirtschaftsstruktur
Algerien befindet sich in einer Umbruchphase von einer planwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaft (knapp 70% Staatsbetriebe) hin zu einer Marktwirtschaft.
Die Anfang der 90er Jahre begonnene, mit dem Internationalen Währungsfonds
252
abgestimmte Konsolidierungs- und Privatisierungspolitik wird fortgesetzt. Angesichts von fast 30% Arbeitslosigkeit (über 60% bei den unter 30-jährigen) strebt
Algerien eine sozial geprägte Marktwirtschaft an. Der Privatsektor gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Im Jahre 2001 hat die Regierung ein Vierjahresprogramm zur Wirtschaftsankurbelung aufgelegt, ausgestattet mit 8 Mrd. USD, die vorwiegend in Infrastrukturprojekte fließen sollen. In diesem Bereich weist Algerien einen hohen Nachholbedarf
auf, der für die deutsche Wirtschaft von besonderem Interesse ist (z.B. Autobahnprojekte, U-Bahn-Ausbau, Wasserinfrastruktur).
Reformen des Bank- und Finanzsektors sowie des Justizwesens und umfangreiche
Infrastrukturvorhaben sind angekündigt und werden teilweise bereits verwirklicht.
Flankierende EU-Maßnahmen (die Hilfsprogramme Meda I und II) dienen der
Unterstützung der Reform- und Modernisierungspolitik.
Algerien hat ein Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen und führt intensive Verhandlungen über die Aufnahme in die Welthandelsorganisation. Die
damit verbundene Verpflichtung zur Liberalisierung der Wirtschaft stellt Algerien
vor große Herausforderungen, um der Konkurrenz auf den internationalen Märkten gewachsen zu sein. Im Juni 2002 trat der deutsch-algerische Investitions- und
Fördervertrag vom 08.03.1996 in Kraft. Der Hermes-Kredit-Plafonds wurde 2002
auf 200 Mio. Euro aufgestockt, das Kreditrisiko auf die Stufe 4 zurückgestuft.
b)
Wichtigste Wirtschaftszweige
Der wichtigste Wirtschaftsbereich Algeriens ist der Erdöl- und Erdgassektor. Er
macht 30% des Bruttoinlandsprodukts, 60% der staatlichen Einnahmen und 97%
der Ausfuhren aus. Die Wirtschaftsentwicklung hängt daher stark vom Erdölpreis
ab.
c)
Außenwirtschaft
Deutschland führte im Jahr 2002 Waren im Werte von 906 Mio. EUR (fast ausschließlich Erdöl und Erdölprodukte) aus Algerien ein. Die Ausfuhren betrugen
im gleichen Zeitraum 904 Mio. EUR. Deutschland steht damit für Algerien an
vierter Stelle der Importeure und auf dem elften Platz im Bereich des Exports. Der
deutsche Export hat sich seit 1995 zwar mehr als verdoppelt, hat aber das Ergeb253
nis von Ende der 80er Jahre (Exportüberschuss ca. 2,5 Mrd. EUR) noch nicht
wieder erreicht. Die wichtigsten Warengruppen: Nahrungsmittelprodukte (ca.
25%), Maschinen (ca. 22%), Fahrzeuge, elektronische Erzeugnisse und chemische
Produkte. Der Luftfahrtsektor gewinnt an Bedeutung, Luftverkehrsverhandlungen
werden geführt.
Zwei algerische Messen sind für die deutsche Wirtschaft interessant: im Juni findet die Internationale Messe Algier statt, bereits seit drei Jahren mit offizieller
deutscher Beteiligung. Im März/April findet - bisher ohne amtliche Beteiligung die Internationale Automobilmesse statt. Einige Fachmessen werden von deutschen Messeveranstaltern organisiert.
VII.
Politische Stellung zur Irak-Resolution
Wie auch schon im 2. Golfkrieg lehnt die algerische Regierung jegliches gewaltsames Eingreifen in den Irak ab. Sie ist natürlich bereit sich bei der Bekämpfung
des Terrorismus, aufgrund innerpolitischer Erfahrungen, zu beteiligen, aber eine
Unterstützung der Irak-Resolution lehnt die algerische Regierung ab.
VIII.
-
Literaturangaben
Länderbeitrag Algerien, Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
-
Auswärtiges Amt, www.auswaertiges-amt.de
-
Algeria-watch, http://www.algeria-watch.de/index.html
-
Dingel, Eva: Der algerische Bürgerkrieg 1992-2002: Hintergründe eines
Krieges ohne Namen, in: weltpolitik.net, hrsg. v. Sandschneider, Eberhard u.
a., online unter: http://www.weltpolitik.net/Regionen/Afrika/
-
http://www.afrika-web.de
-
Khalatbari, Babak: Länderstudie Algerien, Stand 11/2003, hrsg. v. Düsseldorfer Institut für Außen- und Sicherheitspolitik, online unter:
http://www.dias-online.org/pdf/LStudien/Algerien_2003.pdf
-
Spiegel Online, http://www.spiegel.de
254
Libyen
I.
Geographische Karte
255
II.
-
Basisdaten
Ländername
Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija
-
Klima
Küstengebiet: Mittelmeerklima, Landesinneres: Wüstenklima
-
Lage
Südrand des Mittelmeeres, angrenzend an Ägypten, Sudan, Tschad, Niger,
Algerien und Tunesien
-
Größe
1,76 Mio qkm
-
Hauptstadt
Tripolis (ca. 1,75 Mio Einw.)
-
Bevölkerung
ca. 5,6 Mio. (Araber, arabisierte Berber, Tuareg, Tubu); ca. 1,2 Mio ausl.
Arbeiter
-
Landessprache
Arabisch
-
Religion
Islam (sunnitisch)
-
Nationaltag
September (Jahrestag Revolution 1969)
-
Unabhängigkeit
256
24.12.1951
-
Staats-/Regierungsform
"Dschamahirija" (Volksherrschaft)
-
Staatsoberhaupt
Offiziell: siehe Parlamentspräsident
Tatsächlich: "Revolutionsführer" Oberst Muammar al-Gaddafi
-
Stellvertretendes
Staatsoberhaupt entfällt
-
Regierungschef
Dr. Shukri Mohammed GHANEM
-
Außenminister
Abdulrahman Mohamed Shalgam
-
Parlament
"Allgemeiner Volkskongreß" (ca. 3000 Delegierte der 350 "BasisVolkskongresse")
-
Parlamentspräsident
Zanati Mohamed al-Zanati
-
Regierungsparteien
keine Parteien zugelassen
-
Opposition
Entfällt
-
Gewerkschaften
staatlich gelenkt
-
Verwaltungsstruktur des Landes
Zentralregierung, 32 "Volksbezirke"
-
Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen
•
VN
•
Arabische Liga,
257
•
Afrikanische Union (seit 2002)
•
OPEC, OAPEC (Organisation der arabischen erdölexportierenden Länder)
•
OIC (Organisation Islamische Konferenz)
•
IWF
•
Union des Arabischen Maghreb
•
Gemeinschaft der Sahel-Sahara-Staaten ("Sin-Sad")
-
Wichtigste Medien
Staatlicher Rundfunk und Fernsehen; staatlich gelenkte Zeitungen
-
Bruttoinlandsprodukt in USD (2003)
17,7 Mrd
-
Prokopf-BIP in USD (2003)
3.160
III.
-
Geschichte
1200-1000 v. Chr.
Phönizische Gründung von Sabratha, Oia (Tripolis) und Leptis Magna an
der west-libyschen Küste (karthagischer Kultur- und Handelsraum): spätere Region „Tripolitanien"
-
631 v. Chr.
Griechische Gründung von Kyrene und weiteren Städten an der ostlibyschen Küste (griechischer Kultur- und Handelsraum): spätere Region
„Cyrenaica"
-
146 v. Chr.
Rom zerstört Karthago: Tripolitanien gerät unter römischen Einfluß; das
Königreich Kyrene gelangt durch Erbfall an Rom
-
193-211 n. Chr.
Roms Kaiser Septimius Severus fördert seine libysche Heimatstadt Leptis
Magna
258
-
395 n. Chr.
Reichsteilung: Tripolitanien fällt an das lateinische Westrom, Cyrenaica an
das griechisch-byzantinische Ostrom
-
455-534 n. Chr.
Herrschaft der germanischen Vandalen in Tripolitanien
-
534-642 n. Chr.
Justinians Rückeroberungen bringen neben Cyrenaica auch Tripolitanien
vorübergehend unter byzantinische Herrschaft
-
642-645 n. Chr.
Eroberung der Küstenregionen durch die moslemischen Araber, nur langsame Arabisierung der berberischen Bevölkerung
-
11. Jahrhundert
Erneuter Einbruch arabischer Beduinen: stärkere Arabisierung Libyens
und Ende der christlich-antiken Stadtkultur, Tripolis wird islamische Provinzhauptstadt
-
1551
Eroberung Libyens durch die türkischen Osmanen
-
1711-1835
De-facto Autonomie unter der Dynastie der Karamanli in Tripolis; Piraterie Haupteinnahmequelle des Landes; nach Aussterben der Karamanli
wieder direkte osmanische Verwaltung, schwache Garnison
-
1911
Italien beginnt Eroberung Libyens, nach anfänglichen Rückschlägen ab
1922 unter Mussolini Bekämpfung des libyschen Widerstandes mit dem
Ziel einer italienischen Siedlungskolonie
-
1941-43
Libyen Kriegsschauplatz im 2. Weltkrieg: Tobruk zwischen Alliierten und
Rommels Afrikacorps hart umkämpft; nach Kriegsende Verwaltung als
UNO- Mandat durch Großbritannien und Frankreich
-
1951
259
Unabhängigkeit des Königreichs Libyen unter Idris al-Senussi; Abtretung
von Militärbasen an die USA (Tripolis) und Großbritannien (Tobruk) für
20 Jahre
-
1959
Erste Erdölfunde in der libyschen Wüste: der Ölboom führt zu partiellem
Reichtum und sozialen Problemen; die pro-amerikanische Politik der königlichen Regierung (im Sechstagekrieg 1967 Unterstützung Israels) findet
zunehmende Kritik in Bevölkerung und Militär
-
1969
September: Unblutiger Sturz der Königsherrschaft durch einen Revolutionären Kommandorat unter Oberst Muammar al-Gaddafi; 1970 Räumung
der amerikanischen und britischen Basen und Ausweisung von 30.000 italienischen Siedlern
-
1977
März: Proklamierung der „Volksmacht" nach der von Gaddafi in seinem
„Grünen Buch" entwickelten Theorie der direkten Demokratie
-
1979
Gaddafi tritt als Generalsekretär des Allgemeinen Volkskongresses zurück
bleibt aber der Revolutionsführer und Chef der Sicherheitskräfte.
-
1984, Nov.
In Kairo wird ein Mordkomplott gegen einen libyschen Exilpolitiker aufgedeckt.
-
1985, Dez.
Palästinensische Terroristen richten auf den Flughäfen Wien und Rom
Massaker an; 18 Menschen finden den Tod.
-
1986, 11.Jan
Amerikanischer Wirtschaftsboykott gegen Libyen.
-
1986, Apr.
Amerikanischer Bombenangriff auf Tripolis erschüttert Gaddafis Herrschaft.
-
1986, 24.Apr.
260
Ausweisung amerikanischer und europäischer Journalisten.
-
1987, 23. März
Der libysche Stützpunkt Quadi Doum wird von tschadschen Streitkräften
überrannt.
-
1988, 30. März
Gaddafi öffnet die Grenze zu Ägypten und zieht die seit 1977 an der Grenze zu Ägypten stationierten Streitkräfte zurück.
-
1988, Dez
Beim Bombenattentat gegen ein US-Flugzeug über Lockerbie führen die
Spuren nach Libyen.
-
1989, Sept.
Gaddafi schließt einen Friedensvertrag mit Tschad; Gründung der Union
des Arabischen Mahgreb (Libyen Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien).
-
1990
USA verlängert Wirtschaftssanktionen gegen Libyen.
-
1992, 15. Apr.
Der Sicherheitsrat der UN verhängt ein Waffen- und Luftembargo gegen
Libyen wegen dessen Weigerung, die des Bombenattentats gegen ein USFlugzeug über Lockerbie 1988 verdächtigten Libyer auszuliefern.
-
1993, 11. Jan.
Schließung der Landesgrenzen aus Protest gegen das Luftverkehrsembargo
der Vereinten Nationen.
-
1993, 16. Okt.
Regierung kann Militärputsch gegen Gaddafi verhindern. Etwa 250 Soldaten kommen ums Leben.
-
1993, April
Gaddafi schließt die Ausbildungslager für Terroristen und schwört der Unterstützung des Terrorismus ab.
-
1994
261
Libyen räumt Aouzou-Streifen (Nord-Tschad) nach Schiedsspruch des
Haager Internationalen Gerichtshofs.
-
1995, Aug.
Einfluß radikaler islamischer Fundamentalisten nimmt zu.
-
1995, Sept.
Kampagne gegen illegale Ausländer; sudanesische und palästinensische
Immigranten das Land.
-
1995, 03. Okt.
Aufforderung an alle 100 000 im Land lebenden Sudaner, innerhalb zwei
Monate das Land zu verlassen.
-
1996, 02.Febr.
Libyen baut die größte unterirdische Chemiewaffen-Fabrik der Welt.
-
1996, 15. Juni
Die Unruhen im Lande nehmen zu; immer häufiger kommt es zu blutigen
Auseinandersetzungen zwischen der bewaffneten Polizei und den oppositionellen Islamisten.
-
1998, 05. Febr.
Gründung des Sahel-Sahara-Block; Kooperationsvertrag zwischen Libyen,
Sudan, Mali und Tschad.
-
1998, 15. Juni
Afrikanische Staatschefs beschließen auf ihrer Jahresversammlung, die
meisten der von den Vereinten Nationen gegen Libyen verhängten Sanktionen nicht länger zu beachten. Dazu gehört auch ein Flugverbot von und
nach Libyen.
-
1998 , 04. Juli
Mit dem Besuch von Außenminister Muntassir in Rom, wird die Normalisierung der italienisch-libyschen Beziehung eingeleitet.
-
1998, 27. Aug.
UNO-Sicherheitsrat billigt die Aussetzung der Sanktionen gegen Libyen
im Falle der Auslieferung der mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter .
262
-
1998, 16. Dez
Der Generalkongress der libyschen Jamahiriya stimmt einem Prozeß gegen die Lockerbie-Attentäter auf neutralem Boden zu.
-
1999, 21. März
Durchbruch im Lockerbie-Prozess; Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter am 05. April.
-
1999, 26. Juli
Der UNO-Sicherheitsrat hebt die Sanktionen gegen Libyen nur teilweise
auf.
-
1999, 10. Sept.
Gaddafi wirbt für ein vereinigtes Afrika
-
1999, 29. Okt.
Die schottischen Untersuchungsbehörden klagen die beiden mutmaßlichen
Attentäter in Den Haag formell an.
-
1999, Dez.
Libyen hat durch die Auslieferung der Lockerbie- Attentäter seine außenpolitische Isolation überwunden.Dagegen hat sich die angespannte Lage
im Innern des Landes kaum verändert. Gegner der Regierung werden weiterhin verfolgt und streng bestraft.
-
2000, 10. Jan.
Der aufgedeckte Schmuggel von Waffen über London nach Tripolis trübt
die seit einem halben Jahr normalisierten Beziehungen Londons zu Tripolis.
-
2000, 01. März
Es kommt zu einer umfassenden Reorganisation des Staats -apparats: Eine
Reihe von Ministerien werden aufgelöst und ihre Aufgaben den 26 Volkskongressen auf Provinzebene übertragen. Die Amtsinhaber der bleibenden
5 Ministerien (Ministerpräsident: Justiz und Sicherheit; Äußeres; Finanzen; Information) werden ersetzt. Ein neues Ministerium für afrikanische
Einheit wird geschaffen. Mubarak al-Shamikh, zuvor Bauminister, wird
zum neuen Ministerpräsidenten ernannt.
263
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990-2001
a) Allgemein
Das autoritäre politische System Libyens weist seit der Machtübernahme durch
den Revolutionären Kommandorat am 1. September 1969 trotz aller institutionellen Transformation und trotz aller Spannungen und Konflikte mit ausländischen
Staaten (unter anderem Tschadkrieg; Konfrontation mit den USA; UNOSanktionen April 1992 bis April 1999) eine beachtliche Stabilität auf. Die politische Entwicklung wird nach wie vor von Revolutionsführer Gaddafi dominiert,
der die Grundlinien der Innen, Außen- und Wirtschaftspolitik definiert, dabei jedoch die Interessen der großen Familien und Stämme zu berücksichtigen hat.
Handlungsspielräume für politische wie ökonomische Anpassungsprozesse werden seit 1969 von Gaddafi definiert. Dies gilt sowohl für die eingeleiteten Reformschritte von 1987 bis 1992 als auch für jene nach der Suspendierung der
UNO-Sanktionen im April 1999, deren Ziel die Reintegration Libyens in die internationale Staatengemeinschaft war. Wenngleich im politischen Bereich der
Spielraum für echte politische Partizipation nicht größer geworden ist, so haben
sich die Parameter für mehr Rechtsstaatlichkeit zumindest seit 2002 verbessert.
Im ökonomischen Bereich hat die seit Ende der 90er Jahre akzentuierte Entwicklung hin zur Stärkung der Privatwirtschaft und damit auch der Marktwirtschaft
nach offizieller Auffassung einen irreversiblen Charakter angenommen. Innenwie außenpolitische Entwicklungen werden jedoch nach wie vor Einfluss auf die
Umsetzungsgeschwindigkeit und Umsetzungstiefe politischer wie ökonomischer
Transformationsmaßnahmen nehmen.
Libyen hat bei der Transformation der politischen Ordnung insbesondere seit
1999 in einigen Bewertungsbereichen Fortschritte erzielt, auch wenn erhebliche
Transformationsdefizite im Bereich einer demokratischen Kontrolle der Revolutionsführung, im Bereich der freien Meinungsäußerung in den politischen Gremien
und im Bereich Rechtsstaatlichkeit bestehen. Signifikante Opposition gegen die
bestehende Ordnung ist im Inland auf das islamistische Spektrum beschränkt, das
sich von der massiven Repression in den 90er Jahren noch nicht wieder erholt und
wegen des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus generell einen schwierigen Stand hat. Die libysche Exilopposition, darunter ein breites demokratisches
Spektrum, ist zersplittert und ohne Einfluss auf interne Entwicklungen.
264
b) Politische Ordnung
• Staatlichkeit:
In Libyen existieren seit der Unabhängigkeit 1951 keine Staatlichkeitsprobleme.
Das staatliche Gewaltmonopol ist ohne Einschränkung gewährleistet. Die Definition und Zugehörigkeit zum Staatsvolk ist keine politisch relevante Frage, auch
wenn auf Seiten der berberischen Bevölkerung (diese ist je nach Quelle unterschiedlich groß; man kann von etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausgehen) teilweise Vorbehalte gegen die starke Betonung des Arabischen bestehen (Sprache;
Abkunft von arabischen Stämmen usw.).
Alle libyschen Staatsbürger besitzen das gleiche Staatsbürgerrecht. Der politische
Prozess ist säkularisiert, dennoch sind Religion (Islam) und Staat punktuell miteinander korreliert und die Staatsstruktur ist islamisch legitimiert. Ein Verwaltungssystem mit extremen bürokratischen Zügen und Kompetenzstreitigkeiten
existiert landesweit. Öffentliche Sicherheit und Ordnung sind gewährleistet.
•
Politische Partizipation:
In Libyen gibt es eine duale Herrschaftsstruktur. Den Revolutionssektor bilden
Revolutionsführer Gaddafi, die noch amtierenden Mitglieder des ehemals zwölf
Personen umfassenden Revolutionären Kommandorats von 1969 sowie die Revolutionskomitees. Die historische Revolutionsführung ist weder gewählt noch abwählbar, sondern Kraft revolutionärem Akt im Amt. Der Revolutionssektor gibt
die politische Marge vor, innerhalb der der Herrschaftssektor agiert. Dieser besteht aus den Basisvolkskonferenzen in jeder der 1.500 Kommunen, den 26
Volkskonferenzen der regionalen Sha’biyat und der Allgemeinen Volkskonferenz
auf nationaler Ebene. Diesen legislativen Organen sind entsprechende exekutive
Organe (lokale Volkskomitees; Volkskomitees der Sha’biyat und das nationale
Allgemeine Volkskomitee/Regierung) zugeordnet.
Die Mitglieder der Basisvolkskonferenzen wählen alle drei Jahre per Akklamation
– teilweise nach Diskussionen und Kampfabstimmung – sowohl ihre Führungskader als auch die Sekretäre der Volkskomitees. Die Führungskader der lokalen
Volkskonferenzen bilden, ausgestattet mit imperativem Mandat, die Vertreter in
den übergeordneten Volkskonferenzen. Die Mitglieder der Allgemeinen Volkskonferenz wählen auf ihrer jährlichen Sitzung per Akklamation die Mitglieder des
265
Allgemeinen Volkskomitees (Regierung). Wenngleich es bei der Besetzung der
exekutiven Ämter Diskussionen gibt, ist keine Person ohne Plazet der Revolutionsführung im Amt. Die Amtsführung der Regierung ist effektiv, solange sie sich
im Rahmen der Direktiven der Revolutionsführung bewegt. Die Revolutionsführung verfügt trotz der formal postulierten Volksdemokratie und Volksherrschaft
über ein absolutes Veto- beziehungsweise Entscheidungsrecht.
Die staatlichen und halbstaatlichen Medien werden von der Regierung kontrolliert. Veröffentlichte kritische Beiträge sind gezielt platziert und von der Revolutionsführung gewollt (unter anderem zur Einleitung von Transformationsschritten). Politische Parteien sind gemäß Parteienkriminalisierungsgesetz Nr. 71 von
1972 verboten. NGOs können sich auf der Basis des Vereinsgesetzes von 1971
frei gründen, müssen jedoch revolutionskonform sein. Die Anzahl von NGOs ist
im Unterschied zu den Nachbarstaaten gering. Gewerkschaften im Sinne des Wortes existieren nicht, hingegen sind die zahlreichen Berufsvereinigungen (ohne
Streikrecht) als dritte Säule neben Volkskonferenzen und Volkskomitees in die
Staatsstruktur eingebunden und entsenden Vertreter mit imperativem Mandat in
die Allgemeine Volkskonferenz.
•
Rechtsstaatlichkeit:
In Libyen bestehen im rechtsstaatlichen Bereich trotz deutlicher Verbesserung
gegenüber den 80er Jahren angesichts von Folter und Inhaftierungen ohne Prozess
sowie fehlender Gewaltenteilung immer noch erhebliche Transformationsdefizite.
Es existiert zwar eine Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, jedoch keine Unabhängigkeit der Justiz. Bereits seit Beginn der Revolution wurde
der ausdifferenzierte Justizapparat „revolutionärer Kontrolle“ unterstellt. Dies
betrifft allerdings nur Gerichtsverfahren mit politischem Hintergrund; gemeine
Strafverfahren (Mord, Raub, Diebstahl; Verkehrsdelikte usw.) und Personalstatutsangelegenheiten unterliegen keiner politischen Einflussnahme. Die Revolutionsführung kann sowohl im legislativen, exekutiven wie judikativen Bereich so
intervenieren, dass unter Einschaltung prozeduraler Verfahren und Vorschriften
entsprechend agiert wird oder von den zuständigen Gremien (Allgemeine Volkskonferenz, Allgemeines Volkskomitee) entsprechende Texte (Gesetze, Dekrete)
erlassen werden. Die Revolutionsführung ist nicht direkt gesetzgeberisch tätig
oder Unterzeichner exekutiver Anordnungen. Eine formale Kontrolle der Revolutionsführung ist nicht gegeben. Richtlinie für ihr Handeln ist der Machterhalt. Ein
gravierendes Problem stellt die Korruption dar, die zwar von höchster Ebene an266
geprangert, jedoch toleriert wird, weil die Korruption von jenen am stärksten
praktiziert wird, die zugleich die Stütze des Regimes sind.
Bürgerliche Freiheiten sind zwar erstmals am 12. Juni 1988 mit der Proklamation
der „Großen Grünen Menschenrechtscharta“ (ergänzt durch das Gesetz zur Stärkung der Freiheit vom September 1991) kodifiziert worden, doch ist ihr Wirkungsgrad aufgrund textlicher Unklarheiten, Einschränkungen („solange Interessen der Revolution nicht tangiert sind“) und mangelnder Einklagemöglichkeiten
von Rechten stark eingeschränkt.
c) "Allgemeines Volkskomitee" als Exekutive
Der "Allgemeine Volkskongress" bestätigt das "Allgemeine Volkskomitee", das
einem Kabinett vergleichbar und weisungsgebunden ist. Dieses Komitee verkörpert das höchste exekutive Organ und leitet die laufende Regierungsarbeit. Das
Komitee wurde im März 2004 durch Beschluss des Volkskongresses von bisher
neun auf heute zwölf Sekretäre ("Minister"; einschließlich einem stellvertretendem Premierminister) vergrößert. Insbesondere wirtschaftliche Kompetenzen
werden zunehmend auf die 32 Provinzen (Shabiate) verlagert, die eigene Budgets
erhalten und diese in eigener Verantwortung verwalten.
Obgleich Volkskongress und Provinzen an Bedeutung gewinnen, liegt die eigentliche Macht bei Gaddafi, seinem engeren Umfeld und bei so genannten Revolutionskomitees, die besonders die Arbeit der Volkskongresse kontrollieren. Als Vordenker und Interpret der von ihm verfassten Dritten Universaltheorie ("Grünes
Buch") trifft Gaddafi in der Praxis fast alle wichtigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen selbst. Die Rolle des Staatsoberhauptes kommt formal dem
Allgemeinen Volkskongress zu, an dessen Sekretär ausländische Botschafter ihr
Beglaubigungsschreiben überreichen.
d) Pressefreiheit, Gleichberechtigung, Menschenrechte
Die Medien unterliegen strikter staatlicher Kontrolle. Jedoch sind Satellitenfernsehen und Internet verfügbar und außerordentlich populär. Die relativ weitgehenden Rechte der Frau finden in Gaddafi einen nachdrücklichen Befürworter, in der
Praxis dominieren jedoch zumeist konservative islamische Familientraditionen.
Menschenrechtsverstöße sind wegen der Zensur schwer nachzuweisen, müssen
267
aber aufgrund der Untersuchungen von Amnesty International und auch der Gaddafi-Stiftung als gegeben angesehen werden.
e) Bildungspolitik in Libyen
Familienleben und Familienbindungen spielen in Libyen traditionell eine große
Rolle. Im Ausbildungs- und Erziehungsbereich hat es in der letzten Zeit große
Fortschritte gegeben.
Der Unterricht in der Primarstufe von 6 bis 15 Jahren ist Pflicht. Die Lehren des
„Grünen Buches" von Revolutionsführer Muammar el Gaddafi spielen im Lehrplan eine prominente Rolle. Fremdsprachenunterricht war längere Zeit verboten,
wird jedoch wieder angeboten. Noch fehlt es aber an einer ausreichenden Anzahl
von ausgebildeten Fachkräften.
Es gibt drei große Universitäten (Tripolis, Benghazi und Sebha), daneben wurden
in den letzten 2 Jahren im ganzen Land zahlreiche kleinere Privatuniversitäten
gegründet.
2001 wurde die Ausstattung der Fakultät für moderne Sprachen in Tripolis empfindlich gekürzt, was u.a. zur Schließung der Deutschabteilung führte.
Seit Februar 2004 führt die italienische Provinz von Turin hat ein interkulturelles
Projekt von bilateralen Partnerschaften und ein Studentenaustausch im Bildungsbereich durch.
Unter dem Motto: "Italien, Estland, Libyen - Young People from three dfifferent
Worlds meet" nehmen 28 Schulen der Sekundarstufe aus drei Nationen für ein
Schuljahr teil. Insgesamt 14 Schulen aus Turin, Italien, 9 aus Tallin, Estland und 5
aus Tripolis, Libyen nehmen an dem Programm teil. Koordinatorin des Projektes
ist die Italienerin Luisa Corbetta, die derzeit sich in Libyen aufhält. Corbetta erklärte, dass Ziel dieses Projektes ist es, Wissen der unterschiedlichen Kulturen für
die jungen Leuten zu vermitteln und ihnen Gelegenheiten von Kontakten auf einem nationalen und internationalen Niveau zu bieten und ihre Lernfähigkeiten
durch eine Forschungsarbeit über ein Gemeinschaftsprojektthema zwischen den
Partnerschulen zu verbessern. Gefördert wir das Projekt durch die Provinz Turin.
Die Projektteilnehmer sind Sekundärschullehrer und Kursteilnehmer im Alter von
16-17 Jahren. Die fünf libyschen Schulen, die an diesem Projekt teilnehmen, sind:
Elyamama, EL Takdom Shuhada Eshat, Alis Siala, Fatat Ettora und Talaie.
268
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1990-2001
Die veränderten weltpolitischen Strukturen seit Anfang der 1990er Jahre sowie
die hohen Schäden, die Libyen aus den im April 1992 verhängten UNOSanktionen erwuchsen, haben die Revolutionsführung seit Mitte der 1990er Jahre
zu einem außenpolitischen Kurswechsel veranlasst. Ziel dieses Kurswechsels war
die Reintegration Libyens in die internationale Staatengemeinschaft. Die Revolutionsführung wollte sich dadurch erneut in die Lage versetzen, die Prinzipien ihrer
nationalen Interessenpolitik umzusetzen. Dazu gehören insbesondere: das Recht
auf Selbstbestimmung; die Ablehnung einer unipolaren Welt und von Hegemonialbestrebungen einzelner Staaten; die Kooperation auf gleicher (partnerschaftlicher) Ebene; der Verzicht auf Kooperation, wenn wichtige libysche Interessen
nicht gewahrt sind oder zentrale libysche Bedingungen nicht erfüllt werden.
Die von der Revolutionsführung gewollte und betriebene Reintegrationspolitik
zeigte sich auf verschiedenen Aktionsebenen und involvierte zahlreiche Akteure
des internationalen Systems (in erster Linie die USA; EU) wie auch regionale
Akteure (SinSad; OAU/Afrikanische Union). Die beiden wichtigsten Aktionsfelder der libyschen Außenpolitik waren in den letzten Jahren die Stärkung des Afrika-Engagements mit dem Ziel, die OAU (Organisation of African Unity) in die
„Afrikanische Union“ zu transformieren, sowie der Terrorismuskomplex.
Die Verwicklung libyscher Stellen in terroristische Aktionen (z.B. der PanAmAbsturz über Lockerbie im Dezember 1988) wurde in einigen Fällen dementier,
einige Fälle wurden als „Akte der Vergangenheit“ deklariert. Revolutionsführer
Gaddafi hat sich während des Besuches des italienischen Premierministers
D´Amato in Libyen am 1.12.1999 allerdings erstmals öffentlich vom Terrorismus
distanziert; weitere Erklärungen Gaddafis folgten. Die Ereignisse vom 11.9.2001
gaben der libyschen Revolutionsführung die Gelegenheit, sich erneut und mit
Nachdruck vom Terrorismus und von der Förderung terroristischer Gruppen zu
distanzieren und Kooperationsbereitschaft mit der Anti-Terrorkoalition zu demonstrieren. Die von der Revolutionsführung verfolgte Politik der Reintegration
Libyens in die internationale Staatengemeinschaft hat sowohl innerhalb Libyens
als auch im Ausland Pro- und Kontrastimmungen mobilisiert. Einige sehen die
Reintegration Libyens in die internationale Staatengemeinschaft nur als Ergebnis
eines längeren Prozesses an.
269
Die europäischen Staaten, die zu allen südlichen Mittelmeeranrainern enge Beziehungen pflegen (zahlreiche bilaterale Abkommen) und diese seit November 1995
im Barcelonaprozeß auf EU-Ebene institutionalisierten, haben nach Suspendierung der UNO-Sanktionen gegen Libyen am 5.4.1999 umgehend erste Schritte
zur Integration Libyens in das euro-mediterrane Kooperationsnetzwerk eingeleitet. So nahm eine libysche Delegation unter dem damaligen Sekretär für auswärtige Beziehungen, Umar al-Muntasir, auf Sondereinladung bereits an der 3. EUMittelmeer-Ministerkonferenz in Stuttgart (15./16.4.1999) teil. Es folgten die
Teilnahme an der 4. Ministerkonferenz in Marseille (15./16.11.2000) und der 5.
Ministerkonferenz in Valenzia (22./23.4.2002). Größter Erfolg für den beiderseitigen Willen zur Integration Libyens in die laufende EU-Mittelmeerkooperation
war schließlich das Zustandekommen der 5+5-Außenministerkonferenz in Tripolis vom 30.-31.5.2002. Hier distanzierte sich die libysche Führung zuletzt gegen
den Terrorismus. Auf beiden Seiten gab es jedoch auch Vorbehalte gegenüber
diesen Kooperationsprozesses. Auf der europäischen Seite gab es nicht zuletzt
unter dem Druck der US-Administration auf Seiten einiger Staaten politisches
Zögern gegenüber einer voreiligen Rehabilitierung Libyens, solange die UNOSanktionen nicht definitiv aufgehoben sind. Auch gab es Irritationen über Inhalte
von Reden Gaddafis, z.B. anlässlich des Europa-Afrika-Gipfels in Kairo im April
2000, oder wegen libyschen Drohungen gegenüber Frankreich im Zusammenhang
mit dem UTA-Prozeß. Eine „neue Form der Kolonialisierung“ wurde strikt vom
Außenminister Shalgam in Marseille untersagt. Ferner sind auf der libyschen Seite diverse Einwände hinsichtlicht der vollen Integration Libyens vorhanden. Hierzu zählt sowohl die Asymmetrie der Beziehungen (15 europäische Staaten, 2 Mittelmeer-anrainer), die Einbeziehung Israels in den Barcelonaprozeß und die
Nichteinbeziehung der palästinensischen Autonomiebehörde, als auch die Unzufriedenheit, dass Libyen einem fertigen Vertragswerk beitreten soll und keine
Chance besteht, dass dieses Vertragswerk modifiziert wird.
Hinsichtlich der bilateralen Beziehungen sind trotz der Tradition der Konfrontation die libyschen Institutionen bereit, eine neue Seite aufzuschlagen, solange die
USA bereit sind, libysche Interessen zu respektieren. Die libysche Seite ist sowohl
gewillt, die diplomatischen Beziehungen umgehend wieder herzustellen (so wie
mit Großbritannien im Juli 1999 oder Australien im Juni 2002) als auch die Wirtschaftskooperation vor allem im Erdöl zu normalisieren. Die US-Seite weist demgegenüber in akzentuierterer Form Pro- und Contrakräfte auf. Der bislang erfolg270
los operierenden Lobby der Ölfirmen durch ihre Interessenvertreter im Kongress
sowie einem durchaus zu Zugeständnissen an die Wirtschaft bereiten USPräsidenten Bush steht eine antilibysche Phalanx gegenüber, der das politische
Regime Gaddafis und dessen Aktivitäten grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Sie
fordert unabhängige, positive Schritte Gaddafis und unabhängig von der Entwicklung im Lockerbie-Konflikt (Urteilsverkündung: 31.1.2001) die vollständige Erfüllung aller UNO-Bedingungen sowie die Einstellung jeglicher Aktivitäten im
Bereich der ballistischen Forschung und der Herstellung von Massenvernichtungswaffen.
„Der libysche Wissenschaftsminister Mohamed Matouk sagte, die Regierung habe
sich freiwillig zu diesem Schritt entschlossen, "um eine neue Beziehung mit der
internationalen Gemeinschaft aufzubauen und weitere Länder zu ermutigen, den
gleichen Weg zu gehen". Das Zusatzprotokoll ermöglicht den Inspektoren der
IAEA unangekündigte Inspektionen aller libyschen Atomanlagen. Libyen hatte
nach monatelangen Geheimverhandlungen mit den USA und Großbritannien am
19. Dezember 2003 seinen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen bekannt gegeben und kurz darauf auch die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls angekündigt.“(www.libyen-news.de)
VI.
Wirtschaft Libyens
a) Wirtschaftslage
Über 90 % der Einnahmen der libyschen Volkswirtschaft gehen auf Ölexporte
zurück. Daher ist die Wirtschafts- und Haushaltslage von der Entwicklung des
Erdölpreises abhängig. Bei jährlich um die 12 Mrd. USD Einnahmen besteht
grundsätzlich ein breiter Spielraum für eine Erhöhung der Importe und die Ausweitung der Investitionen.
Nachdem Ministerpräsident Dr. Shukri Ghanem im Juni 2003 ein neues liberales
Wirtschaftsprogramm vorlegte und die Sanktionen der Vereinten Nationen im
September 2003 endgültig aufgehoben wurden, sind die Chancen für eine positive
Entwicklung der libyschen Wirtschaft gestiegen. Zwar behindern nach wie vor
staatliche Kontrolle von Preisen, Außenhandel, Devisen- und Arbeitsmarkt sowie
die schlechte Infrastruktur des Landes den Aufschwung. Ausländisches Kapital
findet aber verstärkt zurück
271
Nach wie vor zeigen sich systembedingte Friktionen, die die Produktivität und
Effizienz der Wirtschaft beeinträchtigen. Insbesondere krankt die libysche Volkswirtschaft daran, dass die Wertschöpfung im eigenen Land verschwindend gering
ist. Entsprechend hoch sind die Importe.
b) Wichtige Wirtschaftszweige
Wirtschaftliche Schlüsselsektoren bleiben noch auf lange Zeit Erdöl und Gas, letzteres mit wachsender Bedeutung. Die Erdölwirtschaft wird weiter ausgebaut. Erhebliche Teile des riesigen Landes sind noch nicht ausreichend erschlossen. Die
gewerbliche Wirtschaft expandiert weiter, ihre Ausrüstungen spiegeln vielfach
einen hohen technischen Stand wider. Die privaten Haushalte und die Landwirtschaft profitieren von der Ausbeutung fossiler Grundwasserseen unter der Sahara.
Deren Vorräte werden in einem riesigen Rohrsystem, dem Großen Künstlichen
Fluss, in die fruchtbaren, dichter besiedelten Küstenregionen gepumpt. Libyen ist
mit Straßen gut erschlossen. Der Bau einer Eisenbahn entlang der Küste sowie
Richtung Süden ist geplant. Es gibt Überlegungen, den Tourismussektor stärker
zu entwickeln. Fortentwickelt werden soll auch das Fischereiwesen. Ein Fünfjahresplan für Investitionen besonders in der Infrastruktur ist in Vorbereitung.
c) Außenhandel
Handelszahlen für 2002 (in Mrd USD): Ausfuhr: 11,843;Einfuhr: 6,321
95 % der Ausfuhr entfällt auf Mineralöl und Derivate. Eingeführt werden hauptsächlich Maschinen, technische Ausrüstungen, Konsumgüter, Nahrungsmittel.
Haupthandelspartner sind Italien und Deutschland, die über 50 % der Exporte
aufnehmen und ca. 35 % der Importe liefern.
VII. Libyen und die Irakfrage
a) Libyen, die Arabische Liga und der Irak (Spiegel Online)
Die arabischen Staaten lehnen jeden Krieg gegen Irak ohne UN-Mandat ab und
wollen einen Versuch zur friedlichen Lösung der Krise unternehmen. Auf eine
entsprechende Vereinbarung verständigten sich die Außenminister der Arabischen
Liga. Im ägyptischen Badeort Scharm el Scheich begannen die Beratungen der
272
Staats- und Regierungschef aus 22 Staaten - einschliesslich des Irak. Der Generalsekretär der Liga, dem Ägypter Amr Mussa, erklärte, es gebe eine einstimmige
Erklärung, mit der alle hoch zufrieden seien. "Es ist eine deutliche Botschaft, dass
wir eine Militäraktion gegen Irak nicht unterstützen und dass wir für die vollständige Umsetzung der UN-Resolutionen sind". Zurückgewiesen wurde die Aufforderung von US-Außenminister Colin Powell, der die Arabische Liga am 27. Februar aufgerufen hatte, sie solle den irakischen Staatschef Saddam Hussein zum
Rücktritt auffordern, damit verantwortungsbewusste Leute die Führung in Bagdad
übernehmen könnten. Aber Ägypten und andere Länder lehnten dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Iraks ab.
„Der saudische Kronprinz Abdullah Ibn Abdelasis schäumte vor Wut. Beim
Irak-Gipfel der Arabischen Liga erklärte Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, die ganze Arabische Halbinsel sei im Prinzip ein "amerikanisches Protektorat". Und verdeutlichte damit, wie tief der Graben zwischen den Verbündeten der USA und den anderen
Staaten der Region ist.
"Wir sind ein muslimisches Land, wir sind kein kolonisiertes Land", sagte der Kronprinz und zeigte dabei
quer durch den Saal mit dem Finger auf Gaddafi.
Dieser versuchte, sich zu rechtfertigen. "Soll das etwa
heißen, dass es keinen amerikanischen Militärstützpunkt in Saudi-Arabien gibt?",
fragte Gaddafi. Der libysche Staatschef räumte zwar ein, dass die Präsenz der USTruppen am Golf mit der irakischen Invasion in Kuwait zu begründen sei. "Dennoch haben wir hier ein rein arabisches Problem und kein amerikanischirakisches", insistierte er. Wegen der Haltung der Liga gegenüber Saddam Hussein gab es ebenfalls einen Dissens. Der Leiter der irakischen Delegation, Isset
Ibrahim, war in seiner Rede an die Staatschefs zuvor mit keinem Wort auf den
Vorschlag der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) eingegangen, die irakische
Führung ins Exil zu schicken. Stattdessen warnte Ibrahim erneut vor "den amerikanischen Plänen, die gesamte arabische Welt zu kolonisieren".“ (Quelle:
www.spiegel.de)
273
b) Libyens Position bzgl. der Irak-Resolution
Libyen ist strikt gegen eine amerikanische Intervention im Irak. Dies erklärt sich
aus dem libyschen Selbstverständnis. So spielt für Libyen das Recht auf Selbstbestimmung eine große Rolle. Daher lehnt es eine unipolare Weltordnung genauso
ab, wie jegliche Formen von „neuem Kolonialismus“. Den Irak betrachtet Libyen
als ein arabisches Problem, welches die arabischen Staaten zu lösen haben. Die
Irakpläne der Amerikaner betrachtet Libyen als einen Schritt, die gesamte arabische Welt zu kolonisieren.
VIII. Literaturverzeichnis
-
Auswärtiges Amt, www.auswaertiges-amt.de
-
Khalatbari, Babak: Länderstudie Libyen, hrsg. v. Düsseldorfer Institut für
Außen- und Sicherheitspolitik, November 2003, online unter:
http://www.dias-online.org/pdf/LStudien/Libyen_2004.pdf
-
Länderbeitrag Libyen, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
-
Libyen-News.de, Das Online-Newsmagazin zum Thema Libyen,
http://www.libyen-news.de
274
Tunesien
I.
Geographische Karte
275
II.
-
Basisdaten
Ländername
Tunesische Republik (El Djumhuriya El Tunisiya, République tunisienne)
-
Klima
Mediterran im Norden, Wüstenklima im Süden
-
Lage
Am Südufer des Mittelmeers zwischen Algerien im Westen und Libyen im Osten
-
Größe
164.150 qkm, Nord-Südausdehnung ca. 900 km, Ost-Westausdehnung bis zu 300
km
-
Hauptstadt
Tunis, ca. 1,9 Mio. Einwohner mit Vororten
-
Bevölkerung
9,7 Mio. Einwohner (2001)
-
Sprache
Arabisch (Amtssprache), daneben Verkehrssprache Französisch, in den Tourismusregionen auch Deutsch
-
Religionen / Kirchen
Islam (Staatsreligion); kleine jüdische und christliche Gemeinde
-
Nationalfeiertag
Tag der Unabhängigkeit (20. März)
-
Unabhängigkeit
276
20. März 1956
-
Regierungsform
Präsidialrepublik mit Einkammerparlament
-
Staatsoberhaupt
Zine El Abidine Ben Ali, Président de la République, Direktwahl für fünf Jahre,
Amtsantritt: 07.11.1987; Wahl am 2.4.1989 (99,27%), Wahl am 20.3.1994
(99,91%); zweite Wiederwahl am 24.10.1999 (99,44%); Partei: RCD
-
Regierungschef
Mohamed Ghannouchi, Premier Ministre; vom Staatspräsidenten ernannt, Amtsantritt: 17.11.1999, Partei: RCD
-
Außenminister
Habib Ben Yahia, Ministre des Affaires Etrangères Auf Vorschlag des Premierministers vom Staatspräsidenten ernannt, Amtsantritt: 17.11.1999, Partei: RCD
-
Parlament
Chambre des Députés:
Parlament mit 182 Sitzen, nach gemischtem Mehrheits-/Verhältniswahlrecht für
fünf Jahre direkt gewählt (24.10.1999), nächste Wahl 2004;
-
Parlamentspräsident
Fouad Mebazaa (Président de la Chambre des Députés), Amtsantritt: 14.10.1997,
Partei: RCD; seither jährliche Wiederwahl. Nach dem Verfassungsreferendum
vom 26.05.2002 ist die Bildung einer zweiten Kammer (Chambre des Conseillers)
in Vorbereitung.
-
Regierungspartei
Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD); 149 Parlamentssitze (von
182); seit 1989 Mitglied der Sozialistischen Internationale
•
Oppositionsparteien
MDS - Mouvement des Démocrates Socialistes (sozialdemokratisch), 12
Sitze;
•
Mouvement Ettajdid ("Erneuerung", ehemalige kommunistische Partei), 5
Sitze;
277
•
PUP - Parti de l'Unité Populaire (linkssozialistisch); 7 Sitze;
•
UDU - Union Démocratique Unitaire (arabisch-national, sozialistisch), 7
Sitze;
•
PSL - Parti Social Libéral, 2 Sitze;
nicht im Parlament:
•
RSP - Rassemblement Socialiste Progressiste
•
FDTL - Forum Démocratique pour le Travail et les Libertés
-
Gewerkschaften
Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens)
-
Verwaltungsstruktur
23 Gouvernorate
•
Mitgliedschaft in wichtigen internationalen Organisationen
Vereinte Nationen (seit 12.11.1956; 01.01.2000 - 31.12.2001 Nichtständiges
Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen);
•
Arabische Liga,
•
Organisation der Afrikanischen Einheit,
•
Union des Arabischen Maghreb (UMA),
•
Blockfreienbewegung,
•
Organisation der islamischen Konferenz,
•
Weltbank und IWF(14.04.1958),
•
GATT/WTO (vorläufig beigetreten 21.05.1960, Vollmitglied seit 29.3.1995)
-
Wichtigste Medien
•
Fernsehen, Hörfunk:
•
Staatlicher Rundfunk und Fernsehen ERTT (Etablissement Radiodiffusion
Télévision Tunisienne) und Kanal 21,
•
italienisches (RAI I) Fernsehprogramm; per Satellit
•
(Arabsat/Astra) viele arabische sowie zahlreiche
•
europäische, auch deutsche Programme
278
•
Tageszeitungen: La Presse, Le Quotidien, Le Renouveau, Al Hourria, Essahafa, Le Temps, Assabah, Ech-Chourouq;
•
Wochenzeitungen: Réalités, L’Observateur (beide arabisch/französisch); As
Sabah Al Ousbue, Al Hadath,
•
Ach-Chaab (Gewerkschaftszeitung UGTT),
•
Al Bayan (Organ des Arbeitgeberverbandes UTICA)
-
Bruttoinlandsprodukt 2002
21 Mrd. USD
-
BIP pro Kopf 2002:
2.150 USD
-
Wechselkurs
1 EUR = 1,50 Tunesische Dinar (TND); 1 TND = 0,71 EUR (01.04.2003)
III.
-
Geschichte
Punische Zeit
(11. Jh. v. Chr.- 146 v. Chr.)
-
bis 300 v. Chr.
Aufstieg des phönizischen Karthago zur beherrschenden Macht im westlichen Mittelmeer
-
146 v. Chr.
Nach den drei punischen Kriegen wird Karthago von den Römern völlig
zerstört
-
Römische Zeit (146 v. Chr. 7. Jh.)
-
ab 146 v. Chr.
Römische Provinz "Afrika", unter Augustus intensive römische Kolonisierung
-
bis 200 n. Chr.
279
"Afrika" wird zu einer der reichsten Provinzen Roms
-
439 - 533
Vandalenherrschaft
-
ab 533
Eingliederung der Region in das byzantinische Reich
-
Arabische Zeit (ab 670)
Arabische Unterwerfung der byzantinischen Provinz
-
bis 8./9. Jh.
Völlige Islamisierung des Maghreb
-
bis 15. Jh.
Zustrom hochgebildeter muslimischer und jüdischer Flüchtlinge aus Spanien fördert Kunst und Wissenschaften
-
ab 1574
Tunesien wird für 300 Jahre eine weitgehend autonome Provinz des Osmanischen Reiches unter von Konstantinopel eingesetzten Beys
-
bis Mitte 19. Jh.
Zunehmende Abhängigkeit von europäischen Kolonialmächten
-
ab 1881
Tunesien wird französisches Protektorat
-
ab 1930
Entstehen einer tunesischen Unabhängigkeitsbewegung
-
ab 1950
Auseinandersetzungen zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und der
französischen Verwaltung
-
1955
Innere Autonomie
Das unabhängige Tunesien (seit 1956)
-
20.03.1956
280
Frankreich erkennt tunesische Unabhängigkeit an
-
1957 - 1987
Ministerpräsident Habib Bourguiba wird nach Absetzung des Beys
(25.07.1957) erster Staatspräsident der Tunesischen Republik
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07.11.1987
Ben Ali tritt verfassungsmäßige Nachfolge an
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17.07.1995
Tunesien schließt als erster Mittelmeerdrittstaat ein Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union ab (in Kraft seit 01.03.1998)
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2000
Tod des Staatspräsidenten Habib Bourguiba
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2002
Verfassungsreferendum (u. a. zur Wiederwahl des Präsidenten)
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08/2004
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
IV.
Innenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
a) Allgemein
Anders als die Nachbarstaaten Libyen und Algerien, die auf nennenswerte Bodenschatzvorkommen zurückgreifen konnten, war Tunesien in dem halben Jahrhundert nach der Unabhängigkeit vollkommen auf seinen Einfallsreichtum und seine
Anpassungsfähigkeit angewiesen.
b) Staatsaufbau
Tunesien ist eine Präsidialrepublik. Art. 1 der Verfassung beschreibt es als freien,
unabhängigen und souveränen Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache
das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Tunesien ist ein zentralistischer Staat mit 23 Gouvernoraten. Präsident ist seit 7. November 1987 Zine
el Abidine Ben Ali.
281
Verfassungsorgane
Der Staatspräsident ist Staatschef, Regierungschef und Oberster Befehlshaber der
Streitkräfte. Er ernennt und entlässt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Regierungsmitglieder. Ihm obliegt die "Allgemeine Reglementierungsgewalt". Staatspräsident Ben Ali ist außerdem Vorsitzender der Regierungspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD). Er gewann im
Oktober 1999 bei seiner zweiten Wiederwahl 99,4 % aller Stimmen. Im Zuge einer durch Referendum vom 26. 05.2002 gebilligten Verfassungsreform ist u.a. die
Beschränkung auf eine zweimalige Wiederwahl gestrichen worden. Präsident Ben
Ali wird sich im Herbst 2004 zur Wiederwahl stellen.
Die Legislative bildet ein 182 Sitze starkes, seit 1994 pluralistisches Einkammerparlament ("Chambre des Députés"). Es tagt wöchentlich im Plenum. Die Gesetzesinitiative obliegt Parlament und Präsident, wird aber in der Regel hauptsächlich
von letzterem wahrgenommen. In der Abgeordnetenkammer haben die Oppositionsparteien 33 Sitze. Im Zuge der Verfassungsreform ist auch die Bildung einer
zweiten Kammer (Chambre des Conseillers) beschlossen worden. Ihre Konstituierung steht bevor.
Die Institution der Staatspartei aus der Ära seines Vorgängers Bourguiba wurde
mit dem Amtsantritt Ben Alis 1987 abgeschafft. Die Regierungspartei RCD bleibt
aber Hauptträger des politischen Lebens. Ihre Strukturen reichen bis in kleine
Gemeinden, Betriebe und Universitäten. Sie hat knapp zwei Millionen Mitglieder.
Die eigentlichen Parteistrukturen werden durch parteinahe Nichtregierungsorganisationen ergänzt. Zur Seite steht dem RCD eine Parallelstruktur aus fast sechstausend "Comités de quartiers" (Stadtteil-Komitees), die vom Innenministerium koordiniert wird.
c) Aktuelle innenpolitische Lage
Die innenpolitische Lage ist stabil. Die tunesische Gesellschaft ist geprägt von
einer breiten Mittelschicht. Das Bevölkerungswachstum betrug 2002 1,01%. Die
Schulausbildung ist gut, der Alphabetisierungsgrad hoch. Die Senkung der wachsenden Jugend- und Jungakademikerarbeitslosigkeit ist eine Priorität der im August 2003 zuletzt umgebildeten Regierung unter Premierminister Ghannouchi. Im
Rahmen dieser Regierungsumbildung hat Präsident Ben Ali die Zahl der Minister
282
von 25 auf 23 reduziert, die der Staatssekretäre von 19 auf 20 erhöht und einige
Umstrukturierungen vorgenommen.
d) Staat und Religion
Die Moscheen sind nur zu den Gebetszeiten geöffnet. Die Predigten werden überwacht. Parteien auf religiöser Grundlage sind nicht erlaubt. Fundamentalismus
und Extremismus werden bekämpft.
e) Menschenrechtspolitik
Die Verfassung garantiert die Menschenrechte und eine unabhängige Justiz. Ein
umfangreicher Gesetzesrahmen zur Wahrung der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten wurde geschaffen. Tunesien ist Mitglied in den meisten internationalen Menschenrechtskonventionen. In der Praxis gibt es Defizite, auf die auch
der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung Bezug nimmt. Diverse Nichtregierungsorganisationen befassen sich mit der Menschenrechtslage in Tunesien, so
zum Beispiel amnesty international.
f) Bildungspolitik
Die allgemeine Schulpflicht besteht vom 6. bis 14. Lebensjahr. Die Unterrichtssprachen sind Arabisch und Französisch. Das Schulsystem ist nach französischem
Muster aufgebaut. Auf die Primarschule folgt die vierjährige Sekundarstufe, die
zum Abitur führt. Die Arabisierung an Schulen und Hochschulen wird forciert, v.
a. in den naturwissenschaftlichen Fächern. Die Analphabetenquote beträgt 33 %.
Das Hochschulwesen umfasst v. a. drei Universitäten in Tunis (gegründet 1988)
sowie eine Universität in Sfax (gegründet 1986).
V.
Außenpolitische Entwicklung von 1990 – 2001
Tunesien ist seit der Machtübernahme von Premierminister Ben Ali 1987 durch
ein hohes Maß innerer Stabilität gekennzeichnet. Die Staatsführung verfügt über
eine breite Unterstützungsbasis in allen Schichten der Bevölkerung. Die überragende Mehrheit der Bevölkerung identifiziert sich mit den Staatszielen Sicherheit,
Stabilität, soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Diese von Präsident Ben Ali
283
skizzierten außenpolitischen Maximen, die durchaus nicht in einem unbedeutenden Maße durch pragmatische wirtschaftliche Überlegungen mit beeinflusst wurden, schlugen sich konkret in Einzelaktivitäten, insbesondere in den vielen Staatbesuchen des tunesischen Präsidenten in Italien, Spanien, Portugal, BRD, China
und USA nieder, die sowohl der Festigung des internationalen Ansehens als auch
zur Intensivierung der Wirtschafts- und Finanzkooperation dienen sollten. Die
bilaterale Beziehung zur BRD wurde mit einer Entwicklungshilfe am 18.7. 1990
in Höhe von 55 Mio. DM unterzeichnet. Der steigende Handelsaustausch ließ die
BRD zum dritten Handelpartner mit 13% den Gesamtvolumens des tun. Außenhandels avancieren. Weitere Wirtschaftkooperationen wurden im Jahr 1991 mit
Italien und den Benelux-Staaten, 1994 mit Portugal und Frankreich im Jahr 1995
vereinbart. Zusätzlich wurden mit Frankreich Vereinbarungen getroffen, die zur
Bekämpfung des Terrorismus und der Kriminalität in Tunesien dienten. Es folgten
hierbei Hilfszusagen an Tunesien in Höhe von 1. Mrd. FF und die Einigung jährlicher Treffen. 1995 war Tunesien generell stark in die Mittelmeeraktivitäten der
Europäischen Union eingebunden und hat als erstes Mittelmeerland am 12.4 ein
Assoziationsabkommen paraphiert („Abkommen der neuen Generation“; Unterzeichnung 17.7.; vom Europäischen Parlament am 14.12.ratifiziert), das u.a. vorsieht, bis ins Jahr 2010 zwischen EU und Tunesien eine Freihandelszone zu schaffen. Um Abhängigkeiten von einigen wenigen Staaten zu vermeiden, wurden innerhalb dieses Jahrzehnts auch Wirtschaftskooperationen mit Japan und China
getroffen.
In der Zeit der 2. Golfkrise weigerte sich die tunesische Staatführung, die ausländische Intervention als „legitim“ anzuerkennen, sie hatte sich aber am 11.8. dezidiert für den Rückzug des Irak aus Kuwait ausgesprochen. Staatspräsident Ben Ali
forderte die Freilassung aller zivilen Geiseln in Kuwait und Irak sowie eine friedliche „arabische“ Lösung, drückte jedoch gleichzeitig die Anerkennung der UNOResolutionen seitens Tunesiens aus. Am 15.9 legte Außenminister Boulares der
UNO-Vollversammlung einen tun. Friedensplan vor, der den Austausch der ausländischen“ Truppen durch „arabische“ Truppen, die Garantie der staatlichen Integrität der Golfstaaten, die „Regelung der grundlegenden Probleme, die die Krise
auslösten“, und die Regelung des Nahostkonflikts vorsah. Wegen der Kritik Tunesiens an der US-amerikanischen Politik gegenüber dem Irak wurde Tunesien
durch das US-Außenministerium am 19.2.1991 ohne weitere Erklärung die Wirtschaftshilfe für das laufende Finanzjahr von 12 auf 3 Mio. $ gekürzt. Nach Been284
digung der Kampfhandlungen am Golf lagen die Bemühungen der tun. Staatführung hauptsächlich auf der Normalisierung der Beziehungen zwischen USA und
Frankreich, aber auch zwischen denjenigen arabischen Staaten, die die US-Politik
unterstützten, wie z.B. Ägypten, im Vordergrund.
Die tun. Staatsführung verfolgte auch den Ausbau der regionalen Kooperation
(AMU), gute Nachbarschaft und Kooperation sowohl mit den direkten als auch
den nördlichen Mittelmeeranrainerstaaten und Stärkung der internationalen Reputation Tunesiens vor allem durch intensive Mitarbeit in internationalen Organisationen und Gremien. Durch den das regionale Engagement Tunesiens wurden
starke Wirtschaftkooperationen mit Ägypten und Libyen geschlossen und der tun.
Staatführung die Rolle als „Friedensvermittler“ im Nahostkonflikt zugeteilt. Hierbei sind zahlreiche Staatsbesuche zu nennen, die Ben Ali mit Arafat (PLO) und
der US-Regierung Mitte der Neunziger führte.
Die von der Staats-/Parteiführung verurteilten terroristischen Anschläge in den
USA vom 11. September 2001 bestätigten die tun. Staatsführung in ihrem außenpolitischen Kurs, der auf internationaler Ebene von der Notwendigkeit einer globalen Förderung von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung zur Reduzierung
von Armut und sozialer Marginalisierung überzeugen will, um den „Nährboden
für Rassismus, Xenophobie, Diskriminierung, Extremismus und Terrorismus“ zu
reduzieren. Präsident Ben Alis Argumente zur Umsetzung der von ihm erstmals
1999 formulierten Idee eine Fons Mondial de Solidarité und sein Plädoyer für
eine „gerechtere, solidarischere Welt“ fanden u.a. in seiner Rede am 29.1. vor
dem diplomatischen Korps in Tunis, in seiner Botschaft an die vom 20-22.7. in
Genf versammelten Repräsentanten der G-8-Staaten und in seiner Rede vor den
Teilnehmern des 3. UNO-Weltkongresses gegen Rassismus im südafrikanischen
Durban (31.8-7.9.) ihren Ausdruck.
VI.
a)
Wirtschaft Tunesiens
Wirtschaftslage/Wirtschafts- und Sozialstruktur
Tunesien entwickelte sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten wirtschafts- und
sozialpolitisch sehr erfolgreich. Das Land hat sich in Afrika und im Maghreb als
Schwellenland eine Spitzenposition erarbeitet. Durch die Assoziation mit der EU
will Tunesien in den Kreis der Industrieländer aufsteigen.
285
Seitdem 1986 mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und
der Weltbank ein Strukturanpassungsprogramm eingeleitet wurde, setzt Tunesien
auf den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, die Förderung der Privatwirtschaft und die Integration in die Weltwirtschaft. Internationale Beobachter bescheinigen Tunesien in den vergangenen 15 Jahren eine makroökonomische Erfolgspolitik mit Wachstumsraten von meist über 5%. Im Rahmen des 9. Entwicklungsplans von 1997 bis 2001 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 5,3% (2001: 4,9%, 2002 1,7%). Im gleichen Zeitraum betrug die durchschnittliche Inflationsrate 2,9%. Für 2003 wird mit einem Wachstum von bis zu
5% gerechnet.
Tunesien legte im Rahmen dieser Entwicklungsstrategie größten Wert auf die
Entwicklung seiner menschlichen Ressourcen. Die Einschulungsrate liegt bei nahezu 100%. Durchschnittlich 25,5% des Staatshaushalts flossen zwischen 1996
und 2001 in Erziehung und Hochschulbildung.
Die weitgehende Emanzipation der Frauen wurde bereits in der ersten Verfassung
des Landes festgelegt, Tunesien spielt hier eine Vorreiterrolle in der arabischen
Welt. 24% der Frauen waren 2001 außerhalb der Familie berufstätig. Sie stellen
50% der Lehrkräfte und 40% der Staatsbediensteten. Im Jahr 2002 waren 54% der
Studierenden Frauen. Die Zahl der Unternehmerinnen in Tunesien wurde für das
Jahr 2002 mit 5.000 angegeben.
Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung betrug 1969 113 tunesische Dinar
(TND), im Jahr 2001 2.841 TND (2.136 EUR). Dies ist derzeit das höchste ProKopf-Einkommen in Nordafrika nach Libyen. Der Anteil der Menschen, die unter
der Armutsgrenze leben, konnte von 13% (1980) auf 4,2 % (2000) gesenkt werden. Das Bevölkerungswachstum (2002: 1,0%) wird nach tunesischen Angaben
bis 2004 auf 0,9% sinken. Die Lebenserwartung betrug im Jahr 2000 72,2 Jahre.
Auf 1.155 Einwohner kam im Jahr 2003 ein Arzt. Derzeit sind rund 80% von der
Kranken- und Sozialversicherung erfasst. Tunesien besitzt eine ausgeprägte Mittelschicht, der 80% der Bevölkerung zugerechnet werden. Ferner besitzen 80%
der Bevölkerung Wohneigentum. Dies hatte eine in der Region bislang unerreichte wirtschaftliche und soziale Stabilität zur Folge.
Im Rahmen der Umsetzung des Assoziationsabkommens mit der EU wuchsen die
tunesischen Exporte in die EU zwischen 1997 und 2001 jährlich um durchschnittlich 5,5%, die tunesischen Importe aus dem EU-Raum im gleichen Zeitraum um
286
11%. Die Stärkung der Wettbewerbs- und Exportfähigkeit des Landes stellt daher
im Hinblick auf die Verwirklichung der Zollunion mit der EU im Jahre 2008 eine
zentrale Aufgabe dar.
Dieses Vorhaben ist wichtiges Element des 10. Entwicklungsplans für den Zeitraum 2002/2006. Hier liegen die Prioritäten bei der Reduzierung der Arbeitslosigkeit (derzeit nach offiziellen Angaben 14,3%; Schaffung von 380.000 Arbeitsplätzen), der Modernisierung der Wirtschaft und dem Aufbau einer Wissensgesellschaft bei gleichzeitiger Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften. Das Wirtschaftswachstum soll in diesem Zeitraum durchschnittlich 5,5%
betragen. Das Pro-Kopf-Einkommen soll 2006 4.098 TND (rd. 3.100 EUR) erreichen. Für die Realisierung des 10. Plans veranschlagt die tunesische Regierung 44
Mrd. USD (davon 34 Mrd. Investitionen). Das Land will den größten Teil (72%)
selbst aufbringen, nicht zuletzt durch die Steigerung der nationalen Sparleistung
von 68% auf 72% mit Hilfe eines optimierten Banken- und Versicherungssystems. Das Haushaltsdefizit soll 2006 2% betragen (2002: 2,6%, 2001: 3,3%).
Gleichzeitig zielt der Plan auf die Mobilisierung von ausländischem Kapital in
Höhe von 12,5 Mrd. USD (3,6 Mrd. USD in Form von ausländischen Investitionen, 4,3 Mrd. USD in Form von Zuschüssen und Vorzugskrediten sowie 4,6 Mrd.
USD in Form von Bankkrediten und Anleihen).
Tunesiens Zugang zu den internationalen Kreditmärkten wird von internationalen
Beobachtern positiv eingeschätzt. Das Land beantragte bislang weder eine Fristverlängerung für die Rückzahlung von erhaltenen Krediten noch eine Umschuldung. Die Auslandsverschuldungsrate lag 2002 bei 53,5% (2000: 51,7%). Der
Schuldendienstkoeffizient betrug nach Angaben der tunesischen Zentralbank 2001
13,3% (2000: 19,4%, 1999: 15,5%). Für 2002 wurden 16,7% prognostiziert.
Das Kreditrating beträgt bei Standard&Poors BBB (Jahre 2000/2001/2002), bei
Moody’s 2003 Baa2 (2000/2001/2002: Baa3) und bei Fitch IBCA BBB. Das
Handelsbilanzdefizit konnte daher bislang durch internationale Kreditaufnahme
kompensiert werden.
Das Jahr 2002 stellte für Tunesien allerdings erstmals eine ökonomische Herausforderung dar. Eine seit über drei Jahren anhaltende, mittlerweile beendete, Dürre
mit Einbrüchen in der landwirtschaftlichen Produktion um bis zu zwei Drittel, die
stagnierende Weltkonjunktur sowie die Terroranschläge am 11. September 2001
in den USA und auf Djerba am 11. April 2002 mit negativen Auswirkungen auf
287
Handel, Transport und Tourismus (der Tourismus hat einen Anteil von 7% am
tunesischen BIP mit 340.000 Arbeitsplätzen) reduzierte das Wachstum 2002 auf
1,7%. Tunesien hofft jedoch, diesen konjunkturellen Einschnitt durch neue wirtschaftliche Dynamik im Jahr 2003 kompensieren zu können. An erster Stelle der
Bemühungen stehen die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der
Wettbewerbs- und Exportfähigkeit der tunesischen Wirtschaft (Reformen im administrativen, rechtlichen und finanziellen Bereich, Privatisierung, Gründung von
Unternehmungen, aber auch Förderung von beruflicher Bildung sowie von Wissenschaft und Forschung).
Die ausländischen Direktinvestitionen betrugen im Jahr 2001 718,3 Mio. TND /
rd. 540 Mio. EUR und im Jahr 2002 1,056 Mrd. TND / rd. 812 Mio. EUR
(+47,0%).
b)
Außenwirtschaft und Außenhandel
Die außenwirtschaftlichen Beziehungen Tunesiens sind stark auf die EU ausgerichtet. Nach Angaben der tunesischen Zentralbank betrugen die tunesischen Exporte in die EU 2002 6,024 Mrd. EUR gegenüber 4,807 Mrd. EUR im Jahr 2000
die EU hatte am tunesischen Gesamtexport 2001 einen Anteil von 79,9%, davon
Frankreich 28,9%, Italien 23,2% und Deutschland 11,7%. Die tunesischen Importe aus der EU betrugen 2002 7,534 Mrd. EUR gegenüber 6,218 Mrd. EUR im Jahr
2000. Die EU hatte an den tunesischen Gesamtimporten einen Anteil von 70,6%,
davon Frankreich 26,3%, Italien 19,1% und Deutschland 9,6%.
Wichtigste Ausfuhrgüter sind Textilien, Erdölprodukte, Phosphatprodukte (Düngemittel), Phosphate und elektromechanische Güter. Landwirtschaftliche Exportprodukte (insbesondere Olivenöl, Datteln und Zitrusfrüchte) sind zwar in absoluten Zahlen von nachgeordneter Bedeutung, spielen aber eine große arbeitsmarktpolitische Rolle. Wichtigste Einfuhrgüter sind Maschinen, Textilien, Kraftfahrzeuge, Erdölprodukte und Getreide.
c)
Mitgliedschaft in Wirtschaftsgruppierungen
Weltbank und IWF (14.4.1958), GATT/WTO (vorläufig beigetreten 21.05.1960,
Vollmitglied seit 29.03.1995), Assoziationsabkommen mit der EU (unterzeichnet
1995).
288
VII. Tunesiens Position bzgl. der Irak-Resolution
Tunesien lehnt einen von den Vereinigten Staaten geführten Krieg gegen den
Irak, und damit auch den Resolutionsentwurf der Vereinigten Staaten, ab. Tunesien ist sich zwar der potentiellen Gefahr, die vom Irak ausgeht, bewusst,
bevorzugt jedoch eine arabische Lösung des Problems. Damit schließt sich
Tunesien der Position der anderen Maghreb-Staaten an.
VIII. Literatur
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
Deutsch-Tunesische Gesellschaft (DTG), www.deutsch-tunesischegesellschaft.de
-
Khalatbari, Babak: Länderstudie Tunesien, hrsg. v. Düsseldorfer Institut für
Außen- und Sicherheitspolitik, November 2003, online unter:
http://www.dias-online.org/pdf/LStudien/Tunesien_2003.pdf
-
Länderbeitrag Libyen, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
289
C. Sonstige Staaten
290
Israel
I.
Geographische Karte
Quelle: University of Texas (online unter: http://www.lib.utexas.edu/maps/middle_east_and_asia/israel.gif)
291
II.
Basisdaten
Stand: Februar 2004
Quelle: Auswärtiges Amt
Ländername
Staat Israel (Medinat Yisra’el)
Klima
Drei Klimazonen:
Küstenebene: feuchtheiße Sommer, milde und regenreiche Winter (z.B. Tel Aviv)
Bergland: warme und trockene Sommer, kalte Winter (z.B. Jerusalem)
Wüste: heiße und trockene Sommer, milde Winter (z.B. Negev)
Lage
Zwischen 34° und 29° nördlicher Breite und 34° und 36° östlicher Länge
Größe des Landes
20.766 qkm (in den Waffenstillstandslinien von 1949 - "Grüne
Linie")
Hauptstadt
Jerusalem (Yeruschalayim), 2001: 670 000 Einwohner im Bezirk
Jerusalem (einschließlich des im Juni 1967 eroberten und am
28.06.1967 formell mit dem Westteil der Stadt vereinigten Ostjerusalem; international nicht anerkannt)
Bevölkerung
Ende 2003:
ca. 6,75 Millionen (einschließl. Golan und Ostjerusalem)
Landessprachen
Hebräisch (Iwrith), Arabisch; Handelssprache: Englisch
Religionen / Kirchen
Stand Ende 2003: ca. 81% Juden, ca. 15% Muslime, ca. 2%
Christen, ca. 1,6% Drusen
Nationaltag
14.05. - Unabhängigkeitstag wird nach jüdischem Kalender jährlich wechselnd gefeiert
Unabhängigkeit
14.05.1948 (Proklamation des Staates Israel)
Regierungsform
Parlamentarische Demokratie; keine schriftliche Verfassung,
aber einzelne "Verfassungs-Gesetze"; Parlament (Knesset) mit
120 Mitgliedern, Wahl alle 4 Jahre
Staatsoberhaupt
Staatspräsident Mosche Katsav (Likud); seit 1.8.2000; Wahl alle
5 Jahre durch das Parlament
Regierungschef
Premierminister Ariel Sharon (Likud); seit 7.3.2001;
bestätigt am 27.02.2003; Koalition aus Likud, Shinui, Nationaler
Union, Nationalreligiöser Partei
Außenminister
Silvan Shalom (Likud); seit 27.02.2003
Parlamentspräsident
Reuven Rivlin (Likud); seit 19.02.2003
292
Regierungskoalition
die Regierungskoalition hat 68 der 120 Sitze im Parlament
(Knesset), nach folgender Verteilung: Likud 40, Shinui 15, Nationale Union 7, Nationalreligiöse Partei 6
Opposition
die Opposition hat 52 der 120 Sitze im Parlament (Knesset),
nach folgender Verteilung: Labour 19, Shas 11, Meretz 6, United
Torah Judaism 5, Am Ehad 3, arabische Parteien 8
Gewerkschaften
Zwischen dem DGB und dem israelischen Gewerkschaftsbund
Histadrut (knapp 600.000 Mitglieder) besteht seit 1975 ein Partnerschaftsvertrag (der einzige dieser Art für beide Organisationen). Zehn der 13 DGB-Bezirke haben sich partnerschaftlich mit
Histadrut-Bezirken verbunden. Der DGB begleitet den Friedensprozess mit verschiedenen Gewerkschaftsprojekten, durch Besucheraustausch und gemeinsame Seminare.
Mitgliedschaft in internati- UNO, CCC (Customs Coorporation Council), FAO (UNonalen Organisationen
Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisaiton), WTO (Welthandelsorganisaiton), IAEA (Internationale AtomenergieOrganisation), IBRD (Internationale Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung), ICAO (Internationale Zivilluftfahrt-Organisation),
IDA (Internationale Entwicklungsorganisation), IFC (Internationale Finanz-Corporation), ILO (Internationale Arbeitsorganisation), IMF (Internationaler Währungsfonds), IMO (Internationale
Seeschifffahrt-Organisation), ITU (Internationale Fernmeldeunion), UNESCO, UPU (Weltpostverein), WHO (Weltgesundheitsorganisation), ECE (UN-Wirtschaftskommission für Europa),
UNDCP (Internationales Drogenkontrollprogramm der UN),
UNICEF, WMO (Weltorganisation für Meteorologie), Interpol,
ECOSOC-ESCWA (Wirtschafts- und Sozialrat der VN/ Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien), HABITAT (VNProgramm für menschliches Siedlungswesen), IOM (Internationale Organisaiton für Migration), ISO (International Standards
Organization), UNCTAD (Handels- und Entwicklungskonferenz
der VN), UNHCR (Hoher Kommissar der VN für Flüchtlinge),
UNIDO (VN-Organisation für industrielle Entwicklung), WIPO
(Weltorganisaiton für geistiges Eigentum), UNV (VNFreiwilligenprogramm), UNITAR (VN-Ausbildungs- und Forschungsinstitut), UPOV (Internationales Übereinkommen zum
Schutz von Pflanzenzüchtungen), ESCAP (Wirtschafts- und
Sopzialkommission für Asien und den Pazifik), ECA (Wirtschaftskommission für Afrika), ECLA (Europäisches Klassifikationssystem)
Medien
TV:
Erster Kanal (Arutz Rishon, staatlich)
zwei private Sender mit Vollprogrammen : Kanal 2 (Arutz
Shtaim, seit 1993) und Kanal 10 (Arutz Eser, seit 2002)
zahlreiche Lokal- und Spartensender im Kabelnetz und via Satellit
Rundfunk:
Acht Programme des staatlichen Rundfunks Kol Israel (Stimme
Israels), Militärsender Galej Zahal (Vollprogramm), viele kommerzielle Rundfunkstationen und auch Piratensender
Tageszeitungen
293
in hebräischer Sprache: Yedioth Ahronot, Ma'ariv, HaAretz,
Globes (spezialisiert auf Wirtschaftsthemen) u.a.; Tageszeitungen in englischer Sprache: Jerusalem Post, Ha’aretz; drei Tageszeitungen in russischer Sprache: Vesti, Vremia, Nowosti-Nedeli
Internet:
Webportale der großen Zeitungen ynet (Yedioth Ahronoth) sowie maariv (auch auf Englisch), haaretz (auch auf Englisch),
globes, jpost (Jerusalem Post)
Bruttoinlandsprodukt
ca. 455,1 Mrd NIS (für das Jahr 2002);
für das erste Quartal des Jahres 2003: 122,1 Mrd. NIS;
BIP pro Kopf 74.050 NIS (für das Jahr 2002);
Wechselkurs
1 EUR = 5,5331 Neue Israelische Schekel (NIS);
(Stand: 1. Januar 2004)
III.
Geschichte bis 1990:
a) Geschichte bis zur Gründung des Staates Israel
1882 bis 1903
Erste Einwanderungswelle (Alija): Als Reaktion auf ihre Unterdrückung in Osteuropa kommen etwa 30.000 Juden nach Palästina.
1896
Theodor Herzl veröffentlicht "Der Judenstaat ".
29. bis 31. August 1897
Erster Zionistenkongreß in Basel, der die Schaffung einer gesicherten Heimstätte
für das jüdische Volk in dem damals unter osmanischer Herrschaft stehenden Palästina fordert.
2. November 1917
Die Britische Regierung sichert den politischen Zionisten ihre Unterstützung bei
der Schaffung einer "jüdischen Heimstätte" in Palästina zu (BalfourDeklaration).
24. April 1920
Konferenz der Alliierten in San Remo überträgt Großbritannien das Mandat für
Palästina.
Dezember 1920
Dritter Palästinensischer Nationalkongreß, der in Haifa stattfindet, verlangt für
Palästina eine einheimische Regierung.
294
1932 bis 1938
Im Zuge der fünften Alija kommen als Reaktion auf Verfolgung in Europa mehr
als 250.000 jüdische Einwanderer nach Palästina.
1936 bis 1939
Widerstand der Palästinenser gegen die britische Mandatspolitik und die zionistische Kolonisation erreicht einen Höhepunkt.
1939 bis 1945
2. Weltkrieg; Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden Europas
29. November 1947
Die UN-Vollversammlung beschließt mit der Resolution 181/II die Teilung Palästinas und die Gründung eines jüdischen und eines arabischpalästinensischen Staates sowie die Internationalisierung des Gebietes von Jerusalem.
Quelle: haGalil online, hrsg. v. Eva Ehrlich
(http://www.hagalil.com/israel/geschichte/geschichte.htm)
b) Geschichte des Staates Israel bis 1990
14. Mai 1948
Proklamation des Staates Israel. Der Staat Israel wird unabhängig und absorbiert
in seinen ersten vier Jahren über 700.000 Immigranten.
14./15. Mai 1948
Arabische Armeen beginnen mit einem Angriff auf Israel den ersten arabischisraelischen Krieg (Unabhängigkeitskrieg).
295
11. Dezember 1948
UNResolution mit Bekräftigung des Rechts auf Rückkehr oder Wiedergutmachung für Palästinenser.
1950
Israel verabschiedet das Rückkehrergesetz, das das Recht eines jeden Juden auf
Einwanderung nach Israel bestätigt.
29. Oktober bis 5. November 1956
Suezkrise.
1958/59
Palästinenser, darunter Yassir Arafat, gründen in Kuwait die Bewegung zur Befreiung Palästinas, Fatah.
28. Mai bis 2. Juni 1964
Tagung des Ersten Palästinensischen Nationalkongresses, Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
5. bis 10. Juni 1967
Sechs-Tage-Krieg
1970
In Jordanien entbrennen zwischen Jordaniern und Palästinensern bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen, die mit einer Niederlage der Palästinenser enden
(Schwarzer September).
6. bis 26. Oktober 1973
Erneute Bedrohung für Israel durch den Jom Kippur-Krieg.
13. November 1974
Erstmals Rede Yassir Arafats vor UNO-Vollversammlung.
12.-20. März 1977
13. Treffen des Palästinensischen Nationalrats der PLO in Kairo. Jassir Arafat
überzeugt die Delegierten von einer Zwei-Staaten-Lösung des Konflikts. Mehrheitlich wird der Vorschlag, einen unabhängigen palästinensischen Staat auf einem Teil Palästinas zu gründen, angenommen.
17. Mai 1977
Erstmals gewinnen die Rechtsparteien die israelischen Parlamentswahlen. Menachem Begin wird Ministerpräsident.
296
19. bis 21. November 1977
Staatsbesuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat in Jerusalem.
14. März 1978
Israel marschiert im Südlibanon ein.
5. bis 17. September 1978
Ägypten, Israel und die Vereinigten Staaten unterzeichnen das Camp-DavidAbkommen.
26. März 1979
Ägypten schliesst als erstes arabisches Land Frieden mit Israel. In Camp David
zwischen Jimmy Carter, Anwar al Sadat und Menachem Begin getätigte Verhandlungen sehen unter anderem für die Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten eine baldige Autonomie vor.
6. Oktober 1981
Ermordung von Präsident Sadat.
25. April 1982
Israel zieht sich ganz aus der Sinai-Halbinsel zurück.
6. Juni 1982
Raketenangriffe auf Galiläa ziehen Israel in den Libanonkrieg.
Israelische Truppen dringen in den Libanon ein, um dort die Palästinenser zu bekämpfen. Beginn der israelischen Invasion im Libanon und der Belagerung Beiruts.
21. August bis 4. September 1982
13.000 palästinensische Kämpfer ziehen, nachdem sie Wochen hindurch dort eingekesselt waren, aus Westbeirut ab.
14. bis 18 September 1982
Der neu gewählte Staatspräsident des Libanon Beschir Gemayel wird noch vor
seiner Amtseinführung ermordet. Die israelischen Truppen marschieren in WestBeirut ein. Das Massaker christlicher Falange-Milizen in den Flüchtlingslagern
Sabra und Schatila verursacht nach Angaben der israelischen Untersuchungskommission unter Vorsitz von Richter Kahan 800 Tote. Die PLO spricht von
1.500 Toten.
297
8. Dezember 1987
In den israelisch besetzten Gebieten beginnen Palästinenser, vor allem Jugendliche, eine Rebellion gegen das Besatzungsregime (Intifada).
15. Dezember 1988
Die PLO proklamiert auf dem XIX. Nationalkongreß den Staat Palästina bei Anerkennung der Existenz Israels.
1989
Die Masseneinwanderung aus der Sowjetunion beginnt.
22. Oktober 1989
Das Taif-Abkommen leitet die Beendigung des Libanesischen Bürgerkriegs ein.
Quelle: haGalil online, hrsg. v. Eva Ehrlich
(http://www.hagalil.com/israel/geschichte/geschichte.htm)
IV.
Innenpolitische Entwicklung seit 1990
Während der Irak-Krise Anfang der 1990er Jahre wurde Israel direkt vom Irak
bedroht und angegriffen. Insgesamt 39 irakische Scud-Raketen gingen Anfang
1991 auf israelischem Territorium nieder. Entgegen den schlimmsten Befürchtungen waren diese jedoch nicht mit chemischen Sprengköpfen ausgestattet. Insgesamt wurden bei den Angriffen „nur“ zwei Personen getötet.
Die innenpolitische Entwicklung Israels war in den 1990er Jahren geprägt durch
den Friedensprozess mit den Palästinensern. Da Israel eine parlamentarische Demokratie ist, reicht das Parteienspektrum vom orthodox-religiösen, nationalistischen rechten Rand, welche teilweise von einem Großisrael träumen, bis zum linken Spektrum, welche Frieden mit den Palästinensern durch die Gründung und
Anerkennung eines palästinensischen Staates schließen wollen. Dabei lautet die
Formel der Linken Durch Frieden zu Stabilität und Sicherheit, während die Formel des rechten Spektrums Durch Sicherheit zu Frieden und Stabilität lautet (NJ
2001). Die Entwicklung im Friedensprozess stand demnach auch immer in Wechselbeziehung zu den Machtverhältnissen in der Knesset (israelisches Parlament).
Erschwerend hinzu kommt eine zersplitterte Parteienlandschaft, die auch geprägt
ist durch viele kleine, teils radikale Kräfte, auf die die großen Parteien, Likud und
Arbeiterpartei, angewiesen sind, wenn sie eine Mehrheit in der Knesset stellen
wollen. Koalitionen mit fünf oder mehr Parteien sind in Israel nichts Ungewöhnliches.
298
Bereits die Regierung Shamir (eine Koalition aus Likud und mehreren kleinen,
rechtsextremen und religiösen Parteien) kündigte 1991 an, an den NahostFriedensgesprächen teilzunehmen. Erst jedoch mit dem Scheitern der Regierung
Shamir und dem Wahlsieg von Yitzhak Rabin (Arbeiterpartei) bei den vorzeitigen
Neuwahlen kam der Friedensprozess in Gang. Während sich die Gewaltspirale im
Libanon durch Anschläge der Hisbollah und Vergeltungsschläge der israelischen
Armee weiter drehte, schien sich zwischen Israel und der PLO durch ein Abkommen vom 13.9.1993 eine Annäherung abzuzeichnen. Arafat hatte nach der Unterzeichnung die al-Fatah angewiesen, die militanten Aktionen gegen Israel einzustellen. Die Verhandlungsbereitschaft Arafats wurde von extremistischen palästinensischen Organisationen wie Hamas und Islamischer Jihad kritisiert, welche
Verhandlungen mit Israel grundsätzlich ablehnen. Verstärkt kam es zu innerpalästinensischen Kämpfen und zu Anschlägen an Mitgliedern der al-Fatah, wofür die
Hamas und die PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) verantwortlich gemacht wurden. Diese bestritten jedoch, die Morde verübt zu haben.
Die Radikalen auf beiden Seiten versuchten den Friedensprozess zu stoppen.
Während die Hamas verstärkt in Israel Anschläge verübte und Islamischer Jihad
auch Anschläge auf israelische Einrichtungen im Ausland verübte, kam es auch zu
Morden von radikalen Israelis an Palästinensern. Während des Purim-Festes am
25.2.1994 betrat der Arzt und Siedler Baruch Goldstein die Patriarchen-Höhle in
Hebron, verschaffte sich Zugang zum abgesperrten muslimischen Bereich der
sowohl von Juden, als auch von Muslimen religiös genutzten Grabstätte Abrahams und tötete mit einem Schnellfeuergewehr 29 betende Muslime. Als eine
Ladehemmung eintrat, wurde er von den Arabern überwältigt und totgeschlagen.
Innenpolitisch geriet Rabin zunehmend unter Druck. Um sich in der Golan-Frage
Luft zu verschaffen, schlug er 1994 vor, ein Referendum über den Rückzug vom
Golan abzuhalten. Es kam zu heftigen Protesten der Golan-Siedler gegen die
Rückzugsangebote der Regierung an Syrien. 1995 gewann die Diskussion um den
Golan und auch um Jerusalem an Schärfe. Wiederholt stellten die Opposition,
angeführt vom Likud-Block, Misstrauensanträge gegen die Regierung Rabin. Angefacht wurde die Diskussion durch die Zusage Rabins an den Koalitionspartner
Meretz, keine weiteren Siedlungsprojekte in den unmittelbar an Jerusalem grenzenden Gebieten zu gestatten. In der Golan-Frage hielt Rabin an der Idee des Referendums fest.
299
Am 11.4.1995 wurde Rabin von einem Studenten, der Mitglied der rechtsextremen Vereinigung EYAL (Organisation jüdischer Kämpfer) war, nach einer Friedensveranstaltung in Tel Aviv erschossen. Shimon Peres wurde neuer Vorsitzender der Arbeiterpartei und mit der Bildung einer neues Regierung beauftragt. Die
Opposition, schockiert über das Attentat an Rabin, distanzierte sich vom religiösen Extremismus. Wie auch Rabin musste Peres die Friedenspolitik, vor allem die
Golan-Frage, gegen eine starke Opposition in der Knesset durchsetzen. Peres
glaubte, die nach dem Mord an Rabin herrschende öffentliche Stimmung für sich
nutzen zu können, um durch vorzeitige Neuwahlen eine eindeutige Mehrheit zu
erlangen. Der Herausforderer des Likud-Blocks, Benjamin Netanjahu, nutzte jedoch die Sicherheitsängste vieler Israelis, welche durch weitere Hamas-Anschläge
weitere Nahrung bekam, um die Wahl für sich zu entscheiden. Mit Netanjahu als
Ministerpräsident ab 1996 verlangsamte sich der Friedensprozess, kam aber noch
nicht generell zum erliegen. Wegen des Hebron-Abkommens, welches den Rückzug israelischer Truppen aus dem Westjordanland vorsah, kam es 1997 innerhalb
des Kabinetts, auch innerhalb des Likud-Blocks, zu erheblichen Kontroversen.
1998 setzte sich der Streit über den Truppenabzug aus den besetzten Gebieten
innerhalb der Regierung fort, jedoch erst das Wye-Abkommen bzw. dessen Umsetzung (Abkommen zum Abzug israelischer Truppen aus der Westbank und dem
Gaza-Streifen) führten zu irreparablen Rissen in der Koalition. Erneut wurden
Neuwahlen angesetzt. Die Neuwahlen 1999 gewann Ehud Barak (Arbeiterpartei
bzw. Wahlbündnis Ein Israel) vor Netanjahu. Die Regierung scheiterte jedoch
bereits ein Jahr später wegen eines Dauerstreites der kleinen Koalitionspartner
Shas und Meretz. Die Koalition brach auseinander und wieder wurden Neuwahlen
für 2001 angesetzt.
Als Ariel Sharon und die gesamte Likud-Fraktion am 27.9.2000 eine wohl bewusst provokative „Besichtigung“ des Tempelbergs durchführten, war dies der
Ausschlag für den am 28.9. als al-aqsa-Intifada bezeichnete erneute Aufstand der
Palästinenser. Obwohl oberflächlich alles wie ein spontaner Wutausbruch aussah,
spricht vieles dafür, dass die palästinensische Führung nur auf einen Anlass für
den Aufstand gewartet hat. Die flächenübergreifende Organisation der auf gewalttätige Konfrontation ausgerichteten Demonstrationen, die gleichen Ablaufszenarien in allen palästinensischen Städten, die sofortigen Aufrufe zur Gewalt in dem
von der palästinensischen Autonomiebehörde gelenkten Rundfunk und Fernsehen,
sind Indizien für eine länger vorbereitete Aktion (NJ 2000). Am 13.10.2000 er300
klärten beide Seiten den Friedensprozess für „gestorben“. Bis zum Jahresende
2000 forderte die zweite Intifada insgesamt 361 Tote.
Aus den Neuwahlen 2001 ging Ariel Sharon als Sieger hervor. Die Regierung
wurde durch eine große Koalition aus Likud, Arbeiterpartei und einigen kleinen,
national-religiösen Parteien gebildet. Der Friedensprozess kann seit 2001 als gescheitert gelten. Die Gewalt eskalierte sowohl in den besetzten Gebieten, als auch
in Israel selbst. Sharon erklärte, dass Arafat kein Verhandlungspartner mehr für
Israel sei und die Palästinensische Autonomiebehörde eine Terrorismusunterstützende Organisation sei (NJ 2001). Die Versuche, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen, scheiterten, weil Israel die Verknüpfung zwischen Einstellung
der Gewalt und den Siedlungsaktivitäten, und die Palästinensische Autonomiebehörde die Aufgabe der Gewalt ohne Siedlungsstopp ablehnte. Auch Vermittlungsversuche der USA, welche in den 1990er Jahren immer wieder die beiden Seiten
an den Verhandlungstisch zurückholen konnten und Lösungsversuche wie der
Tenet-Plan, konnten die Gewalt nicht stoppen (NJ 2001). Nach den Terroranschlägen vom 11. September versuchte Sharon sein Vorgehen gegen die Palästinenser als Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus darzustellen.
V.
Außenpolitische Entwicklung seit 1990
Auch die außenpolitische Entwicklung Israels stand ganz im Zeichen des Friedensprozesses. Durch die irakischen Angriffe 1991 fühlten sich viele Israelis zwar
besorgt, die Irakfrage war aber für Israel eher sekundär. Wichtig war, das Verhältnis zu den Palästinensern und zu anderen arabischen Nachbarn zu normalisieren.
Entscheidenden Einfluss bei den Friedensverhandlungen hatten die USA, die sowohl auf die arabischen, als auch auf die israelischen Verhandlungspartner Einfluss ausüben konnten.
Am 30. Oktober 1991 begann in Madrid eine Nahostkonferenz unter der Schirmherrschaft der USA und der Sowjetunion, an der alle am Konflikt beteiligten Parteien teilnahmen. Die Palästinenser waren mit 14 Vertretern Teil der jordanischen
Delegation. Gleichzeitig liefen Geheimverhandlungen mit der PLO in Oslo.
Außenpolitisch kam der Friedensprozess mit den arabischen Nachbarstaaten und
den Palästinensern mit dem Wahlsieg Rabins 1992 in Gang. Sowohl bilaterale, als
auch multilaterale Verhandlungen sollten einen dauerhaften Frieden im Nahen
Osten installieren. Erste Erfolge konnte Rabin mit einer am 10. September 1993
301
gemeinsam von der israelischen Regierung und der PLO unterzeichnete
Grundsatzerklärung (Oslo-Abkommen, auch „Oslo1“ genannt) erreichen, die den
Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland eine Selbstverwaltung
vorsah. Zudem erkannten sich beide Seiten erstmals offiziell an, eine Vorraussetzung, um überhaupt offizielle Verhandlungen aufnehmen zu können. Gleichzeitig
strich die PLO aus ihrer Charta alle Passagen, die die Vernichtung Israels als Ziel
enthielten. Umstrittene Themen, wie die Jerusalem-Frage oder die Frage der jüdischen Siedlungen, wurden bewusst ausgeklammert. Mit dem Gaza-JerichoAbkommen vom 4. Mai 1994 wurde den Palästinensern erstmals seit 1967 ein
autonomes Gebiet zugesprochen. Der Gazastreifen und die Stadt Jericho fielen
unter palästinensische Kontrolle. Ausgeklammert wurden jüdische Siedlungen,
die weiterhin Israel unterstanden. Am 14. Oktober 1994 erhielten Yassier Arafat,
Shimon Peres und Yitzhak Rabin den Friedensnobelpreis verliehen.
Mit dem Gaza-Jericho-Abkommen schlossen zudem Israel und Jordanien einen
Friedensvertrag, der zuvor durch Geheimverhandlungen vorbereitet wurde.
Im „Abkommen über die Autonomie des Westjordanlandes“ („Oslo2“) paraphierten Arafat und Rabin in Taba/Ägypten am 24.9.1995 einen Vertrag, welcher den
Palästinensern die autonome Herrschaft über ein Drittel des Westjordanlandes
zusprach. Jüdische Siedlungen und israelische Militärstützpunkte blieben weiterhin ausgeklammert. Vier Tage später wurde das Oslo2 im Beisein von USPräsident Clinton, König Hussein von Jordanien und Ägyptens Präsident Mubarak, welche sich erheblich für das Zustandekommen des Abkommens einsetzten,
in Washington unterzeichnet. In der praktischen Umsetzung des Oslo2Abkommens kam es aber immer wieder zu Problemen, da nicht klar war, wie der
Rückzug der israelischen Armee am günstigsten zu vollziehen sei.
Nach der Ermordung Rabins setzte der neue Ministerpräsident Shimon Peres die
Friedensverhandlungen fort. Anfang 1996 trat Peres die Verhandlungen über den
permanenten Status in Taba an.
Nach den Neuwahlen vom Februar 1996 und der Wahl Benjamin Netanjahus zum
Ministerpräsidenten verlangsamte sich der Friedensprozess mit den Palästinensern. In der Frage des israelischen Rückzugs aus Hebron gab es keine Einigkeit
mit den Palästinensern. Die Eröffnung des Hasmonäischen Tunnels, welcher unter
den Jerusalem und den Tempelberg hindurchführt, führte zu erneuten Unruhen bei
den Palästinensern. Am 15.1. 1997 schlossen die Palästinensische Autonomiebe-
302
hörde (PA) und die israelische Regierung nach Vermittlung durch den amerikanischen Nahostbeauftragten Dennis Ross und dem jordanischen König Hussein das
Hebron-Abkommen, indem sich Israel verpflichtete, 80 Prozent des HebronGebietes innerhalb von sechs Wochen an die PA zu übergeben. Zusätzlich sollte
Israel weitere palästinensische Gefangene freilassen. Der aber im Laufe des Jahres
von Israel durchgeführte Truppenabzug, welcher von palästinensischer Seite als
völlig unzureichend bezeichnet wurde, belastete das palästinensisch-israelische
Verhältnis. Ende März brachen im Westjordanland, vor allem in Hebron, weitere
Unruhen aus. Hinzu kamen das Bauvorhaben Har-Homa (ein neues Siedlungsprojekt, bzw. der Ausbau von bestehenden Siedlungen), welches, so wurde von palästinensischer Seite vermutet, in Ostjerusalem vollendete Tatsachen schaffen sollte
und die Schließung von palästinensischen Institutionen in Ostjerusalem. Vor diesem Hintergrund verweigerte Arafat die Teilnahme an endgültigen Friedensverhandlungen. Das Har-Homa-Vorhaben führte auch zu Verstimmungen in den Beziehungen zu Jordanien. König Hussein war nicht bereit, in der Frage zu vermitteln. Trotz der Verstimmungen kam es im Jahr darauf, am 23.10.1998, zum Abschluss des Wye-Abkommens, wiederum unter Vermittlung des jordanischen Königs Hussein. Das Wye-Abkommen sah einen komplizierten Rückzugsplan vor,
an dessen Erfüllung bestimmte Sicherheitsgarantien und –auflagen durch die Palästinenser gekoppelt war. Jedoch zeigten sich bei der Umsetzung des Plans beide
Seiten derart unkooperativ, dass sich US-Präsident Clinton persönlich einschaltete. Allerdings brachte auch eine Aussprache zwischen Clinton, Arafat und Netanjahu keine Einigung, da Israel die Einhaltung des vereinbarten Rückzugsplans
nicht zusicherte. Mit dem Ende der Regierung Netanjahu und dem Wahlsieg Baraks kam der Friedensprozess wieder in Gang. Am 4.9.1999 unterzeichneten Barak und Arafat das Wye2-Abkommen, indem ein neuer Zeitplan für den israelischen Rückzug aus dem Westjordanland vereinbart wurde. Aufgrund des heftigen
innenpolitischen Widerstandes gegen Barak (siehe innenpolitische Entwicklung)
waren Fortschritte im Friedensprozess nur minimal. Dennoch nahmen Arafat und
Barak am 1.11.1999 Verhandlungen über den Endstatus auf. Jedoch kam es wieder zu Streit, weil Arafat am 11.11.1999 die israelischen Rückzugspläne ablehnte.
Unterdessen gestaltete sich der weitere Verhandlungsprozess schwierig, das beide
Seiten zunehmend unter innenpolitischen Druck gerieten. Immer noch ungeklärte
Fragen, wie der endgültige Status Jerusalems, erhitzten die Gemüter auf beiden
Seiten. Als Einzelheiten über die im Juli 2000 begonnenen Verhandlungen im
Camp David ab die Öffentlichkeit gerieten, formierte sich auf beiden Seiten Wi303
derstand. In Tel Aviv demonstrierten 150.000-200.000 Menschen gegen die israelischen Zugeständnisse. Zugleich formierte sich der Widerstand in der Knesset.
Am 19.7 beschloss die Knesset ein Gesetz, nachdem ein Endstatusabkommen mit
den Palästinensern sowohl die absolute Mehrheit des Parlaments, als auch ein
Referendum (mit Mehrheit der Stimmberechtigten, nicht der abgegebenen Stimmen) benötigen würde. Zusätzlich beharrten beide Seiten auf einer Kontrolle des
Tempelbergs. Mit dem Ausbruch der al-aqsa-intifada, welcher durch den Tempelberg-Besuch Sharons und der Likud-Fraktion ausgelöst wurde, gilt der Friedensprozess als gescheitert.
Die Erfolge der Regierung Rabin/Peres im Friedensprozess mit den Palästinensern
hatten auch positive Auswirkungen auf das Verhältnis zu anderen arabischen bzw.
muslimischen Staaten. So besuchte 1993 Shimon Peres als erster Außenminister
Israels Marokko. Oman kündigte 1995 an, nachdem der jordanische König Hussein eine Zusammenkunft zwischen Außenminister Peres und dessen omanischen
Amtskollegen vermittelte, die Zusammenarbeit mit Israel auf mehreren Gebieten
anzustreben. Im Oktober 1995 wurde bekannt, dass Israel der Eröffnung einer
Handelskammer in Oman zugestimmt habe. Im gleichen Jahr konferierte Peres
erstmalig mit dem Außenminister von Qatar. Das Verhältnis zu Ägypten lässt sich
als gut und konstruktiv bezeichnen. Ägypten versuchte stets, im Friedensprozess
zu vermitteln. Das Zustandekommen des Oslo2-Abkommen im ägyptischen Taba
ist dafür nur ein Beispiel. Mit dem Regierungsantritt Netanjahus verschlechterte
sich das Verhältnis zur arabischen Welt jedoch wieder. Ägypten war verärgert
über die neue Palästina-Politik Netanjahus. König Hussein von Jordanien hatte
sogar eine persönliche Abneigung gegen Netanjahu (NJ 1996). Auch das Verhältnis zu Qatar und Oman verschlechterte sich wieder.
In der Golan-Frage kam kein konkretes Abkommen zustande. Zwar konnte die
Regierung Rabin/Peres auch in den Verhandlungen mit Syrien Erfolge vorweisen,
jedoch kam es nie zu einem Abschluss, denn die Verhandlungen wurden mit dem
Regierungsantritt Netanjahus nicht mehr aufgenommen. Syrien beansprucht den
kompletten Golan für sich und möchte erst Verhandlungen mit Israel aufnehmen,
wenn Israel bereit ist, den komplett Golan zurückzugeben. Israel hat ein besonderes Sicherheitsinteresse auf den Golanhöhen. Denn Israel hat ein Frühwarnsystem
auf dem Berg Hermon installiert, von der aus große Teile des Nahen Ostens überwacht werden können. Für den Aufbau einer Ersatzstation auf einer ähnlichen
304
Höhe (z.B. dem Berg Carmel) würden Zeit und vor allem Finanzmittel benötigt,
für die offenbar niemand aufkommen will, auch nicht die USA (NJ 1994).
Zudem beschuldigt Israel Syrien den antiisraelischen Terrorismus im Südlibanon
zu unterstützen bzw. zumindest zu dulden. Da Syrien de facto Besatzungsmacht
im Libanon ist, wäre Syrien in der Lage, die Aktivitäten der Hisbollah zu unterbinden. Da Syrien dies nicht tut und die Gewaltspirale von Anschlägen und Vergeltungsschlägen sich weiter dreht, zweifelt Israel daran, dass Syrien ernsthaft an
Frieden interessiert ist.
Als außerordentlich guter Vermittler galt der jordanische König Hussein. Er war
selbst in den Situationen in der Lage erfolgreich zu vermitteln, in denen die USA
versagten.
Die USA waren stets der wichtigste Partner Israels. Deshalb haben die USA auch
einen besonderen Einfluss auf Israel. Dabei ist der Vorwurf der arabischen Staaten, die USA würden Israel einseitig im Friedensprozess unterstützen, nicht haltbar. Bereits Präsident Bush sen. galt als Gegner der israelischen Siedlungspolitik,
was vor allem zu Verstimmungen zwischen den USA und dem damaligen israelischen Wohnungsminister Sharon führte (NJ 1991). 1992 verurteilte der UNSicherheitsrat, mit der Stimme der USA, in außergewöhnlich scharfer Form in der
Resolution 726 die Deportation von zwölf Palästinensern durch Israel. Die harte
Haltung der USA zeigte Wirkung: Anfang 1993 machte Rabin dem neuen USPräsidenten Clinton das Angebot, eines israelischen Rückzugs vom Golan gegen
gesicherte und anerkannte Grenzen, wobei er, im Vergleich zu früheren Angeboten, erstmals einen totalen Rückzug nicht ausschloss. Die Clinton-Administration
bemühte sich intensiv um einen Frieden im Nahen Osten und vermittelte, häufig
erfolgreich, wenn sich die Fronten mal wieder verhärteten. Mit der Wahl Netanjahus zum Ministerpräsidenten kühlte sich das Verhältnis zu den USA wieder ab.
Netanjahu wurde in den USA gemieden, da er als diplomatisch unsensibel galt
(NJ 1998). Auch die neue Palästina-Politik Netanjahus wurde von den USA heftig
kritisiert (NJ 1998). Auch unterstützte Clinton die palästinensische Forderung
nach Eigenstaatlichkeit (NJ 1998). Ein amerikanischer Beamter bezeichnete Netanjahu als „nitpicker“, der immer neue Dinge fände, um die er Wind machen
könne (NJ 1998). Bezeichnend für den ernsthaften Wunsch der USA nach Frieden
im Nahen Osten ist auch, dass wichtige Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern in den USA unterzeichnet bzw. verhandelt wurden (Wye, Camp David). Die USA versprachen sich von einem Frieden im Nahen Osten zum einen
305
dauerhafte Stabilität für die Region insgesamt, zum anderen Unterstützung der
arabischen Staaten für die harte Haltung der USA gegenüber dem Irak (NJ 1998).
Auch das Verhältnis zu Europa lässt sich insgesamt als gut bezeichnen. Dennoch
gibt es unterschiedliche Meinungen, was die Palästina-Frage angeht. Die meisten
europäischen Staaten glauben, dass ein palästinensischer Staat der verlässlichste
Partner für einen dauerhaften Frieden ist (so z.B. Chirac 1997 (NJ 1997)). Dabei
bemängelt Israel, dass Europa zu wenig Verständnis für das israelische Sicherheitsbedürfnis aufbringe.
VI.
Bevölkerung
Die Bevölkerung des Staates Israel ist äußerst heterogen, sowohl in der politischen Einstellung, als auch in ethnologischer Hinsicht. Von den 6,75 Millionen
Einwohnern (einschließlich Golan und Ostjerusalem, Stand: Ende 2003) sind 81%
Juden, 15% Muslime, ca. 2% Christen und ca. 1,6% Drusen (Stand: Ende 2003,
Quelle: Auswärtiges Amt). Das Spektrum der politischen Meinungen in der Bevölkerung spiegelt die Zusammensetzung der Knesset wider (vgl. zum Parteiensystem auch das Kapitel innenpolitische Entwicklung). Nicht weniger als 14 Parteien zogen bei der letzten Wahl am 28. Januar 2003 ins Parlament ein. Dabei
entfielen auf den linken Block 51, auf den rechten Block 69 Stimmen. Je nach
politischer Fragestellung sind die Grenzen sowohl zwischen den Parteien, als auch
zwischen den Blöcken teilweise fließend.
Eine homogene, politische Einstellung in der israelischen Bevölkerung ist also
nicht auszumachen. Das Spektrum reicht von linken Friedensaktivisten bis zu ultraorthodoxen, nationalistischen Rechten, welche sich teilweise ein „Großisrael“
erträumen, wobei die rechtsextremen und religiösen Parteien vor allem in den
israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten stark sind. Dennoch befürworten die meisten Israelis in Krisenzeiten eine politische Führung der „Nationalen
Einheit“, also eine starke Regierung, bestehend aus Arbeiterpartei und Likud. Die
Wahl vom 28. Januar 2003 spiegelt die Stimmungslage der israelischen Bevölkerung kurz vor dem Irakkrieg repräsentiert wider.
306
Ergebnisse zur Wahl der Knesset am 28. Januar 2003:
Quelle: Gerster, Johannes; Wäldchen, Carolin; Tscherniak, Serge: Israel: Die Wahlen zur 16.
Knesset am 28.1.2003, Hintergründe, Parteiprogramme, Ergebnisse, Prognosen, hrsg. v. Konrad
Adenauer
Stiftung
e.V.,
4.
Februar
2003,
online
unter:
http://www.kas.de/publikationen/2003/1402_dokument.html
Aus der Verdoppelung der Stimmen für Sharons Likud im Vergleich zu 1999 lässt
sich, aufgrund des palästinensischen Terrors und des drohenden Irakkrieges, ein
allgemeines Sicherheitsbedürfnis der israelischen Bevölkerung herauslesen.
Gleichzeitig befürwortete nach Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung eine
Koalition aus Lukud und Arbeiterpartei, woraus man den gleichzeitigen Wunsch
nach Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit den Palästinensern schließen kann (siehe Gerster u.a.).
VII. Politische und ökonomische Interessen
Außen- wie innenpolitisches Hauptinteresse Israels ist die Beendigung des Terrors
und die Anerkennung des israelischen Staates durch die arabische Welt. Letztlich
möchte Israel Sicherheit, Stabilität und Frieden. Aufgrund des parlamentarischen
Regierungssystems und des pluralistischen, teils partikularen Parteiensystems, in
dem die Parteien sehr unterschiedliche, teils gegenüberstehende Interessen vertreten, lässt sich eine langfristige, parteiübergreifende Strategie, wie diese Ziele erreicht werden sollen, nicht feststellen. Betonte die Regierung Rabin/Peres die
Notwendigkeit von Frieden als Vorraussetzung für langfristige Sicherheit, Stabili307
tät und Anerkennung, legt die aktuelle Regierung Sharon wert auf die Feststellung, dass die Sicherheit Israels gewahrt sein müsse und dass Frieden nur dann zu
erreichen sei, wenn die Sicherheit Israels nicht gefährdet sei (vgl. NJ 2001).
In der Irakfrage lässt sich weder ein besonderes ökonomisches, noch politisches
Interesse Israels feststellen. Dennoch hat Israel die irakischen Angriffe 1991 nicht
vergessen. Daraus lässt sich indirekt ableiten, dass sich Israel trotz der irakischen
Angriffe 1991 nicht besonders bedroht fühlt durch das Saddam-Regime. Im Jahr
1994 hatten israelische Minister, anscheinend ohne Wissen des Ministerpräsidenten Rabin und trotz des Embargos, sowohl mit dem irakischen Polizeiminister
Shahal in Genf, als auch mit Tariq Aziz in Rabat über die Lieferung von billigem
irakischem Öl verhandelt.
Viel mehr interessiert Israel die Frage, welche Auswirkungen ein US-geführter
Irakkrieg, welcher den Sturz Saddam Husseins zum Ziel hat, auf die eigene Sicherheit und auf das Verhältnis zu den arabischen Nachbarn hat. Auf der einen
Seite könnten sich ein erfolgreiches regime change und ein stabiler, befriedeter
Irak positiv auf den israelisch-palästinensischen Konflikt auswirken und die israelische Position stärken. Auch in der Golanfrage würde Syrien durch ein amerikafreundliches Regime im Irak unter Druck geraten, wodurch sich die israelische
Verhandlungsposition verbessern könnte. Auf der anderen Seite könnte ein Nichtgelingen des regime change im Irak die Ressentiments in der arabischen Welt
gegen Israel, aufgrund der israelisch-amerikanischen Partnerschaft, verstärken.
Dadurch könnte Israel zum „Sündenbock“ für eine fehlgeschlagene, amerikanische Politik werden, was sich nachhaltig auf die Sicherheit Israels und auf das
Verhältnis zu den arabischen Staaten und deren Bevölkerungen auswirken würde.
Trotz all dieser negativen Entwicklungsmöglichkeiten stand Israel, als einziger
Staat im Nahen Osten, von Anfang an an der Seite der USA und unterstützte die
amerikanischen Kriegspläne. Zu gut erinnerte man sich noch an die irakischen
Angriffe 1991 und man betrachtete Saddam Hussein, trotz wirtschaftlicher und
militärischer Schwäche, als einen Feind und potentielle Bedrohung für Israel.
308
VIII. Sekundärliteratur
DIE ZEIT
09/2003
Hoffen auf den Krieg
Israel will alte Rechnungen begleichen
Von Aluf Benn
In Israel gibt es weder Zweifel noch Diskussionen bezüglich eines Irak-Krieges. Seit vielen Monaten halten nicht nur der Mann auf der Straße, sondern auch Politiker und Militärs
den amerikanischen Feldzug gegen Bagdad für unvermeidbar. Die Israelis wussten von
Beginn an, dass es George W. Bush, ihrem großen Verbündeten und Unterstützer, ernst
damit ist, Saddam Hussein zu stürzen.
Für die israelischen Bürger sind periodische Ausbrüche von Krieg und Gewalt am Golf schon fast ein Naturereignis, das sie zwingt, sich wieder einmal Gasmasken aufzusetzen und in Bunkern Schutz zu suchen. Die Erinnerung an den Einschlag irakischer Scud-Raketen in Tel Aviv und Haifa 1991 und die Hilflosigkeit Israels sind in
der Erinnerung der Bevölkerung noch sehr lebendig. Und so wie damals befürchten auch heute viele, von den
„Querschlägern“ eines Krieges getroffen zu werden. Sie fürchten sich vor dem Sirenengeheul, und sie fürchten
sich vor dem wirtschaftlichen Stillstand in einem Land, das ohnehin unter dem fortwährenden, endlosen Konflikt
mit den Palästinensern leidet.
Diese Ängste drücken sich jedoch nicht in öffentlichen Protesten gegen den drohenden Irak-Krieg aus, weil fast
alle israelischen Politiker eine äußerst positive Einstellung zum Angriff der Amerikaner haben. Mehr als jedes
andere Land der Welt begrüßt Israel das geplante militärische Abenteuer im Irak. Die politisch-militärische Führung betrachtet den Irak-Krieg als willkommene Gelegenheit zur nationalen Rettung.
Frustriert durch die gescheiterten Bemühungen, die palästinensische Intifada nach mehr als 28 Monaten niederzuschlagen, setzt sie all ihre Hoffnungen auf eine erfolgreiche Operation der Amerikaner im Irak. In ihrem
Kriegsszenario würden die Vereinigten Staaten nach einem erfolgreichen Irak-Feldzug zum Alleinherrscher im
Nahen Osten, und eine erschütterte arabische Welt wäre gezwungen, sich an die Seite der amerikanischen Sieger
und ihrer Verbündeten in Jerusalem zu stellen. Folglich müssten sich Israels Feinde in Teheran, Damaskus und
Ramallah entweder besser benehmen – oder sie würden in Vergessenheit geraten. Der meistbegehrte Pokal ist
zweifellos der Kopf von Jassir Arafat, dem Palästinenserführer und ehemaligen Friedenspartner, der für Israel
zum Schreckgespenst geworden ist. Eine von Grund auf erneuerte palästinensische Führung ist für Israel Vorbedingung für neue Verhandlungen.
Befragt man in diesen Tagen einen beliebigen israelischen Politiker, so schlägt einem stets Enthusiasmus entgegen und die Hoffnung auf das „entscheidende Jahr“ nach einem Sieg der Amerikaner im Irak. Premierminister
Ariel Scharon, von Washington gebeten, sich aus dem Krieg herauszuhalten, macht inoffiziell aus seiner Ansicht
keinen Hehl. Kürzlich sagte er zu US-Senatoren, die zu Besuch waren, dass ein erfolgreicher Angriff auf den
Irak dem regionalen politischen Prozess einen „positiven Impuls“ geben könnte. „Wenn die Araber keine militärische Option mehr haben, sind sie kompromiss- und verhandlungsbereiter“, erklärte Scharon. Sogar der frühere
Außenminister Schimon Peres, eher eine politische Taube, rief die Amerikaner auf, mit einem Angriff auf Saddam Hussein nicht zu lange zu warten.
Die Aussicht auf den nahenden Krieg ist Scharon bereits in seiner erfolgreichen Wiederwahlkampagne zugute
gekommen. In Krisenzeiten ist es der Öffentlichkeit eben lieber, wenn der erfahrene, konservative „Großvater
der Nation“ am Ruder bleibt. Scharons stärkste Opposition, die Arbeiterpartei, mit der er in der Palästinenserfrage über Kreuz liegt, hat bereits versprochen, seine Politik während eines Irak-Krieges zu unterstützen. Diese
einhellige Begeisterung für einen Irak-Krieg hat tiefere Wurzeln; sie ist mehr als reines politisches Kalkül. Seit
1948 hat sich der Irak immer wieder an arabischen Kriegen gegen Israel beteiligt und nie einen Waffenstillstand
unterzeichnet oder den Friedensprozess unterstützt. Israel hat seit 1991 eine offene Rechnung mit SaddamHussein. Er allein hat es wie kein anderer arabischer Führer gewagt, Israels bevölkerungsreichste Städte anzugreifen,
309
und der Einschlag seiner 39 Scud-Raketen hat in den Seelen tiefe Wunden hinterlassen – und Zweifel, was den
Glauben an die eigene Verteidigungsfähigkeit betrifft.
In den vergangenen Jahren galt der 1991 geschlagene und von UN-Sanktionen gelähmte Irak jedoch als geringere Bedrohung für Israel als dessen atombombenbesessener, Terroristen unterstützender Nachbar Iran. Die israelische Regierung ließ die USA mit Saddam verhandeln, während sie ihre Stimme gegen die Ajatollahs in Teheran
erhob. Nur Scharon, der für Israels Sicherheit den Irak stets als gefährlicher eingestuft hat als den Iran, stimmte
in diesen Chor nicht ein.
Strategische Erwägungen sind ein weiterer wichtiger Faktor für Israel, den Feldzug zu unterstützen. Jahrzehntelang war Israels Sicherheitsdoktrin auf Präventivschläge und gewaltsame Regimewechsel ausgerichtet. Dieser
Grundsatz der israelischen Politik stieß in der Vergangenheit bei den Amerikanern auf Skepsis und Kritik. Das
ist jetzt anders. Die Bush-Regierung hat die alten israelischen Konzepte als Säulen ihrer Strategie des „Antiterrorkrieges“ übernommen. Die neue amerikanische Politik schreckt selbst vor Mord nicht zurück, einer altbewährten israelischen Taktik, die frühere US-Präsidenten jedoch ächteten. Im November vergangenen Jahres etwa
ließ der CIA im Jemen sechs Männer, die der amerikanische Geheimdienst der Zugehörigkeit zu al-Qaida verdächtigte, in ihrem Auto durch eine Rakete aus einer unbemannten Drohne töten. Inzwischen ist Washington
auch weit davon abgerückt, die Bombardierung und Zerstörung von Osirak, Iraks Plutonium produzierendem
Kernreaktor, durch die Israelis 1981 zu verurteilen, wie anfänglich geschehen. Einer der damaligen Bomberpiloten, Oberst Ilan Ramon, kam vor knapp drei Wochen an Bord der Raumfähre Columbia als erster Israeli im All
ums Leben. Präsident Bush versprach Ramons Witwe, die Arbeit ihres verstorbenen Ehemanns im Irak fortzuführen und zu Ende zu bringen.
Für Israel bedeutet das aktuelle Entgegenkommen der Amerikaner weit mehr, als in einer alten Debatte unter
Freunden Recht zu bekommen. Washingtons Verhalten gibt auch Scharon verstärkt Rückendeckung für seine
Taktik gegenüber den Palästinensern und seine Forderung, den Racheengel Arafat endlich abzusetzen. Schließlich sind in seinen Augen Jassir Arafat, Saddam Hussein und Osama bin Laden moralische Gesinnungsgenossen
– eine Auffassung, die immer mehr Amerikaner teilen.
Aus der Perspektive Israels beginnt die eigentliche Bedrohung erst am Tag nach dem Irak-Krieg. Die große
Frage ist dann, ob George W. Bush in die Fußstapfen seines Vaters tritt und den Friedensprozess in der Region
wieder aufleben lässt, um Israel aus den besetzten Gebieten und Siedlungen im Westjordanland und im GazaStreifen zu vertreiben. In israelischen Regierungskreisen geht man aber davon aus, dass der amerikanische Präsident andere Prioritäten haben wird, nämlich seine Wiederwahl und die Stabilisierung des Irak. Doch darauf
kann sich Scharon nicht verlassen. Deshalb sammelt er schon jetzt politische und diplomatische Munition für die
Schlachten um Post-Saddam-Hussein- und vielleicht auch Post-Arafat-Gebiete.
Aluf Benn ist diplomatischer Korrespondent der israelischen Tageszeitung „Ha’aretz“
Aus dem Englischen von Sigrid Weise
Quelle: Die Zeit 9/2003, online unter: http://www.zeit.de/2003/09/Irakg_9frtel_2fIsrael
IX.
Israels Position zur Irak-Resolution
Israel unterstützt den Resolutionsentwurf der USA. Israel steht auch an der Seite
der Vereinigten Staaten, wenn der Resolutionsentwurf vom Sicherheitsrat abgelehnt wird. Israel erhofft sich von einem Sturz Saddam Husseins und einem Sieg
der USA eine bessere Verhandlungsposition im Friedensprozess mit den arabischen Staaten.
310
X.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen:
-
Auswärtiges Amt, http://www.auswaertiges-amt.de
-
haGalil online, hrsg. v. Eva Ehrlich, http://www.hagalil.com
Literatur:
-
APuZ B 20/2004 (Nahost), online unter:
http://www.bpb.de/publikationen/HY89Z4,0,0,Nahost.html
-
Ben, Aluf: Hoffen auf den Krieg, Israel will alte Rechnungen begleichen,
in: Die Zeit, 9/2003
-
Gerster, Johannes; Wäldchen, Carolin; Tscherniak, Serge: Israel: Die
Wahlen zur 16. Knesset am 28.1.2003, Hintergründe, Parteiprogramme,
Ergebnisse, Prognosen, hrsg. v. Konrad Adenauer Stiftung e.V., 4. Februar
2003, online unter:
http://www.kas.de/publikationen/2003/1402_dokument.html
-
Israel warns of Iraq war 'earthquake', in: BBC News v. 7.2.2003, online
unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/2736283.stm
-
Länderbeitrag Israel, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
311
Türkei
I.
geographische Karte
312
II.
Basisdaten
Quelle: Auswärtiges Amt
Stand: Oktober 2004
Ländername
Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti)
Klima
Anatolien: kontinental; Süd- und Westküste: mediterran
Lage
Zu 3% in Europa ("Thrazien"), zu 97% in Kleinasien ("Anatolien")
Größe des Landes
814.578 qkm, dies entspricht etwa der 2,3 fachen Größe Deutschlands
Hauptstadt
Ankara (ca. 3,6 Mio. Einwohner)
Bevölkerung
71,5 Mio. Einw. (bei Volkszählung 2000 67,8), Wachstumsrate
ca. 1,7%
Landessprache
Türkisch. In weiten Teilen des Südostens und Ostens werden
auch verschiedene kurdische Dialekte gesprochen.
Religionen/Kirchen
Seit osmanischer Zeit mehrheitlich Muslime mit wachsendem
Anteil (heute ca. 99%), mehrheitlich Hanefiten (sunnitische, "orthodoxe" Ausrichtung des Islam), daneben ca. 15-20 Mio. Aleviten ("heterodoxe" Ausrichtung des Islam). Laizistisches Staatsverständnis, d.h. strikte Trennung zwischen Staat und Religion
(Islam), jedoch Kontrolle der religiösen Angelegenheiten durch
das staatl. Amt für Religiöse Angelegenheiten. Besondere Stellung einiger nicht-muslimischer Minderheiten durch den Vertrag
von Lausanne (1923): Armenier (ca. 70.000), GriechischOrthodoxe (max. 3.000) und Juden (ca. 25.000). Daneben: römisch-katholische u. mit Rom unierte Kirchen (max. 20.000) u.
Syrisch-Orthodoxe (ca. 15.000)
Nationalfeiertag
29. Oktober, "Tag der Republik" (Ausrufung der Republik durch
Atatürk 1923)
Staats-/Regierungsform
Republik / parlamentarische Demokratie
Staatsoberhaupt
Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, Amtsantritt am 17.05.2000;
Amtszeit 7 Jahre; Wahl durch Nationalversammlung; Vertreter:
Parlamentspräsident Bülent Arinç
Regierungschef
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (AKP), seit 11.03.2003
Außenminister
Abdullah Gül (AKP), seit 14.03.2003
313
Parlament
Türkische Große Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet
Meclisi/TBMM): eine Kammer, 550 Sitze, Legislaturperiode 5
Jahre, letzte Wahl am 03.11.2002, Parlamentspräsident: Bülent
Arinc (AKP)
Regierungspartei
AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und
Entwicklung, Vors. Recep Tayyip Erdogan) , 369 Abgeordnete;
Opposition
CHP (Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei,
Vors. Deniz Baykal), 171 Abgeordnete;
DYP (Dogru Yol Partisi – Partei des Richtigen Weges, Vors.
Mehmet Agar), 4 Abgeordnete; Unabhängige: 6 Abgeordnete;
Gewerkschaftsbünde
Türk-Is (gemäßigt, ca. 2,13 Mio. Mitglieder), DISK (linksorientiert, ca. 0,35 Mio. Mitglieder) Hak-Is (islamistisch, ca. 0,36
Mio. Mitglieder)
Verwaltungsstruktur
Zentralistisch. Einteilung in 81 Provinzen mit je einem Gouverneur (Vali) als oberstem Organ. In den Städten gewählte Bürgermeister (Belediye Baskani), die nur über begrenzte Kompetenzen verfügen. Finanzen werden aus Ankara zugeteilt, die
Städte haben nur relativ geringe Eigeneinnahmen. Letzte Kommunalwahlen am 28.03.2004 (AKP 42%, CHP 18%)
Mitgliedschaft in internati- Vereinte Nationen (1945) mit Sonderorganisationen; NATO
onalen Organisationen
(1952); Europarat (1952); OECD (1948); Organisation Islamische Konferenz (OIC, 1969); EG-Assoziierungs-Abkommen
(1963); EU-Zollunion seit 01.01.1996; EU-Beitrittskandidat seit
11.12.1999 (Europäischer Rat Helsinki); assoziiertes Mitglied
der WEU (1995-2000)
Wichtigste Medien
Zahlreiche staatliche und private Radio- und TV-Sender, zahlreiche Tages- und Wochenzeitungen mit vergleichsweise geringer
Auflage. Medienkonzerne: Aydin-Dogan-Gruppe (u.a. größte
Tageszeitung Hürriyet, Milliyet, Kanal D, CNN-Türk), DinçBilgin-Gruppe (Sabah, ATV, u.a.), Ihlas-Gruppe (Türkiye,
TGRT, u.a.), Çukurova-Gruppe (Show-TV, Aksam); DogusGruppe (NTV)
Bruttosozialprodukt
(2003) 215,2 Mrd. Euro
Pro-Kopf-Einkommen
(2003) 3.010 Euro
Wechselkurs
(27.09.2004)
1 EUR = 1.835.000 Türkische Lira (TRL);
1 TRL = 0,000 0005 EUR
III.
Kurdenkonflikt:
In der Verfassung der türkischen Republik von 1923 wurde die Nation als Heimat
der ethnischen Türken definiert. Dadurch wurden knapp 20% der Bevölkerung,
die Kurden als indogermanische Ethnie, ignoriert. In den folgenden Jahrzehnten
wurde versucht die Kurden durch Zwangsmaßnahmen zu assimilieren: Sie wurden
umgesiedelt, deportiert, sie wurden kulturell unterdrückt, indem ihre kurdischen
314
Dialekte im öffentlichen und privaten Leben verboten wurden. Die traditionellen
kurdischen Stammesstrukturen wurden nach den großen Kurdenaufständen in den
1920er und 30er Jahren zerschlagen. Bis in die 70er Jahre hinein erlebte die Türkei einen sozioökonomischen Aufschwung, welcher aber im Südosten der Türkei
bedeutend schwächer ausfiel. Die Ölkrise in den 70ern verschärfte die Armut in
dem vorwiegend von Kurden bewohnten Südosten noch. In dieser Zeit kam es zu
vielen Gründungen von links und rechtsextremen Organisations- und Vereinsgründungen, welche sich untereinander und den Staat und seine Institutionen bekämpften, was die Türkei an den Rand eines Bürgerkriegs brachte.
1978 wurde die „Partiya Karkeren Kurdistan“ (PKK, Arbeiterpartei Kurdistan)
von Abdullah Öcalan und einigen Mitstreitern gegründet. Mit den Worten der
PKK war Kurdistan eine Kolonie der Türkei und des US-Imperialismus, die von
der türkischen und kurdischen Bourgeoisie ausgebeutet und unterdrückt wurde.
Durch eine Revolution wollte die PKK ein unabhängiges und sozialistisches Kurdistan schaffen, das zunächst die kurdischen Gebiete der Türkei und später auch
die irakischen, iranischen und syrischen kurdischen Siedlungsgebiete zu einem
Nationalstaat integrierte. Seit 1993 relativierte die PKK ihre Ziele - den Realitäten
des Kriegsverlaufes folgend - dahingehend, dass nunmehr kulturelle Autonomie
und lokale Selbstverwaltung innerhalb des türkischen Staatsverbandes angestrebt
wurden.
Ab 1983 kam es zu den ersten Anschlägen von PKK-Trupps auf Ölpipelines und
den ersten Auseinandersetzungen mit dem türkischen Militär. Ein Bündnis mit der
irakischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP-Irak) ermöglichte der PKK
den Aufbau von Ausbildungslagern und ihres Hauptquartiers, des sog. LolanCamps auf irakischem Gebiet. Der Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Militär verschärfte sich zunehmend, vor allem durch die Gründung der
HRK, einer Kampftruppe der PKK. Die ersten Jahre dieses Konflikts waren für
die PKK sehr verlustreich, auch weil ihr die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung fehlte, da ihre Truppen auch bei der eigenen Zivilbevölkerung Angst und
Schrecken verbreiteten. Deshalb wurde 1986 beschlossen die HRK wieder aufzulösen und die Eniya Rizgariya Neteva Kurdistan (ERNK, Nationale Befreiungsfront Kurdistans) zu gründen, welche nun ohne Terroraktivitäten auskommen sollte. Die Aufgabe der ERNK bestand nun in Propaganda und Rekrutierungen für die
PKK in Türkisch-Kurdistan und Europa. Tatsächlich gelang es der PKK sich bis
zu Beginn der 1990er Jahre in der Bevölkerung zu verankern und viele kampfbe315
reite Anhänger zu gewinnen. Dieser Erfolg der PKK ist jedoch auch auf die sich
seit 1987 verschärfenden Repressalien gegen die Zivilbevölkerung durch die türkischen Sicherheitskräfte im Südosten des Landes zurück zu führen.
Auf türkischer Seite besann man sich Methoden indirekter Herrschaft aus osmanischer Zeit. Zur Etablierung des sog. Dorfschützersystems wurden kurdische
Stämme bzw. deren Oberhäupter zur Bekämpfung der PKK angeworben. Sie
wurden mit Waffen ausgerüstet und erhielten andere Privilegien, hierzu zählten
u.a. auch Bauaufträge für staatliche Einrichtungen an die Aghas. Manchmal wurden Stämme auch schlicht zur Mitarbeit gezwungen. Dabei wurde darauf geachtet,
möglichst weniger machtvolle Stämme aufzurüsten, um das Machtgleichgewicht
im Südosten zu tarieren.
Zum Schutz der Kurden im Irak vor Übergriffen durch dass Regime Saddam Husseins wurde nach dem zweiten Golfkrieg eine Schutzzone im Nordirak durch Bemühungen der USA eingerichtet. So fand dort die erste freie kurdische Wahl 1991
statt, aus der zwei Parteien als Sieger hervorgingen: Die „KurdischDemokratische Partei“ (KDP) von Massud Barzani und die „Patriotische Partei
Kurdistans“ (PUK) unter Führung von Jalal Talabani. Sie vereinbarten eine paritätische Aufteilung aller Regierungsämter. Im Oktober 1992 wurde dann die „Autonome Kurdische Föderation“ ausgerufen. Aber dann wollte keine Partei ihre
Machtmittel an die Regionalverwaltung abtreten, wodurch kein staatliches Gewaltmonopol entstehen konnte. Zudem wurde die Föderation von keinem anderen
Staat als ein eigenständiger Staat anerkannt. Im Mai 1994 missbrauchte die KDP
ihre Kontrolle über die Grenzregion zur Türkei und leitete die Zolleinnahmen wie
abgemacht an die Regionalverwaltung des Nordirak. Dadurch kam es zu heftigen
Kämpfen zwischen den Milizen der beiden Parteien. Durch diese Kämpfe sind bis
heute ca. 3000 Menschen gestorben. Als die PUK im Sommer 1996 militärisch
überlegen war, bat die KDP die irakische Regierung um Beistand. So rückte das
irakische Militär mit Panzerdivisionen in die Schutzzone ein und kämpfte auf der
Seite der KDP.
Auch die Türkei ist zu einem wichtigen Akteue in diesen Auseinandersetzungen
geworden. Zur Bekämpfung der PKK, welche im Nordirak wichtige Rückzugsgebiete hat, drang das türkische Militär of in das von der KDP und der PUK kontrollierte Gebiet ein. Bei Großoffensiven erhält die Türkei von der KDP Unterstützung im Kampf gegen die PKK- Guerillas. Für diese Leistung bekommt die KDP
leichte Waffen von der Türkei. Im Oktober griff die KDP mit Hilfe von türkischen
316
Luftangriffen Stellungen der PUK an. Die Türkei beteuerte jedoch, dass sie nur
gegen die PKK vorgegangen wäre.
Auch von dem Ölschmuggel der KDP mit Erdöl an der türkischen Grenze profitieren beide Seiten. Der Schmuggel soll der KDP tägliche Einnahmen in Höhe
von etwa 80 000 US-Dollar einbringen.
Anfang 1998 verstärket die USA und Großbritannien wieder ihre Vermittlungsbemühungen im Kurdenkonflikt und verhandelte mit Delegierten der PUK und
mit türkischen Diplomaten über ein Waffenstillstandsabkommen. Auch Vertreter
der KDP und der PUK trafen sich zu Verhandlungen und vereinbarten einen Waffenstillstand und einen Gefangenenaustausch. Im September 1998 trafen sich erneut Vertreter der beiden irakischen Kurdenparteien in Amerika. Sie einigten sich
auf ein Friedensabkommen, dessen Details jedoch nicht veröffentlicht wurden. Es
soll jedoch drei wesentliche Punkte enthalten: Erstens soll ein Zeitplan für die
Schaffung einer gemeinsamen Verwaltung im Nordirak festgelegt worden sein,
der die Durchführung einer Volkszählung im Sommer 1999 und die darauf folgende Wahl eines Parlaments und einer Regierung beinhaltet. Zweitens verpflichten sich beide nordirakischen Kurdenorganisationen, weder bewaffnete noch unbewaffnete PKK-Guerillas im Nordirak zu dulden. Drittens sollen die Grenzen des
zukünftigen Autonomiegebietes gesichert und vor Angriffen aus dem Irak, dem
Iran und der Türkei geschützt werden. Dieses Abkommen war ein wichtiger
Schritt, aber das gegenseitige Misstrauen ist immer noch groß. Letztlich hängt die
Durchsetzung des Friedensabkommens aber auch von der Strategie der Amerikaner ab, welche die Kurden im Irak unterstützen, um in einem Krieg gegen Saddam
Hussein eine schlagkräftige Opposition zu habe.
IV.
a)
Die Türkei und die Irakfrage 2003
Die Türkei als Grenzland zum Irak
Zunächst einmal ist es wichtig sich klar zu machen, dass die Türkei im kurdischen
Südosten an den Irak angrenzt. Es geht für die Türkei also nicht nur darum, ob sie
politisch einen Krieg befürwortet oder ablehnen will, sondern sie wäre von den
Kriegsfolgen direkt betroffen. Flüchtlinge werden, vor allem aus den kurdischen
Gebieten des Irak, versuchen in die Türkei zu flüchten. Der UNHCR geht von bis
317
zu einer Millionen Flüchtlinge aus, welche durch einen Krieg im Irak in die angrenzenden Länder flüchten werden.
Der Präsident des türkischen Roten Halbmonds gab bereits am 4.Oktober 2002
bekannt, dass 80.000- 200.000 Menschen in der Türkei sofort versorgt werden
könnten. Zudem sind noch Zeltstädte an der irakischen Grenze für 5000 bis
10.000 Flüchtlinge geplant und sechs Flüchtlingslager für rund 250.000 Menschen
in dem dann durch die USA kontrollierten Gebieten in Südkurdistan logistisch
vorbereitet.
b)
Die Kurdenproblematik
Eine weitere Sorge der Türkei betrifft die Kurdenproblematik. Die Türkei befürchtet, dass die Kurden während des Krieges versuchen werden, sich mit den
irakischen Kurden zu verbünden um ihre Autonomiebestrebungen durchzusetzen
oder gar einen eigenen Staat zu gründen. Auch befürchtet Ankara, dass die USA
die Kurden in ihren Autonomiebestrebungen unterstützen könnten, um eine Opposition im Irak gegen Saddam Hussein dadurch zu verstärken (s.Kurdenkonflikt)
Zudem bestehen in der Türkei deutliche Widerstände gegen die Errichtung einer
kurdischen Autonomie im Nordirak. Die Türkei befürchtet eine Signalwirkung
einer solchen Autonomie bei den türkischen Kurden, die der PKK neuen Auftrieb
geben könnte. Durch die Zusicherung der territorialen Souveränität der Kurden im
Nordirak würden auch die dortigen Großoffensiven der Türkei gegen die PKK
nicht mehr möglich sein. Die Vorstellung eines zerfallenen Iraks und der Entstehung eines kurdischen Staates, der an den kurdisch besiedelten Südosten der Türkei grenzt, ist aus türkischer Sicht unannehmbar. In Reaktion auf das Friedensabkommen vom September 1998 hat die Türkei daher wieder volle diplomatische
Beziehungen zum Irak aufgenommen und wiederholt direkte Kritik an der USamerikanischen Irak-Politik geübt, zuletzt im Januar 1999.
c)
die europäisch – amerikanische Auseinandersetzung als innen-
politisches Problem der Türkei
Die Türkei strebt die EU-Vollmitgliedschaft an und erhielt 1999 offiziell den EUKandidatenstatus. Dies wurde im Dezember 2000 durch den „Partnerschaftsvertrag“ mit der EU bestärkt. Diese Bestrebungen zwingen die türkische Regierung
318
dazu, ihre Politik an die Forderungen der EU-Länder, vor allem von Frankreich
und Deutschland, anzupassen, oder zumindest direkten Konflikten auszuweichen.
So scheut sich die türkische Regierung offiziell eine Position zu einem Irakkrieg
zu beziehen.
Andererseits versucht Ankara auch einen guten Kontakt zu den USA aufrecht zu
erhalten. Einerseits, weil die USA ein wichtiger Verbündeter in der Region werden könnten durch einen Irakkrieg und damit auch wichtig wären für die Wirtschaft der Türkei, welcher es zunehmend schlechter geht. Andererseits damit die
USA auf die türkischen Interessen in der Kurdenproblematik eingehen. Zudem
wurden der Türkei erhebliche Zahlungen von Seitens der US-Regierung in Aussicht gestellt, wenn die USA die türkischen Militärstützpunkte für einen Truppenaufmarsch bereitstellen würden. Da der türkische Staatshaushalt sehr verschuldet
ist, wären diese Zahlungen sehr willkommen.
d) die türkische Bevölkerung und die Irakfrage
Was jedoch gegen eine direkte Zustimmung zu einem Irakkrieg spricht, ist, dass
schätzungsweise 80% der türkischen Bevölkerung gegen solch einen Krieg sind.
Bei dem Krieg gegen Afghanistan, in welchem die Türkei als NATO-Mitglied
mitkämpfte, waren ca. 66% der Bevölkerung dagegen. Zudem hat Ankara in den
letzten Jahren seine Beziehung zu Saddam Hussein wieder aufgewertet. Durch das
„Oil for food“-Abkommen kam es zwischen Ankara und Bagdad zu einem regen
Handel. So äußerten sich 2001, als der Irak noch nicht offiziell als Kriegsziel der
USA diskutiert wurde, viele hochrangige Politiker der Türkei entschieden gegen
jegliche Angriffe auf den Irak.
V.
Die Position der Türkei gegenüber der Irak-Resolution
Die Position der Türkei gegenüber einem Krieg gegen den Irak zur Vernichtung
des Regimes von Saddam Hussein wird von verschiedenen, sich teilweise widersprechenden, Beweggründen bestimmt.
319
VI.
-
Literaturangaben
Länderbeitrag Türkei, in: Nahost Jahrbuch, Ausg. 1990 bis 2001, Hrsg. v.
Koszinovski, Thomas und Mattes, Hanspeter (Deutsches Orientinstitut),
Hamburg 1991-2002
-
Rabehl, Thomas / Trines, Stefan von Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung: „Irakisch-Kurdischer Krieg (Sechster)“, und Rabehl ,Thomas von Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung: „USA und Großbritannien / Irak“ , unter: http://www.sozialwiss.uni-hamburg.deIpwAkuf1998irak98.htm
-
Torsten Schwinghammer / Matthias Schmitt: „159 Türkei (Kurden)“ unter:
http://www.sozialwiss.uni-hamburg.depublishIpwAkufkriege159_tuerkei.htm
320
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