Dr. Oliver Bilke Vivantes-Klinikum Neukölln Vivantes-Klinikum im Friedrichshain Berlin Abhängigkeits- und Missbrauchsphänomene bei ADHS 5. ADHS-Gipfel, Hamburg, 6.2.2010 Entwicklungspsychopathologie- der Längsschnitt Wie ent-wickelt sich ADHS in der frühen Adoleszenz? Wie ent-wickeln sich Suchtprobleme? Wie ent-wickeln sich Abhängigkeiten? Welche gemeinsamen Ver-wicklungen gibt es? -2- Zentrale entwicklungspsychopathologische Konzepte ( Grob u. Jaschinsky, 2003; Petermann et al., 2004; Resch u. du Bois, 2005, nach Jordan u. sack, 2008) ►Kontinuität und Diskontinuität im Entwicklungsverlauf ►Kritische Wachstums- und Entwicklungsphasen ►Adaptive und maladaptive Entwicklungsverläufe ►Statuspassagen ►Entwicklungsaufgaben ►Schutz- und Risikofaktoren ►Vulnerabilität und Resilienz -3- Eine Aufgabe an das Auditorium... Bitte stellen Sie sich sinnlich und bildlich alle die angenehmen, anregenden und wohltuenden Wirkungen des Alkohols bzw. Cannabis vor, die Sie kennen. ☺ Etwas schwer in diesem kalten norddeutschen Rahmen um 12.40, aber bitte, vielleicht helfen die psychedelischen Farben der Bühne. -4- Und jetzt... Versetzen Sie sich bitte in einen ►schüchternen, ►eher unmodisch gekleideten, ►körperlich schwächlichen, ►heftig pubertierenden ADHS-Patienten ►mit einer Artikulationsstörung, ►einer ängstlichen Mutter und ►einem abwesenden alkoholtrinkenden Vater ►aus Hamburg-Wilhelmsburg. Wahlweise Mädchen. Wahlweise Blankenese. -5- Risikoszenarien und Modelle -6- Vulnerabilitäts-Szenario Risikofaktoren Entwicklungsaufgaben soziale Anforderungen Lebensereignisse Defizite der kognitiven Verarbeitung Denkstörungen Protektive Faktoren Selbstwirksamkeit Vulnerabilität Defizite der Affektregulation autonomes Hyperarousal Defizite der Affektwahrnehmung Kommunikationsprobleme soziale Unterstützung Bindungssicherheit Defizite der Bewertungsprozesse Seelische Störung Modifiziert nach Resch, 2004 -7- Die Risikogruppe ►Menschen im Übergang ►Menschen in hormoneller Umstellung ►Menschen in sozialer Labilität = Jugendliche -8- Die Hochrisikogruppe ►Abgewehrte Depression ►Externalisierende Störungen ►Drogenkonsum ►Gewalt ►ADS ►Impulsivität ►Schizoidie -9- „Männliches“ Verhalten in der Adoleszenz ►Risikoverhalten ►Sensation/novelty seeking ►Grenzen Testen ►Bindungen gestalten ►Mit Extremen spielen ►Ausagieren -10- Labilisierende Denkmuster in der Adoleszenz ►Vom konkreten zum Abstrakten ►Hypothetisches Denken beginnt ►Introspektion ►Selbst-Bewußtsein ►„Hier und jetzt“ Fokus ►Idealismus, Unverletzlichkeit ►Grandiosität, Ausuferung -11- Entwicklungsaufgaben strengen an ► Akzeptieren des Körpers ► sexuelle Identität ► Beziehung zu Altersgenossen ► emotionale Unabhängigkeit von Eltern ► Vorbereitung auf Beruf ► Vorbereitung ► Aufbau Wertesystem ► Alkohol und Cannabis entspannen -12- Individuelle Faktoren: Temperament & Physiologie ►Stark ausgeprägtes Neugierverhalten ►Geringe Schadensvermeidung ►Niedrige Belohnungsabhängigkeit ►Geringe Alkoholwirkung... ►„Trinkfestigkeit“ = Sensitivität ►Rapid oder poor metabolizing (Schuckit u. Smith, 2001; Heinz et al., 2007) (Cloninger, 1999) -13- Modellentwicklung 1: Das Würfelmodell ►Welche Seite betrachten wir ? ►Welches Würfel beschreibt das Problem ? ►Wer arbeitet an welcher Seite? -14- Modellentwicklung 2: G x E Gen-Umwelt-Interaktion „social–push-theory“ „Nature-Nurture“ obsolet Wechselseitige kumulative Verstärkung (Farrington, 2001) Emotionsregulation (5-HTTLPR) (Zimmermann et al., 2009) Selbstregulation von Kleinkindern (5-HTTLPR) (Kochanska et al., 2009) Antisozialität im allgemeinen (Loney, 1997; Szatmari, 1993 Elkins, 1999) -15- („gene x environment“) Modellentwicklung 3: „latent variable approach“ ( Duncan, T. et al., 2006) ►Epidemiologie, Gruppenstatistik und intraindividuelle Aspekte werden integriert ►Analyse der Beziehungen zwischen Einflussvariablen ►Integration neuer Befunde auf jeder Ebene ►Entwicklungsorientierung -16- Einflussfaktoren bei ADSPatienten -17- Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität Assoziierte Störungen Heinrich Hoffmann (1845) -18- handicaps in der „brave new world“ (Nielsen, 2005) ►Ungenügende Lesefähigkeit ►Ungeschickte Suchstrategien ►Geringe Geduldsspanne -19- „Virtuelle Selbsttherapie“ und Entwicklungskonflikte (nach Krausz, 2004, modifiziert von Bilke u. Spitzcok, 2009) Medikation/ Therapie „Selbstbehandlung“ • Entscheidung des • gegen den • • • • • Therapeuten Peer-Kritik kulturelles Stigma Kontrolle beim Therapeuten Nebenwirkungen nicht kontrollierbar Dysfunktionalität am Anfang AutonomieKonflikte • • • • • -20- Erwachsenen Peer-Integration Identität in Subkultur weitgehend kontrollierbar Nebenwirkungen beeinflussbar Dysfunktionalität am Ende Soziale Nachahmung – peer pressure ►Entwicklung der Resonanz mit anderen Menschen, v. a peers ►Reaktivierung alter Bindungsmuster ►Übertragungsphänomene ►Integrationsbedingung -21- Co-Abhängigkeit in der Adoleszenz (modifiziert nach Rennert, 2005) ► (Über-) Verantwortung (-slosigkeit) ► Illusion von Kontrolle ► Kränkung und Verletzung ► Schuld und Scham ► Selbstwertprobleme ► unterdrückte oder abgespaltene Gefühle ► gemeinsamer Realitätsverlust -22- Der neue Generationenkonflikt ? Wer globalisiert wen? Denn Sie wissen oder können mehr als wir…wirklich? -23- Wirklich ? begünstigende kontextuelle Faktoren bei medialen Süchten („Triple A“) (Shotton, 1991; Cooper, 1998) ►Accessibility ► Affordability ► Anonymity -24- Jugendtümliche Kommunikationsaspekte elektronischer Medien (Weinberg, 1996; Cooper u. Sportolari, 1997; Wan u. Chiou, 2005) • Förderung der Bereitschaft, persönliche Geheimnisse spontan zu enthüllen • Reduktion von Bewertungsängsten • geringer Einfluss physischer und intellektueller Attribute auf die interaktionelle Attraktivität • Aggressive und impulsive Kommunikationsmuster sind ohne Sanktionen zu kultivieren • Diachrone Kommunikation belohnt ADS-Patienten -25- Differentialdiagnose und Komorbidität -26- Cave: Diagnostische Verwirrung bei ADHS ►Wann sind adoleszentäre Phänomene pathologisch ? ►Wann besteht wirkliche ►Sucht (-Gefahr) ? ►Was ist „krankhaft“ und vor allem: ►Behandlungs-bedürftig? -27- Zur Therapieplanung: „MAS“ 1. Achse: Psychiatrische Störung 2. Achse: Teilleistungsstörungen 3. Achse : Intelligenz (-profil) 4. Achse: Somatische Störungen 5. Achse: abnorme psychosoziale Umstände 6. Achse: GAF/Schweregrad -28- DD- Achse 1: Psychiatrische Syndrome und Alkoholkonsum (Mannheimer Risikokinderstudie, Rostocker Längsschnittstudie) ►Chronische und episodische Depressionsformen ►ADHD/ADS ►(Hypo-) Manien ►Post-traumatische Belastungsstörung (PTSD) ►Phobien ►Atypische Bulimie ►Ticstörungen ►Persönlichkeitsentwicklungsstörungen (PEW) •Narzisstisch •Instabil •Abhängig-ängstlich -29- Welcher Quadrant ist für den Patienten relevant? Psychisch Körperlich Rausch Koma Euphorie Erregung Delir Abhängigkeit Depression ADS Angststörungen PTSD Intoxikation Koma Vergiftung Erbrechen Delir Ernährungsprobleme Gedächtnis Akut Chronisch -30- Grundsätze der klinischen Diagnostik bei Alkohol-Usern ►Differenzierte Klinik vor psychologischen Tests ►Längsschnittanamnese vor Querschnittsbetrachtung ►Leistungs- vor Interaktionsproblemen ►Belohnungs- und Motivationssituationen beachten ►Konkrete Alltagssituationen vor Metaphänomenen ►Selbstmedikationshypothese prüfen -31- Schädlicher Gebrauch (F1x.1) ►Konsumverhalten mit psychischer oder somatischer Gesundheitsschädigung ►Und/oder ►Gravierende psychosoziale Entwicklungseinschränkungen in mehreren Lebensbereichen -32- Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) Drei oder mehr der folgenden Kriterien in den letzten zwölf Monaten: •Starker, zwanghafter Konsumwunsch •Verminderte Kontrollfähigkeit •Körperliche Entzugssyndrome/Craving •Toleranzentwicklung •Vernachlässigung anderer Aktivitäten •Konsum trotz bekannter Schädigungen Gilt auch für Jugendliche ! -33- Leitsymptome ►Akute Intoxikation (F1x.0) ►Schädlicher Gebrauch (F1x.1) ►Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) ►Entzugssyndrom (F1x.3) ►Entzugssyndrom mit Delir (F1x.4) ►Psychotische Störung (F1x.5) -34- ADS-Kernsymptome im Jugendalter ►Sog. Utah-Kriterien (Wender et al. 1995,2000) Aufmerksamkeitsstörung Motorische Hyperaktivität Impulsivität ►Desorganisiertes Verhalten ►Affektlabilität ►Affektkontrolle ►Emotionale Überreagibilität -35- Heinrich Hoffmann 2.0… Multitasking.... Hyperaktivität Warcraft.... Heinrich Hoffmann (1845) -36- Typologie des pathologischen Mediengebrauchs (Young, 1996, Shaw u. Black, 2008; Bilke u. Spitzcok, 2009) ► pathologischer online-sex und online-Pornographie ► pathologische (online-)Rollenspiele mit Gewalt „Strategiespiele“ ► pathologisches chatten und telephonieren, SMS, MMS ► pathologisches e-mail-checking und recherchieren ► pathologisches (online-)Glücksspiel ► multiple Medienabhängigkeit ►Online-Kaufsucht -37- Achse 2: Teilleistungsstörungen – who cares ? ►Legasthenie (persistiert) ►Dyskalkulie als Rarität ►Sensorische Störungen ►Motorische Störungen ►Kombinierte Störungen ►Beginn im (Klein-)Kindalter ►mit biologischer Reifung verbunden ►Stetiger Verlauf ohne Remissionen ►Jungen stärker als Mädchen betroffen ►Genetische Häufungen ►Weitgehend unbekannte Ätiologie -38- Achse 3: Intelligenzprofil ►Von wie vielen Ihrer Klienten / Patienten wissen Sie das IQProfil? ►Hohe verbale Intelligenz vs. geringer Handlungs-IQ = Symptome ►Wertvolle Hinweise auf Therapiefähigkeit ►Reduktion von Über- / Unterforderung -39- Achse 4: Körperliche Störungen ►Seriöse körperliche Abklärung (!!!) ►Neuropsychiatrische Auffälligkeiten im Vorfeld von Tumor-Erkrankungen ►Kreislaufstörungen ►Hormonelle Störungen ►Humangenetische Störungen ►Medikamentöse Interaktionen ►Urogenitalstörungen ►HNO-Bereich ►Ophtalmologie -40- DD-Achse 5: Abnorme psychosoziale Umstände In Kindheit und Jugend zentral Komplexes Risikofaktorenmodell im Kontext ADHS: (vgl. Burke et al., 2002) •Elternvariablen •„assortive mating“ •Peer-Einflüsse •Soziale Faktoren, Armut, Arbeitslosigkeit ► Bedeutungsreduktion über die Zeit -41- Therapieansätze -42- Beratungs- und Behandlungsangebote für Jugendliche mit substanzbezogenen Störungen Jugendhilfe Schulbasierte Hilfen Suchtberatung im Jugendbereich Differenzielle Zuweisung Familienhilfe Jugendgerichtshilfe Medizinische und psychotherapeutische Versorgung ambulant stationär Akutbehandlung -43- Postakutbehandlung Postakutbehandlung Ziele Psychische Störungen Somatische Störungen Übergeordnetes Behandlungsziel Ziel Abstinenz; adäquate Lösung alterspezifischer Entwicklungsaufgaben Bei kardiovaskulären Störungen, chronischen Infektionen (Hepatitis C, HIV etc.), Leberfunktionstörungen sowie Störungen im ophtalmologischen und HNO-Bereich ist eine medizinische Behandlung dieser Störungen als Weiterführung der Akutbehandlung und im Sinne einer Sekundärprophylaxe angezeigt. Teilziele dauerhafter Verzicht auf die konsumierte Substanz (Abstinenz); Reduzierung des Substanzkonsums als Zwischenziel Klärung bahnender Mechanismen des Cravings und der Rückfallgefährdung Überwindung des suchtbezogen eingeengten Denkens und Handelns Reduzierung der Häufigkeit und Schwere von Rückfällen Behandlung der komorbiden psychischen Störungen entlang der Leitlinien der jeweiligen Diagnosegruppen -44- Die spezifische Behandlung bei ADHS ist dennoch manchmal kontrovers… -45- Bei allen „neuen“ Süchten zu beachten: ►Sorgfältige Phänomenologie ►Entwicklungspsychiatrie ►ICD-10/MAS ►Suchtdynamik ►Adoleszentensoziologie ►Gender-Aspekte ►Wachsam und ruhig zugleich… ►Die Therapie planen und durchhalten -46- Prognose bei ADHS & Sucht ►Die klinische Komplexität nimmt in der Versorgung erheblich zu ►Ohne sorgfältige Diagnostik multipler psycho&somatischer Risiken keine adäquate Langzeit-Therapie ►Frühkindliche ganzheitliche Mangelförderung ist zum Teil kaum reversibel ►Die transgenerational belastete ADHS-Multiproblemfamilie ist die Regel, nicht die Ausnahme -47- Wissenschaftlich zu beantwortende Grundfragen: Sind komorbid belastete oder labile ADS-Patienten stärker gefährdet, Suchtmittel mit Gefährdungspotential zu benutzen? -48- Wissenschaftlich zu beantwortende Grundfragen: Sind primär gesunde Kinder und Jugendliche grundsätzlich durch Abhängigleitspotentiale in ihrer Entwicklung gefährdet? -49- Danke für Ihre Aufmerksamkeit ! [email protected] -50-