Menschenbilder und die (Un-)Möglichkeit von Kapitalismuskritik Inhaltsverzeichnis Einleitung...................................................................................................................... 1 Hintergrund der Entstehung der Anthropologie............................................................ 4 Marxistische Anthropologiekritik................................................................................. 8 Philosophische Anthropologie.................................................................................... 11 Habermas gegen die Anthropologie............................................................................ 13 Konklusion.................................................................................................................. 17 Einleitung [Zunächst einiges zur Erläuterung des Titels:] Mit Kapitalismus bezeichne ich an dieser Stelle die aktuelle Gesellschaftsformation; genauer gefasst: unsere Gesellschaftsorganisation ist eine bürgerliche Gesellschaft, in der kapitalistische Produktionsweise herrscht. Die Produktionsweise bezeichnet die Art und Weise, wie und wozu produziert wird. Kapitalismuskritik heißt vor diesem Hintergrund die grundsätzliche Kritik dieser Gesellschaft, d.h. dass das Ergebnis der Kritik nicht die Forderung nach Reformen ist, sondern die nach der Abschaffung dieser Produktionsweise. Der wichtigste Bezugspunkt ist dabei nach wie vor Karl Marx, der im 19. Jahrhundert in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ meiner Auffassung nach die richtige Analyse des Kapitalismus begründet hat. Da die richtige Analyse die Voraussetzung für die richtige Kritik ist, müssen wir den Kapitalismus erst verstehen, bevor wir ihn richtig kritisieren können. Der Untertitel des Marxschen Hauptwerkes „Das Kapital“ lautet: Kritik der politischen Ökonomie. Er hat eine doppelte Bedeutung. Marx kritisierte einmal die wirtschaftliche 1 Organisation der Gesellschaft und darüber hinaus, die Politische Ökonomie als Wissenschaft, welche diese Wirtschaftsweise beschrieb. Politische Ökonomie war zu Marx' Zeiten die Bezeichnung für die damalige Wirtschaftswissenschaft (Klassische Nationalökonomie) das heutige Pendant nennt sich Volkswirtschaftslehre. Ihrer Beschreibung stellte er seine Erklärung der wirtschaftlichen Organisation entgegen. Das macht Marx im „Kapital“: Erklären, was Kapitalismus ist und wie er funktioniert. Zugleich kritisiert er ihn und die bürgerliche Wissenschaft, die ihn beschreibt. Denn diese beschreibt die Produktionsweise so, dass sie als die einzig wahre, quasi natürliche Wirtschaftsweise dasteht. Das Geheimnis der modernen bürgerlichen Ökonomie besteht laut Marx [Zitat] „einfach in der Umwandlung veränderlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, die einer bestimmten historischen Epoche angehören und einem gegebenen Stand der materiellen Produktion entsprechen, in ewige, allgemeine, unveränderliche Gesetze, in Naturgesetze.“ 1 Gemeinsam ist der Politischen Ökonomie und der heutigen Volkswirtschaftslehre, dass sie die wirtschaftlichen Vorgänge dieser Gesellschaft beschreiben, ohne den Anspruch zu haben, diese zu erklären oder zu hinterfragen. [Zitat Marx] „Dass in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie.“2 Marx geht es im „Kapital“ nicht um irgendeine neue Darstellung der politischen Ökonomie, sondern um eine fundamentale Kritik an der gesamten Wirtschaftswissenschaft. Marx kritisiert nicht in erster Linie die Ergebnisse der politischen Ökonomie, sondern bereits ihre Prämissen und die Art und Weise ihrer Fragestellung, d.h. die Unterscheidung zwischen dem, was die politische Ökonomie überhaupt erklären will und dem, was sie als so selbstverständlich akzeptiert, dass sie es gar nicht erklären muss. Die Prämissen der bürgerlichen Ökonomie sind dabei, dass die Warengesellschaft natürlicher und notwendiger Ausdruck der menschlichen Beziehungen ist: Kapitalismus wird überhistorisch einfach „die Wirtschaft". In ihr verhält sich der Mensch gemäß seiner Natur: Er ist der rational handelnde, auf den eigenen Vorteil bedachte, nutzen-maximierende homo oeconomicus. 1 Karl Marx: „Die Kriegsfrage“ in: Karl Marx/ Friedrich Engels: „Werke, Band 9“, S. 212-219, Berlin:1960, S. 254. 2 Karl Marx: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band“ in: Karl Marx/ Friedrich Engels: „Werke, Band 23“, Berlin:1970, S. 559 (im Folgenden Marx:1970). 2 Nicht nur vor diesem Hintergrund sieht sich Kapitalismuskritik häufig mit der Gegenkritik konfrontiert, welche die kapitalistische Produktionsweise als die der Natur des Menschen entsprechendste versteht. Die Annahme von der angeblichen Natur des Menschen ist dabei oft geprägt vom besagten homo oeconomicus der neoklassischen Ökonomietheorie, der sich in einer Welt knapper Güter und unbegrenzter Bedürfnisse rücksichtslos und egoistisch nutzen-maximierend bewegt. Obwohl die wenigsten Ökonomen mit dem homo oeconomicus ein Menschenbild prägen wollten, ist die vermeintlich natürliche Gier und der angeborene Egoismus fester Bestandteil des Alltagsbewusstseins. Dieses Menschenbild gepaart mit der hohen Glaubwürdigkeit der Wirtschaftswissenschaften, die nicht müde werden zu betonen, der Markt sei nicht historisch geworden, sondern schon immer dagewesen, lassen die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftsweise als nicht überwindbar erscheinen. Nach der Natur des Menschen ist irgendwie schon immer gefragt worden; allerdings stellt die Neuzeit in dieser Hinsicht einen entscheidenden Einschnitt in Bezug auf die Gewichtung dieser Frage dar: Der Mensch ist eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft – ihre Entstehung ist gewissermaßen der Selbstbewusstwerdungsprozess des Menschen. Die bürgerliche Gesellschaft bildete sich mit der Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus als neuer Wirtschaftsweise heraus. Dazu entwickelte sich die entsprechende Wissenschaft: Adam Smith legte mit seinem Werk über den „Reichtum der Nationen“ 1776 den Grundstein für die moderne Ökonomietheorie. Mit dem Auftreten der politischen Ökonomie kam es zu einem Paradigmenwechsel bei der Betrachtung des Menschen, der Tausch und der Eigennutz wurden ihm zur Natur. Vor allem auch im Hinblick auf die Anthropologie der klassischen politischen Ökonomie kritisierte Marx unhistorische Formen von Anthropologie. Es war eines der Hauptanliegen der Theoriebildung von Karl Marx gegen die Naturalisierung die Historisierung der gesellschaftlichen Zustände zu setzen. Denn die Theorie der Gesellschaft wird erst sinnvoll, wenn davon auszugehen ist, dass Gesellschaft nicht gänzlich von Naturzwängen beherrscht wird. Es gilt, den Menschen „im historischen Zusammenhang [...] zu begreifen. Jede Referenz auf Natur ist ihrerseits historisch; andere als geschichtlich spezifische Zugänge zur Natur und zur Natur des 3 Menschen kann es nicht geben.“3 Die Begründung von gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen durch die Natur des Menschen ist eine besondere Form der oben genannten Naturalisierung – die nicht nur von der bürgerlichen Ökonomie vorgenommen wird. Es gibt vielerlei anthropologische Vorurteile: Der Mensch und seine Natur bilden eine ideologische Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft – so ist bspw. die Hirnforschung oft vorne dabei, dem Menschen den freien Willen abzusprechen oder die Evolutionsbiologie erklärt den Menschen als von seinen Genen gesteuert. Die Zurückführung der Handlungen der Menschen auf ihre Natur führt letztlich immer zur Verunmöglichung von Veränderung: Kritik wie Politik wird unnötig, wenn doch keiner was dafür kann. Anthropologie hat also – wie sie auch immer aussehen mag – politische Konsequenzen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Auffassungen vom Menschen und denjenigen vom Zusammenleben, von Gesellschaft also.4 Ganz in diesem Sinne rechtfertigen sich politische Theorie und Praxis durch bestimmte anthropologische Grundannahmen – so versuchen sie ihre Zielvorstellungen und Vorgehensweisen gewissermaßen a priori wissenschaftlich abzusichern. 5 Die anthropologischen Prämissen bieten dann den angedachten Veränderungen eine Möglichkeitsgarantie oder aber disqualifizieren verändernde Praxis.6 Diese Begründungsprogramme schließen „von anthropologischen Universalien auf politisch-rechtliche Normierungen [...]. Diese erhalten somit ihre Legitimität durch den Verweis auf ihre universalistische Verwurzelung in der menschlichen Natur.“ 7 3 Vgl. Hartmut Böhme: „Elemente - Feuer, Wasser, Luft“ in: Christoph Wulf (Hg.): „Vom Menschen“, Weinheim/ Basel:1997, S. 17-46, S. 23. 4 Wolf Lepenies, Helmut Nolte: „Experimentelle Anthropologie und emanziptorische Praxis. Überlegungen zu Marx und Freud“, in: „Kritik der Anthropologie. Marx und Freud. Gehlen und Habermas. Über Agression“, München:1971, 9-76, S. 9 (im Folgenden: Lepenies/Nolte:1971a). 5 Lepenies/Nolte:1971a S. 9 6 Lepenies/Nolte:1971a S. 9 7 Vgl. Dirk Jörke: „Politische Anthropologie. Eine Einführung“ Wiesbaden:2005 S. 12. 4 Hintergrund der Entstehung der Anthropologie Der mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft aufgekommene Trend zur Individualisierung der Menschen wurde im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung in ein umfassendes Menschenbild übertragen: Die Bürger begründeten ihre Forderungen nach einer Gleichstellung mit den Feudalklassen mit der Ausformulierung eines allgemeinen Menschenbildes, das die Gleichheit aller Menschen fundieren sollte. In das sich nun etablierende Menschenbild floss nicht nur politisches Kalkül ein – es kam auch zur Naturalisierung der Eigenschaften, die für das wirtschaftliche Überleben notwendig geworden waren: „Der „Kampf ums Dasein“, durch die Form frühkapitalistischen Wirtschaftens unbedingt erforderlich, nahm Konturen eines „Naturgesetzes“ an.“ 8 Während die Kultur der alten Gesellschaft als eine die Natur des Menschen unterdrückende kritisiert wurde, stand die Kultur der neuen Gesellschaft als Erfüllung der Naturanlagen der Menschen da. In den Sphären Recht, Markt und Geld realisieren die Individuen nach dieser Auffassung die ihrer Naturhaftigkeit entspringenden Bedürfnisse. Doch die Rede von den natürlichen Eigenschaften der Menschen stellte vor allem eine Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen dar: Ihr reeller Kern war die angestrebte Verrechtlichung persönlich freier Bürger. In vor-kapitalistischen Zeiten hatten die Menschen eine fest bestimmte soziale Position, die durch Gottes Wille erklärt und un-hinterfragbar als „natürlich“ verstanden wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft erleben die Individuen das gesellschaftliche Geschehen als genauso wenig beeinflussbar und zusätzlich als unverständlich, das sie nun nicht mehr mit Gottes Wille, sondern mit der „Natur des Menschen“ erklärten. [Zitat Franz Borkenau, marxistischer Soziologe aus dem Umfeld der Frankfurter Schule, 1934:] „Das Individuum ist nicht mehr ein qualitativ bestimmtes Glied eines Standes, der seinerseits eine verständliche Funktion im Ganzen des Lebens hätte; es steht dem geschichtlich-gesellschaftlichen Leben als etwas Fremden und von ihm gänzlich Unbeeinflussbaren gegenüber. Dieses Geschehen ist für es „Natur“, aber nicht mehr im Sinne der Identität des Strebens der menschlichen Seele mit der Natur; „Natur“ ist jetzt das Fremde. ... Dieser „Natur“ kann der Mensch sich entgegenstellen und untergehen, oder sie hinnehmen und zwar nicht Glück, wohl aber Leidlosigkeit 8 Dietmar Kamper: „Geschichte und menschliche Natur. Die Anthropologiekritik“ München:1973, S. 12 (im Folgenden Kamper:1973). 5 Tragweite gegenwärtiger erreichen.“9 Im Resultat des neuen Denkens der Aufklärung wurde Gesellschaftliches auf die individuelle Ebene übertragen; Konflikte erschienen als Ergebnis individueller Interessen (Ehrgeiz, Machtgier von einzelnen Personen) und gesellschaftliche Verhältnisse verschwanden hinter den angenommenen individuellen Handlungsmöglichkeiten („Jeder ist seines Glückes Schmied!“). 10 Vor diesem Hintergrund begann die Anthropologie als neue Disziplin zu entstehen. Anthropologie bezeichnet die Lehre vom Menschen: das Wissen über ein Lebewesen, charakterisiert durch seinen aufrechten Gang.11 Anthropologie als Wissenschaft will sich mit den gleich bleibenden Voraussetzungen menschlicher Existenz beschäftigen 12, sie ist die Lehre von den Eigenschaften und Verhaltensweisen des Menschen, die ihm unabhängig von seiner generellen sozioökonomischen, soziokulturellen und individuellen physischen und psychischen Situation zukommen sollen. Anthropologie bezieht sich auf nicht-physische Eigenschaften des Menschen, seine vermeintliche Natur bzw. sein Wesen; darauf also, wie Menschen von Natur aus geschaffen sind, denken und handeln. Der Begriff der Anthropologie ist so komplex, wie ihr Gegenstand, der Mensch. Die naturwissenschaftliche Anthropologie erforscht den Menschen in seinen biologischen Eigenschaften: „Der Anspruch der Anthropologie geht meist dahin, neben der Zoologie und der Botanik als die dritte umfassende Disziplin der Biologie zu gelten.“ 13 Die kulturwissenschaftliche Anthropologie oder auch Ethnologie beschäftigt sich mit den kulturellen Unterschieden der Menschen in verschiedenen Gesellschaften. Die Bedeutung von Anthropologie variiert stark von Land zu Land: In Deutschland wird Anthropologie traditionell als Sammelbegriff für fast alle Humanwissenschaften verwandt, meint damit verschiedenste Sparten von biologischer Anthropologie bis zu philosophischer und pädagogischer.14 Im englischsprachigen Raum bezeichnet 9 Vgl. Franz Borkenau: „Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode“, Darmstadt:1971, S. 299 (im Folgenden Borkenau:1971). 10 Borkenau:1971 S. 464 11 Christoph Wulf: „Anthropologie. Geschichte Kultur Philosophie“, Köln:2009, S.13 (im Folgenden Wulf:2009). 12 Vgl. Leo Kofler: „Perspektiven des revolutionären Humanismus“ Reinbek:1968. 13 Ulrich Kattmann: „Anmerkungen zur Wissenschaftssystematik und Wissenschaftsethik der Anthropologie auf dem Hintergrund ihrer Geschichte“ in: Holger Preuschoft, Ulrich Kattmann (Hg.): „Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik“, Oldenburg:1992, S. 127-142, S. 129 (im Folgenden: Kattmann:1992). 14 Kattmann:1992 S. 127 6 Anthropologie ein Kombinat aus physischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen: „physical“ und „cultural anthropology“. 15 Die nicht-naturwissenschaftliche, nicht auf die Physis und Biologie bezogene Anthropologie sucht traditionell das „Wesen des Menschen“; auffällig dabei: „Offenbar sind der Phantasie begrifflicher Fixierung des Phänomens „Mensch“ keine Grenzen gesetzt. … Es gibt mehr Anthropologien, als Wörter auf eine Druckseite gehen.“16 Trotz Vielfalt und Uneinigkeit, dienen die Auffassungen vom „Wesen des Menschen“ in „verschiedenen Bereichen menschlicher Welt und Kultur als Leitvorgabe“17. Manche Anthropologen sehen ihr Ziel in der „Erstellung eines gemeinsamen Bodens als Ermöglichung für das Reden über „den Menschen““ 18 und betrachten die Philosophische Anthropologie als diejenige, die das Basiswissen für die Menschenwissenschaften schafft19. Anthropologie als Titel einer (philosophischen) Disziplin entsteht zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert.20 Bis Ende des 18. Jahrhunderts ist die Anthropologie noch nicht eindeutig in biologische/ physische und philosophische getrennt. Immanuel Kant legt den Grundstein für eine rein philosophische Anthropologie mit seiner strikten Trennung: Er grenzt am Beginn seiner prominenten Vorlesungen zur Anthropologie, seine pragmatische Anthropologie – Erforschung dessen, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll“ – von der physiologischen Anthropologie ab: die erforscht, „was die Natur aus dem Menschen macht“ 21. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gliederte sich die nicht-philosophische Anthropologie in Einzelwissenschaften (Biologie, Psychologie, Ethnologie22); die philosophische Anthropologie konnte kaum Bedeutung erlangen. Der Grund hierfür ist auch bei Hegel zu suchen, der „in seiner „Theorie des Naturgeistes“ diese Anthropologie ausdrücklich angegriffen“23 hat und an ihre Stelle die Geschichtsphilosophie setzte: „Danach 15 Kattmann:1992 S. 127 16 Gerhard Arlt: „Philosophische Anthropologie“, Stuttgart/ Weimar:2001, S. 5. 17 Alwin Diemer: „Elementarkurs Philosophie. Philosophische Anthropologie“, Düsseldorf/Wien:1978, S.29 (im Folgeneden Diemer:1978). 18 Diemer:1978 S. 29 19 Michael Landmann: „De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens“, Freiburg/München: 1962, S. IV. 20 Wulf:2009 S; 13 21 Immanuel Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ Hamburg:1980 S.3 [119] 22 In Frankreich und den angelsächsischen Ländern sind auch heute Anthropologie und Ethnologie synonym. 23 Kamper:1973 S. 38 7 schwindet das philosophische Interesse an der „physiologischen Anthropologie“, welche selbst ihre philosophische Dimension aufgibt und zur naturwissenschaftlichen Disziplin wird.“24 Marxistische Anthropologiekritik An Hegel anknüpfend kritisierte Karl Marx ausführlich die aufkommende Anthropologie, das gerade entstandene bürgerliche Menschenbild und das bürgerliche Bewusstsein vom autonomen Subjekt. Die Grundthese Marx'scher Gesellschaftstheorie lautet: Der Mensch ist „ein sich im Geschichtsprozess entwickelndes und damit sich veränderndes Wesen.“ Es ging Marx folglich darum, zu zeigen, dass zur Analyse und Erklärung ökonomischer Vorgänge – verstanden als Teil der Gesamtheit sozialen Geschehens – nicht eine starre Natur des Menschen als „Grundgesetz“ seines Handelns angenommen werden dürfe. Die bürgerliche Nationalökonomie hatte das Nutzenprinzip verabsolutiert: Das rationale Selbstinteresses war das fundamentale Handlungsprinzips. Sie unterstellte eine unveränderliche psychische Beschaffenheit. Marx wollte deutlich machen, dass die menschliche Natur nicht mit dem Menschentyp identisch ist, den die bestehenden Gesellschaftsformen repräsentieren. Damit richtete er sich gegen die herrschenden Vorstellungen, nach denen die ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus als anthropologisch verbindliche interpretiert wurden: Denn diese ließen als Hauptantriebsmomente menschlichen Handelns den Wunsch nach Geld und Besitz erkennen.25 Die Theorie Marxens und die in seiner Folge entstandene marxistische Theorie ist somit immer auch Anthropologiekritik, indem die Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die Stelle der Wesenszuweisungen tritt. Marx legte seinen Fokus auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen der menschlichen Entwicklung und wies jegliche abstrakte Wesenhaftigkeit der Menschen zurück. Indem er sich gegen eine angebliche 24 Kamper:1973 S. 38 25 Günter Hartfiel: „Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Untersuchungen zum Menschenbild in Ökonomie und Soziologie“, Stuttgart:1968, S.161. 8 Menschennatur wandte, nahm er den Naturnotwendigkeiten, mit denen bis dato die Welt betrachtet wurde, ihre Grundlage: die Veränderlichkeit der menschlichen Gesellschaft wurde denkbar. Marx kritisiert das Abstraktum Mensch als Denkfigur:26 Die Menschen sollen vielmehr in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang untersucht werden, unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen, welche sie zu dem gemacht haben, was sie sind. 27 Seine „analytische Methode [geht, FB] ... nicht von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode aus[...].“28 Er fordert einen Fokus auf „die Unterschiede […], die grade die gesellschaftliche Beziehung (Beziehung der bürgerlichen Gesellschaft) ausdrücken. Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen.“29 Gesellschaft als eine Aneinanderreihung von Einzelpersonen zu verstehen, übersieht, dass gesellschaftliche Struktur gerade durch die Verkehrsform, in der die Menschen miteinander umgehen, bestimmt wird. [Zitat aus einem Brief von Marx] „Was ist die Gesellschaft, welche auch immer ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs [commerce] und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft [société civile]. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung [état politique], die nur der offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist.“ 30 26 „Human nature necessarily exists in a specific social and historical context, and social relations are always the result of specific and historically determined forms of human nature. The notion of a universal and timeless human nature is an abstraction from this context which cannot provide a determinate foundation for social theory or values. Human beings are social and historical beings through and through.“ Sean Sayers: „Marxism and Human Nature“, London:1998 S. 50. 27 Karl Marx, Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B.Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten“ in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, Band 3“, Berlin:1962, S. 44. 28 Karl Marx: „[Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“]“ in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, Band 19, Berlin:1962, S. 355-383, S. 371. 29 Karl Marx: „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, Band 42“, Berlin:1983, S. 189. 30 Karl Marx: „[Marx an Pawel Wassiljewitsch Annenkow]“ , in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, 9 Die Spekulationen über die Natur des Menschen erkannte Marx als eine Projektion: In einer Gesellschaft der freien Konkurrenz, in der die vereinzelten Privatproduzenten einander sozial durch den Tausch ihrer Waren begegnen, erscheint der Mensch als ein völlig unabhängiges Individuum, geprägt durch das [Zitat Marx]„bloß atomistische Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozess“ 31 und durch die [Zitat]„von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhältnisse“.32 Das Subjekt wirtschaftlicher Aktivität sind nicht die Menschen, sondern es ist der sich selbst verwertende Wert: Kapital.33 Der Zweck der Produktion ist die Geldvermehrung. Die Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise bilden ein komplexes System, dessen Strukturen den Menschen äußerlich sind, sie aber doch bestimmen. 34 Dieses Resultat kapitalistischer Produktionsweise, vereinzelte Einzelne, führt zu einem Weltbild, das sich – Ursache und Wirkung verkennend – ein Bild vom einzelnen Menschen machen will, ohne die gesellschaftlichen Umstände mit zu betrachten.35 Eben jene machte Marx zur Grundlage der Erklärung menschlicher Lebensrealität. Die Analyse gesellschaftlicher Strukturen ermöglicht, Verhaltens- und Denkweisen der Menschen aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus zu erklären. Wenn hinter der scheinbaren Naturhaftigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich die Praxis von Individuen steckt, die unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen produzieren, wird eine Perspektive auf Gesellschaft möglich, die Veränderung als Möglichkeit aufzeigt. Genau in diesem Forschungsansatz hat Marx seine bürgerlichen Vorgänger überwunden. Kritisiert Marx die abstrakte Rede vom Menschen, so deshalb, weil diese sich notwendig der Lebensrealität wirklicher Menschen gegenüber ignorant verhalten muss, da sie die Bedingungen einer Gesellschaft, in der Menschen sich prinzipiell feindlich gegenüber stehen, missachtet. Er wendet sich den konkreten Menschen und den Umständen, unter denen sie leben, zu. Nachdem also die bürgerliche Aufklärungsbewegung die Menschennatur für ihre Band 27“, Berlin:1963, S. 451-463, S. 452. 31 Marx:1970 S. 107f 32 Marx:1970 S. 107f 33 Marx:1970 S. 169 34 Günther Schiwy: „Der französische Strukturalismus. Mode -- Methode – Ideologie“, Reinbek:1985 S. 77. 35 Karl Marx: „Einleitung [zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie]“, in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, Band 42“, Berlin:1983, S. 15-45, S. 19f. 10 politischen Zwecke auf die Agenda gesetzt hatte und die Gleichheit aller Menschen gegen den Feudaladel proklamierte, wurde das Wesen des Menschen zur großen Frage. Diese hat jedoch vor Marx schon Hegel zurückgewiesen, weswegen es bis ins 20. Jahrhundert dauerte, bis mit der Philosophischen Anthropologie erneut intensiv auf die Frage gedrängt wurde. Philosophische Anthropologie Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich mit der Philosophischen Anthropologie in Deutschland eine Bewegung, die es sich zum Ziel machte, die physische und philosophische Anthropologie zusammenzuführen. Nach der Darwinschen Einordnung des Menschen in die Evolution sollte die Abgrenzung des Menschen zum Tier zurückzugewonnen werden: sein Wesen sollte bestimmt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand die Philosophische Anthropologie in einer Atmosphäre des zunehmenden empirischen Wissens über die Menschen, das mit Zweifeln am allgemeinen Fortschritt der Menschheit einherging. Mit ihr etablierte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Denkrichtung in der Philosophie, die den Menschen und seine Stellung in der Welt in den Mittelpunkt stellte. Als Hauptvertreter gelten im Allgemeinen – trotz großer Unterschiede zwischen den Autoren – Max Scheler (18741928), Helmuth Plessner (1892 – 1985) und Arnold Gehlen (1904-1976). Sie beschäftigten sich mit der Abgrenzung des Menschen zum Tier, den Bedingungen des Menschseins und der Natur des Menschen. Ausgangs- und Mittelpunkt war dabei – in Abgrenzung zu Idealismus und Bewusstseinsphilosophie – der menschliche Körper. Damit sollte eine durch naturwissenschaftliche Forschung abgesicherte Basis für die Selbstvergewisserung der verunsicherten Menschen gewählt sein. 36 Die Philosophische Anthropologie wollte auf die „Krise des europäischen Menschenbildes, die der Darwinismus und die Entwicklungsbiologie am Beginn des 20. Jahrhunderts heraufbeschworen hatten“37 antworten und durch die „Überwindung des cartesianischen 36 Wulf:2009 S. 53 37 Ada Neschke-Hentschke: „"Die Stellung des Menschen im Kosmos". Die Anthropologie von Platon 11 Dualismus“38 die Innen- und Außenwahrnehmung des Menschen miteinander vermitteln und die Differenz zwischen Mensch und Tier ausarbeiten.39 Denn die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich peinlich berührt in der Situation wieder, dass das neu entstehende Wissen über den Menschen nicht von ihr, sondern von den Einzelwissenschaften gebildet wurde. Eben jene rückten auch die Kreatürlichkeit des Menschen immer weiter in den Mittelpunkt:40 Die Philosophische Anthropologie war der Versuch, dem Menschen wieder seine Sonderstellung in der Welt zurückzugeben, nachdem er sie durch die Darwin'sche Theorie verloren hatte. 41 Diese Sonderstellung sollte eben nicht länger auf der Bewusstseinsebene durch die Vernunft begründet werden, sondern aus den Natur-Bedingungen sollte die Möglichkeit der Ausbildung von Intelligenz und Willen abgeleitet und in der physischen Existenz verankert werden.42 Dieser physischen Existenz sollte als Bedingung alles Menschseins endlich ihre verdiente Bedeutung zugesprochen werden. Die Arbeiten Schelers, Plessners und Gehlens lassen sich als Versuche ansehen, die Grenzen der Einzelwissenschaften wieder zu überwinden, den ganzen Menschen als Einheit zu fokussieren und systematisch die Merkmale und Fähigkeiten zu erarbeiten, durch welche der Mensch sich auszeichnet und sich von anderen Lebewesen unterscheidet. Vor diesem Hintergrund geht es darum, die Fragen nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung in der Welt zu beantworten, um somit der Krise des Selbstverständnisses der Menschen zu begegnen.43 Mit der Philosophischen Anthropologie wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal in großem Stil versucht, alle philosophischen Themen im Begriff des 'Menschen' zu bündeln. 44 Die Frage nach den Bestimmungen des Menschen war keine Frage unter anderen mehr, und Cicero“ in: Francois-Xavier Putallaz, Bernard M. Schumacher (Hg.): „Der Mensch und die Person“, Darmstadt:2008, S. 85-96, S. 85 (im Folgenden Neschke-Hentschke:2008). 38 Wolfgang Eßbach: „Denkmotive der Philosophischen Anthropologie“ in: „e-Journal Philosophie der Psychologie 7“, 2007 S. 3 (url: http://www.jp.philo.at/texte/EssbachW1.pdf zuletzt eingesehen am 17. Januar 2010). 39 Neschke-Hentschke:2008 S. 86f 40 Gernot Böhme: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen“, Frankfurt/M.:1985, S. 8. 41 Gert Dressel: „Historische Anthropologie. Eine Einführung“, Wien/ Köln/ Weimar:1996, S. 38. 42 Alfred Schöpf: „Die Verkürzungen der Frage nach dem Menschen. Zur Anthropologiekritik der Gegenwart“, in: „Salzburger Jahrbuch für Philosophie. 23/24 – 1978/79“, Salzburg:1979, S. 183-201, S. 183. 43 Heinz Witteriede: „Eine Einführung in die Philosophische Anthropologie. Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen“, Frankfurt/M.:2009, S. 13f. 44 Arlt:2001 S. 1 12 sondern der letzte Fluchtpunkt philosophischer Erkenntnis. 45 So ernsthaft und ausschließlich war sich dem Thema Mensch vorher noch nie gewidmet worden. 46 Indem die Philosophische Anthropologie sich gegen die fraktionierende Betrachtungsweise (Plessner) der Menschen in Einzelwissenschaften wendete und die Einheit des Menschen zurückgewinnen wollte, fiel sie hinter den historisierenden Fortschritt der spezialisierenden Betrachtungsweise der Menschen des 19. Jahrhunderts zurück. Die Philosophische Anthropologie erlangte bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts große Bedeutung. Eine intensive Anthropologiekritik, die zur Historisierung der Anthropologie führte, ließ aus einer philosophischen Anthropologie die Historische Anthropologie entstehen. Habermas gegen die Anthropologie In seinem Lexikon-Artikel „Anthropologie“ für das Fischer-Lexikon Philosophie von 1958 wandte sich Jürgen Habermas mit einer grundsätzlichen Kritik gegen die Philosophische Anthropologie. Ähnlich wie bspw. auch Horkheimer und Adorno brachte Habermas nicht nur die geschichtliche Natur des Menschen gegen die Philosophische Anthropologie in Stellung; zusätzlich spielte der Verweis auf die Perspektive des anthropologischen Blicks die entscheidende Rolle. Nicht nur der Gegenstand der Philosophischen Anthropologie ist geschichtlich, sondern auch die Forschenden und ihre Methode sind in geschichtlichen Zusammenhängen geworden: [Zitat Habermas]„Es sind immer gesellschaftlich bestimmte Erkenntnisinteressen, die – bewusst oder auch nicht – den Blick auf den Menschen in eine spezifische Richtung lenken.“47 Das bedeutet, dass sich „die Anthropologie grundsätzlich ihren Begriff vom Menschen erläutern lassen [muss] durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht und nicht zufällig entsteht – nur so entgeht sie der Versuchung, geschichtlich 45 Arlt:2001 S. 1 46 Arlt:2001 S. 8 47 Jörke:2005 S. 51f 13 Gewordenes schlechthin als ‘Natur‘ auszugeben und als Norm zu suggerieren.“ 48 Habermas kritisierte schon den Ausgangspunkt der Philosophischen Anthropologie, denn [Zitat Habermas]„ihr Gegenstand ist etwas, das nicht geradewegs zum Gegenstand werden kann: das Wesen des Menschen.“49 Gleichzeitig sei die Frage nach dem Wesen des Menschen paradigmatisch: [Zitat]„Über das, wie es sich mit ihm verhält, erfahren wir ernsthaft nur in dem Maße, in dem wir wissen: wer er ist. Das Sein des Menschen ist nicht abzutrennen von dem Sinn, zu dem er sich versteht, oder auch: zu dem er sich objektiv zu verstehen hätte und den er subjektiv womöglich gar nicht trifft.“ 50 Die geschichtliche Dimension sei dabei jedoch entscheidend: „Menschen verstehen sich je in ihrer Gesellschaft und in ihrer geschichtlichen Lage auf eine andere Weise; und wenn es so ist, dass sie in diesem Sinnverständnis ihr Wesen erst feststellen, dann hat der Mensch viele Wesen; es sei denn, man sieht das Wesen des Menschen eben darin, dass er mitwirken muss, es jeweils zu finden.“51 Wichtig sei, stets mitzureflektieren, dass „auch diejenigen, die Anthropologie treiben“ Menschen sind [Zitat Habermas]„und selber darauf angewiesen, sich in ihrem Menschsein zu verstehen. Sie deuten das Wesen 'des' Menschen in dem Maße, in dem sie ihr eigenes Wesen deuten. … Die Kategorien, unter denen sie die 'Menschenkenntnis' der Wissenschaften verarbeiten, sind gleichzeitig Kategorien, unter denen sich auch die Gesellschaft, auch die geschichtliche Lage verstehen, der die Betrachter selbst angehören.“52 Die Entstehung der Philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Scheler, Plessner und Gehlen, ordnete Habermas in die Wissenschaftsgeschichte ein: [Zitat Habermas]„Der Gedankenkreis der philosophischen Anthropologie ist so alt wie die Philosophie selber ...; aber die eigentümliche Stellung dieser Disziplin zwischen Theorie und Empirie, abzulesen an ihrer Aufgabe, wissenschaftliche Resultate philosophisch zu interpretieren, erlaubt eine genaue Datierung: erst mussten sich die Wissenschaften vom Menschen von der biologischen Anthropologie bis zu Psychologie und Soziologie, entwickelt haben, damit ein Bedürfnis nach theoretischer Deutung ihrer 48 Jürgen Habermas: „Anthropologie“ in: Alwin Diemer, Ivo Frenzel (Hg.): „Philosophie. Das Fischer Lexikon“, Frankfurt/M.:1958, S. 18-35, S. 34f (im Folgenden Habermas:1958). 49 Habermas:1958 S. 18 50 Habermas:1958 S. 19 51 Habermas:1958 S. 19 52 Habermas:1958 S. 19 14 empirischen Ergebnisse auftrat.“53 Die Philosophische Anthropologie ist somit für Habermas [Zitat]„eine Reaktion der Philosophie auf jene heraufgekommenen Wissenschaften, die ihr den Gegenstand und Anspruch streitig machen.“ 54 Nachdem Herder konstatiert hatte, dass die Menschen als an Instinkten arme und körperlich schlecht ausgestattete „Freigelassene der Natur“ sich selbst aus ihrer naturgegebenen Freiheit schaffen, hatten Feuerbach, Marx und Kierkegaard zuerst die Situationsbezogenheit der Menschen herausarbeiten und erkennen können, dass [Zitat] „der Mensch die Welt des Menschen ist.“55 Marx hatte betont, dass die Menschen das sind, [Zitat]„was sie geschichtlich aus sich machen“ und Hegel dafür gerühmt, dass er [Zitat]„das Wesen der Arbeit erfasst und den wirklichen Menschen als das Resultat seiner Arbeit begriffen“ hatte.56 Diese Denker hatten bereits lange vor der Philosophischen Anthropologie alle ihre wichtigen Motive vorgebildet: Die Instinktschwäche und Unspezialisiertheit der Menschen, [Zitat]„die Nötigung zu handeln, nämlich buchstäblich durch der Hände Arbeit sein Leben zu reproduzieren; schließlich der geschichtliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit, in der die menschliche Gattung sich nicht nur erhält, sondern fortlaufend selber erst herstellt: Der Mensch erfindet den Menschen.“57 [Zitat]„Nichts ist durchsichtiger als der Zusammenhang zwischen dem heute führenden Begriff des Menschen, als eines arbeitenden und handelnden, mit der Welt bürgerlicher Arbeit: er entsteht über Herder und Hegel bei Marx mit dem Beginn der industriellen Gesellschaft, und mit deren Entfaltung wird er zur Grundlage einer neuen Disziplin eben der philosophischen Anthropologie.“58 Dennoch werde in der Herangehensweise der Disziplin zu wenig beachtet, [Zitat]„dass der Mensch von Haus aus nicht einfach ist, was er ist. Es gibt unter Menschen keine Bewegung, kein Verhalten, genau genommen nicht einmal einen Ausdruck, der ‘natürlich' ist. Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der Mensch nicht von Natur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst macht. Die ‘Natur' der Menschen, das was als menschlich gilt, ist nicht einfach ‘gegeben' wie die Natur von 53 54 55 56 57 58 15 Habermas:1958 S. 20 Habermas:1958 S. 20 Habermas:1958 S. 21 Habermas:1958 S. 22 Habermas:1958 S. 22 Habermas:1958 S. 34 Dingen oder Lebewesen.“59 Die Geschichte und die Gesellschaft seien letztlich so wirkmächtig, dass sie das Projekt der Philosophischen Anthropologie ad absurdum führen: [Zitat]„Damit hängt am Ende die Schwierigkeit zusammen, die den Rahmen der Anthropologie sprengt: 'den' Menschen gibt es sowenig wie 'die' Sprache. Weil Menschen sich erst zu dem machen, was sie sind, und das, den Umständen nach, je auf eine andere Weise.“60 Die Sichtweise auf den Menschen verändert sich mit der Gesellschaft: [Zitat]„Hier wird sie so gedeutet und dort anders, je nach der geschichtlichen Lage und der gesellschaftlichen Verfassung, in der die Menschen leben, nach der Art und Weise, in der sie ihr Leben reproduzieren.“61 [In der antiken Sklavengesellschaft ging man davon aus, dass bestimmte Menschen von Natur aus zum Sklaven und andere von Natur aus zu Philosophen gemacht sind, in der Feudalgesellschaft hatte Gott die natürliche Ordnung so geschaffen, dass welche zum Herrschen und welche zum Dienen geboren sind und in der bürgerlichen Gesellschaft, die auf Eigentum und Vertragssicherheit beruht, sind die Menschen auf einmal alle Freie und Gleiche von Natur.] [Zitat]„Die Menschen leben und handeln nur in den konkreten Lebenswelten je ihrer Gesellschaft, niemals in ‘der' Welt. ... : die Menschen können im Prinzip ihre Lebenswelt überschreiten, sie können sie erweitern und in andere ‘Welten' übersetzen (eine Fähigkeit, die erst mit dem Aufkommen der historischen Wissenschaften im 19. Jh. systematisch ausgebildet wird);“62 Die Geschichte der Menschen ist für Habermas der Beweis dafür, dass sie keine davon unabhängige Natur haben können: [Zitat]„... dass der Mensch Geschichte hat und geschichtlich erst wird, was er >ist<. Eine beunruhigende Tatsache für eine Anthropologie, die es mit der 'Natur' des Menschen, mit dem, was allen Menschen jederzeit gemeinsam ist, zu tun hat. Lebten die Menschen wie Tiere in erbfest montierten Umwelten, gäbe es keine Geschichte; lebten sie in ein und derselben Welt, Engeln gleich, gäbe es wiederum keine Geschichte. In beiden Fällen wären unveränderliche Strukturen festzustellen, ein Katalog anthropologischer Konstanten. So aber verhält es sich nicht. Wenn Anthropologie trotzdem daran festhält, gewissermaßen 'ontologisch' zu verfahren, nämlich nur das Wiederkehrende, das Immergleiche, das 59 60 61 62 16 Habermas:1958 S. 30 Habermas:1958 S. 31 Habermas:1958 S. 31 Habermas:1958 S. 32 Zugrundeliegende an Mensch und Menschenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt.“ 63 Schluss Der Nachweis des geschichtlichen Gewordenseins dieser Gesellschaft geht also mit dem Nachweis der Geschichtlichkeit ihrer Mitglieder einher. Die Zurückweisung der Anthropologie als abstrakte Wesensbestimmung des Menschen macht die Basis für Erkenntnisse über Gesellschaft aus. Trotzdem auch heute noch Philosophische Anthropologie betrieben wird, sind die ganz großen Zeiten der philosophischen Wesensbestimmung des Menschen seit der intensiven Anthropologie-Kritik in der Folge von Habermas vorbei. Im Alltagsdenken der Menschen spielt jedoch die Natur des Menschen nach wie vor eine wichtige Rolle: neben der üblichen Naturalisierung menschlichen Verhaltens im Kapitalismus haben auch genetische oder neurobiologische Erklärungsmuster Konjunktur. Zugleich stehen diese im Ruf, als Naturwissenschaften – im Gegensatz zur unexakten Philosophie – glaubwürdiger zu sein und definitivere Ergebnisse zu liefern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig auch die Geschichtlichkeit der Wissenschaften zu beachten: „So glaubte man wohl nicht zufällig gerade in den dreißiger Jahren, die Neandertaler seien einem Vernichtungskrieg des Homo sapiens zum Opfer gefallen. In den siebziger Jahren hingegen herrschte die Theorie vor, die Neandertaler seien in der Menschheit aufgegangen, weil beide Spezies sich gepaart hätten, während man in den neunziger Jahren meist davon ausging, die Neandertaler seien im Wettbewerb mit den Menschen unterlegen gewesen.“ 64 So wie die Evolutionsbiologie hat auch die Hirnforschung eine Geschichte: „die neuen Deutungen von Weiblichkeit, Kindheit oder Kriminalität wurden nicht zwischen den Neuronen gefunden“, sondern sind „in dem, was der Forschungsgegenstand den Forschern von 63 Vgl. Habermas:1958 S. 32f 64 Jörn Schulz: „Frieden schaffen ohne Affen“, Jungle World Nr. 26, 1. Juli 2010, S. 5 17 ihrer eigenen Vergesellschaftung zurückspiegelt“65, zu suchen. Die Betrachtung der Geschichtlichkeit des Gehirn als Forschungsgegenstand hilft, politische Implikationen nachzuvollziehen: „Schon die unmittelbaren Vorgänger der modernen Hirnforschung haben den Kopf betrachtet und dabei über den Geist sinniert. Seit Entstehung der Schädellehre, die sich aus den Vermessungen des Kopfes Rückschlüsse auf den Charakter oder das Talent erhoffte, hat sich an der Struktur der Theoreme nicht mehr viel geändert.66 Moderne Bildgebungsverfahren wie Computertomographie und Kernspintomographen machen es lediglich möglich, unter die Schädeldecke zu schauen. 67 Die Betrachtung ist deswegen dem Gegenstand „Geist“ nicht weniger äußerlich. „Im 18. Jahrhundert sind die Forscher auf der Suche nach den ursprünglichen Menschen und ihrer Natur nach Papua-Neuguinea gereist. Seit auch den im nicht-westlichen Kulturkreis lebenden Menschen eine Kultur zugestanden wurde, hatte man sich den Affen und den Kindern zugewandt.68 Im Juli 2004 hielt der bekannte Hirnforscher Wolf Singer einen Vortrag zu Ehren der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, deren 50. Geburtstag gefeiert wurde. „Im menschlichen Hirn“ sagte Singer „gibt es kein Zentrum, keinen Dirigenten, der für Entscheidungen zuständig ist. Wenn der Mensch meint, er sei frei, dann irrt er, dann sitzt er einer Illusion auf. Alles, was er denkt, fühlt, macht, nicht macht, wird gesteuert von Neuronen. Sie schwirren durchs Hirn und machen, was sie wollen. Das Hirn ist keine Werkstatt des Ichs, sondern ein physikochemisches Labor.“ 69 Daraus ließe sich also schlussfolgern: „Der Mensch, die Krönung der Schöpfung, ein Büttel der Neuronen. Man kann nichts für das, was passiert. Im Leben, in der Liebe, in der Politik.“70 Die Hirnforschung will die großen Fragen der Menschheit beantworten, mit denen sich die Philosophen seit Jahrtausenden herumschlagen. In „Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ kommen die Autoren im Jahr 2004 zu dem Schluss, dass „die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer 65 Christine Zunke: „Zurück zum Gefühl. Über die galoppierende Gegenaufklärung in den Neurowissenschaften“ in: Jungle World 30/2010, S. 19 (im folgenden Zunke:2010). 66 Zunke:2010 S. 19 67 Zunke:2010 S. 19 68 Zunke:2010 S. 20 69 Matthias Geyer: „Merkels Hirn“ in „Der Spiegel“, 31/2004 70 Matthias Geyer: „Merkels Hirn“ in „Der Spiegel“, 31/2004 18 Veränderung unseres Menschenbilds führen“71 werden. Hirnforscher vermitteln den Eindruck, den Menschen endlich alles über ihr Denken, Fühlen und Handeln erklären und in der Elektrochemie begründen zu können. Das Alltagsdenken der Menschen – für jede Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene aufgeschlossen – erkennt im Gehirn immer mehr den Charakter und die Persönlichkeit der Menschen.72 Die Gesellschaft wird also zu einer Ansammlung von Gehirnen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die politische Dimension der Neurophysiologie.73 Denn wird das Gehirn zum Forschungsgegenstand, sind die Schlussfolgerungen auf die gesellschaftliche Dimension nicht weit. Das menschliche Handeln wird zum bloßen Verhalten – die frei handelnde Person geht verloren, das Subjekt ist nur noch Wirkung des neuronalen Substrats.74 Die Autonomie der Menschen existiert in dieser Wahrnehmung weder individuell noch gesellschaftlich – ihr Handeln ist bloß Wirkung eines natürlichen Organs, auf das sie keinen Einfluss haben: „Denn wenn unsere Handlungen nicht selbstbestimmt aus Gründen erfolgen können, sondern aus natürlichen Ursachen in unserem Gehirn resultieren, dann ist alles Gesellschaftliche die Wirkung einer Naturursache und damit nicht von uns gemacht, sondern uns vorgegeben. Hierin steht die Hirnforschung der Sache nach ... in der reaktionären Tradition, der Natur anzulasten, was den Menschen von Politik und Ökonomie angetan wird.“75 Auch die Ergebnisse der Hirnforschung münden in politischer Lethargie, Veränderung wird unmöglich und unnötig: „Das Interessante an dieser Konstruktion ist, dass sich hierdurch an der Verfasstheit unserer Gesellschaft ihrer Erscheinungsform nach gar nichts grundlegend ändern sollte, müsste oder auch nur könnte.“ 76 Das Resultat ist die Naturalisierung der Menschen auf allen Ebenen: „Der Mensch wird so in all seinen Eigenschaften, seinem moralischen Empfinden und seinen Wertvorstellungen biologisiert. Werte und Normen erscheinen nicht als Ausdruck spezifischer Gesellschaftlichkeit, sondern als natürliche Gefühle.“ 77 Der Grund warum die Forschungsergebnisse der Hirnforscher auf so fruchtbaren Boden fallen, ist darin zu suchen, dass die Menschen ihre Alltagserfahrungen bestätigt sehen: 71 72 73 74 75 76 77 19 GerhardRoth, Wolf Singer ua.: „Das Manifest“, Gehirn&Geist 6/2004 Zunke:2010 S. 19 Zunke:2010 S. 19 Zunke:2010 S. 19 Zunke:2010 S. 19 Zunke:2010 S. 20 Zunke:2010 S. 20 Die Hirnforschung erklärt die Willensfreiheit zum Schein in einer Gesellschaft, die tatsächlich kaum Freiheit lässt, sie zu gestalten – unter den herrschenden Bedingungen, die die kapitalistische Produktionsweise als unantastbar setzten. Die Menschen finden also naturwissenschaftlich begründet, was sie „bezogen auf die heutigen Verhältnisse, unter denen die Notwendigkeit der Verwertung des Wertes Sachzwänge erzeugt, die systemimmanent tatsächlich zwingend und unaufhebbar sind“78 erleben. Herrschaft im Kapitalismus ist apersonal, die ökonomischen Gesetze, welche die Gesellschaft konstituieren „entspringen dem Mechanismus der blinden Verwertung des Wertes und sind nicht von Subjekten gezielt geplant und durchgesetzt worden. Der dieser Herrschaftsform adäquate ideologische Kitt ist die Naturalisierung – die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und die durch sie erzwungenen Subjektzurichtungen werden als Naturgesetze und damit als außerhalb der Kritik stehend anerkannt.“ 79 78 Zunke:2010 S. 20 79 Zunke:2010 S. 20 20