Menschenbilder und die (Un-)Möglichkeit von

Werbung
Menschenbilder und die (Un-)Möglichkeit von
Kapitalismuskritik
Inhaltsverzeichnis
Einleitung...................................................................................................................... 1
Hintergrund der Entstehung der Anthropologie............................................................ 4
Marxistische Anthropologiekritik................................................................................. 8
Philosophische Anthropologie.................................................................................... 11
Habermas gegen die Anthropologie............................................................................ 13
Konklusion.................................................................................................................. 17
Einleitung
[Zunächst einiges zur Erläuterung des Titels:] Mit Kapitalismus bezeichne ich an dieser
Stelle
die
aktuelle
Gesellschaftsformation;
genauer
gefasst:
unsere
Gesellschaftsorganisation ist eine bürgerliche Gesellschaft, in der kapitalistische
Produktionsweise herrscht. Die Produktionsweise bezeichnet die Art und Weise, wie
und wozu produziert wird. Kapitalismuskritik heißt vor diesem Hintergrund die
grundsätzliche Kritik dieser Gesellschaft, d.h. dass das Ergebnis der Kritik nicht die
Forderung
nach
Reformen
ist,
sondern
die
nach
der Abschaffung
dieser
Produktionsweise. Der wichtigste Bezugspunkt ist dabei nach wie vor Karl Marx, der
im 19. Jahrhundert in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ meiner Auffassung nach die
richtige Analyse des Kapitalismus begründet hat. Da die richtige Analyse die
Voraussetzung für die richtige Kritik ist, müssen wir den Kapitalismus erst verstehen,
bevor wir ihn richtig kritisieren können.
Der Untertitel des Marxschen Hauptwerkes „Das Kapital“ lautet: Kritik der politischen
Ökonomie. Er hat eine doppelte Bedeutung. Marx kritisierte einmal die wirtschaftliche
1
Organisation der Gesellschaft und darüber hinaus, die Politische Ökonomie als
Wissenschaft, welche diese Wirtschaftsweise beschrieb. Politische Ökonomie war zu
Marx' Zeiten die Bezeichnung für die damalige Wirtschaftswissenschaft (Klassische
Nationalökonomie) das heutige Pendant nennt sich Volkswirtschaftslehre. Ihrer
Beschreibung stellte er seine Erklärung der wirtschaftlichen Organisation entgegen. Das
macht Marx im „Kapital“: Erklären, was Kapitalismus ist und wie er funktioniert.
Zugleich kritisiert er ihn und die bürgerliche Wissenschaft, die ihn beschreibt. Denn
diese beschreibt die Produktionsweise so, dass sie als die einzig wahre, quasi natürliche
Wirtschaftsweise dasteht. Das Geheimnis der modernen bürgerlichen Ökonomie besteht
laut Marx [Zitat] „einfach in der Umwandlung veränderlicher gesellschaftlicher
Verhältnisse, die einer bestimmten historischen Epoche angehören und einem
gegebenen Stand der materiellen Produktion entsprechen, in ewige, allgemeine,
unveränderliche Gesetze, in Naturgesetze.“ 1
Gemeinsam ist der Politischen Ökonomie und der heutigen Volkswirtschaftslehre, dass
sie die wirtschaftlichen Vorgänge dieser Gesellschaft beschreiben, ohne den Anspruch
zu haben, diese zu erklären oder zu hinterfragen. [Zitat Marx] „Dass in der Erscheinung
die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt,
außer in der politischen Ökonomie.“2
Marx geht es im „Kapital“ nicht um irgendeine neue Darstellung der politischen
Ökonomie,
sondern
um
eine
fundamentale
Kritik
an
der
gesamten
Wirtschaftswissenschaft. Marx kritisiert nicht in erster Linie die Ergebnisse der
politischen Ökonomie, sondern bereits ihre Prämissen und die Art und Weise ihrer
Fragestellung, d.h. die Unterscheidung zwischen dem, was die politische Ökonomie
überhaupt erklären will und dem, was sie als so selbstverständlich akzeptiert, dass sie es
gar nicht erklären muss. Die Prämissen der bürgerlichen Ökonomie sind dabei, dass die
Warengesellschaft
natürlicher
und
notwendiger
Ausdruck
der
menschlichen
Beziehungen ist: Kapitalismus wird überhistorisch einfach „die Wirtschaft". In ihr
verhält sich der Mensch gemäß seiner Natur: Er ist der rational handelnde, auf den
eigenen Vorteil bedachte, nutzen-maximierende homo oeconomicus.
1 Karl Marx: „Die Kriegsfrage“ in: Karl Marx/ Friedrich Engels: „Werke, Band 9“, S. 212-219,
Berlin:1960, S. 254.
2 Karl Marx: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band“ in: Karl Marx/ Friedrich
Engels: „Werke, Band 23“, Berlin:1970, S. 559 (im Folgenden Marx:1970).
2
Nicht nur vor diesem Hintergrund sieht sich Kapitalismuskritik häufig mit der
Gegenkritik konfrontiert, welche die kapitalistische Produktionsweise als die der Natur
des Menschen entsprechendste versteht. Die Annahme von der angeblichen Natur des
Menschen ist dabei oft geprägt vom besagten homo oeconomicus der neoklassischen
Ökonomietheorie, der sich in einer Welt knapper Güter und unbegrenzter Bedürfnisse
rücksichtslos und egoistisch nutzen-maximierend bewegt. Obwohl die wenigsten
Ökonomen mit dem homo oeconomicus ein Menschenbild prägen wollten, ist die
vermeintlich natürliche Gier und der angeborene Egoismus fester Bestandteil des
Alltagsbewusstseins. Dieses Menschenbild gepaart mit der hohen Glaubwürdigkeit der
Wirtschaftswissenschaften, die nicht müde werden zu betonen, der Markt sei nicht
historisch geworden, sondern schon immer dagewesen, lassen die gegenwärtige
kapitalistische Wirtschaftsweise als nicht überwindbar erscheinen.
Nach der Natur des Menschen ist irgendwie schon immer gefragt worden; allerdings
stellt die Neuzeit in dieser Hinsicht einen entscheidenden Einschnitt in Bezug auf die
Gewichtung dieser Frage dar:
Der Mensch ist eine Erfindung der bürgerlichen
Gesellschaft – ihre Entstehung ist gewissermaßen der Selbstbewusstwerdungsprozess
des Menschen.
Die bürgerliche Gesellschaft bildete sich mit der Ablösung des Feudalismus durch den
Kapitalismus als neuer Wirtschaftsweise heraus. Dazu entwickelte sich die
entsprechende Wissenschaft: Adam Smith legte mit seinem Werk über den „Reichtum
der Nationen“ 1776 den Grundstein für die moderne Ökonomietheorie. Mit dem
Auftreten der politischen Ökonomie kam es zu einem Paradigmenwechsel bei der
Betrachtung des Menschen, der Tausch und der Eigennutz wurden ihm zur Natur. Vor
allem auch im Hinblick auf die Anthropologie der klassischen politischen Ökonomie
kritisierte Marx unhistorische Formen von Anthropologie.
Es war eines der Hauptanliegen der Theoriebildung von Karl Marx gegen die
Naturalisierung die Historisierung der gesellschaftlichen Zustände zu setzen. Denn die
Theorie der Gesellschaft wird erst sinnvoll, wenn davon auszugehen ist, dass
Gesellschaft nicht gänzlich von Naturzwängen beherrscht wird. Es gilt, den Menschen
„im historischen Zusammenhang [...] zu begreifen. Jede Referenz auf Natur ist ihrerseits
historisch; andere als geschichtlich spezifische Zugänge zur Natur und zur Natur des
3
Menschen kann es nicht geben.“3
Die Begründung von gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen durch die Natur
des Menschen ist eine besondere Form der oben genannten Naturalisierung – die nicht
nur von der bürgerlichen Ökonomie vorgenommen wird. Es gibt vielerlei
anthropologische Vorurteile: Der Mensch und seine Natur bilden eine ideologische
Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft – so ist bspw. die Hirnforschung oft vorne
dabei, dem Menschen den freien Willen abzusprechen oder die Evolutionsbiologie
erklärt den Menschen als von seinen Genen gesteuert. Die Zurückführung der
Handlungen der Menschen auf ihre Natur führt letztlich immer zur Verunmöglichung
von Veränderung: Kritik wie Politik wird unnötig, wenn doch keiner was dafür kann.
Anthropologie hat also – wie sie auch immer aussehen mag – politische Konsequenzen.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den Auffassungen vom Menschen und
denjenigen vom Zusammenleben, von Gesellschaft also.4 Ganz in diesem Sinne
rechtfertigen sich politische Theorie und Praxis durch bestimmte anthropologische
Grundannahmen – so versuchen sie ihre Zielvorstellungen und Vorgehensweisen
gewissermaßen a priori wissenschaftlich abzusichern. 5 Die anthropologischen
Prämissen bieten dann den angedachten Veränderungen eine Möglichkeitsgarantie oder
aber disqualifizieren verändernde Praxis.6 Diese Begründungsprogramme schließen
„von anthropologischen Universalien auf politisch-rechtliche Normierungen [...]. Diese
erhalten somit ihre Legitimität durch den Verweis auf ihre universalistische
Verwurzelung in der menschlichen Natur.“ 7
3 Vgl. Hartmut Böhme: „Elemente - Feuer, Wasser, Luft“ in: Christoph Wulf (Hg.): „Vom Menschen“,
Weinheim/ Basel:1997, S. 17-46, S. 23.
4 Wolf Lepenies, Helmut Nolte: „Experimentelle Anthropologie und emanziptorische Praxis.
Überlegungen zu Marx und Freud“, in: „Kritik der Anthropologie. Marx und Freud. Gehlen und
Habermas. Über Agression“, München:1971, 9-76, S. 9 (im Folgenden: Lepenies/Nolte:1971a).
5 Lepenies/Nolte:1971a S. 9
6 Lepenies/Nolte:1971a S. 9
7 Vgl. Dirk Jörke: „Politische Anthropologie. Eine Einführung“ Wiesbaden:2005 S. 12.
4
Hintergrund der Entstehung der Anthropologie
Der mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft aufgekommene Trend zur
Individualisierung der Menschen wurde im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung
in ein umfassendes Menschenbild übertragen: Die Bürger begründeten ihre Forderungen
nach einer Gleichstellung mit den Feudalklassen mit der Ausformulierung eines
allgemeinen Menschenbildes, das die Gleichheit aller Menschen fundieren sollte. In das
sich nun etablierende Menschenbild floss nicht nur politisches Kalkül ein – es kam auch
zur Naturalisierung der Eigenschaften, die für das wirtschaftliche Überleben notwendig
geworden waren: „Der „Kampf ums Dasein“, durch die Form frühkapitalistischen
Wirtschaftens unbedingt erforderlich, nahm Konturen eines „Naturgesetzes“ an.“ 8
Während die Kultur der alten Gesellschaft als eine die Natur des Menschen
unterdrückende kritisiert wurde, stand die Kultur der neuen Gesellschaft als Erfüllung
der Naturanlagen der Menschen da. In den Sphären Recht, Markt und Geld realisieren
die Individuen nach dieser Auffassung die ihrer Naturhaftigkeit entspringenden
Bedürfnisse. Doch die Rede von den natürlichen Eigenschaften der Menschen stellte vor
allem eine Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen dar: Ihr reeller Kern war
die angestrebte Verrechtlichung persönlich freier Bürger.
In vor-kapitalistischen Zeiten hatten die Menschen eine fest bestimmte soziale Position,
die durch Gottes Wille erklärt und un-hinterfragbar als „natürlich“ verstanden wurde. In
der bürgerlichen Gesellschaft erleben die Individuen das gesellschaftliche Geschehen
als genauso wenig beeinflussbar und zusätzlich als unverständlich, das sie nun nicht
mehr mit Gottes Wille, sondern mit der „Natur des Menschen“ erklärten.
[Zitat Franz Borkenau, marxistischer Soziologe aus dem Umfeld der Frankfurter
Schule, 1934:] „Das Individuum ist nicht mehr ein qualitativ bestimmtes Glied eines
Standes, der seinerseits eine verständliche Funktion im Ganzen des Lebens hätte; es
steht dem geschichtlich-gesellschaftlichen Leben als etwas Fremden und von ihm
gänzlich Unbeeinflussbaren gegenüber. Dieses Geschehen ist für es „Natur“, aber nicht
mehr im Sinne der Identität des Strebens der menschlichen Seele mit der Natur; „Natur“
ist jetzt das Fremde. ... Dieser „Natur“ kann der Mensch sich entgegenstellen und
untergehen, oder sie hinnehmen und zwar nicht Glück, wohl aber Leidlosigkeit
8 Dietmar Kamper: „Geschichte und menschliche Natur. Die
Anthropologiekritik“ München:1973, S. 12 (im Folgenden Kamper:1973).
5
Tragweite
gegenwärtiger
erreichen.“9
Im Resultat des neuen Denkens der Aufklärung wurde Gesellschaftliches auf die
individuelle Ebene übertragen; Konflikte erschienen als Ergebnis individueller
Interessen (Ehrgeiz, Machtgier von einzelnen Personen) und gesellschaftliche
Verhältnisse
verschwanden
hinter
den
angenommenen
individuellen
Handlungsmöglichkeiten („Jeder ist seines Glückes Schmied!“). 10
Vor diesem Hintergrund begann die Anthropologie als neue Disziplin zu entstehen.
Anthropologie bezeichnet die Lehre vom Menschen: das Wissen über ein Lebewesen,
charakterisiert durch seinen aufrechten Gang.11 Anthropologie als Wissenschaft will sich
mit den gleich bleibenden Voraussetzungen menschlicher Existenz beschäftigen 12, sie ist
die Lehre von den Eigenschaften und Verhaltensweisen des Menschen, die ihm
unabhängig
von
seiner
generellen
sozioökonomischen,
soziokulturellen
und
individuellen physischen und psychischen Situation zukommen sollen. Anthropologie
bezieht sich auf nicht-physische Eigenschaften des Menschen, seine vermeintliche
Natur bzw. sein Wesen; darauf also, wie Menschen von Natur aus geschaffen sind,
denken und handeln.
Der Begriff der Anthropologie ist so komplex, wie ihr Gegenstand, der Mensch. Die
naturwissenschaftliche Anthropologie erforscht den Menschen in seinen biologischen
Eigenschaften: „Der Anspruch der Anthropologie geht meist dahin, neben der Zoologie
und der Botanik als die dritte umfassende Disziplin der Biologie zu gelten.“ 13 Die
kulturwissenschaftliche Anthropologie oder auch Ethnologie beschäftigt sich mit den
kulturellen Unterschieden der Menschen in verschiedenen Gesellschaften.
Die Bedeutung von Anthropologie variiert stark von Land zu Land: In Deutschland wird
Anthropologie traditionell als Sammelbegriff für fast alle Humanwissenschaften
verwandt, meint damit verschiedenste Sparten von biologischer Anthropologie bis zu
philosophischer und pädagogischer.14 Im englischsprachigen Raum bezeichnet
9 Vgl. Franz Borkenau: „Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte
der Philosophie der Manufakturperiode“, Darmstadt:1971, S. 299 (im Folgenden Borkenau:1971).
10 Borkenau:1971 S. 464
11 Christoph Wulf: „Anthropologie. Geschichte Kultur Philosophie“, Köln:2009, S.13 (im Folgenden
Wulf:2009).
12 Vgl. Leo Kofler: „Perspektiven des revolutionären Humanismus“ Reinbek:1968.
13 Ulrich Kattmann: „Anmerkungen zur Wissenschaftssystematik und Wissenschaftsethik der
Anthropologie auf dem Hintergrund ihrer Geschichte“ in: Holger Preuschoft, Ulrich Kattmann (Hg.):
„Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik“, Oldenburg:1992, S. 127-142,
S. 129 (im Folgenden: Kattmann:1992).
14 Kattmann:1992 S. 127
6
Anthropologie ein Kombinat aus physischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen:
„physical“ und „cultural anthropology“. 15
Die nicht-naturwissenschaftliche, nicht auf die Physis und Biologie bezogene
Anthropologie sucht traditionell das „Wesen des Menschen“; auffällig dabei: „Offenbar
sind der Phantasie begrifflicher Fixierung des Phänomens „Mensch“ keine Grenzen
gesetzt. … Es gibt mehr Anthropologien, als Wörter auf eine Druckseite gehen.“16 Trotz
Vielfalt und Uneinigkeit, dienen die Auffassungen vom „Wesen des Menschen“ in
„verschiedenen Bereichen menschlicher Welt und Kultur als Leitvorgabe“17. Manche
Anthropologen sehen ihr Ziel in der „Erstellung eines gemeinsamen Bodens als
Ermöglichung für das Reden über „den Menschen““ 18 und betrachten die
Philosophische
Anthropologie
als
diejenige,
die
das
Basiswissen
für
die
Menschenwissenschaften schafft19.
Anthropologie als Titel einer (philosophischen) Disziplin entsteht zwischen dem 16. und
18. Jahrhundert.20 Bis Ende des 18. Jahrhunderts ist die Anthropologie noch nicht
eindeutig in biologische/ physische und philosophische getrennt. Immanuel Kant legt
den Grundstein für eine rein philosophische Anthropologie mit seiner strikten Trennung:
Er grenzt am Beginn seiner prominenten Vorlesungen zur Anthropologie, seine
pragmatische Anthropologie – Erforschung dessen, was der Mensch „als freihandelndes
Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll“ – von der physiologischen
Anthropologie ab: die erforscht, „was die Natur aus dem Menschen macht“ 21.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts gliederte sich die nicht-philosophische Anthropologie in
Einzelwissenschaften (Biologie, Psychologie, Ethnologie22); die philosophische
Anthropologie konnte kaum Bedeutung erlangen. Der Grund hierfür ist auch bei Hegel
zu suchen, der „in seiner „Theorie des Naturgeistes“ diese Anthropologie ausdrücklich
angegriffen“23 hat und an ihre Stelle die Geschichtsphilosophie setzte: „Danach
15 Kattmann:1992 S. 127
16 Gerhard Arlt: „Philosophische Anthropologie“, Stuttgart/ Weimar:2001, S. 5.
17 Alwin Diemer: „Elementarkurs Philosophie. Philosophische Anthropologie“, Düsseldorf/Wien:1978,
S.29 (im Folgeneden Diemer:1978).
18 Diemer:1978 S. 29
19 Michael Landmann: „De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens“, Freiburg/München:
1962, S. IV.
20 Wulf:2009 S; 13
21 Immanuel Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ Hamburg:1980 S.3 [119]
22 In Frankreich und den angelsächsischen Ländern sind auch heute Anthropologie und Ethnologie
synonym.
23 Kamper:1973 S. 38
7
schwindet das philosophische Interesse an der „physiologischen Anthropologie“, welche
selbst ihre philosophische Dimension aufgibt und zur naturwissenschaftlichen Disziplin
wird.“24
Marxistische Anthropologiekritik
An Hegel anknüpfend kritisierte Karl Marx ausführlich die aufkommende
Anthropologie, das gerade entstandene bürgerliche Menschenbild und das bürgerliche
Bewusstsein vom autonomen Subjekt.
Die Grundthese Marx'scher Gesellschaftstheorie lautet: Der Mensch ist „ein sich im
Geschichtsprozess entwickelndes und damit sich veränderndes Wesen.“ Es ging Marx
folglich darum, zu zeigen, dass zur Analyse und Erklärung ökonomischer Vorgänge –
verstanden als Teil der Gesamtheit sozialen Geschehens – nicht eine starre Natur des
Menschen als „Grundgesetz“ seines Handelns angenommen werden dürfe. Die
bürgerliche Nationalökonomie hatte das Nutzenprinzip verabsolutiert: Das rationale
Selbstinteresses war das fundamentale Handlungsprinzips. Sie unterstellte eine
unveränderliche psychische Beschaffenheit. Marx wollte deutlich machen, dass die
menschliche Natur nicht mit dem Menschentyp identisch ist, den die bestehenden
Gesellschaftsformen repräsentieren. Damit richtete er sich gegen die herrschenden
Vorstellungen, nach denen die ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus als
anthropologisch
verbindliche
interpretiert
wurden:
Denn
diese
ließen
als
Hauptantriebsmomente menschlichen Handelns den Wunsch nach Geld und Besitz
erkennen.25
Die Theorie Marxens und die in seiner Folge entstandene marxistische Theorie ist somit
immer auch Anthropologiekritik, indem die Untersuchung der gesellschaftlichen
Verhältnisse an die Stelle der Wesenszuweisungen tritt. Marx legte seinen Fokus auf die
gesellschaftlichen Voraussetzungen der menschlichen Entwicklung und wies jegliche
abstrakte Wesenhaftigkeit der Menschen zurück. Indem er sich gegen eine angebliche
24 Kamper:1973 S. 38
25 Günter Hartfiel: „Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Untersuchungen zum Menschenbild in
Ökonomie und Soziologie“, Stuttgart:1968, S.161.
8
Menschennatur wandte, nahm er den Naturnotwendigkeiten, mit denen bis dato die Welt
betrachtet wurde, ihre Grundlage: die Veränderlichkeit der menschlichen Gesellschaft
wurde denkbar.
Marx kritisiert das Abstraktum Mensch als Denkfigur:26 Die Menschen sollen vielmehr
in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhang untersucht werden, unter ihren
vorliegenden Lebensbedingungen, welche sie zu dem gemacht haben, was sie sind. 27
Seine „analytische Methode [geht, FB] ... nicht von dem Menschen, sondern der
ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode aus[...].“28 Er fordert einen Fokus auf „die
Unterschiede […], die grade die gesellschaftliche Beziehung (Beziehung der
bürgerlichen Gesellschaft) ausdrücken. Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen,
sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen
zueinander stehen.“29 Gesellschaft als eine Aneinanderreihung von Einzelpersonen zu
verstehen, übersieht, dass gesellschaftliche Struktur gerade durch die Verkehrsform, in
der die Menschen miteinander umgehen, bestimmt wird.
[Zitat aus einem Brief von Marx] „Was ist die Gesellschaft, welche auch immer ihre
Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den
Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie
einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie
erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs [commerce] und der Konsumtion. Setzen
Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der
Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung, eine
entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder Klassen, mit einem Wort, eine
entsprechende Gesellschaft [société civile]. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus
und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung [état politique], die nur der
offizielle Ausdruck der Gesellschaft ist.“ 30
26 „Human nature necessarily exists in a specific social and historical context, and social relations are
always the result of specific and historically determined forms of human nature. The notion of a universal
and timeless human nature is an abstraction from this context which cannot provide a determinate
foundation for social theory or values. Human beings are social and historical beings through and
through.“ Sean Sayers: „Marxism and Human Nature“, London:1998 S. 50.
27 Karl Marx, Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in
ihren Repräsentanten Feuerbach, B.Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen
verschiedenen Propheten“ in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke, Band 3“, Berlin:1962, S. 44.
28 Karl Marx: „[Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“]“ in: Karl Marx,
Friedrich Engels: „Werke, Band 19, Berlin:1962, S. 355-383, S. 371.
29 Karl Marx: „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, in: Karl Marx, Friedrich Engels:
„Werke, Band 42“, Berlin:1983, S. 189.
30 Karl Marx: „[Marx an Pawel Wassiljewitsch Annenkow]“ , in: Karl Marx, Friedrich Engels: „Werke,
9
Die Spekulationen über die Natur des Menschen erkannte Marx als eine Projektion: In
einer Gesellschaft der freien Konkurrenz, in der die vereinzelten Privatproduzenten
einander sozial durch den Tausch ihrer Waren begegnen, erscheint der Mensch als ein
völlig unabhängiges Individuum, geprägt durch das [Zitat Marx]„bloß atomistische
Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produktionsprozess“ 31 und durch
die [Zitat]„von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun unabhängige,
sachliche Gestalt ihrer eignen Produktionsverhältnisse“.32 Das Subjekt wirtschaftlicher
Aktivität sind nicht die Menschen, sondern es ist der sich selbst verwertende Wert:
Kapital.33 Der Zweck der Produktion ist die Geldvermehrung. Die Bedingungen
kapitalistischer Produktionsweise bilden ein komplexes System, dessen Strukturen den
Menschen äußerlich sind, sie aber doch bestimmen. 34 Dieses Resultat kapitalistischer
Produktionsweise, vereinzelte Einzelne, führt zu einem Weltbild, das sich – Ursache
und Wirkung verkennend – ein Bild vom einzelnen Menschen machen will, ohne die
gesellschaftlichen Umstände mit zu betrachten.35 Eben jene machte Marx zur Grundlage
der Erklärung menschlicher Lebensrealität.
Die Analyse gesellschaftlicher Strukturen ermöglicht, Verhaltens- und Denkweisen der
Menschen aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus zu erklären. Wenn
hinter der scheinbaren Naturhaftigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich die
Praxis von Individuen steckt, die unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen
produzieren, wird eine Perspektive auf Gesellschaft möglich, die Veränderung als
Möglichkeit aufzeigt. Genau in diesem Forschungsansatz hat Marx seine bürgerlichen
Vorgänger überwunden.
Kritisiert Marx die abstrakte Rede vom Menschen, so deshalb, weil diese sich
notwendig der Lebensrealität wirklicher Menschen gegenüber ignorant verhalten muss,
da sie die Bedingungen einer Gesellschaft, in der Menschen sich prinzipiell feindlich
gegenüber stehen, missachtet. Er wendet sich den konkreten Menschen und den
Umständen, unter denen sie leben, zu.
Nachdem also die bürgerliche Aufklärungsbewegung die Menschennatur für ihre
Band 27“, Berlin:1963, S. 451-463, S. 452.
31 Marx:1970 S. 107f
32 Marx:1970 S. 107f
33 Marx:1970 S. 169
34 Günther Schiwy: „Der französische Strukturalismus. Mode -- Methode – Ideologie“, Reinbek:1985 S.
77.
35 Karl Marx: „Einleitung [zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie]“, in: Karl Marx,
Friedrich Engels: „Werke, Band 42“, Berlin:1983, S. 15-45, S. 19f.
10
politischen Zwecke auf die Agenda gesetzt hatte und die Gleichheit aller Menschen
gegen den Feudaladel proklamierte, wurde das Wesen des Menschen zur großen Frage.
Diese hat jedoch vor Marx schon Hegel zurückgewiesen, weswegen es bis ins 20.
Jahrhundert dauerte, bis mit der Philosophischen Anthropologie erneut intensiv auf die
Frage gedrängt wurde.
Philosophische Anthropologie
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich mit der Philosophischen Anthropologie in
Deutschland eine Bewegung, die es sich zum Ziel machte, die physische und
philosophische Anthropologie zusammenzuführen. Nach der Darwinschen Einordnung
des Menschen in die Evolution sollte die Abgrenzung des Menschen zum Tier
zurückzugewonnen werden: sein Wesen sollte bestimmt werden. Nach dem Ersten
Weltkrieg entstand die Philosophische Anthropologie in einer Atmosphäre des
zunehmenden empirischen Wissens über die Menschen, das mit Zweifeln am
allgemeinen Fortschritt der Menschheit einherging. Mit ihr etablierte sich in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Denkrichtung in der Philosophie, die den Menschen
und seine Stellung in der Welt in den Mittelpunkt stellte. Als Hauptvertreter gelten im
Allgemeinen – trotz großer Unterschiede zwischen den Autoren – Max Scheler (18741928), Helmuth Plessner (1892 – 1985) und Arnold Gehlen (1904-1976). Sie
beschäftigten sich mit der Abgrenzung des Menschen zum Tier, den Bedingungen des
Menschseins und der Natur des Menschen. Ausgangs- und Mittelpunkt war dabei – in
Abgrenzung zu Idealismus und Bewusstseinsphilosophie – der menschliche Körper.
Damit sollte eine durch naturwissenschaftliche Forschung abgesicherte Basis für die
Selbstvergewisserung der verunsicherten Menschen gewählt sein. 36 Die Philosophische
Anthropologie wollte auf die „Krise des europäischen Menschenbildes, die der
Darwinismus und die Entwicklungsbiologie am Beginn des 20. Jahrhunderts
heraufbeschworen hatten“37 antworten und durch die „Überwindung des cartesianischen
36 Wulf:2009 S. 53
37 Ada Neschke-Hentschke: „"Die Stellung des Menschen im Kosmos". Die Anthropologie von Platon
11
Dualismus“38 die Innen- und Außenwahrnehmung des Menschen miteinander vermitteln
und die Differenz zwischen Mensch und Tier ausarbeiten.39
Denn die Philosophie am Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich peinlich berührt in der
Situation wieder, dass das neu entstehende Wissen über den Menschen nicht von ihr,
sondern von den Einzelwissenschaften gebildet wurde. Eben jene rückten auch die
Kreatürlichkeit des Menschen immer weiter in den Mittelpunkt:40 Die Philosophische
Anthropologie war der Versuch, dem Menschen wieder seine Sonderstellung in der Welt
zurückzugeben, nachdem er sie durch die Darwin'sche Theorie verloren hatte. 41 Diese
Sonderstellung sollte eben nicht länger auf der Bewusstseinsebene durch die Vernunft
begründet werden, sondern aus den Natur-Bedingungen sollte die Möglichkeit der
Ausbildung von Intelligenz und Willen abgeleitet und in der physischen Existenz
verankert werden.42 Dieser physischen Existenz sollte als Bedingung alles Menschseins
endlich ihre verdiente Bedeutung zugesprochen werden.
Die Arbeiten Schelers, Plessners und Gehlens lassen sich als Versuche ansehen, die
Grenzen der Einzelwissenschaften wieder zu überwinden, den ganzen Menschen als
Einheit zu fokussieren und systematisch die Merkmale und Fähigkeiten zu erarbeiten,
durch welche der Mensch sich auszeichnet und sich von anderen Lebewesen
unterscheidet. Vor diesem Hintergrund geht es darum, die Fragen nach dem Wesen des
Menschen und seiner Stellung in der Welt zu beantworten, um somit der Krise des
Selbstverständnisses der Menschen zu begegnen.43 Mit der Philosophischen
Anthropologie wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal in großem Stil
versucht, alle philosophischen Themen im Begriff des 'Menschen' zu bündeln. 44 Die
Frage nach den Bestimmungen des Menschen war keine Frage unter anderen mehr,
und Cicero“ in: Francois-Xavier Putallaz, Bernard M. Schumacher (Hg.): „Der Mensch und die
Person“, Darmstadt:2008, S. 85-96, S. 85 (im Folgenden Neschke-Hentschke:2008).
38 Wolfgang Eßbach: „Denkmotive der Philosophischen Anthropologie“ in: „e-Journal Philosophie der
Psychologie 7“, 2007 S. 3 (url: http://www.jp.philo.at/texte/EssbachW1.pdf zuletzt eingesehen am 17.
Januar 2010).
39 Neschke-Hentschke:2008 S. 86f
40 Gernot Böhme: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen“,
Frankfurt/M.:1985, S. 8.
41 Gert Dressel: „Historische Anthropologie. Eine Einführung“, Wien/ Köln/ Weimar:1996, S. 38.
42 Alfred Schöpf: „Die Verkürzungen der Frage nach dem Menschen. Zur Anthropologiekritik der
Gegenwart“, in: „Salzburger Jahrbuch für Philosophie. 23/24 – 1978/79“, Salzburg:1979, S. 183-201,
S. 183.
43 Heinz Witteriede: „Eine Einführung in die Philosophische Anthropologie. Max Scheler, Helmuth
Plessner, Arnold Gehlen“, Frankfurt/M.:2009, S. 13f.
44 Arlt:2001 S. 1
12
sondern der letzte Fluchtpunkt philosophischer Erkenntnis. 45 So ernsthaft und
ausschließlich war sich dem Thema Mensch vorher noch nie gewidmet worden. 46
Indem
die
Philosophische
Anthropologie
sich
gegen
die
fraktionierende
Betrachtungsweise (Plessner) der Menschen in Einzelwissenschaften wendete und die
Einheit des Menschen zurückgewinnen wollte, fiel sie hinter den historisierenden
Fortschritt der spezialisierenden Betrachtungsweise der Menschen des 19. Jahrhunderts
zurück.
Die Philosophische Anthropologie erlangte bis in die sechziger Jahre des 20.
Jahrhunderts
große
Bedeutung.
Eine
intensive Anthropologiekritik,
die
zur
Historisierung der Anthropologie führte, ließ aus einer philosophischen Anthropologie
die Historische Anthropologie entstehen.
Habermas gegen die Anthropologie
In seinem Lexikon-Artikel „Anthropologie“ für das Fischer-Lexikon Philosophie von
1958 wandte sich Jürgen Habermas mit einer grundsätzlichen Kritik gegen die
Philosophische Anthropologie. Ähnlich wie bspw. auch Horkheimer und Adorno
brachte Habermas nicht nur die geschichtliche Natur des Menschen gegen die
Philosophische Anthropologie in Stellung; zusätzlich spielte der Verweis auf die
Perspektive des anthropologischen Blicks die entscheidende Rolle. Nicht nur der
Gegenstand der Philosophischen Anthropologie ist geschichtlich, sondern auch die
Forschenden und ihre Methode sind in geschichtlichen Zusammenhängen geworden:
[Zitat Habermas]„Es sind immer gesellschaftlich bestimmte Erkenntnisinteressen, die –
bewusst oder auch nicht – den Blick auf den Menschen in eine spezifische Richtung
lenken.“47 Das bedeutet, dass sich „die Anthropologie grundsätzlich ihren Begriff vom
Menschen erläutern lassen [muss] durch den Begriff der Gesellschaft, in dem er entsteht
und nicht zufällig entsteht – nur so entgeht sie der Versuchung, geschichtlich
45 Arlt:2001 S. 1
46 Arlt:2001 S. 8
47 Jörke:2005 S. 51f
13
Gewordenes schlechthin als ‘Natur‘ auszugeben und als Norm zu suggerieren.“ 48
Habermas kritisierte schon den Ausgangspunkt der Philosophischen Anthropologie,
denn [Zitat Habermas]„ihr Gegenstand ist etwas, das nicht geradewegs zum Gegenstand
werden kann: das Wesen des Menschen.“49 Gleichzeitig sei die Frage nach dem Wesen
des Menschen paradigmatisch: [Zitat]„Über das, wie es sich mit ihm verhält, erfahren
wir ernsthaft nur in dem Maße, in dem wir wissen: wer er ist. Das Sein des Menschen
ist nicht abzutrennen von dem Sinn, zu dem er sich versteht, oder auch: zu dem er sich
objektiv zu verstehen hätte und den er subjektiv womöglich gar nicht trifft.“ 50 Die
geschichtliche Dimension sei dabei jedoch entscheidend: „Menschen verstehen sich je
in ihrer Gesellschaft und in ihrer geschichtlichen Lage auf eine andere Weise; und wenn
es so ist, dass sie in diesem Sinnverständnis ihr Wesen erst feststellen, dann hat der
Mensch viele Wesen; es sei denn, man sieht das Wesen des Menschen eben darin, dass
er mitwirken muss, es jeweils zu finden.“51
Wichtig sei, stets mitzureflektieren, dass „auch diejenigen, die Anthropologie treiben“
Menschen sind [Zitat Habermas]„und selber darauf angewiesen, sich in ihrem
Menschsein zu verstehen. Sie deuten das Wesen 'des' Menschen in dem Maße, in dem
sie ihr eigenes Wesen deuten. … Die Kategorien, unter denen sie die
'Menschenkenntnis' der Wissenschaften verarbeiten, sind gleichzeitig Kategorien, unter
denen sich auch die Gesellschaft, auch die geschichtliche Lage verstehen, der die
Betrachter selbst angehören.“52
Die Entstehung der Philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit
Scheler, Plessner und Gehlen, ordnete Habermas in die Wissenschaftsgeschichte ein:
[Zitat Habermas]„Der Gedankenkreis der philosophischen Anthropologie ist so alt wie
die Philosophie selber ...; aber die eigentümliche Stellung dieser Disziplin zwischen
Theorie und Empirie, abzulesen an ihrer Aufgabe, wissenschaftliche Resultate
philosophisch zu interpretieren, erlaubt eine genaue Datierung: erst mussten sich die
Wissenschaften vom Menschen von der biologischen Anthropologie bis zu Psychologie
und Soziologie, entwickelt haben, damit ein Bedürfnis nach theoretischer Deutung ihrer
48 Jürgen Habermas: „Anthropologie“ in: Alwin Diemer, Ivo Frenzel (Hg.): „Philosophie. Das Fischer
Lexikon“, Frankfurt/M.:1958, S. 18-35, S. 34f (im Folgenden Habermas:1958).
49 Habermas:1958 S. 18
50 Habermas:1958 S. 19
51 Habermas:1958 S. 19
52 Habermas:1958 S. 19
14
empirischen Ergebnisse auftrat.“53 Die Philosophische Anthropologie ist somit für
Habermas [Zitat]„eine Reaktion der Philosophie auf jene heraufgekommenen
Wissenschaften, die ihr den Gegenstand und Anspruch streitig machen.“ 54
Nachdem Herder konstatiert hatte, dass die Menschen als an Instinkten arme und
körperlich schlecht ausgestattete „Freigelassene der Natur“ sich selbst aus ihrer
naturgegebenen Freiheit schaffen, hatten Feuerbach, Marx und Kierkegaard zuerst die
Situationsbezogenheit der Menschen herausarbeiten und erkennen können, dass [Zitat]
„der Mensch die Welt des Menschen ist.“55 Marx hatte betont, dass die Menschen das
sind, [Zitat]„was sie geschichtlich aus sich machen“ und Hegel dafür gerühmt, dass er
[Zitat]„das Wesen der Arbeit erfasst und den wirklichen Menschen als das Resultat
seiner Arbeit begriffen“ hatte.56 Diese Denker hatten bereits lange vor der
Philosophischen Anthropologie
alle
ihre
wichtigen
Motive
vorgebildet: Die
Instinktschwäche und Unspezialisiertheit der Menschen, [Zitat]„die Nötigung zu
handeln, nämlich buchstäblich durch der Hände Arbeit sein Leben zu reproduzieren;
schließlich der geschichtliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit, in der die
menschliche Gattung sich nicht nur erhält, sondern fortlaufend selber erst herstellt: Der
Mensch erfindet den Menschen.“57
[Zitat]„Nichts ist durchsichtiger als der Zusammenhang zwischen dem heute führenden
Begriff des Menschen, als eines arbeitenden und handelnden, mit der Welt bürgerlicher
Arbeit: er entsteht über Herder und Hegel bei Marx mit dem Beginn der industriellen
Gesellschaft, und mit deren Entfaltung wird er zur Grundlage einer neuen Disziplin eben der philosophischen Anthropologie.“58
Dennoch werde in der Herangehensweise der Disziplin zu wenig beachtet, [Zitat]„dass
der Mensch von Haus aus nicht einfach ist, was er ist. Es gibt unter Menschen keine
Bewegung, kein Verhalten, genau genommen nicht einmal einen Ausdruck, der
‘natürlich' ist. Immer schießt in sein Gebaren etwas von dem ein, was der Mensch nicht
von Natur aus schon ist, wozu er sich selber vielmehr erst macht. Die ‘Natur' der
Menschen, das was als menschlich gilt, ist nicht einfach ‘gegeben' wie die Natur von
53
54
55
56
57
58
15
Habermas:1958 S. 20
Habermas:1958 S. 20
Habermas:1958 S. 21
Habermas:1958 S. 22
Habermas:1958 S. 22
Habermas:1958 S. 34
Dingen oder Lebewesen.“59
Die Geschichte und die Gesellschaft seien letztlich so wirkmächtig, dass sie das Projekt
der Philosophischen Anthropologie ad absurdum führen: [Zitat]„Damit hängt am Ende
die Schwierigkeit zusammen, die den Rahmen der Anthropologie sprengt: 'den'
Menschen gibt es sowenig wie 'die' Sprache. Weil Menschen sich erst zu dem machen,
was sie sind, und das, den Umständen nach, je auf eine andere Weise.“60 Die Sichtweise
auf den Menschen verändert sich mit der Gesellschaft: [Zitat]„Hier wird sie so gedeutet
und dort anders, je nach der geschichtlichen Lage und der gesellschaftlichen
Verfassung, in der die Menschen leben, nach der Art und Weise, in der sie ihr Leben
reproduzieren.“61 [In der antiken Sklavengesellschaft ging man davon aus, dass
bestimmte Menschen von Natur aus zum Sklaven und andere von Natur aus zu
Philosophen gemacht sind, in der Feudalgesellschaft hatte Gott die natürliche Ordnung
so geschaffen, dass welche zum Herrschen und welche zum Dienen geboren sind und in
der bürgerlichen Gesellschaft, die auf Eigentum und Vertragssicherheit beruht, sind die
Menschen auf einmal alle Freie und Gleiche von Natur.]
[Zitat]„Die Menschen leben und handeln nur in den konkreten Lebenswelten je ihrer
Gesellschaft, niemals in ‘der' Welt. ... : die Menschen können im Prinzip ihre
Lebenswelt überschreiten, sie können sie erweitern und in andere ‘Welten' übersetzen
(eine Fähigkeit, die erst mit dem Aufkommen der historischen Wissenschaften im 19.
Jh. systematisch ausgebildet wird);“62
Die Geschichte der Menschen ist für Habermas der Beweis dafür, dass sie keine davon
unabhängige Natur haben können: [Zitat]„... dass der Mensch Geschichte hat und
geschichtlich erst wird, was er >ist<. Eine beunruhigende Tatsache für eine
Anthropologie, die es mit der 'Natur' des Menschen, mit dem, was allen Menschen
jederzeit gemeinsam ist, zu tun hat. Lebten die Menschen wie Tiere in erbfest
montierten Umwelten, gäbe es keine Geschichte; lebten sie in ein und derselben Welt,
Engeln gleich, gäbe es wiederum keine Geschichte. In beiden Fällen wären
unveränderliche Strukturen festzustellen, ein Katalog anthropologischer Konstanten. So
aber verhält es sich nicht. Wenn Anthropologie trotzdem daran festhält, gewissermaßen
'ontologisch' zu verfahren, nämlich nur das Wiederkehrende, das Immergleiche, das
59
60
61
62
16
Habermas:1958 S. 30
Habermas:1958 S. 31
Habermas:1958 S. 31
Habermas:1958 S. 32
Zugrundeliegende an Mensch und Menschenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie
unkritisch und führt am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die
um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt.“ 63
Schluss
Der Nachweis des geschichtlichen Gewordenseins dieser Gesellschaft geht also mit dem
Nachweis der Geschichtlichkeit ihrer Mitglieder einher. Die Zurückweisung der
Anthropologie als abstrakte Wesensbestimmung des Menschen macht die Basis für
Erkenntnisse über Gesellschaft aus. Trotzdem auch heute noch Philosophische
Anthropologie betrieben wird, sind die ganz großen Zeiten der philosophischen
Wesensbestimmung des Menschen seit der intensiven Anthropologie-Kritik in der Folge
von Habermas vorbei. Im Alltagsdenken der Menschen spielt jedoch die Natur des
Menschen nach wie vor eine wichtige Rolle: neben der üblichen Naturalisierung
menschlichen Verhaltens im Kapitalismus haben auch genetische oder neurobiologische Erklärungsmuster Konjunktur. Zugleich stehen diese im Ruf, als
Naturwissenschaften – im Gegensatz zur unexakten Philosophie – glaubwürdiger zu
sein und definitivere Ergebnisse zu liefern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig
auch die Geschichtlichkeit der Wissenschaften zu beachten: „So glaubte man wohl nicht
zufällig gerade in den dreißiger Jahren, die Neandertaler seien einem Vernichtungskrieg
des Homo sapiens zum Opfer gefallen. In den siebziger Jahren hingegen herrschte die
Theorie vor, die Neandertaler seien in der Menschheit aufgegangen, weil beide Spezies
sich gepaart hätten, während man in den neunziger Jahren meist davon ausging, die
Neandertaler seien im Wettbewerb mit den Menschen unterlegen gewesen.“ 64 So wie die
Evolutionsbiologie hat auch die Hirnforschung eine Geschichte: „die neuen Deutungen
von Weiblichkeit, Kindheit oder Kriminalität wurden nicht zwischen den Neuronen
gefunden“, sondern sind „in dem, was der Forschungsgegenstand den Forschern von
63 Vgl. Habermas:1958 S. 32f
64 Jörn Schulz: „Frieden schaffen ohne Affen“, Jungle World Nr. 26, 1. Juli 2010, S. 5
17
ihrer eigenen Vergesellschaftung zurückspiegelt“65, zu suchen. Die Betrachtung der
Geschichtlichkeit des Gehirn als Forschungsgegenstand hilft, politische Implikationen
nachzuvollziehen: „Schon die unmittelbaren Vorgänger der modernen Hirnforschung
haben den Kopf betrachtet und dabei über den Geist sinniert. Seit Entstehung der
Schädellehre, die sich aus den Vermessungen des Kopfes Rückschlüsse auf den
Charakter oder das Talent erhoffte, hat sich an der Struktur der Theoreme nicht mehr
viel geändert.66 Moderne Bildgebungsverfahren wie Computertomographie und
Kernspintomographen machen es lediglich möglich, unter die Schädeldecke zu schauen.
67
Die Betrachtung ist deswegen dem Gegenstand „Geist“ nicht weniger äußerlich. „Im
18. Jahrhundert sind die Forscher auf der Suche nach den ursprünglichen Menschen und
ihrer Natur nach Papua-Neuguinea gereist. Seit auch den im nicht-westlichen
Kulturkreis lebenden Menschen eine Kultur zugestanden wurde, hatte man sich den
Affen und den Kindern zugewandt.68
Im Juli 2004 hielt der bekannte Hirnforscher Wolf Singer einen Vortrag zu Ehren der
CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, deren 50. Geburtstag gefeiert wurde. „Im
menschlichen Hirn“ sagte Singer „gibt es kein Zentrum, keinen Dirigenten, der für
Entscheidungen zuständig ist. Wenn der Mensch meint, er sei frei, dann irrt er, dann
sitzt er einer Illusion auf. Alles, was er denkt, fühlt, macht, nicht macht, wird gesteuert
von Neuronen. Sie schwirren durchs Hirn und machen, was sie wollen. Das Hirn ist
keine Werkstatt des Ichs, sondern ein physikochemisches Labor.“ 69 Daraus ließe sich
also schlussfolgern: „Der Mensch, die Krönung der Schöpfung, ein Büttel der
Neuronen. Man kann nichts für das, was passiert. Im Leben, in der Liebe, in der
Politik.“70
Die Hirnforschung will die großen Fragen der Menschheit beantworten, mit denen sich
die Philosophen seit Jahrtausenden herumschlagen. In „Das Manifest. Elf führende
Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ kommen die
Autoren im Jahr 2004 zu dem Schluss, dass „die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem
Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer
65 Christine Zunke: „Zurück zum Gefühl. Über die galoppierende Gegenaufklärung in den
Neurowissenschaften“ in: Jungle World 30/2010, S. 19 (im folgenden Zunke:2010).
66 Zunke:2010 S. 19
67 Zunke:2010 S. 19
68 Zunke:2010 S. 20
69 Matthias Geyer: „Merkels Hirn“ in „Der Spiegel“, 31/2004
70 Matthias Geyer: „Merkels Hirn“ in „Der Spiegel“, 31/2004
18
Veränderung unseres Menschenbilds führen“71 werden. Hirnforscher vermitteln den
Eindruck, den Menschen endlich alles über ihr Denken, Fühlen und Handeln erklären
und in der Elektrochemie begründen zu können.
Das Alltagsdenken der Menschen – für jede Biologisierung gesellschaftlicher
Phänomene aufgeschlossen – erkennt im Gehirn immer mehr den Charakter und die
Persönlichkeit der Menschen.72 Die Gesellschaft wird also zu einer Ansammlung von
Gehirnen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die politische Dimension der
Neurophysiologie.73 Denn wird das Gehirn zum Forschungsgegenstand, sind die
Schlussfolgerungen auf die gesellschaftliche Dimension nicht weit. Das menschliche
Handeln wird zum bloßen Verhalten – die frei handelnde Person geht verloren, das
Subjekt ist nur noch Wirkung des neuronalen Substrats.74 Die Autonomie der Menschen
existiert in dieser Wahrnehmung weder individuell noch gesellschaftlich – ihr Handeln
ist bloß Wirkung eines natürlichen Organs, auf das sie keinen Einfluss haben: „Denn
wenn unsere Handlungen nicht selbstbestimmt aus Gründen erfolgen können, sondern
aus natürlichen Ursachen in unserem Gehirn resultieren, dann ist alles Gesellschaftliche
die Wirkung einer Naturursache und damit nicht von uns gemacht, sondern uns
vorgegeben. Hierin steht die Hirnforschung der Sache nach ... in der reaktionären
Tradition, der Natur anzulasten, was den Menschen von Politik und Ökonomie angetan
wird.“75 Auch die Ergebnisse der Hirnforschung münden in politischer Lethargie,
Veränderung wird unmöglich und unnötig: „Das Interessante an dieser Konstruktion ist,
dass sich hierdurch an der Verfasstheit unserer Gesellschaft ihrer Erscheinungsform
nach gar nichts grundlegend ändern sollte, müsste oder auch nur könnte.“ 76 Das Resultat
ist die Naturalisierung der Menschen auf allen Ebenen: „Der Mensch wird so in all
seinen Eigenschaften, seinem moralischen Empfinden und seinen Wertvorstellungen
biologisiert. Werte und Normen erscheinen nicht als Ausdruck spezifischer
Gesellschaftlichkeit, sondern als natürliche Gefühle.“ 77
Der Grund warum die Forschungsergebnisse der Hirnforscher auf so fruchtbaren Boden
fallen, ist darin zu suchen, dass die Menschen ihre Alltagserfahrungen bestätigt sehen:
71
72
73
74
75
76
77
19
GerhardRoth, Wolf Singer ua.: „Das Manifest“, Gehirn&Geist 6/2004
Zunke:2010 S. 19
Zunke:2010 S. 19
Zunke:2010 S. 19
Zunke:2010 S. 19
Zunke:2010 S. 20
Zunke:2010 S. 20
Die Hirnforschung erklärt die Willensfreiheit zum Schein in einer Gesellschaft, die
tatsächlich kaum Freiheit lässt, sie zu gestalten – unter den herrschenden Bedingungen,
die die kapitalistische Produktionsweise als unantastbar setzten. Die Menschen finden
also naturwissenschaftlich begründet, was sie „bezogen auf die heutigen Verhältnisse,
unter denen die Notwendigkeit der Verwertung des Wertes Sachzwänge erzeugt, die
systemimmanent tatsächlich zwingend und unaufhebbar sind“78 erleben. Herrschaft im
Kapitalismus ist apersonal, die ökonomischen Gesetze, welche die Gesellschaft
konstituieren „entspringen dem Mechanismus der blinden Verwertung des Wertes und
sind nicht von Subjekten gezielt geplant und durchgesetzt worden. Der dieser
Herrschaftsform adäquate ideologische Kitt ist die Naturalisierung – die ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten und die durch sie erzwungenen Subjektzurichtungen werden als
Naturgesetze und damit als außerhalb der Kritik stehend anerkannt.“ 79
78 Zunke:2010 S. 20
79 Zunke:2010 S. 20
20
Herunterladen