Schlussbericht CHAT-Studien 2008-2011

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Schutzstrategien, Risikoverhalten und Umstände der
Infektion aus der Sicht von kürzlich mit HIV infizierten
Personen aus der Schweiz (CHAT)
Schlussbericht zum Zyklus der CHAT-Studien 2008 bis 2011
Daniel Gredig, Daniel Goldberg, Christoph Imhof, Sibylle Nideröst
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
Institut Integration und Partizipation
Riggenbachstrasse 16
4600 Olten
im Auftrag der
Sektion Aids, Bundesamt für Gesundheit, 3003 Bern
Olten, 30. November 2011
Inhaltsverzeichnis
1.
Ausgangslage .......................................................................................................... 4
1.1
Zielsetzung und Fragestellung der CHAT-Studien 2008-2010 ......................................... 12
1.2
Begriffsklärung ................................................................................................................... 12
2.
Methode ...................................................................................................................14
2.1
Datenerhebung .................................................................................................................. 14
2.2
Datenauswertung ............................................................................................................... 15
2.3
Rekrutierung ....................................................................................................................... 15
3.
Ergebnisse ..............................................................................................................17
3.1
Beschreibung der Stichprobe............................................................................................. 17
3.2
Die Ansteckungssituation ................................................................................................... 20
3.2.1
Zur Schwierigkeit, Ansteckungssituationen zu identifizieren............................................. 20
3.2.2
Identifizierte Ansteckungssituationen ................................................................................ 22
3.2.3
Settings, Partner und Praktiken ......................................................................................... 23
3.3
HIV-Schutzstrategien ......................................................................................................... 28
3.3.1
Personen mit expliziter Schutzstrategie ............................................................................ 29
3.3.2
Personen ohne explizite Schutzstrategie .......................................................................... 39
3.4
Zusammenhang HIV-Schutzstrategie und Risikoverhalten in der Ansteckungssituation . 44
3.5
Wahrnehmung der Präventionsarbeit durch die Befragten ............................................... 50
4.
4.1
Bewältigung der HIV-Diagnose ..............................................................................53
Bewältigungshandeln und Stress: Begriffliche Klärungen ................................................. 53
4.2
Der Forschungsstand ......................................................................................................... 54
4.3
Diagnose und Bewältigungshandeln bei frisch HIV-infizierten Personen in der Schweiz. 55
4.4
Einflüsse auf die Bewältigung ............................................................................................ 57
4.4.1
Formelle Hilfesysteme ....................................................................................................... 57
4.4.2
Informelle Hilfesysteme...................................................................................................... 58
4.4.3
Allgemein positive Einstellung zum Leben ........................................................................ 60
4.4.4
Weitere Faktoren mit Einfluss auf die Bewältigung ........................................................... 60
4.4.5
Offenlegung als Faktor der Bewältigung ........................................................................... 61
4.5
Bewältigungsstrategien ...................................................................................................... 61
4.5.1
Aktive Bewältigungsstrategien ........................................................................................... 61
4.5.2
Normalisierende Bewältigungsstrategien .......................................................................... 65
4.5.3
Rückzugsorientierte Bewältigungsstrategien .................................................................... 67
5.
5.1
Sexuelle Gesundheit von Menschen mit einer frischen HIV-Infektion ................69
Veränderungen im Sexualverhalten .................................................................................. 69
5.2
Beurteilung der sexuellen Gesundheit und der Veränderungen im Sexualverhalten seit
HIV-Diagnose ..................................................................................................................... 72
6.
Zusammenfassung und Diskussion ......................................................................76
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7.
Literatur ...................................................................................................................87
Dank
Wir danken den Befragten für ihre Bereitschaft, an der Untersuchung mitzuwirken und uns ihre
Angaben zur Verfügung zu stellen. Genauso bedanken wir uns bei ihren Ärztinnen und Ärzten,
die die Betroffenen auf die Untersuchung ansprachen und zur Teilnahme motivierten. Unser besonderer Dank gilt den Bestätigungslabors der Schweiz, ohne deren tatkräftige Unterstützung die
Untersuchung in der vorliegenden Form nicht hätte durchgeführt werden können.
Zudem danken die Autorinnen und Autoren auch ihren Kolleginnen und Kollegen, die in unterschiedlichen Rollen zu dieser Untersuchung beigetragen haben. Wir danken Andreas Pfister und
Eveline Odermatt für die Mitarbeit in der ersten Projektphase und Flavia Juri wie auch Claudia
Ballerini für die Führung und Transkription von Interviews in Französisch und/oder Italienisch sowie Aurel Maurer für die Transkription von französischsprachigen Interviews.
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1.
Ausgangslage
Nach einer Phase der Abnahme der Anzahl neu diagnostizierter HIV-Infektionen in der Schweiz
war 2001 ein Wiederanstieg der Zahl neu entdeckter Infektionen zu verzeichnen, die sich bis
2008 in einem Bereich zwischen rund 720 und 800 Fällen pro Jahr bewegten. Erst 2009 sank die
Zahl neu diagnostizierter HIV-Infektionen wahrnehmbar unter dieses Plateau auf konkret 647 Fälle im Jahr 2009 und 609 im Jahr 2010. Für das Jahr 2011 schliesst das Bundesamt für Gesundheit auf Grund der Datenlage im ersten Quartal einen weiteren Rückgang nicht aus (Bundesamt
für Gesundheit, 2011a).
Von einem bedeutenden Anteil der Infektionen, die in den vergangenen drei Jahren neu diagnostiziert wurden, wird angenommen, dass sie sich nicht länger als rund 365 (geschätzter Durchschnitt: 160) Tage vor ihrer Entdeckung ereignet hat, es sich also um frische Infektionen („recent
infections“) handelt.1 Unter den Personen, die sich auf heterosexuellem Übertragungsweg infiziert
haben, findet sich in den vergangenen drei Jahren jeweils ein Anteil von 20.6% (2008), 20.8%
(2009) bzw. 13.2% (2010) mit einer frischen Infektion. Unter den Drogen injizierenden Betroffenen waren dies im selben Zeitraum 14.8% (2009), 23.2% (2009) bzw. 16.6% (2010). Unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), lag der Anteil mit frischer Infektion in diesem Zeitraum
bei 47% (2008), 41.9% (2009) bzw. 37.1% (2010) (Bundesamt für Gesundheit, 2011a).
Diese frischen HIV-Infektionen machen deutlich, dass aktuell Übertragungen von HIV weiter stattfinden, und zeugen davon, dass die Epidemie bislang nicht gestoppt werden konnte (Bundesamt
für Gesundheit, 2008a). Dies scheint insbesondere auf die Situation von Männern zuzutreffen,
die Sex mit Männern haben (MSM). Trotz einer Abnahme im vergangenen Jahr muss davon ausgegangen werden, dass immer noch jede dritte Infektion in dieser Gruppe ganz aktuell erfolgt ist.
In anderer Betrachtung lassen diese Fakten aber auch deutlich werden, dass es gelingt, einen
(hier allerdings nicht näher bezifferbaren) Teil der neu erfolgten Infektionen noch innerhalb von
160 Tagen zu ermitteln und damit zu einem Zeitpunkt zu erkennen, der für die Betroffenen hinsichtlich ihrer Behandlungschancen vorteilhaft ist (Mounier-Jack, Adler, de Sa, & Coker, 2007),
der Prävention im Sinne von "positive prevention" besondere Chancen einräumt und aus der
Perspektive von Public Health letztlich positiv zu bewerten ist. Hierzu dürfte die verstärkte Thematisierung und Promotion von freiwilliger HIV-Beratung und -Testung ("voluntary counseling and
testing", VCT) unter Einsatz des Schnelltests in den letzten Jahren (Bundesamt für Gesundheit,
2007) wie auch der Ausbau von gezielten Angeboten für einzelne Zielgruppen der Prävention
beigetragen haben, wie z.B. die Einrichtung der "Checkpoints" in Genf und Zürich für MSM
(Dialogay, 2011; Zürcher Aids-Hilfe, 2008).
Der bedeutende Anteil frischer Infektionen stellt die HIV-Prävention vor die Herausforderung, Mittel und Wege zu finden, die erlauben, das Fortschreiten der Epidemie weiter einzudämmen. Die
präventionsorientierte sozialwissenschaftliche HIV-Forschung sieht sich dazu herausgefordert,
Erklärungs- und Interventionswissen zu generieren, auf der eine forschungsbasierte (research
informed) Präventionspraxis in ihrer Weiterentwicklung aufbauen kann.
So ist es für die Praxis wie auch die Wissenschaft von Interesse, die näheren Umstände der frischen Infektionen in Erfahrung zu bringen. Es interessiert, bei welchen Gelegenheiten, in welchen Kontexten, und im Rahmen welcher Dynamiken sexuell aktive Menschen heute Risikosituationen eingehen, welches Repertoire von HIV-Schutzstrategien sie einsetzen, von welcher
1
Das Bundesamt für Gesundheit stellt bei der Bestimmung des Anteils frischer Infektionen zum einen auf klinische Befunde
(die von den diagnostizierenden Ärztinnen und Ärzten im Rahmen der Ergänzungsmeldungen abgegeben werden) und zum
anderen auf die Befunde der Bestätigungslabors ab. Gemäss dem schweizerischen HIV-Testkonzept setzen die Bestätigungslabors den INNO-LIA HIV I/II Score assay als Bestätigungstest ein (Bundesamt für Gesundheit, 2006). Aus dem Reaktionsmuster der Antikörper in diesem Test können die Bestätigungslabors auch Informationen zum Alter der Infektion gewinnen
(Schüpbach et al., 2007).
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Rationalität ihre Schutzstrategien wie auch das HIV-Schutz- und Risikoverhalten getragen werden und wie sie sich konkret mit HIV infizieren.
In der wissenschaftlichen Diskussion leisten Erkenntnisse hierzu einen Beitrag zur Antwort auf
die Elford und Hart (Elford & Hart, 2003) nachempfundene, paradox anmutenden Frage, weshalb
sich denn angesichts wirksamer (verhaltensbezogener) Präventionsangebote (Coates, Richter, &
Caceres, 2008) sexuell aktive Menschen, insbesondere MSM, weiterhin und z.T. sogar vermehrt
mit HIV infizieren. Indem sie auf Kontexte, Handlungspläne (Schutzstrategien) und konkretes
HIV-Schutz- und Risikoverhalten als kontextualisierte Handlungsweisen eingehen, versprechen
sie, einen Einblick in die Komplexität von HIV-Schutz- und Risikoverhalten. Forschung hierzu
weist einen Weg über die Limitationen von Erklärungsmodellen hinaus, die ausschliesslich linear
angeordnete sozial-kognitive Faktoren in den Blick fassen oder auf Annahmen von rationalchoice basieren, und eröffnen – wie von Gastaldo et al. (2009) gefordert – Einsichten in die Rationalitäten der Handelnden.2
Für die Prävention stellen solche Einsichten eine Ressource für die regelmässig erfolgende kritische Sichtung der Prävention in der Schweiz auf unterschiedlichen Ebenen dar:
Auf der Ebene der direkten Praxis stellen die Erkenntnisse zu frischen Infektionen einen
Bestandteil der Wissensgrundlage dar, vor deren Hintergrund das Präventionsangebot, das in
der Schweiz heute von verschiedenen Organisationen erbracht wird, kritisch darauf hin betrachtet
werden kann, inwiefern es der heutigen Realität der Epidemie angemessen ist. Die Erkenntnisse
können dazu herangezogen werden, die Angebote der Prävention auf die entscheidenden Kontexte, Rationalitäten, Handlungsformen und Dynamiken ihrer Zielgruppen hin abzustimmen. Sie
vermitteln mithin Impulse für die konkrete Weiterentwicklung von Angeboten hinsichtlich der Ausgangslage, der unterlegten Wirkungsannahmen und -pfade, der Zielvariablen der Intervention,
der Wahl und des Arrangements von (unterschiedlichen) Settings und den Einsatz von Verfahren
und tragen damit zu einer forschungsbasierten Interventionsentwicklung bei (Gredig, 2011).
Auf strategischer Ebene bieten die Erkenntnisse zu den aktuellen Umständen von HIVInfektionen – angesichts abnehmender Ressourcen – Ausgangspunkte für die Überprüfung der
übergeordneten Präventionsstrategie des Bundes wie auch der nichtstaatlichen Fachorganisationen, der Fokussierung auf (besonders) vulnerable (Sub-)Gruppen sowie der Allokation von Mitteln. Sie bieten aber auch Grundlage für die Reflexion, darauf, wie Entwicklungen medizinischer,
aber auch sozialer Natur, die Prävention nicht nur mit veränderten Ausgangslagen konfrontiert,
sondern auch mit Diskursen, welche die Prävention z.T. in mehrdeutige, widersprüchliche, aporetische Situationen verstricken.
Die Umstände von frischen HIV-Infektionen, um bei dieser umgangssprachlichen Umschreibung
des Gegenstands dieses Forschungsvorhabens zu bleiben, sind bisher nur vereinzelt zum Gegenstand von Studien geworden.
Eine früheste und inzwischen traditionsreichste einschlägige Untersuchung ist die australische
"Seroconversion Study", die in mehreren Auflagen von 1993 bis 1999, 2003 bis 2006 und
schliesslich von 2007 bis 2010 durchgeführt wurde. In allen drei Auflagen fasste sie die Umstände einer kürzlich erfolgten HIV-Infektion bei HIV-positiven Personen aus unterschiedlichen
Grossstädten Australiens ins Auge. Die unterschiedlichen Auflagen der Studie versuchten stets
an Personen mit frischen Infektionen heranzukommen3, wählten aber aus forschungspraktischen
2
Vorschläge, die hier kritisierte Engführung sozial-kognitiver Modelle zu überwinden, haben Forschende aus diesem Forschungsteam an anderer Stelle bereits eingebracht und die Bedeutung soziokultureller Faktoren (Gredig, Nideröst, & ParpanBlaser, 2007), der Rahmung der Interaktionssituation (Pfister, Parpan-Blaser, Nideröst, & Gredig, 2008) wie auch z.B. der Ressourcenausstattung der Akteure (Nideröst et al., 2011) aufgezeigt.
3
Garrett Prestage führt hierzu in persönlicher Kommunikation (Mail vom 25.8.2011) aus: ."Our preference is to enrol actual
recent infections, but because most people are enrolled into the study online - and usually by self-referral - we have opted not to
confuse them too much with strict definitions. Instead we ask specific questions that allow us to get an approximate idea of
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Überlegungen Einschlusskriterien4, die Personen mit älterer Infektion nicht ausschlossen. Der
jüngste Bericht (Down et al., 2010) umreist die Ansteckungssituation in einem Zeitraum, der mit
der neusten Ausgabe von CHAT quasi übereinstimmt. Der aktuelle Bericht fusst auf der standardisierten Befragung von 247 Männern und qualitativen Interviews, die mit 36 Männern (15%) aus
dieser Gruppe vertiefend geführt wurden. Von den 247 Befragten konnten 83% eine Risikosituation beschreiben, von der sie annahmen, dass es sich dabei um die Ansteckungssituation handelte. Knapp die Hälfte davon gab an, dass sie mehrere Risikokontakte hatten, identifizierten
aber einen Kontakt als den für die Infektion entscheidenden. 64% gaben an, sich beim Sex mit
einem Gelegenheitspartner infiziert zu haben; 20% beim Sex mit einem Partner, den sie mehrmals/regelmässig zum Sex trafen, und 12% gaben an, sich beim Sex mit dem festen Partner infiziert zu haben. Die Mehrheit der Infektionen hat sich beim Sex zu Hause ereignet (49%). Die an
der Risikosituation beteiligten Partner hatten sie in 43% der Fälle übers Internet kennen gelernt,
in 46% in Lokalen, in denen auch Sex vor Ort möglich ist (Sauna, Sex club, Sex party, Gaybar/club). Alle der befragten MSM identifizierten einen Kontakt mit Analverkehr. Dabei hatten
rund 51% ungeschützten rezeptiven Analverkehr, wobei es bei rund 41% der Partner in ihnen
ejakulierte, während rund 51% "Dipping" machten. 34% berichteten von ungeschütztem insertivem Analverkehr. Rund 17% gaben an, dass der Partner beim Oralsex in ihren Mund ejakuliert
habe. In 41% der Fälle erfolgte die Ansteckung im Rahmen von Gruppensex.
In der Ansteckungssituation hatten die Befragten oft Sex mit dem Konsum von Alkohol und Drogen verbunden. 34% der Befragten gaben an, Alkohol getrunken zu haben (58% mehr als 5
Drinks). 38% konsumierten erektionssteigernde Medikamente oder Drogen wie Marihuana, Kokain, Amylnitrat oder synthetische Drogen wie Crystal methamphetamine, Ecstasy etc. Die Befragten gaben an, die Drogen erlaubten ihnen, ihre sexuelle Lust zu steigern, sich zu enthemmen und
bisherige Grenzen zu überschreiten und neue sexuelle Erfahrungen zu machen.
Der ungeschützte Risikokontakt stellte aus der Perspektive der Betroffenen eine aussergewöhnliche Abweichung von der ansonsten verfolgten Safe-Sex-Strategie, einen Lapsus dar. Sie zeigen
auf, wie es zum Verzicht auf Schutz kam. Die Autoren gruppieren sie zu drei Kontexten:
1. Die "Hitze des Moments": Einige Befragte sind von ihrer Erregung mitgerissen worden.
Einige waren sich bewusst, dass sie sich nun nicht schützten, wollten aber die Stimmung
in der Situation erhalten und hofften, die Ausnahme bliebe ohne Folgen. Manchmal war
auch die Kommunikation nicht klar genug.
2. Risikoeinschätzungen zugunsten der Lust: Einige MSM zeigen auf, wie sich im Laufe ihrer Biografie ihre Risikobereitschaft erhöht habe, sie zum Teil auch mehr Selbstvertrauen
hatten oder die Risikoeinschätzung mit der Einsicht relativierten, dass die meisten Dinge
des Lebens stets ein Risiko beinhalten würden. Einige gingen das Risiko auf der Basis
von bewusst angestellten Kalkulationen ein, in denen sie das angenommene Risiko der
erwarteten Lust gegenüberstellten.
3. Nähe und Vertrauen: MSM gingen den Risikokontakt vom Wunsch nach Nähe, Intimität
und Verbundenheit getragen ein. Emotionen beeinflussten die Situationswahrnehmung
oder die MSM wollten die Beziehung zu ihrem Partner auf ein anderes Niveau bringen
und nahmen an, der Partner würde ihr künftiger fester Partner. Einige fühlten sich mit
dem Partner vertraut und dachten, sie kannten ihn und könnten ihm vertrauen.
Zur Einschätzung des Serostatus ihres Partners hatten sich die Männer auf die Auskünfte der
Partner, auf ihre Einschätzung des Erscheinungsbildes der Betreffenden oder die Vorstellung
whether they are recent infections, not-so-recent, or late presenters. It's enough - we prefer this lack of precision because it
means that it's easier to enrol people and it actually is unlikely to make a huge difference even if we end up including some who
are not actually recent infections".
4
Die ersten zwei Wellen bezogen nur MSM aus Sydney bzw./und Melbourne ein, die sich im Zeitraum von 12 Monaten vor der
Befragung infiziert hatten. Die jüngeren, z.T. noch laufenden Auflagen der "Seroconversion Study" untersuch(t)en Personen,
deren Diagnose bei Befragung nicht länger als 2 Jahre zurück lag.
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verlassen, dass HIV-positive Partner die Verantwortung dafür hätten, ihre Partner zu schützen.
Rund 10% der MSM gaben an, sich beim Sex mit einem festen Partner infiziert zu haben, von
dem sie wussten, dass er HIV-positiv war.
Der Besuch von Szenelokalen mit Möglichkeiten zum Sex vor Ort, die als hoch eingeschätzte sexuelle Aktivität und die Berichte von Gruppensex stützen wohl die Schlussfolgerung, dass es sich
bei einem Teil der untersuchten MSM um sexuelle Abenteurer handle (Down, et al., 2010).
Volk et al. (Volk et al., 2006) befragten im Zeitraum von 2003 und 2004, 103 MSM mit frischer
Infektion aus Sydney und Melbourne mittels Fragebogen zur Situation, in der sie sich vermutlich
angesteckt haben. 92% der befragten Männer identifizierten eine Risikosituation, von der sie annahmen, dass sie die Ansteckungssituation darstellte. 70% hatten in dieser Situation ungeschützten rezeptiven oder insertiven Analverkehr bzw. beides. 16% gaben hingegen an, in den sechs
vorangehenden Monaten keinen ungeschützten Analverkehr gehabt zu haben. Dabei zeigte sich,
dass sich die MSM beim Analverkehr weniger schützten, wenn sie davon ausgingen, ihr Partner
sei HIV-negativ. 62% gaben an, in der Ansteckungssituation unter dem Einfluss von Alkohol oder
stimmungsverändernden Substanzen (recreational drugs) gestanden zu haben (Volk, et al.,
2006).
An einer (wohl verwandten) Stichprobe von 158 MSM aus Sidney und Melbourne, deren HIVInfektion zwischen 2003 und 2006 im Stadium der Primoinfektion diagnostiziert wurde, zeigten
Jin et al. auf, dass die Mehrheit der Befragten in der Lage war, rückblickend eine (91%) oder
mehrere (52%) Risikosituationen zu identifizieren. Bei 71% der Männer ergab sich das Risiko
auch aus ungeschütztem Analverkehr. Von diesen 102 Männern gingen 30 davon aus, sich beim
Sex mit ihrem ständigen Partner infiziert zu haben; 63% nahmen an, dass sie sich beim Sex mit
einem Gelegenheitspartner ansteckten. Im Weiteren konzentrieren sich Jin. et al. auf die Anwendung der Risikoreduktionsstrategien "Serosorting", "Strategic Positioning" und dem Vertrauen,
Partner mit supprimierter Virenlast seien nicht infektiös.5 Sie rekonstruieren, dass sich 39 Männer
auf eine dieser Strategien verlassen haben und insgesamt 40 der genannten Risikosituationen
(38%) mit diesen Risikoreduktionsstrategien in Verbindung standen. Sie kommentieren dies mit
dem Hinweis, dass einige dieser Risikoreduktionsstrategien auf Bevölkerungsebene betrachtet
effektiv sein mögen, auf Ebene des Individuums aber als Strategie zur Verhinderung einer HIVInfektion zu versagen scheinen (Jin et al., 2007).
Interessant ist auch Michael Bochows qualitative Untersuchung zu Umständen von gegenwärtigen Infektionen. An einem Sample von 30 MSM mit einer primären HIV-Infektion aus Berlin rekonstruiert er von Juni 2006 bis Mai 2007 die Umstände, unter denen es zu ihrer frischen Infektion kam. Seine Fallrekonstruktionen umfassen eine Skizze der sexuellen Biografie der Befragten,
beschreiben den Kontext der Infektion und den sexuellen Lebensstil zu jener Zeit und betrachten
die Verarbeitung des Testergebnisses. Zunächst zeigt sich auch hier, dass die Mehrzahl der Befragten die Situationen, in denen sie sich ihrer Einschätzung nach infiziert haben, "relativ klar"
umreissen und eine bestimmte Situation nennen können (Bochow, 2011, p. 251). Demnach erfolgte die HIV-Infektion vor allem bei ungeschütztem Analverkehr. Zusätzlich wurde die Infektion
auf oralem Weg genannt. Einige der Befragten können den Kontext der Infektion nicht benennen.
Er verdichtet die Rekonstruktionen von Risikoverhalten und sexuellem Lebensstil indem er die 30
Fälle letztlich entlang der Frequenz von Risikoverhalten gruppiert: Männer mit häufigen Risikokontakten (habitualisiertes Eingehen ungeschützter Kontakte) in den Jahren vor ihrer Infektion;
Männer mit mehreren Risikokontakten in einer bestimmten Phase ihres Lebens; Männer mit singulären Risikokontakten und Männer ohne selbst wahrgenommene anal-genitale Risikokontakte.
5
In der Regel wird so genanntes "dipping", ungeschützter Analverkehr ohne Ejakulation im Rektum, als dritte Risikoreduktionsstrategie genannt. Dieses greifen Jin et al. (2007) nicht auf.
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Getrennt davon behandelt er Männer, die sich in festen Beziehungen infizierten (Bochow, 2011).
Dabei betont er, dass bei keinem der Befragten von bewusst praktiziertem "Barebacking" ausgegangen werden dürfe, da selbst die intentional ungeschützten Kontakte unabhängig von einem
"'Barebacking-Hintergrund' (im Sinne eines institutionalisierten Settings)" (Bochow, 2011, p. 250)
eingegangen worden seien. Als Gründe und Konstellationen, die zu ungeschütztem Sex führten,
arbeitet er heraus: Der Wunsch nach uneingeschränkter Nähe, die besondere Attraktivität des
Partner oder der Wunsch, ein Gelegenheitspartner würde zu einem festen Partner. Weitere Kontexte sind stärker situativer Art, so z.B. der Konsum von Alkohol und Drogen wie auch die Dynamik von Sex in einer Gruppe in einem sexualisierten Raum, wie er in Lokalen der Schwulenszene
und an Sexparties gegeben ist. Insbesondere die Praxis von häufigem, habitualisiertem Risikoverhalten situiert sich im Kontext von Problemen, die sich mit dem Kondomgebrauch verbinden
(wie z.B. Erektionsproblemen), aber auch im Kontext der Erfahrung, dass der bislang ungeschützte Sex keine negativen Folgen hatte. Bochow rekonstruiert weiter, dass Männer mit häufigen Risikokontakten auch jenseits von Sex und Drogenkonsum einen risikofreudigeren Lebensstil zeigten (der sich vor allem in grossen "Schwulenmetropolen" und anderen "Grossstädten" (p.
257) entwickelt habe), stärker in "schwule Lebenswelten" (p. 255) eingebunden sind, häufiger
Treffpunkte mit der Möglichkeit für Sex vor Ort aufsuchen, grössere Netzwerke mit schwulen
Männern pflegten und engen Kontakt zu HIV-positiven Männern hätten, wobei letzteres zur Erfahrung führt, dass die Lebensqualität ihrer HIV-positiven Freunde und Bekannten gut ist
(Bochow, 2011, pp. 252-256).
Auch wenn sich ihre Ergebnisse nicht unmittelbar auf die hier aufgeworfene Frage nach den Umständen gegenwärtig erfolgter Infektionen beziehen lässt, lohnt sich der Blick auf zwei Untersuchungen, die zumindest Personen mit frischer Infektion mit einschlossen.
Auch Flores et al. (2011) wandten sich in ihrer Untersuchung den Umständen einer HIV-Infektion
zu. Allerdings befragten sie nicht Männer mit frischer Infektion, sondern junge afro- und hispanoamerikanische MSM im Alter zwischen 18 und 24 Jahren, die ihre Diagnose im Laufe eines Jahres vor der Befragung erhalten hatten (also auch hier: neu diagnostizierte Infektionen und nicht
unbedingt frische Infektionen). Wenn sich also auch diese Studie nicht unmittelbar auf die hier
aufgeworfene Frage nach den Umständen gegenwärtiger Infektionen beziehen lässt, vermag sie
zumindest nochmals zu belegen, dass Betroffene in der Lage sind, aufzuzeigen, welchen Risiken
sie sich nach eigener Einschätzung ausgesetzt haben. Keiner der Befragten schützte sich beim
Analverkehr konsequent. Im Zusammenhang mit dem eingegangenen Risiko eröffnen sich vier
Themenkreise. Das inkonsequente HIV-Schutzverhalten verband sich erstens mit einer geringen
Risikowahrnehmung: Die Befragten nahmen kein Risiko wahr oder gingen davon aus, ihnen würde schon nichts geschehen und sie würden von dieser Infektion verschont bleiben. Andere gingen davon aus, in einem Paar sei ungeschützter Sex ein Zeichen von Vertrauen. Schliesslich
ergaben sich auch Phasen mit Sex ohne HIV-Schutz in Reaktion auf die Beendigung einer längerfristigen Beziehung und der daran anschliessenden "wilden Zeit". Zweitens zeigte sich ein
Mangel an angemessenen sexualpädagogischen Angeboten: Die Befragten jungen MSM erhielten keine sexualpädagogischen Angebote, die auf die Fragen, die sich ihnen als (sich entwickelnde) MSM stellten, eingingen und für sie anschlussfähig waren. Die (offensichtlich heteronormativen) Inhalte der Sexualerziehung erwiesen sich für sie nicht als relevant. Informationen
zum Sex unter Männern erhielten sie aus anderen Quellen und diese zeigten kein HIVSchutzverhalten auf. Hierbei spielte, drittens, das Internet eine wichtige Rolle. Das Internet erwies
sich als "de facto Manual" für Sex unter Männern, in dem Risikoverhalten normalisiert werde und
als Skript das spätere Verhalten der MSM präge. Und viertens, wird auf den Mangel an schwulen
Rollenmodellen verwiesen, mit denen junge MSM sprechen und sich identifizieren könnten, was
ihnen erschwere, einen verantwortlichen Umgang mit ihrer Sexualität zu finden. Angesichts des
grossen Anteils von Befragten mit Erfahrungen sexueller Ausbeutung als Kind oder Jugendlicher
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unterstreichen die Autoren zudem die Bedeutung dieser Erfahrungen für das spätere Schutzverhalten (Flores, et al., 2011).
Dieser Blick auf die Forschungslage zeigt, dass die bestehenden Erkenntnisse zu den Umständen aktueller HIV-Infektionen mit einem gewissen Abstand zu heute, in anderen sozio-kulturellen
Kontexten und auch vor einer anderen Kulisse der HIV-Prävention als jene der Schweiz gewonnen wurden. Davon kann nicht unvermittelt auf die Begebenheiten in der Schweiz gefolgert werden. Die Umstände zu kennen, unter denen HIV-Infektionen in der Schweiz aktuell erfolgen,
macht deshalb eine Untersuchung zur Schweiz notwendig.
Mit der Einführung der antiretroviralen Therapie (ART) 1995/1996 hat sich die gesundheitliche
Lage vieler HIV-positiven Personen deutlich verbessert (Aalen, Farewell, de Angelis, Day, & Gill,
1999; Gebhardt, Rickenbach, & Egger, 1998). Dies verdeutlicht sich u.a. im Anstieg der Lebenserwartung und im markanten und anhaltenden Rückgang der Todesfälle ab 1995 (Bundesamt für
Gesundheit, 2005, 2008b). Vor diesem Hintergrund ist von einem wachsenden Anteil von HIVpositiven Personen an der Schweizer Bevölkerung auszugehen. Aktuelle Schätzungen gehen
davon aus, dass zur Zeit zwischen 19'000 und 26'000 Personen mit dem HI-Virus in der Schweiz
leben (Bundesamt für Gesundheit, 2011b).
Angesichts der verlängerten Lebensdauer der Betroffenen, der verbesserten Lebensqualität und
der damit wachsenden Zahl von Personen, die mit HIV leben und sexuell aktiv sind, gewinnt die
Prävention bei dieser Population zunehmend an Bedeutung: Zum einen sollen sexuell aktive HIVpositive Personen dazu befähigt werden, sich selbst vor Infektionen mit sexuell übertragbaren
Krankheiten zu schützen, mit HI-Viren eines anderen Typs oder auch mit therapieresistent gewordenen HI-Virusstämmen (Jost et al., 2002; Koelsch et al., 2003; Ramos et al., 2002; Sagar et
al., 2003). Epidemiologische Daten verzeichnen in Europa bei 5–15% der neu HIV-positiv diagnostizierten Personen Resistenzen gegen antiretrovirale Behandlungen (Girardi, 2003). In Nordamerika liegt die Prävalenz tendenziell etwas höher (Tozzi, Corpolongo, Bellagamba, & Narciso,
2005). In der Schweiz wird bei rund 10% der Patienten davon ausgegangen, dass sie sich mit
einem resistenten HI-Virus infiziert haben (Yerly et al., 2004). Zum anderen sollen Menschen mit
HIV darin bestärkt werden, mit ihrem Schutzverhalten zur Verhinderung der Weiterverbreitung
von HIV beizutragen. Dies gilt auch angesichts der Verlautbarung der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) von 2008, wonach HIV-positive Personen in antiretroviraler Behandlung „sexuell nicht infektiös“ sind, sofern sie die Therapie strikt einhalten, ihre Viruslast die vorausgehenden sechs Monate supprimiert war und sie von keiner anderen sexuell übertragbaren
Infektion betroffen sind (Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen, 2008; Vernazza, Hirschel,
Bernasconi, & Flepp, 2008). Damit erklärt die EKAF HIV-Schutzverhalten keineswegs pauschal
für obsolet.
Untersuchungen von HIV-Schutzverhalten weisen darauf hin, dass HIV-positive Menschen in der
Schweiz Kondome unterschiedlich konsequent benutzen. Eine Untersuchung an einer Stichprobe
von 4’723 Befragten aus der Swiss HIV Cohort Study von 2003 zeigt, dass 76% der Betroffenen,
die Sex mit ihren festen Partnerinnen/Partnern haben, immer Kondome benützen. Unter jenen,
die Sex mit Gelegenheitspartnern hatten, gaben 86% an, immer ein Kondom verwendet zu haben
(Wolf et al., 2003). Einige Subpopulationen zeigten allerdings ein höheres Risikoverhalten als
andere: 15- bis 30-Jährige, Frauen mit HIV-positiven Partnern und Personen mit wechselnden
Partnern gehen signifikant häufiger ungeschützte Sexualkontakte ein (Glass et al., 2004). Eine
jüngst publizierte Studie zu ungeschütztem Sex von Menschen mit HIV, die auf Daten zu 7309
Teilnehmenden der Swiss HIV Cohort Study aus dem Zeitraum von April 2007 bis März 2009
aufbaut – und dabei die Angaben zu jeder (der mehrfachen) Befragungen derselben Person zu
ihrem Kondomgebrauch in den vorangehenden sechs Monaten bemerkenswerterweise als einen
einzelnen Fall ("visit") in die Berechnung einbezieht – gelangt zum (angesichts der Literatur) erwartungswidrigen Schluss, dass konsequenter (ausnahmsloser) Kondomgebrauch mit GelegenInstitut Integration und Partizipation
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heitspartnern signifikant weniger häufig war (88% der Nennungen) als mit festen Partnern (92%
der Nennungen)6. Dabei zeigt sich, dass der Kondomgebrauch mit festen Partnern in Funktion
des Serostatus des Partners/der Partnerin massiv variiert. In Fällen, in denen Sex mit festen und
Gelegenheitspartner/innen rapportiert wurde, kamen Kondome in 89% der Fälle mit HIVnegativen festen Partner/innen und in 48% der Fälle mit HIV-positiven festen Partner/innen konsequent zum Einsatz. Beim Sex mit Gelegenheitspartner/innen berichteten 80% der Fälle von
konsequentem Kondomgebrauch. In Fällen, in denen ausschliesslich Sex mit Gelegenheitspartner/innen berichtet wurde, kamen Kondome bei MSM in 87% der Nennungen konsequent
zum Einsatz, bei heterosexuellen Männern in 93%, bei heterosexuellen Frauen in 91% und bei
injizierenden Drogenkonsumierenden in 80% der Nennungen. Im Laufe des Beobachtungszeitraums wurde eine Zunahme von ungeschützten Kontakten festgestellt, die auf die Publikation
des EFAK-Statements zurückgeführt wird und insbesondere bei MSM sowie heterosexuellen
Männern und Frauen mit einem festen Partner in Therapie und supprimierter Virenlast zu weniger
Kondomgebrauch führte. Interessanterweise, so halten die Autor/innen fest, habe dieser Trend
bei MSM und heterosexuellen Frauen schon vor der Publikation des Statements (Januar 2008)
eingesetzt (Hasse, et al., 2010).
Die von einem von der Swiss HIV Cohort Study unabhängigen Forschungsteam in einem PannelDesign zwischen Juni 2007 und April 2008 erhobenen Daten zum HIV-Schutzverhalten in einem
Sample von 337 HIV-positiven Personen, die an der Swiss HIV Cohort Study teilnehmen, kommt
mit Blick auf die drei Monate vor der zweiten Befragung zum Ergebnis, dass die Befragten im
Durchschnitt bei rund 80% aller ihrer Sexualkontakte ein Kondom verwendet hatten. Die Spannweite reicht von 0% (kein Kontakt mit Kondom) bis zu 100% (jeder Kontakt geschützt). Beim Sex
mit festen Partnern oder Partnerinnen benutzten die Befragten im Durchschnitt in 77.4% der Kontakte ein Kondom. Beim Sex mit Gelegenheitspartnern oder -partnerinnen liegt der durchschnittliche Anteil geschützter Kontakte mit 83% höher (Gredig et al., 2008). Betrachtet man MSM alleine, zeigt sich, dass sie im Durchschnitt in 81% aller Kontakte mit einem Gelegenheitspartner ein
Kondom gebraucht hatten. Rund 62% der Befragten hatten in den vorausliegenden drei Monaten
beim Sex mit einem Gelegenheitspartner immer (konsequent) ein Kondom gebraucht (Nideröst,
et al., 2011). In der ersten Befragung, wo in dieser Studie nach dem Verhalten in den sechs vorausliegenden Monaten gefragt wurde (wie bei Hasse, et al., 2010), hatten dieselben 337 Befragten angegeben, im Durchschnitt bei 81% der Kontakte ein Kondom benutzt zu haben, mit festen
Partner/innen erfolgten sie allerdings weniger häufig geschützt als mit Gelegenheitspartner/innen
(Gredig, et al., 2008).
In der Schweiz sind – wie anderswo auch (Golden, Wood, Buskin, Fleming, & Harrington, 2007) –
bisher allerdings nur wenig Präventionsangebote und -massnahmen zu verzeichnen, die sich explizit und spezifisch an Personen richten, die mit HIV leben („positive prevention“). Hier besteht
ein Entwicklungsbedarf. Die weiter und neu zu entwickelnden Formen der Prävention bei seropositiven Menschen setzen allerdings ein fundierteres Wissen über die Bedingungen des Schutzverhaltens bei HIV-positiven Personen voraus (vgl. z.B. auch Wolf, et al., 2003). Beratungsangebote und Massnahmen für HIV-positive Personen haben (sowohl aus der Perspektive von Public
Health als auch der Sozialen Arbeit) mehr gesichertes sozialwissenschaftliches Wissen („evidence“) zum Schutz- und Risikoverhalten von HIV-positiven Personen zur Bedingung.
Bisher ist jedoch nur wenig Wissen dazu vorhanden. Untersuchungen zu Prädiktoren für das HIVSchutzverhalten von seropositiven Personen, sind nur wenige vorhanden. Zudem beschränken
sie sich meist auf den Einbezug von einzelnen Variablen ohne diese miteinander in Verbindung
zu bringen (Ciesla, Roberts, & Hewitt, 2004; Crepaz & Marks, 2002; Eich-Höchli, Niklowitz, Eich,
6
"In all 4 groups of cohort participants, the rate of consistent condom use war lower with occasional partners than with stable
partners (88% vs. 92%; P<.001)." (Hasse et al., 2010)
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Zellweger, & Opravil, 2001; Ellen et al., 2002; Golden, et al., 2007; Kalichman, 2000; MeystreAgustoni et al., 1998; O'Leary, Fisher, Purcell, Spikes, & Gomez, 2007; Panozzo, Battegay,
Friedl, Vernazza, & the Swiss HIV Cohort Study, 2003; Siegel, Schrimshaw, & Karus, 2004; Jane
M. Simoni, Walters, & Nero, 2000; Smith, 2003; M. Stein et al., 2005; van Kesteren, Hospers, &
Kok, 2007). Und wo mehrere Variablen mit in Blick gefasst werden, bleibt eine explizite Bezugnahme auf einen theoretischen oder gar sozialwissenschaftlichen Bezugsrahmen schlicht aus
(vgl. als junges Beispiel Hasse, et al., 2010). Weitere Aspekte der sexuellen Gesundheit wurden
in diesen Studien nicht berücksichtigt. Gemäss Definition der WHO ist unter „sexueller Gesundheit“ ein Zustand physischen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf
die Sexualität und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Dysfunktion oder Gebrechen zu verstehen. Zur sexuellen Gesundheit gehört also nicht nur der Schutz vor sexuell übertragbaren
Krankheiten, sondern auch die Zufriedenheit mit der Sexualität. Sein Sexualleben nach eigenen
Vorstellungen gestalten zu können und sexuelle Beziehungen angstfrei eingehen zu können, sind
dabei essentiell (Edwards & Coleman, 2004; World Health Organization, 2002). Die bereits oben
erwähnte Studie zu Prädiktoren für das Schutzverhalten von HIV-positiven MSM in der Schweiz
hat gezeigt, dass die Verwendung von Kondomen beim Sex mit Gelegenheitspartnern u.a. durch
die Zufriedenheit mit dem Sexualleben beeinflusst wird. So benutzten diejenigen MSM häufiger
Kondome, die ihre Sexualität als befriedigend erlebten. Für die „positive prevention“ ist es daher
wichtig, auch weitere Aspekte der sexuellen Gesundheit von Menschen mit HIV einzubeziehen.
Im Jahr 2005 gab die Sektion Aids des Bundesamtes für Gesundheit die Swiss Aids Transmission (CH.A.T.) Survey in Auftrag (Staub, 2005). In diesem Rahmen, der anderswo ausführlich beschrieben ist (Daneel et al., 2008), zeigt die qualitative Analyse auf, wie die Situation aus der
Sicht der Betroffenen entstand, in der sich die Befragten gemäss ihrer Rekonstruktion infiziert
haben müssen:
Ein Teil der Befragten hat sich wirksame HIV-Schutzstrategien angeeignet und setzt diese in der
Regel um, wie z.B. der Kondomgebrauch beim Sex mit einem neuen Partner oder einer neuen
Partnerin. Beim Kontakt, bei dem sie sich ihren Erinnerungen entsprechend infiziert haben müssen, ist die Anwendung der Schutzstrategie jedoch gescheitert. Dafür sind unterschiedliche, in
der Situation gegebene Faktoren entscheidend gewesen: der Konsum von Drogen und/oder
Alkohol; ein ungewohnt starkes Mass an sexueller Erregung; Vertrauen in den Partner/die Partnerin; so genannte „Kondompannen“ oder das Zurückfallen in alte Verhaltensmuster, z.B. beim
Sex mit einem Expartner, mit dem man – weil es früher auch so war – auf das Kondom verzichtet.
Ein Teil der Befragten hat sich auf Schutzstrategien verlegt, die nicht adäquat sind. Dazu gehören Strategien, die z.B. auf die Beobachtung des Äusseren einer Person setzen, auf eine Abschätzung des Risikos im Vorleben des Partners/der Partnerin abstellen oder sich rasch vor dem
Sex danach erkundigen, ob der Partner/die Partnerin einen HIV-Test gemacht habe.
Ein weiterer Teil der Befragten hat sich gar keine HIV-Schutzstrategie zurechtgelegt. Dahinter
steht z.B. die Annahme, zu einer Bevölkerungsgruppe zu gehören, die sich um HIV nicht zu
kümmern habe (Gredig et al., 2007).
Die hier referierte Untersuchung, die mit den jährlich wechselnden Bezeichnungen CHAT 2008,
CHAT 2009 und CHAT 2010 firmierten und im Zeitraum von April 2008 bis April 2011 durchgeführt wurde, schliessen hinsichtlich der Fragestellung wie auch in den methodischen und den inhaltlichen Aspekten an diesen Erkenntnissen aus der referierten Machbarkeitsstudie von 2006
an.
In einem Punkt geht sie aber über die Zielsetzungen der früheren Untersuchung hinaus: Die
CHAT-Studien 2008-2010 sollen zusätzlich Anhaltspunkte für die neu unter dem Begriff „positive
prevention“ diskutierte Prävention bei HIV-infizierten Personen bieten. Die Untersuchung soll damit nicht nur einen Nutzen für die Primärprävention bringen und nicht nur die Arbeit mit Menschen stützen, die befähigt werden sollen, sich vor einer HIV-Infektion zu schützen. Sie soll darInstitut Integration und Partizipation
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über hinaus die heute noch schmalen Grundlagen für die „positive prevention“ erweitern helfen.
Die Untersuchung soll auf der Grundlage der Befragung von frisch infizierten Personen mehr
Wissen zu jenen Faktoren generieren, die sich aktuell als Determinanten von HIVSchutzverhalten von HIV-infizierten Personen erwiesen haben und zu denen aber gleichzeitig
wenig bekannt ist. In einem 2008 abgeschlossenen SNF-Projekt zeigte sich u.a., dass das
Schutzverhalten von HIV-positiven MSM beim Sex mit Gelegenheitspartnern nicht nur von Variablen der Motivation, von sozialen Ressourcen und situativen Faktoren beeinflusst wird, sondern
auch von Faktoren aus dem Bereich der sexuellen Gesundheit, wie z.B. von der Zufriedenheit mit
der eigenen Sexualität und den Veränderungen im Sexualverhalten im Anschluss an die Diagnose (Gredig, et al., 2008). Zu den zwei letzteren Variablen weiss man aktuell wenig. Deshalb werden hier auch Veränderungen im Sexualverhalten nach der Diagnose und Aspekte sexueller Gesundheit exploriert. Damit sollen an der Gruppe der frisch Infizierten erste Erkenntnisse in einem
Feld generiert werden, das mit Blick auf „positive prevention“ relevant ist und der weiteren explorativen Ausleuchtung bedarf.
1.1
Zielsetzung und Fragestellung der CHAT-Studien 2008-2010
Ziel von CHAT 2009 ist es, erstens die Erkenntnisse zu den Umständen der HIV-Infektion von
Personen, die sich kürzlich infiziert haben, zu erweitern und den Einblick in die relevanten Settings, Partnerkonstellationen, Praktiken wie auch in die Zusammenhänge von Schutzstrategien
und Risikoverhalten in der Ansteckungssituation zu vertiefen. Es soll zweitens ein Beitrag dazu
geleistet werden, Veränderungen hinsichtlich der Umstände der aktuell auftretenden HIV-Infektionen fassbar werden zu lassen und erste Schritte in Richtung eines qualitativen Monitorings der
Neuinfektionen in der Schweiz zu begehen. Drittens sollen Daten zu Sexualverhalten und sexueller Gesundheit generiert werden, die in die Konzeption von „positive prevention“ einfliessen
können.
Vor diesem Hintergrund geht die Untersuchung der Frage nach:
 Wie erklären sich HIV-positive Personen, die sich kürzlich infiziert haben, ihre Ansteckung mit HIV und auf welche Ursachen führen sie ihr sexuelles Risikoverhalten zurück?
 Welchen Heuristiken sind die Betroffenen gefolgt, welche Schutzstrategien haben sie entworfen, welche Dynamiken haben sich ergeben und welche situativen Einflüsse führten zur
Exposition?
 Lassen sich in den ursächlichen Zusammenhängen, die rekonstruiert werden können, im Vergleich zu den Beobachtungen aus dem Jahr 2006 bzw. im Laufe der neuen Untersuchung
Veränderungen feststellen und worauf sind diese zurückzuführen?
 Wie erleben die Betroffenen die HIV-Diagnose, welche Konsequenzen nehmen sie infolge
der Diagnose wahr, wie bewältigen sie diese Situation und was ist ihre aktuelle Lebenssituation?
 Wie beurteilen Menschen mit frischen Infektionen ausgewählte Aspekte ihrer sexuellen
Gesundheit kurz nach Diagnosestellung und welche Veränderungen in ihrem Sexualverhalten sind nach der Diagnose zu verzeichnen?
1.2
Begriffsklärung
Unter „HIV-Schutzstrategien“ verstehen wir hier Handlungspläne. Diese umschreiben, wie sich
Menschen in bestimmten Situationen hinsichtlich einer HIV-Infektion zu verhalten gedenken. Es
sind Pläne, die sich Menschen bezüglich eines Schutzes vor HIV machen.
Solche Strategien können affirmativ sein und ein Schutzverhalten vorsehen, das am heutigen wissenschaftlichen Wissen gemessen dazu dient, die Möglichkeit einer Infektion auszuschliessen bzw.
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zu minimieren (so genannte „zero-risk“ strategies (Flowers, Sheeran, Beail, & Smith, 1997)). Solche
Strategien können affirmativ sein, aber Handlungsweisen umfassen, die nach dem Dafürhalten der
Betreffenden Schutz vor einer Infektion versprechen, objektiv aber eine Infektion zulassen. (Hierunter fallen z.B. Handlungen zur Risikoreduktion wie „dipping“, „strategic positioning“ etc. (Balthasar,
Jeannin, Derendinger, & Dubois-Arber, 2008)). Zudem sind Strategien bekannt, die auf wenig angemessenen Annahmen aufbauen und nicht zum Schutz vor HIV taugen, wie z.B. das Vertrauen darauf, man würde einem Sexpartner resp. einer Sexpartnerin ansehen, ob er/sie infiziert sei etc.
(Gredig, Nideröst, Parpan-Blaser, et al., 2007; Gredig, Parpan, & Nideröst, 2002). Hier werden aber
auch jene Handlungspläne den Strategien zugerechnet, die nicht affirmativ sind und z.B. (bewusst)
vorsehen, auf Handlungen zum Schutz zu verzichten, wie z.B. die Entscheidung für „bare backing“
(Halkitis, Wilton, & Drescher, 2005).
Das „HIV-Schutz- und Risikoverhalten“ bezeichnet demgegenüber das konkrete, reell zu verzeichnende Handeln hinsichtlich einer HIV-Infektion in einer bestimmten sexuellen Interaktion. Mit
dieser Kategorie wird die tatsächliche Performanz mit einer bestimmten Partnerkonstellation und
in einem bestimmten Kontext umschrieben.
Strategie und reelles Verhalten können unterschiedlich zueinander stehen. Das konkrete Verhalten kann der Strategie entsprechen. Das bezeichnen die Forschenden als eine „Umsetzung“
der Strategie oder auch als deren „Realisierung“. Das konkrete Verhalten kann aber immer auch
– aus unterschiedlichen Gründen – von der (voraus zu Recht gelegten) Handlungsplanung bzw.
Strategie abweichen.
Dies kann der Interaktion mit dem konkreten Partner in der Situation geschuldet sein oder aber
auch den vom Forschungsteam angesprochenen situativen Einflüssen. So ist es denkbar, dass
auch bei Personen, die sich eine Strategie der Risikominimierung, wie z.B. Kondomgebrauch, zu
Recht legen, nicht nur HIV-Schutzverhalten beobachtet werden kann, sondern auch Abweichungen davon. Affirmative, auf Risikoausschluss zielende „HIV-Schutzstrategien“ können scheitern
(Gredig, Nideröst, Parpan-Blaser, et al., 2007; Pfister, et al., 2008). Genauso ist denkbar, dass
sich jemand auf Grund der Interaktion mit dem Partner dazu bringen lässt, ein Kondom zu verwenden, der nicht aktiv geplant hatte, sich mit Kondomen zu schützen.
Es genügt deshalb nicht, nur danach zu fragen, welche Strategien sich sexuell aktive Personen
zu Recht legen. Zusätzlich ist danach zu fragen, ob die gewählte Strategie auf der Ebene der
Performanz Umsetzung findet, welches Handeln also ganz konkret beobachtet werden kann. Es
ist in gewisser Weise mit in den Blick zu fassen, welche Umsetzung eine HIV-Schutzstrategie in
der konkreten Interaktion erfährt, ob sie zu einem Handeln führt, das Schutz vor HIV gewährt
oder das ein Risiko der Infektion birgt.
Damit wird ersichtlich, dass Risiko und Schutz vor HIV als ein Kontinuum zu verstehen sind, auf
dem das konkrete Handeln in einer sexuellen Interaktion jeweils an einem bestimmten Punkt angesiedelt ist. Auf dem einen Extrempol ist das Handeln angesiedelt, das unter keinen Umständen
eine HIV-Infektion ermöglicht (z.B. Oralverkehr mit Kondom). Am anderen Extrempol findet sich
das Handeln, das ein grösstmögliches Infektionsrisiko hinsichtlich HIV birgt (z.B. rezeptiver Analverkehr ohne Kondom). Zwischen diesen beiden Extrempolen liegt ein breites Spektrum von
sexuellen Handlungs- und Verhaltensweisen mit unterschiedlicher Risikoexposition.
HIV-Schutzstrategie, HIV-Schutzverhalten und HIV-Risikoverhalten sind also auf einander bezogen und verhalten sich dynamisch zueinander. Sieht man von einer Messung dieses Verhaltens
zu einem einzigen Zeitpunkt ab, handelt es sich nicht um scharf voneinander getrennte Handlungsweisen, die bei einer Person nur in der einen oder anderen Ausprägung anzutreffen wären
oder gar immer in derselben.
Vor diesem Hintergrund ist deshalb nicht nur das Schutzverhalten in der Situation zu betrachten,
die zur Infektion geführt haben soll, sondern darüber hinaus die HIV-Schutzstrategien, die sich
die Betreffenden zurechtgelegt hatten, wie auch die Schutzhandlungen hinsichtlich HIV in den
Blick zu fassen, so wie sie in anderen Situationen zu beobachten waren.
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2.
Methode
Die Untersuchung setzte in Abhängigkeit davon, welche Frage bearbeitet wurde, unterschiedliche
Methoden ein. Die ersten vier Teilfragen wurden mit Methoden der qualitativen Sozialforschung
bearbeitet. Zur Bearbeitung der letzten Frage wurden Verfahren der quantitativen Sozialforschung mit Verfahren der qualitativen Sozialforschung (mixed method design) zu einer "concurrent embedded strategy" (Creswell, 2009) kombiniert.
2.1
Datenerhebung
Die Daten zum HIV-Test, Angaben zu den Umständen in der vermuteten Ansteckungssituation,
zur sexuellen Gesundheit sowie soziodemographische Angaben wurden in einer bewusst kurz
gehaltenen, standardisierten schriftlichen Befragung (selbst auszufüllender Fragebogen) erhoben.
Dieser Fragebogen wurde für diese Untersuchung eigens entwickelt. Einzelne Fragen und Antwortitems, die zum Einsatz kamen, wurden aus dem Instrument übernommen, das bei der Machbarkeitsstudie eingesetzt worden war. Im Wesentlichen stammten die Elemente aber aus dem
Erhebungsinstrument, das im oben genannten SNF-Projekt zum Einsatz gekommen war. Bei der
Gestaltung des Erhebungsinstruments wurde den Grundsätzen der „total design method“
(Diekmann, 1995) gefolgt. Der Fragebogen wurde in vier Sprachen produziert: Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. Die Daten aus der standardisierten schriftlichen Befragung wurden elektronisch im Programm PASW Statistics 17 bzw. IBM SPSS 19 erfasst.
Die Daten zur vertieften Analyse der Ansteckungssituation, zu den Ursachen der Infektion aus
Sicht der Betroffenen wie auch die Heuristiken, denen sie in ihrem Entwurf von Schutzstrategien
folgen, ihr konkretes HIV-Schutzverhalten wie auch zu den Dynamiken und situativen Einflüssen,
die Einfluss haben, wurden in qualitativen, face-to-face geführten problemzentrierten Interviews
generiert (Witzel, 1985). Diese Form des Interviews besteht aus drei Elementen: In einer ersten
Phase des Interviews, die mit einem Erzählstimulus eröffnet wird, werden – wie im narrativen Interview – freie Erzählungen generiert. In der zweiten Interviewphase wird das Interview durch einen Leitfaden flexibel strukturiert. In einer dritten Phase kann die Befragung durch einige standardisierte, aber offene Fragen ergänzt werden (Witzel, 1985). Diese Interviewform ist etabliert
und hat sich in der Befragung zu sensiblen Themen, insbesondere auch zu HIV-Schutzverhalten
(Gredig, et al., 2002; Pfister, et al., 2008), vor allem aber auch in der Pilotuntersuchung hierzu
bewährt (Gredig, Nideröst, Parpan-Blaser, & Ballerini, 2006). Das Interview wurde je nachdem in
Deutsch, Französisch oder Italienisch durchgeführt. Der Ort des Interviews wurde jeweils mit den
Befragten ausgehandelt. Die Interviewer/innen formulierten das Angebot, das Interview an dem
Ort zu führen, der von dem Befragten gewünscht wurde. Bedingung war dabei lediglich, dass
sich der Ort für eine ungestörte Befragung eignete. Dies konnten sowohl private Räume der/des
Befragten wie auch öffentliche Orte sein, die sich eigneten. In einigen Fällen mieteten die Interviewer/innen geeignete Räume für die Gesprächsdauer an.7
Das Interview wurde mit dem Einverständnis der Befragten auf Tonband aufgezeichnet. Beim
ersten Kontakt mit Personen, die sich für ein Interview zur Verfügung stellten (siehe Rekrutierung), wurden ihnen Pseudonyme erteilt (P1 bis P32).
Die verbalen Daten wurden in der Originalsprache und vollständig transkribiert (Volltranskript)
und zugleich anonymisiert: Namen von Personen, Orten, Lokalitäten, Firmen etc. wurden nicht
übernommen, sondern durch Stellvertreter ersetzt wie z.B. Freund x; Bar y; Land z. Das Tran7
Die Befragungssituation wurde von den Interviewenden klar von einer Beratung abgegrenzt. Die Forschenden traten in keine
Beratung ein. Sie waren aber stets mit einer Liste dokumentiert, auf der die Aids-Hilfen der Schweiz wie auch die HIV-Zentren
mit Adresse und Telefonnummern aufgeführt waren. Fragten die Befragten nach Informationen oder zeigten sie einen Bedarf an
Beratung, wurden ihnen diese Angaben zu den Informations- und Beratungsstellen der Aids-Hilfen wie auch der HIV-Zentren
ausgehändigt.
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skript wurde schliesslich in die Software Atlas.ti eingelesen und so der computerunterstützten
Auswertung zugänglich gemacht.
Die Teilnehmenden erhielten für ihr Interview eine Entschädigung von Fr. 100.–. Diese Entschädigung wurde bar vor Ort ausgehändigt.
2.2
Datenauswertung
Die numerischen Daten aus der standardisierten Befragung wurden bereinigt und mittels Verfahren der beschreibenden Statistik unter Anwendung von PASW Statistics 17 bzw. IBM SPSS 19
ausgewertet.
In der Auswertung der verbalen Daten aus den problemzentrierten Interviews wurde nach dem
Muster verfahren, das in weiten Teilen den Grundsätzen der „grounded theory“ (Charmaz, 2006;
Strauss & Corbin, 1996; Strübing, 2004) folgt und sich in der Pilotuntersuchung bewährt hat.
Die Interviewtranskripte wurden zuerst einem Prozess des Offenen Kodierens unterzogen. So
konnten die im Material vorzufindenden Kategorien in ihren Dimensionen mit Bezug auf den Datenkorpus festgehalten und laufend entwickelt und verfeinert werden. Im Anschluss wurde eine
vertikale Analyse vorgenommen, in der ein Interview als Fall untersucht, in seinem internen Sinnzusammenhang dargestellt und auf Aspekte hin analysiert wurde, die im Lichte der Fragestellung
interessierten. Ergebnis dieses Schritts war eine Fallcharakterisierung, die auf die wichtigsten
Punkte der Fragestellung fokussierte. Diese Fallcharakterisierung wurde dann in einem weiteren
Schritt in eine horizontale Analyse eingebracht. Durch eine systematische Kontrastierung mit anderen Fällen konnten so einerseits die Besonderheiten des einzelnen Falls herausgearbeitet und
damit die Konturen der Fallcharakterisierung zusätzlich geschärft werden. Andererseits konnten
Ähnlichkeiten mit anderen Fällen festgestellt werden (Kelle & Kluge, 1999). Beim anschliessenden Axialen Kodieren wurden die in den verschiedenen Fällen unterschiedlich ausgeprägten Kategorien systematisch in eine Matrix von Dimensionen eingetragen, die sich im Zuge der Fallinterpretationen induktiv als zentral erwiesen: Ansteckungssituation; HIV-Schutzstrategie; HIVSchutzverhalten; situative Faktoren, die eine Umsetzung der Schutzstrategie behindern oder befördern. Die relevanten Kategorien wurden schliesslich auf ihre Verknüpfungen und das Zusammenwirken hin analysiert. Hierbei wurde direkt an den Ergebnissen der Pilotuntersuchung angeschlossen.
2.3
Rekrutierung
Die Untersuchungsgruppe stellten Personen dar, deren HIV-Infektion von den Bestätigungslabors
als frisch ("recent") identifiziert wurde. Die Bestätigungslabors, die ein positives Ergebnis eines
HIV-Antikörpertests überprüfen, interpretieren den zur Bestätigung eingesetzten INNO-LIA HIV
I/II Score assay auch hinsichtlich des Alters der Infektion ("recent" vs. "older") und vermerken ihren diesbezüglichen Befund auf der Information an die Ärzte und Ärztinnen, die den Test in Auftrag gegeben haben. Dank der Bereitschaft der Bestätigungslabors, an der Rekrutierung mitzuwirken, konnte der Rekrutierungsprozess von CHAT an der Übermittlung dieser Befunde an die
Ärztinnen und Ärzte anschliessen.
Die Labors legten den positiven Testresultaten, die als “recent" kategorisiert wurden, die Unterlagen bei, die für die Rekrutierung der betroffenen Personen für CHAT erforderlich waren. Diese
Materialien begleiteten die Dokumente, die routinegemäss einem positiven Resultat eines HIVTests beigelegt werden, und umfassten ein Informationsschreiben an den Arzt resp. die Ärztin,
eine Registerkarte, ein Informationsschreiben an die Untersuchungspersonen und zwei Fragebogen. Ein Fragebogen war jeweils in der Landessprache, die in der betreffenden Region mehrheitlich gesprochen wird, der zweite war in Englisch.
Die Ärztinnen und Ärzte wurden im Informationsschreiben gebeten, ihren Patienten bzw. ihre Patientin zu einem von ihnen als geeignet erachteten Zeitpunkt über CHAT zu informieren und zur
Teilnahme zu motivieren. Ausserdem wurden sie gebeten, den Betroffenen den Kurzfragebogen
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mitsamt dem (ans Forschungsteam adressierten und frankierten) Rückantwortcouvert auszuhändigen.
Den Personen mit frischer Infektion wurden drei Wege eröffnet, ihre Bereitschaft zu einem Interview zu bekunden: Wer sich gleich nach der Information durch den Arzt resp. die Ärztin zur Teilnahme entschloss, konnte die erforderliche Kontaktinformation mittels Registerkarte dem Forschungsteam bekannt geben. Wer sich erst zu einem späteren Zeitpunkt entschied, konnte seine
Kontaktinformationen auf der letzten Seite des Fragebogens angeben. Wer seine Kontaktinformationen nicht angeben mochte, hatte die Möglichkeit, eine der Servicenummern, die für CHAT
eingerichtet und auf dem Fragebogen vermerkt worden waren, zu benutzen und das Forschungsteam selbstgesteuert und (zunächst) anonym zu kontaktieren.
Die Rekrutierung für den Projektzyklus CHAT 2008 bis 2010 begann im April 2008 und dauerte –
nach einem Unterbruch im Winter 2008/2009 – bis Ende April 2011.
Abbildung 1 bringt den komplexen Rekrutierungsprozess, die darin involvierten Akteure und Materialien schematisch zur Darstellung.
Abbildung 1: Ablauf Rekrutierung
Screening
Labor
Bestätigungslabor
Einschlusskriterien:
- Bestätigung HIV+
- Recent infection
Arzt
Ärztin
Info
Registerkarte
Studienzentrum
1. Registerkarte
Zielperson
- Lehnt Material ab
- Nimmt Material an / Sprache
- Stellt sich spontan für Interview
zur Verfügung
FB
- Kein Interview
- Interview / Koordinaten
- Interview ohne Koordinaten /
per 0800-Tel.
2. Fragebogen + Interviewangebot
Auswahl InterviewpartnerInnen
Einschlusskriterien: schrittweise,
varianzmaximierend
3. Verbale Daten
Zielperson
Verabredung Interview
Interview
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3.
Ergebnisse
3.1
Beschreibung der Stichprobe
Im Untersuchungszeitraum vom 1. April 2008 bis zum 30. April 2011 wurden in der Schweiz 2038
HIV-Infektionen diagnostiziert. Davon wurden 311 von den Bestätigungslabors als frische Infektionen identifiziert. Von diesen Fällen wurden 169 bei Männern identifiziert, die Sex mit Männern
hatten, 75 bei Männern und Frauen, die sich auf heterosexuellem Weg infiziert haben, 8 bei injizierenden Dogenkonsumierenden und 59 bei Personen, bei denen der Übertragungsweg nicht
geklärt werden konnte (Bundesamt für Gesundheit, 2011c)8. Angesichts des gewählten Zugangs
(vgl. Rekrutierung) bilden diese 311 Fälle die Grundgesamtheit unserer Untersuchung.
Schriftliche Befragung
Im Untersuchungszeitraum sind 52 ausgefüllte Fragebogen eingegangen, davon 35 in deutscher,
11 in französischer, 1 in italienischer und 3 in englischer Sprache. Unter den Befragten waren 40
MSM, 7 heterosexuelle Männer und 3 Frauen. Zwei Befragte liessen sich auf Grund fehlender
Angaben zu Geschlecht und sexueller Orientierung keiner der Gruppen zuordnen. Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 37.2 Jahren (21-64). Die Beschreibung der Stichprobe nach
ausgewählten soziodemographischen Merkmalen findet sich in Tabelle 1.
Mit Blick auf die möglichen Übertragungswege geben 43 an, sich beim Sex mit dem HI-Virus infiziert zu haben. Zwei heterosexuelle Männer nennen den intravenösen Drogenkonsum als Ansteckungsweg. Ein MSM gibt an, sich auf einem anderen Weg infiziert zu haben. Vier Befragte
geben an, nicht zu wissen, wie sie sich infiziert haben.
Bezüglich der Bereitschaft zur Teilnahme an einem persönlichen Interview, erklärten sich 29 Befragte (58%) auf diesem Weg für ein solches bereit, worunter 20 wünschten, durch das Forschungsteam kontaktiert zu werden und entsprechende Angaben (Telefonnummer und/oder EMail-Adresse) hinterliessen.
Qualitative Befragung
Im Untersuchungszeitraum wurden insgesamt mit 32 Personen Interviews geführt. Davon wurden
14 Personen über den Fragebogen kontaktiert, 3 Personen über die Angaben auf der Registerkarte. Fünf weitere Befragte nahmen über die Gratis-Hotline mit dem Forschungsteam Kontakt
auf. Die verbliebenen 10 Personen haben sich über mehrere der zur Verfügung stehenden Wege
gemeldet. Unter den Befragten waren 25 MSM, 2 heterosexuelle Männer und 5 heterosexuelle
Frauen. Das Durchschnittsalter beträgt 34 Jahre, wobei der jüngste Befragte 21 Jahre zählte und
der älteste Befragte 64 Jahre alt war. Die Beschreibung der Stichprobe nach weiteren ausgewählten soziodemographischen Merkmalen sind der Tabelle 2 zu entnehmen.
8
Aus zwei Gründen weichen diese Zahlen von den Angaben zu frischen Infektionen in den Bulletins des BAG ab: 1. Die Angaben beziehen sich genau auf diesen Zeitraum und nicht auf ganze Jahre. 2. Auf klinischem Weg identifizierte frische Infektionen
treten hier nicht in den Blick.
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Tabelle 1: Soziodemografische Merkmale der Stichprobe der schriftlichen Befragung
MSM (n=40)
heterosexuelle
Männer (n=7)
heterosexuelle
Frauen (n=3)
Total (n=50)
37.2 (10.1)
34.9 (3.7)
39.3 (19.2)
37.0 (10.0)
Single
62.5 (25)
42.9 (3)
66.7 (2)
60.0 (30)
In fester Beziehung
37.5 (15)
57.1 (4)
33.3 (1)
40.0 (20)
Schweiz
75.0 (30)
57.1 (4)
33.3 (1)
70.0 (35)
übriges Europa
20.0 (8)
42.9 (3)
33.3 (1)
24.0 (12)
Südamerika
5.0 (2)
0.0 (0)
0.0 (0)
4.0 (2)
Afrika
0.0 (0)
0.0 (0)
33.3 (1)
2.0 (1)
30.0 (12)
42.9 (3)
66.7 (2)
34.0 (17)
5.0 (2)
71.4 (5)
0.0 (0)
14.0 (7)
Alter (Mittelwert, SD)
Beziehungsstatus (%, n)
Herkunftsland (%, n)
Migrationserfahrung (%, n)
Formale Bildung (%, n)
obligatorischer Schulabschluss
Sekundarstufe II
42.5 (17)
0.0 (0)
100.0 (3)
40.0 (20)
Tertiärstufe I+II
50.0 (20)
28.6 (2)
0.0 (0)
44.0 (22)
2.5 (1)
0.0 (0)
0.0 (0)
2.0 (1)
Voll- oder Teilzeit
72.5 (29)
57.1 (4)
66.7 (2)
70.0 (35)
erwerbslos/arbeitslos
14.5 (6)
42.9 (3)
33.3 (1)
20.0 (10)
im Studium/Ausbildung
12.5 (5)
0.0 (0)
0.0 (0)
10.0 (5)
Führungskräfte
15.0 (6)
14.3 (1)
0.0 (0)
14.0 (7)
Akademische Berufe
25.0 (10)
14.3 (1)
0.0 (0)
22.0 (11)
Technische und nicht-technische gleichrangige Berufe
12.5 (5)
14.3 (1)
66.7 (2)
16.0 (8)
Kaufmännische Berufe
7.5 (3)
0.0 (0)
0.0 (0)
6.0 (3)
Dienstleistungsberufe
7.5 (3)
0.0 (0)
0.0 (0)
6.0 (3)
Landwirtschaftliche Berufe
2.5 (1)
0.0 (0)
0.0 (0)
2.0 (1)
Handwerkliche Berufe
2.5 (1)
14.3 (1)
0.0 (0)
4.0 (2)
27.5 (11)
42.8 (3)
33.3 (1)
30.0 (15)
Anderer Abschluss
Erwerbsstatus (%, n)
Berufsgruppe (%, n)
nicht berufstätig
Zum Zeitpunkt der Ansteckung waren insgesamt 17 der Befragten in einer festen Beziehung.
Sieben Befragte hatten einen festen Partner bzw. eine feste Partnerin, der/die selbst auch HIVpositiv war. Sechs davon befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung immer noch in einer festen
Beziehung mit diesem/dieser Partner/in. Die feste Beziehung eines MSM mit einem positiven
Partner hat sich zwischen Ansteckungszeitpunkt und Befragungszeitpunkt gelöst. Wie der Betreffende ausführt, erfolgte die Trennung aus anderen Gründen als der Infektion des Befragten
(P24). Ein MSM (P14) hatte kurz vor der Befragung eine Phase als Single, in der er sich infiziert
hatte, abgeschlossen und ist wieder eine Beziehung eingegangen. Dieser neue Partner ist ebenfalls HIV-positiv.
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Tabelle 2: Soziodemografische Merkmale der Stichprobe der qualitativen Befragung
Alle Befragten
(N=32)
Sexuelle Orientierung
Männer (n=27)
homosexu- bisexu- heterosexuell
ell
ell
22
Alter
3
21-64; ø=34
21-64; ø=37
single
13
12
in fester Beziehung
12
10
registrierte Partnerschaft
1
1
verheiratet
4
1
geschieden
2
1
Frauen
(n=5)
2
5
38-45; ø=41
23-60;ø=40
Beziehungsstatus
1
1
1
1
2
1
Höchster formaler
Bildungsabschluss
Obligatorische Schule
3
1
Sekundarstufe II
18
15
Tertitärstufe (I und II)
11
9
voll- /teilzeitlich erwerbstätig
22
19
(Teil-)Selbstständigkeit
2
1
Erwerbslos
6
3
in Ausbildung
2
2
Deutsch
23
Französisch
2
2
1
2
Erwerbsstatus
1
2
1
1
2
18
1
4
7
6
1
Italienisch
2
1
Städtische Zentren
19
15
Suburbane Gemeinden
8
6
Einkommensstarke Gemeinden
1
Touristische Gemeinden
Industrielle und tertiäre Gemeinden
1
1
1
1
Ländliche Gemeinden
2
2
Schweiz
22
18
Deutschland
2
2
Frankreich
2
2
Italien
1
1
Portugal
1
1
Niederlande
1
Brasilien
1
Thailand
1
1
Eritrea
1
1
Interviewsprache
1
Gemeindetyp
2
2
2
1
Nationalität
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2
2
1
1
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Abbildung 2:
3.2
Visualisierung der geografischen Verteilung der Wohnsitze der Befragten
Die Ansteckungssituation
3.2.1 Zur Schwierigkeit, Ansteckungssituationen zu identifizieren
In der schriftlichen Befragung gaben 7 von den 50 Befragten an, keine Vermutung über die Ansteckungssituation zu haben. 6 äusserten sich nicht zu dieser Frage. 37 der Befragten hatten jedoch eine Vermutung, wie sie sich angesteckt haben könnten.
Vor dem HIV-Test hatten aber lediglich 17 Befragte einen Verdacht auf ein positives Testresultat.
So liessen nur 12 der Befragten (8 MSM, 3 heterosexuelle Männer, 1 Frau) den Test auf Grund
einer Risikosituation machen. Der am häufigsten genannte Grund für den Test waren gesundheitliche Beschwerden (n=30). 4 MSM und 1 heterosexueller Mann machten den Test im Rahmen
einer Gesundheitsvorsorge, je ein MSM und ein heterosexueller Mann im Rahmen von regelmässigen HIV-Tests. Eine Frau liess den Test auf Wunsch des Partners machen. 4 MSM und 2 heterosexuelle Männer nennen andere, nicht weiter bezeichnete Gründe.
In den problemzentrierten Interviews können von den 32 Interviewpartnern 26 eine konkrete Situation oder zumindest eine eingegrenzte Lebensphase nennen, in der aus ihrer Sicht die HIVInfektion auf sexuellem Übertragungsweg erfolgte.
Vier Befragte können keine Ansteckungssituation benennen. Bei P7 handelt es sich um eine
Frau, die relativ kurz vor der Befragung aus dem Sudan geflüchtet war. Sie kann keinen Partner
nennen und hat aus ihrer Sicht auch keine Praktiken geübt, die zur Infektion mit HIV hätten führen können. Als potentieller Übertragungspartner ist der Ehemann denkbar. Angesichts der marginalisierten, prekären und gefährlichen Bedingungen, unter denen die Frau in einem Bürgerkriegsgebiet lebte, kann allerdings eine HIV-Infektion im Zusammenhang mit sexueller Gewalt
nicht ausgeschlossen werden. Auch den drei weiteren Gesprächspartnern bleibt die HIV-Infektion
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ein unerklärliches Ereignis in ihrem Leben. Sie schliessen allerdings aus, sich auf sexuellem Weg
infiziert zu haben. P15 führt aus, sich bis auf eine Ausnahme in geeigneter Weise stets geschützt
zu haben. Der auf die eine Risikosituation hin durchgeführte Test habe gezeigt, dass weder er
noch jener Partner HIV-infiziert waren. Er geht deshalb davon aus, sich im Zusammenhang mit
einem Zeckenbiss infiziert zu haben, auch wenn dies von seinem Arzt als unmöglich bezeichnet
wurde. Die Möglichkeit, dass er sich beim HIV-positiven festen Partner angesteckt haben könnte,
lässt er unerwähnt. Er zieht diese Möglichkeit nicht einmal gedankenexperimentell in Betracht.
P18 stellt in Frage, dass ihre Infektion bei der Diagnose wirklich frisch war, und geht auf Grund
ihrer Tätigkeit im Pflegebereich davon aus, sich im Rahmen eines etwas leichtfertigen Umgangs
mit Injektionsbesteck infiziert zu haben. Inwiefern dies im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Alterspflege realistisch ist, kann nicht geklärt werden. Eine Infektion durch ihren HIV-positiven Partner
schliesst sie hingegen aus. P22 schliesst eine Infektion auf sexuellem Übertragungsweg explizit
aus und verlegt sich auf die Ansicht, dass er sich im Kontext von zwei Unfällen infiziert haben
müsse, wo er den Verunfallten half und dabei mit Blut in Kontakt gekommen sei.
Zwei Befragte (P25 und P28) argumentieren, dass ihre HIV-Infektion weiter zurück liegen muss.
Besonders deutlich wird dies im Fall von P28, der auf Grund eines schnell wachsenden KaposiSarkoms erst auf HIV-getestet wurde und nachgerade ein so genannter "late presenter" darstellte.9
Diese sechs Fälle werden nicht in die weitere Betrachtung mit einbezogen.10 Dennoch ist festzuhalten, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass einige dieser Befragten, die keine bestimmte Ansteckungssituation oder -partnerIn nennen können und denen die Infektion unerklärlich scheint, eine (vielleicht sogar als naheliegend zu betrachtende) Möglichkeit (sei es bewusst
oder unbewusst) ausschliessen, nämlich die Möglichkeit, sich beim aktuellen HIV-positiven Partner resp. Partnerin angesteckt zu haben. Ein Ereignis nicht beim Namen nennen zu müssen, eröffnet die Option, sich gewisse Fragen, Entscheidungen und Konsequenzen ersparen zu können.
Dies ist insbesondere dann gewinnbringend, wenn eine andere Wahrnehmung der Situation und
die daraus abzuleitenden Handlungsfolgen ein bedeutsames Gut gefährden würden, wie z.B. die
Beziehung zum Partner.
Wie das Material in anderen Fällen zeigt, sind einige frisch Infizierte, die einen HIV-positiven
Partner haben bzw. zum vermuteten Ansteckungszeitpunkt hatten, durchaus in der Lage und bereit, die Infektion durch den festen Partner/die feste Partnerin zu akzeptieren (P9) oder zumindest
als realistische Möglichkeit in ihre Überlegungen einzubeziehen und im Interview zu elaborieren
(P3, P17, P19, P23, P24 und P29). Zwei Befragte schliessen eine Infektion durch den HIVpositiven festen Partner letztlich dann doch aus (P23 und P29).
Jene Gesprächspartner, die den Gedanken zulassen können, sich beim Sex mit dem festen
Partner infiziert zu haben, lassen aber deutlich werden, dass diese Konstellation herausfordernde
Fragen aufwirft. So ist P17 z.B. erleichtert, zu erfahren, dass nicht er seinen Partner angesteckt
hat, weil sämtliche Laborwerte nahe legen, dass sein Partner die ältere Infektion hat. Damit hat er
keine Verantwortung für die Infektion seines Partners zu übernehmen. Entscheidend ist aber
auch, dass er diesem umgekehrt keine besondere Verantwortung oder gar Schuld für die Infektion zuweist, insbesondere da sein Partner über seine eigene Infektion nicht im Bilde war. P17
verortet die Verantwortung für seinen Schutz bei sich selbst (P17: 127-136). Damit wird ein für
eine Beziehung zunächst belastendes Moment neutralisiert. Die Erzählung von P17 lässt aber
dennoch deutlich werden, dass die Kenntnisnahme von HIV im Paar Spannungen erzeugt, die
9
Die Bestimmung des Alters der HIV-Infektion durch Interpretation des INNO-LIA kann bei Infektionen in späten Stadien zu
falsch positiven Ergebnissen kommen (Schüpbach, et al., 2007).
10
Die Analyse im Rahmen von CHAT baut stets daraufauf, was die Darstellungen der Betroffenen sind (Rekonstruktion der
subjektiven Theorie ihrer Ansteckung). Auch in anderen Fällen (z.B. Q5 in der ersten Auflage von CHAT ) waren dem Forschungsteam durchaus Alternativen zu den Ansteckungswegen, die von den Befragten präsentiert bzw. ausgeschlossen wurden, denkbar. Doch stets wurde so verfahren, dass das Forschungsteam der Darstellung der Befragten folgte und deren Auskunft nicht durch eigene Einschätzungen der Übertragungssituation ersetzt hat. Diesem Grundsatz wird hier weiterhin gefolgt.
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erst einmal bewältigt werden müssen. So legt er offen, dass er sich im Moment, in dem er seine
Diagnose erhielt, hoffte, sein Partner möge nicht negativ sein. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass dann die Beziehung von Dauer gewesen wäre. Dies folgerte er damals in Analogie zu
seiner eigenen Annahme, dass er wohl nicht mit einem HIV-positiven Partner zusammenleben
würde. Die gemeinsame Infektion wird in dieser Konstellation fast als Erleichterung erlebt. Auch
P19 berührt in seiner Darstellung der Infektionssituation die Frage der Verantwortung und beteuert, seiner Partnerin keine Vorwürfe zu machen.
Dieser exemplarische Einblick in den Umgang mit der HIV-Diagnose im Paar lässt ahnen, in welchen komplexen und alles andere als gradlinigen Prozessen die Diagnose HIV bei Personen in
einer Paarsituation und mit Blick auf den Partner verarbeitet wird – von dessen diskordanten Serostatus sie schon vor der Ansteckungssituation wussten (P3, P19, P24, P29), dessen Infektion
im Nachgang zu ihrer eigenen Diagnose erst in Tests erkannt (P17, P23) oder dann offengelegt
werden musste bzw. nicht länger verheimlicht werden konnte (P9). Sie lassen fassbar werden,
wie es unter Bezugnahme auf Ideale, Orientierungen und unter Verstrickung in Projektionen zu
unerwarteten Situationsdefinitionen und mithin zu Wendungen in den sinnhaft darauf bezogenen
Handlungen kommen kann, die dem Beobachter zunächst nicht unbedingt nachvollziehbar sind.
3.2.2 Identifizierte Ansteckungssituationen
In der schriftlichen Befragung führen 29 Befragte die Ansteckungsituation auf den sexuellen Kontakt mit einer einzigen Person zurück. Bei 3 MSM, 1 heterosexuellen Mann und einer Frau war
dies ein sexueller Kontakt mit einem/einer festen Partner/in. Einundzwanzig MSM, 1 heterosexueller Mann und eine Frau vermuten sich beim Sex mit einem/einer Gelegenheitspartner/in inifziert
zu haben. Ein MSM nennt als mögliche Ansteckungssituation einen sexuellen Kontakt mit einer
Person, die er für Sex bezahlt hatte. Bei 7 Befragten kommen als mögliche Ansteckungssituation
mehrere Gelegenheiten bzw. Partner in Frage.
In den problemzentrierten Interviews können insgesamt 26 Befragte einen bestimmten Sexualkontakt als Ansteckungssituation identifizieren und/oder können sie auf Grund einer Reihe von
Ereignissen auf Sexualkontakte in einer bestimmten Phase eingrenzen.
So können 11 MSM (P2, P3, P4, P11, P12, P17, P21; P26, P27, P30, P32) und eine Frau (P31)
eine konkrete Situation benennen, in der sie ungeschützten Sex hatten und von der sie annehmen, dass sie die Ansteckungssituation war. Diese Ereignisse passen auch in zeitlicher Hinsicht
zum serologischen Befund zum Zeitpunkt der Diagnose und zum Verlauf der Infektion bis dahin.
Eine Frau (P20) und ein MSM (P10) können den Ansteckungszeitpunkt genau benennen, da sie
vor und nach diesem für sie relevanten Sexualkontakt keinen Sex hatten. Fünf Personen (P1, P4,
P6, P13; P29) grenzen die Situation der Ansteckung innerhalb mehrerer Partner ein und berichten – nach dieser Eingrenzung – im Interview insbesondere über eine Situation und einen möglichen Ansteckungspartner. Drei Personen können die Situation der Ansteckung und den beteiligten Partner ebenfalls nicht eindeutig benennen (P5, P8; P23). Sie berichten im Interview über
mehrere Risikokontakte, die aus ihrer Sicht zu der Infektion geführt haben könnten. Eine genaue
Eingrenzung auf einen Ansteckungspartner ist ihnen jedoch nicht möglich. Ein MSM (P16) kann
sich nicht mit Sicherheit an eine konkrete Situation erinnern, der er die Ansteckung zuschreibt.
Vielmehr identifiziert er eine Praxis, der er die Infektion zuschreibt und die er im fraglichen Zeitraum pflegte. Zwei weiterere MSM (P14; P24) und die zwei heterosexuellen Männer (P9, P19)
können die Infektion nicht mit einer bestimmten Situation oder einem Ereignis in Verbindung
bringen, von dem sie annehmen, dass dies die Ansteckungssituation war. Vielmehr verweisen sie
auf eine Phase, in der die Infektion auf Grund ihrer Praxis möglich war und die in einem stimmigen zeitlichen Abstand zur Diagnose liegt.
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3.2.3 Settings, Partner und Praktiken
Drei MSM gehen davon aus, sich innerhalb der Beziehung beim Sex mit ihrem festen HIVpositiven Partner (P3, P17, P24) infiziert zu haben; zwei hetereosexuelle Männer gehen von
einer Ansteckung durch ihre HIV-positive Partnerin aus (P9, P19). Zwei MSM ziehen diese
Möglichkeit in Betracht (P23, P29), verwerfen diese Annahme schliesslich zugunsten der Vorstellung, sich beim Sex mit einem Gelegenheitspartner infiziert zu haben. Von den 5 Befragten, die
sich beim festen Partner/der festen Partnerin angesteckt hatten, war in 3 Fällen der Serostatus
des Partners vor der eigenen Diagnose bekannt, in 2 Fällen nicht.
So wusste P9 nicht, dass seine Frau seit einer Bluttransfusion vor zwölf Jahren, nach der Geburt
ihres Kindes in Afrika, HIV-positiv ist, sondern erfuhr dies erst, als ihm die hohen Rechnungen
der Krankenkasse auffielen und er in der Apotheke entsprechende Nachforschungen anstellte.
Dort fand er heraus, dass seine Frau antiretrovirale Medikamente bezog. Daraufhin liess er sich
bei seinem Arzt auf HIV testen, und sein Verdacht, dass er sich beim Vaginalverkehr infiziert hatte, bestätigte sich.
Im Gegensatz hierzu wusste P3, der seit fünf Jahren in einer festen Beziehung mit einem jüngeren, seit sieben Jahren HIV-positiven Mann lebt, von dessen HIV-Infektion. Als sie sich kennenlernten, arbeitete dieser im Sexgewerbe. Sie lernten sich jedoch nicht im Sexgewerbe kennen,
d.h. P3 war seinem heutigen Partner gegenüber nie als Kunde aufgetreten. Doch obwohl P3 vom
positiven Serostatus seit Beginn der Beziehung wusste, hatte er sich nicht immer geschützt:
P3: Äh, ich habe das von Anfang an gewusst, dass er so ist, und ich bin ganz klar eigentlich ein bisschen unvorsichtig gewesen. Nicht immer mit Schutz. Und für mich ist es ganz klar, dass es eigentlich von ihm ist (P3: 1417).
P17 begab sich wegen körperlicher Symptome zum Arzt und machte im Rahmen der diesbezüglichen Abklärungen einen HIV-Test. Dieser Test belegte eine frische HIV-Infektion. Er informierte
seinen Partner, worauf dieser ebenfalls einen HIV-Test machte. Dieser Test zeigte, dass der
Partner ebenfalls HIV-infiziert war. Die Laborwerte zeigten aber auch, dass die Infektion des
Partners älter sein musste als jene von P17. Weder P17, noch sein Partner wussten zuvor um die
HIV-Infektion des Partners. Vergleichbar liegt der Fall P23, dessen Partner auf Grund der Diagnose von P23 einen Test macht. Die Laborwerte zeigen dabei auf, dass seine Infektion älter sein
muss als jene von P23, die erst entdeckt worden war.
Auch P19, der seit einem Jahr in einer Beziehung zu einer Frau lebt, die seit viereinhalb Jahren
von ihrer HIV-Infektion weiss, wurde von ihr darüber informiert, als sie sich kennen lernten. Eine
erste Darstellung der Infektionssituation geht dahin, dass es im Rahmen des gemeinsamen (inzwischen noch einmal monatlich stattfindenden) Kokainkonsums zu einer Situation gekommen
sei, in der er feststellte, dass seine Nadel verunreinigt und verstopft war, während er zusehen
konnte, dass seine Partnerin sich mühelos ihr Kokain spritzen konnte. Er wollte wegen einer verstopften Spritze nicht auf den Schuss verzichten und verlangte nach der Nadel, die ihm seine
Partnerin so gut sie konnte verweigerte. Er liess sich aber nicht abhalten und benutzte diese
Spritze, mit der sie soeben ihre Vene punktiert und Blut aspiriert hatte. Diese Geschichte wird
dann aber im Laufe des Interviews und mit zunehmender Intensität der Auseinandersetzung mit
Informationen ergänzt, die einen anderen Infektionsweg wahrscheinlicher machen. Um den Kokainkonsum auch in finanziell engen Zeiten bezahlen zu können, beschafft seine Partnerin, die
sich ebenfalls in methadongestützter Behandlung befindet, in gewissen Abständen zusätzliche
Einkünfte durch Sexarbeit auf dem Strassenstrich. P19 weiss dies und begleitet sie auch auf den
Strassenstrich, um sie zu schützen, wie er ausführt. In Reaktion auf die Sexarbeit verspürt die
Partnerin von P19 aber über längere Phasen keine Lust auf Sex. P19 bestätigt, dass ihn diese
Situation nicht befriedige. Kommt es dann einmal zu Vaginalverkehr, so will er dies geniessen
und sich nicht um das umständliche Anziehen eines Kondoms kümmern müssen. So zeigt sich
schliesslich, dass er – wenn sie Vaginalverkehr hatten – diesen über längere Zeit wohl ohne jeInstitut Integration und Partizipation
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den Schutz praktiziert hat. Dabei wusste er, dass seine Partnerin – mit der Ausnahme einer Therapiephase infolge einer zeitweisen Progression in die klinische Stufe 2 – nicht in Therapie ist.
Sieben Befragte (P1, P2, P13, P16; P23, P29, P30) lokalisieren ihre Ansteckung beim Sex ausserhalb ihrer festen Beziehung, beim Sex mit Gelegenheitspartnern.
Bei P1 fand die Ansteckung beim anonymen Sex in der Sauna statt. Er kann die Ansteckungssituation auf Sex mit vier Partnern eingrenzen, wobei er im Verlauf des Interviews immer wieder
auf einen bestimmten Partner zurückkommt. Mit diesem führte er in der Sauna rezeptiven Oralverkehr aus und schluckte dessen Sperma, wobei der Einfluss von Poppers eine Rolle zu spielen
schien. P1 verweist darauf, dass er mit diesem Mann keine explizite Strategie bezüglich des
Oralverkehrs ausgehandelt hatte, sondern angenommen hätte, dass dieser den Penis vor der
Ejakulation zurückziehen würde, was dann jedoch nicht der Fall war. P1 erwähnt nebst dieser
möglichen Ansteckungssituation noch eine Situation mit einem Gelegenheitspartner, wo er sich
ohne Kondom (in Form von „Dipping“) anal penetrieren liess (vgl. P1: 32-36).
P2 lebt seit zehn Jahren in einer festen Beziehung, seit fünf Jahren gehen die Partner jedoch
sexuell getrennte Wege, da sie das sexuelle Interesse aneinander verloren haben (P2: 191-194).
Aufgrund der ihm mitgeteilten Laborergebnisse geht er davon aus, dass er sich vor sechs Wochen vor dem Interviewtermin infiziert haben muss (P2: 42-43). Er hat in diesem Zeitraum nur
einen Sexpartner gehabt, deshalb denkt er, genau sagen zu können, mit wem der zur Infektion
führende Kontakt war:
P2: (…) kann ich es ganz genau auf eine Person reduzieren. Also ich weiss es ganz genau, woher ich es habe.
(P2: 9-11)
Diesen Partner hat er über eine Internetplattform via Chat kennengelernt.
Bei P13 wird aus dem Interview nicht deutlich, in welchem Setting die von ihm identifizierten
sexuellen Risikokontakte stattfanden. Sie sind jedoch nicht im Rahmen der Ehe angesiedelt,
sondern erfolgten alle beim Kontakt mit männlichen Gelegenheitspartnern. Er ging sowohl sexuelle Risikokontakte mit Männern ein, mit denen er nur ein einziges Mal Sex hatte, als auch mit
solchen, mit denen er zwei bis drei Mal sexuell verkehrte. Er betrachtet neben ungeschütztem
anal-rezeptiven auch noch oral-rezeptiven Verkehr mit Ejakulation in seinen Mund als möglichen
Ansteckungsweg.
P16 lebt in einer festen, aber offenen Beziehung, über deren Regeln er sich allerdings nicht auslässt. Er macht aber deutlich, dass er und sein Partner auch mit Dritten Sex haben und dabei
auch schon die Erfahrung gemacht hatten, sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit zu infizieren (vgl. P16dt: 210). Über die Schutzstrategie und das Schutz- und Risikoverhalten im Paar
gibt P16 keine Details preis. Doch sein Schutzverhalten resümierend betont er, er habe immer
Kondome benutzt, in jeder Position, insertiv wie rezeptiv (P16it: 40). Seine Bemerkung hingegen,
dass der HIV-Status seines Freundes zurzeit noch nicht bekannt sei, er aber eigentlich positiv
sein müsste, lässt darauf schliessen, dass P16 und sein Partner zumindest in der rückblickenden
Bewertung durch P16 keine Praxis übten, die eine Infektion mit HIV ausschliesst (P16dt: 305312). P16 attribuiert die HIV-Infektion der von ihm geübten Praxis, beim (rezeptiven) Analverkehr
nicht gleich Kondome zu benutzen, sondern in einer ersten spielerischen Phase die Penetration
ungeschützt zuzulassen und erst in einer späteren Phase ein Kondom einzusetzen (P16dt: 5153). Dieses „Dipping“ dürfte – dies lässt sich aus dem Material leider nicht schlüssig beantworten
– sowohl mit seinem festen, wie auch mit Gelegenheitspartnern praktiziert worden sein. P16 hält
mit Blick auf die Ansteckungssituation zusammenfassend fest, dass sich die Infektion beim „Dipping“ ergeben haben könnte (P16dt: 81), betont aber, dass es dabei nie zur Ejakulation gekommen sei:
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P16: „Di sicuro non ho avuto contatti con sperma, probabilmente ho sottovalutato certe situazioni… del tipo
prenetazione senza preservativo ma senza… orgasmo… può essere successo in questo modo perché comunque
non o avuto rapporti dove qualcuno ha avuto un orgasmo dentro di me.” (P16it: 23-28).
P23 lebt in einer offenen Partnerschaft und hatte in der fraglichen Periode sowohl mit seinem festen Partner als auch mit Gelegenheitspartnern Sex. Diese Treffen fanden bei ihm zu Hause statt
und er berichtet von ungeschütztem rezeptivem Analverkehr, Oralverkehr und Fisten. Nach einem auf das EKAF-Statement Bezug nehmenden Ausschlussverfahren grenzt er die möglichen
Ansteckungssituationen auf den Sex mit zwei Gelegenheitspartnern ein, die er übers Internet
kennen gelernt hatte:
I: Und das grenzt du ein auf zwei Kontakte hast du gesagt? P23: Na ja, also die ich wirklich, äh wo ich mir fast
sicher oder wo ich mir relativ sicher bin. Also es war jetzt nicht so, dass ich jetzt massiv viele Kontakte hatte, vielleicht waren's vier, fünf unterschiedliche Männer. Aber bei Dreien bin ich mir sehr ((lacht kurz)) sicher, dass ich's
von denen nicht haben könnte. I: Wieso? P23: Sie sind beide, oder alle drei sind HIV-positiv, aber sind nicht mehr
nachweisbar. Das heisst, sie sind auf Medikamenten und sie haben keine Viruslast mehr, na? Also das ist … also,
fast wie ((lacht kurz)) geschützter Verkehr, na? I: Wieso weißt du das? P23: Äh, wir, ich kenne sie. Sie haben es
mir erzählt." (P23: 92-109)
P 29 lebt in einer registrierten Partnerschaft. Als er seinen Partner kennenlernte, war dieser bereits positiv. Seit einem Jahr hat aber P29 keinen Sex mehr mit seinem Partner, weshalb er ausschliesst sich bei Sex mit ihm infiziert zu haben. Er fokussiert deshalb auf Sex mit Gelegenheitspartnern, kann aber keine sexuelle Risikosituation im Sinne von ungeschütztem Analverkehr oder
der Aufnahme von Sperma erinnern. Seine vielfachen Überlegungen führen ihn deshalb zur Annahme, die Infektion sei beim insertiven Oralverkehr ohne Ejakulation erfolgt oder mit dem Finger
anal übertragen worden:
P29: "…mais moi je pense que c'est soit un mec qui m'a fait une pipe qu'il avait du sperme d'un autre d'avant
dans la bouche ou soir un gars il est allé avec son doigt dans mon cul, et puis juste avant il était chez un autre
qui était blessé et puis ça je ne sais pas" (P29: 719-724).
P30 lebt ebenfalls in einer festen Partnerschaft. Diese ist aber nicht als offene Partnerschaft definiert und P30 hatte in den letzten Jahren keinen Sex mit anderen Männern als mit seinem Partner – bis auf das eine Mal: Zu Besuch bei einem Kollegen, den er aus dem Militärdienst kannte,
konnte P30 der filmreifen Verführung seines Gastgebers, der ihm den Kaffee überraschenderweise plötzlich nackt servierte, nicht wiederstehen und folgte dessen Aufforderung ihn oral zu befriedigen. Vom Gedanken getragen, "wieso soll ich nicht, oder? Alle leben nur jetzt und heute"
(P30 74-75), liess sich P30 auf rezeptiven Oralverkehr ein. Dabei spürte P30 plötzlich, dass er
Blut im Mund hatte (P30: 76-77). Wie sich herausstellte, hatte sich der Gelegenheitspartner kürzlich das Vorhautbändchen (Frenulum) beim Sex eingerissen. Die Narbe hatte durch den Oralsex
stimuliert zu bluten begonnen.
14 Befragte (P4, P5, P6, P8, P10, P11, P12, P14, P20, P21, P26, P27; P31, P32) befanden sich
zur Zeit der Ansteckung in keiner festen Beziehung und pflegten Sex entweder mit einmaligen
Gelegenheitspartnern oder Sexpartnern, die sie regelmässig trafen, ohne eine über Sex hinausgehende Beziehung zu haben. Eine dieser Interviewpersonen unterhielt in den letzten Jahren
fast ausschliesslich sexuelle Kontakte zu Sexarbeitern (P5). Zwei MSM wussten von ihrem Sexbuddy, dass er HIV-positiv ist (P26, P32).
Auch sie haben sich über unterschiedliche sexuelle Praktiken mit HIV infiziert, wobei nicht bei
allen die Ansteckungssituation mit absoluter Sicherheit rekonstruiert werden kann.
P6 beispielsweise denkt, dass er sich mit grosser Wahrscheinlichkeit beim insertiven Oralverkehr
infizierte, da der Gelegenheitspartner eine Wunde im Mund hatte. P6 wurde von seinem Sexualpartner noch vor dem Sexualverkehr über die Wunde informiert, jedoch war dies für ihn vor dem
Sexualverkehr nicht als Ansteckungsquelle relevant:
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P6: Also ich habe es eigentlich gewusst in dem Sinn. Aber eben, mir ist das nicht bewusst gewesen, dass dies in
diesem Sinne eine Gefahr ist. […] Das ist genau die Problematik wo ich irgendwie gefunden habe ok, gut, irgendwie auf eine gewisse Art und Weise selber blöd, aber also ja in diesem Sinn einfach zu unvorsichtig, dass mir
das in dem Moment nicht bewusst gewesen ist, wo der Typ mir das gesagt hat“ (P6: 260-276).
Neben der subjektiven Theorie von P6, dass die Ansteckung beim insertiven Oralverkehr erfolgt
sein müsse, bestehen offene Fragen bezüglich des Schutzverhaltens beim rezeptiven Analverkehr, der in der gleichen Situation mit dem gleichen Sexualpartner ausgeführt wurde. P6 konnte
zwar durchsetzen, dass sich sein Sexpartner – von dem er nur den Vornamen kennt und weiss,
aus welcher Stadt er kommt – ein Kondom überzog, obwohl dieser zuerst nicht wollte. Er geht
auch davon aus, dass das Kondom nicht vor der Ejakulation entfernt wurde. Ganz sicher ist er
sich jedoch nicht, da er sich bloss noch daran erinnern kann, dass das Kondom irgendwann neben dem Bett lag und benutzt ausgesehen hat (vgl. P6: 147-152). Inwiefern eine Ansteckung
deshalb über anal-rezeptivem Weg erfolgt sein könnte, ist hier nicht abschliessend zu beantworten.
Auch P8 und P10 ziehen in Betracht, dass die Ansteckung beim rezeptiven Oralverkehr, den beide bei einem Gelegenheitspartner nach dem rezeptiven Analverkehr ausführten, erfolgt sein
könnte. Sie stellen sich vor, in dieser Situation möglicherweise Sperma geschluckt zu haben, das
sich noch am Penis des Sexpartners befand. P10 lernte diesen in einem Club kennen und der
Sex fand im Darkroom des Clubs statt. P10 kann jedoch auch nicht ausschliessen, dass sich
beim vorher praktizierten Analverkehr eine Kondompanne ergeben hat. Sicher ist sich P10 jedoch, sich beim Sex mit diesem Partner mit dem HI-Virus angesteckt zu haben, da er in dem in
Frage kommenden Zeitraum der HIV-Infizierung nur mit dieser Person sexuell verkehrte (P10:
267-272). Da hingegen kann P8 die Situation, in der er sich infiziert hatte, nicht genau verorten,
da er im letzten Jahr zahlreiche Gelegenheitspartner hatte. So schliesst er nebst der oben erwähnten Möglichkeit nicht aus, dass das Kondom doch einmal geplatzt sein könnte oder zieht in
Betracht, dass ein Sexpartner das Kondom ohne sein Wissen wieder abstreifte. Zudem erlebte er
rezeptives „Dipping“ und eine Situation, wo ihm der Partner beim rezeptiven Oralverkehr in den
Mund ejakulierte.
Für P20, die nach zwanzig Jahren Ehe seit längerer Zeit alleine lebt, kommt ebenfalls nur eine
Ansteckungssituation in Frage, da sie seit ihrer Scheidung mit niemandem mehr sexuellen Kontakt hatte. Ihr Sexualpartner war ein gleichaltriger guter Freund, welcher sich schon lange eine
Beziehung mit ihr wünschte, was sie aber bisher immer ablehnte. Im Anschluss an dessen Geburtstagsfeier zum 60. Geburtstag, kam es dann bei P20 zu Hause zum Vaginalverkehr. Der
Freund von P20 hatte zwar ein Kondom verwendet, doch war dieses leider beschädigt.
P14 war nach einer Lebensphase mit zwei länger dauernden festen Beziehungen, in denen er
und sein Partner jeweils nach einem gemeinsamen Test auf Kondome beim Analverkehr verzichtet hatten, in den eineinhalb Jahren vor der Diagnose wieder Single und baute sich in dieser
Zeit einen Kreis von Sexpartnern auf, mit denen er sich regelmässig, aber je einzeln zum Sex
traf. Im Zeitraum vor der Diagnose bestand dieser Kreis von „sex buddies“ aus fünf Männern, die
er alle über die Internetplattform Gayromeo kennengelernt hatte. Diese Treffen fanden stets bei
einem der Männer oder bei P14 zu Hause statt.
Nach seiner Diagnose informierte P14 seine fünf Sexpartner und erntete unterschiedliche Reaktionen. Von drei Männern erhielt er keine Rückmeldung. Sie zogen sich zurück (P14: 22-29).
Zwei Männer machten auf seine Information hin einen Test. Einer hatte ein negatives Testergebnis, der andere ein positives. Mit diesem Mann hatte P14 im Jahr vor dem Interview ebenfalls regelmässig Sex. Er betont aber, dass diese Kontakte immer „geschützt“ abgelaufen seien – „bis
auf einmal“ (P14: 42) „Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei ihm war“ (P14: 42-43). Dazu
scheint ihm dieser ungesicherte Kontakt zu wenig intensiv und zu wenig lange gewesen zu sein,
um eine Ansteckung möglich zu machen (P14: 1228-1231). Beim Sex mit diesem Partner verlief
der Analverkehr offenbar – bis auf einen kurzen Moment, der wie ein kurzes „Dipping“ klingt –
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immer geschützt. Dies offenbar auf Grund der Einschätzung von P14, dass dieser Mann „sehr
viele Parties zu Hause“ veranstaltet und häufig mit unterschiedlichen Partnern Sex gehabt habe
(P14: 770-772).
Als Fazit gibt P14 deshalb an, dass er nicht sagen könne, welche Situation mit welchem Partner
genau zu seiner Infektion führte. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass er die Infektion beim Sex
mit dem ausgewiesenermassen HIV-positiven Mann ausschliesst, sondern gleichzeitig mit einer
gewissen Regelmässigkeit andere ungeschützte Kontakte hatte.
P21 ist sich sicher, die Ansteckungssituation genau identifizieren zu können, weil er im fraglichen
Zeitraum nur mit einem Mann Sex hatte (P21: 38-39). Dabei hatte er gegen seinen Willen ungeschützten rezeptiven Analverkehr. In der Annahme, dass ein Konsens bestünde, dass beim
Analverkehr Kondome benützt werden (P21: 483-486) und anderenfalls jener, der ungeschützten
Sex haben möchte, vorher das Einverständnis des Partners einhole, sah er sich von der Tatsache überrascht, dass ihn sein Partner ohne vorgängige Klärung der Situation und Wünsche ohne
Kondom penetrierte:
P21: Et puis beh tout de coup je me suis retrouvé avec son machin là derrière voilà, et puis ben je me suis rendu
compte qu‟il n‟y avait pas de capote! (P21: 492-495)
P21 forderte seinen Partner auf, ein Kondom überzuziehen. Dieser sagte darauf, er würde es tun,
tat es aber nicht (495-498).
P26 weiss, dass er sich beim Sex mit einem Gelegenheitspartner angesteckt hatte, von dessen
HIV-Infektion er wusste. Lässt er zunächst offen, ob er sich beim Sex mit diesem inzwischen regelmässigen Sexpartner oder beim gemeinsamen injizierenden Kokainkonsum infiziert habe, wird
im Folgenden deutlich, dass er mit diesem Partner "unzählige Male" (P26: 581) und im Bewusstsein um das Infektionsrisiko ungeschützten Sex hatte. Die Benutzung von Kondomen war für ihn
kein Thema (P26: 252-290).
In der Situation, in der sich P27 infizierte, verbanden sich Sex und der Konsum von Drogen. P27
lernte einem Mann aus Brasilien kennen und hatte über mehrere Monate regelmässig Sex mit
diesem alleine, bis er auch dessen Freund kennenlernte und eine einigermassen komplizierte,
auf Sexualität beschränkte Dreierbeziehung einging. Im Rahmen eines 'guten' (P27: 103), aber
auch 'verrückten' Abends (P27: 113), an dem sie eine Reihe von Drogen kombinierten (Alkohol,
Marihuana, Kokain und synthetische Drogen) ging P27 mit dem Mann aus Brasilien ungeschützten rezeptiven Analverkehr ein.
P27: j'ai laissé faire ehm, il en ce moment j'ai pas eu de problèmes (P27: 21-22).
Als alleinstehende Frau hatte P31 nach einer Phase längerer Abstinenz mit zwei Gelegenheitspartnern Sex. Mit beiden Männern verkehrte sie im fraglichen Zeitraum. Der eine Mann, ihr Notfallpsychiater, kämpfte dabei mit Errektionsproblemen, weshalb sie ausschliesst, sich beim Sex
mit ihm infiziert zu haben. Sie geht deshalb davon aus, sich in einer von ihr (unter Zuhilfenahme
ihres Tagebuches) genau datierbaren Nacht infiziert zu haben, in der sie mit dem anderen Gelegenheitspartner mehrmals, intensiven und ausgedehnten Sex hatte.
Die Ereignisse beginnen mit der Kontaktnahme in der Bar, wo P31 auch Alkohol konsumiert
(P31: 317) P31: "wir haben dann ziemlich viel getrunken, oder." (P31: 380-381). Sie geht mit dem
portugiesischen, wenig Deutsch sprechenden (P31: 390) Mann, den sie bei anderer Gelegenheit
als "Macho-Macker sondergleichen" bezeichnet (P31:427-428), nach Hause. Als es zum Sex
kommt sagt P31, dass sie möchte, dass er ein Kondom benutzt. Doch er übergeht ihren Wunsch
und wischt das Thema mit einem Nein vom Tisch.
P31: ich hatte ihm noch gesagt, wir müssen aber Kondome nehmen. Sagt er, oh nein ((betont)). ... „mhm“ Dann
habe, dann bin ich, dann habe ich dann gedacht, ja gut, dann hat er halt keine. (P31: 330-334)
P32 hingegen ging bewusst und seit Jahren regelmässig ungeschützt Sex ein. Dennoch benennt
er genau eine Situation, in der er sich infiziert hat. Die Infektion ereignete sich demnach beim unInstitut Integration und Partizipation
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geschützten rezeptiven Analverkehr mit einem HIV-positiven Mann, der – wie P32 hervorhebt –
nicht in antiretroviraler Therapie ist und mit dem er bereits vor dessen Serokonversion regelmässig ein bis dreimal in der Woche verkehrte. Von diesem Partner hatte er bereits ein Jahr zuvor
eine Lues "eingefangen" (P32:51). Ein paar Wochen nach der Lues-Ansteckung eröffnete ihm
dieser Sexpartner, dass der HIV-Test bei ihm positiv ausgefallen ist. Trotzdem entschieden sie
sich, weiterhin ungeschützt zusammen zu verkehren.
P32: ja, irgendwo, auch mit dem, mit dem Wissen, was, was, was äh passieren kann (…). (P32:62-63)
Dreiviertel Jahr ist dies gut gegangen, bis zur bewussten Nacht. P32 hatte in dieser Nacht zuerst
einen ungeschützten sexuellen Kontakt mit einem HIV-positiven, therapierten Mann, verliess diesen jedoch unbefriedigt und traf sich noch mit dem Ansteckungspartner. P32 verliess seinen
Sexbuddy mit dem intuitiven Gefühl, sich eben infiziert zu haben. Dafür macht P32 den Umstand
verantwortlich, dass dieser Sexpartner noch nicht in Therapie sei:
P32: Wenn einer seine regel-, seine Medikamente nicht regelmässig nimmt oder eben gar nicht nimmt, weil er
jetzt noch am warten ist bis die Werte zu hoch sind, bis er anfängt mit Therapie. "mhm" Ist halt nicht das gleiche,
oder. Und dort bin ich eigentlich drein gelaufen, oder. (P32:341-347)
Schliesslich sind jene Fälle anzuführen, bei denen der Risikokontakt, der nach deren Ansicht zur
Infektion führte, auf Reisen im Ausland stattfand. Die drei MSM hielten sich zwecks Sprachaufenthalt (P4), Ferien (P11) bzw. Besuch einer Familienangehörigen (P12) in einer europäischen
Grossstadt auf. Der jüngste MSM im Sample – P11 mit 22 Jahren – wohnte auch gleichzeitig bei
seinem Gelegenheitspartner, den er in einem Club kennenlernte. Bei P11 wie auch P12 erfolgte
die Ansteckung über ungeschützten rezeptiven Analverkehr mit einem Gelegenheitspartner, mit
dem sie zuvor schon mehrere (geschützte) sexuelle Kontakte eingegangen sind. P4 hatte während seines Sprachaufenthaltes Kontakt zu fünf Gelegenheitspartnern. Mit zwei davon kam es
neben Oralverkehr auch zu rezeptivem Analverkehr, wobei beim einen eine Kondompanne zu
ungeschütztem Sex führte. P4 betrachtet beide Sexpartner als mögliche Ansteckungspartner.
Ausschliessen will er aber auch nicht, dass er sich vielleicht beim rezeptiven Oralsex angesteckt
hat, indem er eventuell etwas vom Präejakulat schluckte.
3.3
HIV-Schutzstrategien
Unter „HIV-Schutzstrategien“ verstehen wir hier Handlungspläne, die sich Menschen bezüglich
eines Schutzes vor HIV machen. Diese umschreiben, wie sich Menschen in bestimmten Situationen hinsichtlich einer HIV-Infektion zu verhalten gedenken.
Die Rekonstruktion der schutzbezogenen Handlungspläne, die sich die Befragten in der Zeit vor
ihrer Infektion zurechtgelegt hatten, zeigt, dass sie sich unterschiedlich zu HIV bzw. zum Schutz
vor einer HIV-Infektion positionierten.
Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Befragten unterscheiden hinsichtlich des Grads der Explizitheit, mit der sie Massnahmen zum Schutz vor HIV vorsahen, und der damit einhergehenden
Intentionalität, diese zum Schutz vor einer Übertragung von HIV auch umzusetzen.
Einerseits finden sich Personen, die für sich eine explizite, ausformulierte Strategie zum Schutz
vor HIV entschieden hatten und diese zu ihrem Schutz umzusetzen gedachten. Andererseits finden sich Personen, die – zum Teil lange – vor ihrer Infektion und im Bewusstsein um die damit
verbundenen Risiken darauf verzichteten, sich aktiv vor einer sexuellen Übertragung von HIV zu
schützen und keiner expliziten HIV-Schutzstrategie mehr folgten.
Die HIV-Schutzstrategien, denen die Befragten folgten, die sich explizit vor einer Übertragung
des Virus schützen wollten, können weiter hinsichtlich der Effektivität differenziert werden, mit
der sie eine Infektion auf sexuellem Weg auszuschliessen vermögen. Ein Teil der Befragten folgten einer – nach Massgabe der Präventionsbotschaften – sicheren, weil risikominimierenden
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Strategie. Andere Befragte verfolgten eine nicht adäquate Strategie. Weiter finden sich Befragte
mit Strategien, die von vornherein nicht auf die Minimierung des Übertragungsrisikos zielten,
sondern auf eine Risikoreduktion unter Vermeidung des Gebrauchs von Kondomen. Und
schliesslich findet sich auch eine Gruppe, die verschiedene, abgestuft zum Einsatz gelangende
Vorgehensweisen zu einer flexiblen Strategie gegen HIV kombinieren.
Unter den Befragten, die keiner expliziten HIV-Schutzstrategie folgten, kann aus biografischer
Perspektive hinsichtlich der Dynamik zwischen jenen unterschieden werden, die sich (lebenszeitlich stabil) schlicht keine HIV-Schutzstrategie zurechtgelegt haben, und jenen, die im Laufe ihrer
sexuellen Biografie von einer ursprünglich verfolgten risikominimierenden Strategie abgekommen
sind und in einer (mehr oder länger dauernden) Phase vor ihrer HIV-Infektion keine mehr anwendeten. Dabei konnten zwei unterschiedliche Verlaufsformen rekonstruiert werden: Einerseits eine prozesshafte Entwicklung über unterschiedliche Stadien und Schritte hinweg im Sinne einer
sukzessiven Erosion des Schutzverhaltens und andererseits eine ereignishafte Abkehr im Sinne
eines Bruchs.
Abbildung 3: Systematische Darstellung der rekonstruierten HIV-Schutzstrategien
3.3.1 Personen mit expliziter Schutzstrategie
Die Strategien, die sich die Befragten explizit zum Schutz gegen eine HIV-Übertragung zurechtgelegt haben, sind unterschiedlich effektiv zu betrachten. Sie werden im Folgenden beschrieben
und im Material verankert, um sie anschaulich werden zu lassen.
a)
Risikominimierende Safer Sex-Schutzstrategie
Personen mit einer "sicheren" Strategie streben nach einer Risikominimierung und schützen sich
gemäss den Regeln des Safer Sex (BAG). Bei eindringendem Verkehr schützen sie sich durch
die Benutzung eines Kondoms und bei Oralverkehr vermeiden sie den Kontakt mit Sperma bzw.
Menstruationsblut.
Als Beispiel hierfür kann P11 gelten, der bis zum Ansteckungszeitpunkt von einer durchgängigen
und konsequenten Anwendung einer sicheren Schutzstrategie berichtet.
P11: Ja, das [der Schutz vor HIV] war grundsätzlich immer. Wirklich immer, das war mir immer ein ganz hohes
Anliegen, und … ja immer, immer, immer habe ich aufgepasst und geschaut und eben bei allen meinen Freunden
bin ich der Moralapostel, was dieses Thema angeht. Ja. (P11: 83-87)
Diese risikominimierende Strategie wird z.T. bewusst durch Vorbereitungshandlungen flankiert,
damit sie im entscheidenden Moment auch zum Zug kommen kann. Dazu gehört, die Verfügbarkeit eines Kondoms zu sichern:
P5: (…) also sozusagen habe ich immer ein Ding ((betont)) dabei. (P5: 219-220)
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Zum Teil wird von langer Hand und sehr gewissenhaft vorbereitend dafür gesorgt, dass die Kondome auch tatsächlich die gesuchte Sicherheit bieten. So kontrollierte z.B. P31, als sie nach einer Phase sexueller Abstinenz plant mit einem Mann Sex zu haben, das Ablaufdatum ihrer – vielleicht aus früheren sexuell aktiven Phasen übrig gebliebenen – Kondome und kauft dann neue:
P31: "eben ich habe immer Kondome da und dann habe ich diese Kondome kontrolliert und habe gesehen sie
sind abgelaufen, oder. Vorsichtig wie ich bin habe ich gedacht, ja die wirfst du lieber fort und kaufst Neue, oder.
Habe ich neue Kondome gekauft im Hinblick eben ... (P31: 14-20)
Zudem wird im Material deutlich, dass risikominimierende Strategien einer Einbettung in kommunikative Kompetenzen bedürfen. Deutlich wird dies, wenn Personen mit risikominimierender Strategie von Situationen erzählen, in denen sie den Kondomgebrauch bei ihrem Sexpartner durchsetzen mussten:
P6: (…) und ich weiss noch, dass der Typ irgendwie zuerst gefunden hat, ach komm, ohne und so, Blabla, und
ich habe gefunden, das läuft nicht bei mir, das will ich nicht. (P6: 120-123)
In einer Situation mit Vaginal- oder Analsex den insertiven Part innezuhaben, macht die Personen mit risikominimierender Strategie bei der Umsetzung ihrer Strategie zu einem gewissen Grad
hingegen unabhängiger von einer gelingenden Kommunikation wie auch von den Strategien des
Sexpartners. P17 zeigt z.B. auf, wie er mit dem aktiven Part zugleich die Kontrolle für das sichere
Überstreifen des Kondoms übernehmen konnte (vgl. P17: 775-789).
In der Gruppe der Befragten haben sich P5, P6, P8, P10, P11, P17, P20, P21, P27, P29 und P31
für eine risikominimierende und insofern (die richtige Umsetzung vorausgesetzt) "sichere"
Schutzstrategie entschieden (Coates, et al., 2008).
b)
Nicht adäquate Schutzstrategien
Personen dieser Gruppe weisen zwar eine Schutzintention auf und wollen sich vor einer Infektion
mit HIV schützen. Sie verfolgen aber Strategien, die faktisch kaum einen Schutz vor einer Ansteckung mit HIV zu bieten vermögen. Bei dieser Art der Schutzstrategie erfolgt beispielsweise
eine Einschätzung der Gesundheit aufgrund der äusseren Erscheinung des Partners/der Partnerin, oder es wird nach der sexuellen Vergangenheit, nach dem HIV-Status, resp. Testergebnissen
kurz vor dem Sex gefragt.
So vertraut P13 bei ungeschützten Sexualkontakten darauf, dass sein Sexpartner ihm die richtige
Auskunft über das Resultat seines letzten HIV-Tests gibt.
P13: (…) on s‟est vu 2-3 fois et puis on parlé et puis il m‟a dit qu‟il avait fait le test et puis eh et puis peut-être
que c‟est vrai que eh eh dans l‟excitation on eh de se dire ah ben enfin non c‟est bon eh oui plutôt que de se dire
il faut quand même se protéger. (P13: 431-436)
P30 setzt zu seiner Absicherung darauf, den Partner nach seinem Gesundheitszustand zu fragen
und hinsichtlich seiner äusserlichen Erscheinung zu begutachten.
P30: Also. Also ich habe mir meine Partner ausgesucht äh ich sage jetzt mal, rein optisch. Und äh habe mich versichert, aber ähm, also rein verbal versichert. (P30: 467-470)
Eine zusätzliche Sicherheit fand er in regelmässigen HIV-Tests.
In der Gruppe der Befragten sind, wie dargestellt, P13 und P30 einer inadäquaten Schutzstrategie gefolgt.
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c)
Risikoreduzierende Schutzstrategie
Strategien der Risikoreduktion bieten keinen sicheren Schutz vor einer Ansteckung mit HIV. Es
sind Vorgehensweisen, die zwar eine Reduktion des Infektionsrisikos bedeuten, aber das Risiko
für eine Infektion nicht minimieren. In der Literatur werden gleich mehrere alternative Verfahren
des Risikomanagements den Risikoreduktionsstrategien zugeordnet: Serosorting (Wahl eines
Sexualpartner mit gleichem Serostatus), strategic positioning (Übernahme des insertiven Parts
beim Analverkehr aus der Berechnung heraus, dass diese Position mit einem geringeren Übertragungsrisiko verbunden ist), dipping (Unterbruch der Penetration, um eine Ejakulation im Partner zu vermeiden) oder auch die Aushandlung von ungeschütztem Sex in Abhängigkeit der Viruslast (negociation around viral load; wobei HIV-negative Partner eher zu ungeschütztem Sex
bereit sind, wenn die Virämie beim Partner supprimiert ist) (Jin, et al., 2007).
Mit P16 findet sich ein Nutzer von Risikoreduktionsstrategien. P16 übt die Praxis des „Dippings“
und führt dafür zwei Gründe an. Zum einen verweist er auf die Spontaneität beim Sex und die
Erfahrung, davon mitgerissen zu werden. Dies führt dazu, dass er nicht gleich eingreifen und den
Lauf der Dinge blockieren mag. „Dipping“ gestattet es ihm, spontan mit der
Penetration zu spielen und die Entwicklung des Sex erst später unterbrechen zu müssen (P16dt:
59-69; 626-630). Diese Strategie erlaubt ihm also aus subjektiver Sicht, Spontaneität und das für
Sex typische „Sich-gehen-lassen“ mit dem Schutz vor einer HIV-Infektion zu verbinden. Zudem
wird diese Praxis von der Erfahrung aus der ersten Phase seiner sexuellen Biografie unterstützt,
in der er die Erfahrung gemacht hatte, dass es auch mal zu ungeschütztem Sex gekommen ist,
ohne dass dies Folgen gezeugt hätte. Diese Erfahrung wird in die aktuelle Praxis des „Dippings“
mit hineingetragen in Form der Schlussfolgerung: „ti dici mi è andata bene li, perché non può andarmi bene li“ (P16it: 73-74). Zudem bemängelt P16 hinsichtlich des „Dippings“ – wie auch hinsichtlich anderer Praktiken – das Fehlen präziser Informationen. Er meint, dass unterschiedliche
Einschätzungen zum Infektionsrisiko des „Dippings“ kursierten. Damit bezeichnet er letztlich sein
Wissen um die Infektionsrisiken der von ihm gewählten Risikoreduktionsstrategie als mangelhaft:
P16it: Perché io non sapevo, come ti dicevo, ci sono troppi pareri discordanti su come si può come prendere. Non
avendo mai capito se é vero che una penetrazione la devi fare... fino all'orgasmo o meno, mi sono detto: ma bon,
mi lascio trasportare un attimo e comunque blocco perché dentro non deve venirmi nessuno. E in quel modo mi
fidavo forse del modo di pensare perché comunque era basato su quello che sapevo o su quello volevo credere
sapere. Perché di per se non ho letto mai da nessuna parte: evita proprio il... la penetrazione... Sarebbe bello
vedere una lista con su cosa non fare, non é che sono cinquantamila cose... sono chiare, però semplicemente un
po' più preciso. Se avessi letto veramente, nessuna penetr- una cosa più molto più ufficiale, nessuna penetrazione senza preservativo, non l'avrei mai fatto probabilmente. (P16it: 878-894)
Hierbei ist interessant zur Kenntnis zu nehmen, zu welch brisanter „Präventionsinformation“ das
EKAF-Statement (Vernazza, et al., 2008) und die Aktion „Mission Possible“ in der Szene vor Ort
miteinander verquickt worden sein müssen: HIV lässt sich eindämmen, es infiziert einen nur in
den ersten drei Monaten – danach darf man wieder Sex ohne Kondome machen.
P16: „Tempo fa c‟era addirittura… la prevenzione, la pubblicità sul sesso di… di, che si potrà bloccare l‟AIDS,
L‟AIDS colpisce solo nei primi tre mesi… dopo tre mesi si può farlo anche senza preservativo. E girava questo,
specialmente nei locali gay, questa prevenzione qua. Blocchiamo l‟AIDS nei primi tre mesi perché è li che puoi
infettare qualcuno. Io ci sono rimasto male perché uno non so se è vero“. (P16it: 112-120)
Eine ganz ausgefeilte, in der Literatur u.W. noch nicht beschriebene Risikoreduktionsstrategie
findet sich bei P24.
Dieser MSM suchte nach einer Möglichkeit, auf Kondome verzichten zu können, ohne deswegen
ein erhöhtes Risiko einer HIV-Infektion auf sich nehmen zu müssen. Serosorting, was damals
bedeutet hätte, HIV-negative Partner zu suchen, hielt er für zu wenig verlässlich. Von diffundiertem klinischem Wissen – damals noch eher Vermutungen – leitete er her, dass ungeschützter
Sex mit HIV-positiven Partnern in erfolgreicher Therapie das sicherste sei. Er suchte deshalb
nach HIV-positiven Partnern in Therapie.
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Damit findet sich hier eine weitere Variante von Risikoreduktionsstrategien. Zum einen sortiert er
Partner aus, die ihm keine Gewähr leisten, sich trotz ungeschütztem Sex nicht zu infizieren. Damit begibt er sich in die Logik des Aussortierens (sorting) von Sexualpartnern in solche, auf die er
sich einlässt, und andere.11 Anders als beim bekannten serosorting folgt die Entscheidung für einen Partner allerdings nicht dem Kriterium der HIV-Infektion an sich. Vielmehr wird sie vom Kriterium geleitet, ob der mögliche Partner HIV-positiv und in Therapie ist. Und im Gegensatz zur Beobachtung, dass sich in serodiskordanten festen Partnerschaften von MSM HIV-negative Partner
eher in ungeschützten Verkehr einwilligen, wenn die Virämie des Partners unterdrückt ist (Van de
Ven et al., 2005), wendet P24 sein Vorgehen gerade auch bei Gelegenheitspartnern an und
macht den Verzicht auf den Schutz nicht zur Verhandlungssache (wie negociation around viral
load zum Ausdruck bringt (Jin, et al., 2007)), sondern zum Auswahlkriterium eines Partners.
Dieses Vorgehen soll hier kategorial von serosorting und negociation around viral load unterschieden und als Treatment Sorting bezeichnet werden.
Die Entscheidung für Treatment Sorting steht bei P24 am Ende eines mehrstufigen und über
Jahre dauernden Prozesses der nach der Veröffentlichung des EKAF-Statements eine ganz entscheidende Wendung nimmt. Da diese Entwicklung für die Prävention interessante Einblicke in
subjektive Ausgangslagen, den Einfluss von sozialen Beziehungsnetzen, die Rolle des EKAFStatements in der (Bareback-)Szene und den Entwurf dieser Strategie gibt, soll der Fall P24 an
dieser Stellle ausführlich dargestellt werden.
Exkurs: P24
P24 erzählt, dass er vor seiner längeren Beziehung, wie auch während der etwa 5 Jahre dauernden offenen Beziehung, die er zwischen 20 und 30 Jahren hatte, ungeschützten Sex hatte. Diese
Episoden von ungeschütztem Sex werden aber als "Ausrutscher" (P24:147 und 148) und "Unfälle" (P24: 159) bezeichnet. Damit wird deutlich, dass der Vorsatz oder die Selbstverpflichtung bestand, Kondome zu benutzen. Ausgangspunkt der Entwicklung war demnach eine Strategie des
Safer Sex. Diese Strategie konnte aber nicht immer umgesetzt werden.
Hintergrund dieser "Ausrutscher" und "Unfälle" dürfte sein, dass Kondome die Erlebnisqualität
des Sex beeinträchtigten:
P24: Ja, eben, Unfall. Eben, diese Unfälle sind immer dann passiert, wenn ich quasi, ok, du bist irgendwie drauf,
und dann ist es gerade lässig, und dann … willst einfach nicht das Kondom nehmen. (P24: 264-267).
Genauer betrachtet ergab sich die Beeinträchtigung zum einen daraus, dass Kondome ihn bei
der aktiven Penetration stören, weil sie die Erektionsprobleme verstärken, die er (z.T. wohl unter
Drogen) verspürt. Ergänzend führt er reflektierend aus, dass die Störung aber nicht nur von der
körperlichen Beeinträchtigung ausgehe, sondern eine psychologische Komponente habe. Kondome verwehren Nähe. Und wenn er auch reflektieren kann, dass dieses Moment nicht rational
ist, erlebt er die Beeinträchtigung in der Situation als real und eine Reduktion der Erlebnisqualität
des Sexes.
P24: Ja, ja. Ist eine ganz, ganz gute Frage. … Manchmal habe ich das Gefühl, man redet sich das wirklich ein,
dass es stört. Also ich w- , eben, wenn ich mir das wirklich, wirklich überlege, hhhh. Ich glaube nicht, dass es
stört. Es kann stören bei, bei Aktiv-Sein, weil, also ich persönlich habe sowieso manchmal noch Schwierigkeiten
im richtigen Moment dann noch hart zu werden und nachher das dann auch noch, ist immer so ein bisschen die
Frage. Beim Passiv-Sein ist es glaube ich wirklich nur, dass man es sich einredet, dass es anders sei. (mhm) Also
… Ja, die psychologische Komponente spielt eigentlich eine wahnsinnig grosse Rolle beim Sex. Das habe ich gemerkt. Oder es ist halt schon das, ja, jetzt kann man es irgendwie noch genauer auseinander nehmen. Es geht
halt schon um eine Nähe, wo, wo, … auch wenn man das Kondom nicht spürt, man weiss, es ist da. (mhm) Und
11
Wir folgen hierin dem Verständnis von Prestage et al. (2009), die serosorting definieren als "selecting sexual partners on the
basis of a perceived common or shared HIV serostatus that may or may not be confirmed by knowledge of HIV test results" (p.
4).
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eigentlich wenn man ein bisschen herumfragt, sagt das fast jeder schwule Mann, dass es … dass man ja eigentlich das möchte, oder. (mhm) Natürlich möchte man sich nicht den Gefahren aussetzen. Verstehe ich auch sehr
gut. Aber ähm … man möchte doch jemandem so nahe wie möglich sein. (5) Das ist man ja in dem Fall dann
nicht. Und wenn es auch nur ein Bruchteil von einem Millimeter dick ist. Es ist im Kopf. Ja, ich glaube, es ist für
mich genau das. (ja) Eigentlich kommt es nicht einmal so darauf an, ob es nur im Kopf ist oder ob es wirklich so
ist. (P24: 301-324)
Er resümiert sein Erleben:
P24: Das ist dann einfach wie eine Tatsache. Es ist nicht so geil wie ohne. (P24: 324-325)
Im Hintergrund dürfte zudem ein Unbehagen darüber gesteckt haben, dass man Sex nur auf eine
Art haben dürfe, die einem die Aids-Hilfe (!) vorschreibe. Dies wird dann deutlich, wenn er beschreibt, dass der spätere Entschluss zum ungeschützten Sex auch eine gewisse "Trotzreaktion"
(P24: 425) auf die Vorschriften der Aids-Hilfe gewesen sei, die so absolut vorgetragen würden
und ihm die Lust beim Sex verdarben: Es heisse bei den Safer Sex Regeln "immer" und "nie"
(P243: 1055-1056)
P24: Weil, eben, das ist ein Absolutheitsanspruch, den man gerade als junger Mensch so ein bisschen … Also
wenn es "immer" heisst, dann sage ich erstrecht "nie", und wenn es "nie" hiesst, sage ich erstrecht "immer". Also. … Kenne ich von mir und kenne ich von anderen auch, dass man das, dann irgendwie gerade extra. (P24:
1069-1074)
Die "Ausrutscher" und "Unfälle" steckte P24 aber nicht einfach weg.
P24: Und dann macht man sich im Nachhinein dann eben irgendwie Gedanken und Sorgen und Vorwürfe. (P24:
267f)
Er verdrängte das eingegangene Infektionsrisiko nicht und er bagatellisierte HIV nicht. Vielmehr
ging er zum Test. Das Warten auf das Ergebnis erlebte er als Moment mit "psychischem Stress"
(P24: 150). Und in der Zeit, in der er in einer Beziehung lebte, erhöhten sich die unangenehmen
Folgen noch durch die Tatsache, dass er seinen Partner informieren musste.
P24: Und dann ist jedes Mal hat das … ((seufzt)). Gut, einmal auf das Testergebnis warten. Psychischer Stress
und so weiter. Ähm … dann in der Beziehung ist es gerade noch einmal schwieriger gewesen. Weil da muss man
irgendwie Heim gehen und nicht nur sagen, du es ist was gewesen, sondern auch: es ist wieder etwas gewesen
und ich habe nicht aufgepasst. (P24: 148-154)
Schmerzhaft scheint nicht nur zu sein, dass da "etwas gewesen ist", sondern "wieder" etwas gewesen ist. Ausserdem brachte dies mit sich, dass er dann beim Sex in der Beziehung auch Kondome verwenden musste, auf die Partner sonst (wohl mehrheitlich) verzichteten. Doch wenn er
sich in jener offenen Beziehung nicht konsequent schützte, war doch gleichzeitig klar – wenn
auch nicht offen ausgehandelt und abgesprochen – dass Sex ausserhalb der Beziehung geschützt ablaufen sollte.
P24: Das Arrangement ist ganz klar gewesen, dass es eine offene Beziehung ist, dass man aber ganz klar darüber
spricht, wenn etwas passiert ist, und natürlich ähm, ich glaube eher unausgesprochen, ist es schon klar gewesen,
dass man sich schützt ausserhalb
I: Ausserhalb
P24: Mhm. Ähm innerhalb, nicht immer…. Ja, also wir haben uns natürlich geschützt, wenn, wenn es wieder einmal so etwas gewesen ist .
I: Ähm. Und. Also das heisst, wenn ich richtig verstehe: In der Beziehung haben Sie eigentlich ähm Sex ohne
Safer Sex-Schranken gehabt.
P24: Mhm
I: Das heisst ohne Kondome, mit Abspritzen, mit allem.
P24: Mhm. Allerdings muss ich jetzt wirklich zu jener Beziehung auch sagen, das ist ähm sexuell nicht so aktiv
gewesen, innerhalb der Beziehung, sowieso. (mhm) Aber ähm grundsätzlich ja. (P24: 184-201)
Diese Stressphasen möchte er nicht mehr erleben müssen. Dies führte nun aber nicht zur Bekräftigung der Safer-Sex-Strategie und deren konsequentere Umsetzung. Denn gleichzeitig wie er
die "Ausrutscher" registrierte, war ihm jeweils auch bewusst, dass er Sex ohne Kondom mag.
Deshalb entschied er sich, den wiederkehrenden Spannungszustand zu eliminieren der sich aus
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drei Quellen ergab: a) aus dem Widerspruch von Lusterfüllung und Safer-Sex; b) aus der Spannung zwischen Vorsatz und dessen Verletzung (Unfall), und c) während des Wartens auf den
Test. Er räumte den Spannungszustand aus, indem er sich für seine Vorlieben entschied und
sich damit Sex ohne Kondom erlaubte.
P24: Ähm … und ich weiss nicht, was genau dann der Motivator gewesen ist. Aber wahrscheinlich ist es schon
diese Überlegung gewesen: Ich mag mich nicht mehr diesem psychischen Stress jedes Mal aussetzen, immer
wieder, immer wieder sehen, ist es, eben, eben so diese, eben die klassischen Unfälle immer wieder zu produzieren, sondern halt einfach mir ganz klar sagen: Doch ich stehe auf das und ich möchte das gerne … und wenn ich
Leute finde, die das mit mir machen, gut. (P24: 154-162)
Der Verzicht auf Kondome wird deshalb der Sphäre des mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen
belasteten Versagens ("Ausrutscher" und "Unfälle") enthoben und zum entlasteten Normalfall erklärt. Es ist das Ende der "Selbstkasteiung" (P24: 797) und der "Selbstvorwürfe" (P24: 1098).
Dahinter stand der Entscheid für sein Lustempfinden beim Sex (und sein Skript der Nähe).
P24: Ich bin mir die Gefahren, der Gefahr oder der Risiken ganz klar bewusst gewesen. … Ähm habe aber eigentlich in nüchternem Zustand mir gesagt gehabt einmal, ähm, ich lass mir den Spass nicht nehmen. (P24: 28-32)
Dieser Übergang zum ungeschützten Sex stellte also den Endpunkt einer längeren Entwicklung
dar, erfolgte aber nicht schleichend und anders als bei P32, der davon spricht, der Verzicht auf
Kondome hätte sich nach und nach ergeben, sich also "eingeschliffen". P24 trifft zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bewussten Entscheid, auf Kondome zu verzichten, und zwar "in nüchternem Zustand" (siehe oben) und nach einer "Risikoanalyse" (P24:343).
P24: Ich habe, ja, ich habe, ja, ich habe relativ rational einen Risikoanalyse gemacht, (ja) und mir gesagt, also
die Abwägung ist wirklich gewesen, auf der einen Seite diese, diese Unfälle, wo, wo ja quasi nicht Unfälle sind,
weil ich es doch eigentlich will (mhm) und auf der anderen Seite eben das Bedürfnis. Und jetzt kann ich dieses
Bedürfnis ausleben. Also es ist für mich wirklich ganz klar die Überlegung gewesen, ähm, es ist glaube ehrlicher
mir gegenüber, wenn ich das so mache … also wenn ich jetzt so tue: Safer Sex immer, ja, ja, klar, ich halt es ein.
Aber dann passiert jedes Mal wieder das, wo … wo eigentlich der Wunsch wäre. Ähm. Dann eben sind auch noch
eben die ganzen Überlegungen hinein gekommen mit ok, ich weiss, ähm Therapie wird wahrscheinlich anstrengend sein, weil man halt doch täglich diese Tabletten nehmen muss, was man übrigens es nachher so richtig
weiss, was es bedeutet. Das weiss man vorher nicht. Aber ich habe das so zu mir gesagt, ja, so schlimm kann es
nicht sein. Ähm. Dann eben auch, das ähm, ich werde nicht auf ewig ansteckend bleiben mit der Therapie. Das
ist auch eine Überlegung gewesen. Also (5) also das ist wirklich so das Abwägen gewesen zwischen den Fakten …
und meinen Bedürfnissen, eigentlich. (P24: 342-362)
Dass er mit dem Verzicht auf Kondome oder anderen Strategien der Risikominimierung oder
auch nur -reduktion ein Risiko einging, wusste er.
P24: Dann liegt es aber einfach an mir, dann nachher am Schluss zu sagen, ähm, ok, jetzt bin ich halt das Risiko
eingegangen, also … besteht halt die Gefahr, dass etwas ist. (P24: 162-165)
Die Fakten, die er mit in die Abwägung einfliessen lässt, ob er noch länger im Namen des Schutzes und des Kondomgebrauchs auf die Befriedigung seiner sexuellen und emotionalen Bedürfnisse verzichten sollte, stammen u.a. aus der "Studie" der EKAF (P24: 244). Er findet aber nicht
selbst zu diesem Schlüsseldokument, das ihm den Weg in eine kondomfreie Zukunft und seiner
künftigen Schutzstrategie weist. Vielmehr wird er im Zusammenhang mit einem "Unfall", der sich
mit einem Gelegenheitspartner ereignet, den er im Netzwerk eines anderen Bekannten in der
Westschweiz trifft, mit der Nase darauf gestossen:
In diesem Netzwerk werden Drogen konsumiert und P24 wusste, dass sein Bekannter mit den
Männern im Netzwerk unsafe Sex hatte.
P24: Ich habe gewusst, der macht unsafe mit den Leuten, die dann jeweils auch dort gewesen sind. (P24: 233f)
Er nahm sich vor, safe zu sein: "Wo wir, wo ich eigentlich immer gesagt habe, es muss safe sein, weil ich
habe einen Freund. (P24: 231-233)
Und dennoch kam es mit einem Mann, der an der Party des Bekannten teilnahm zu ungeschütztem Sex. Nach dem ungeschützten Sex zeigt P24 zunächst seine übliche Reaktion. Er macht
sich "Sorgen" (P24: 242, 254), unsafe Sex gemacht zu haben:
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P24: Dann bin ich quasi so ein bisschen in heller Aufregung gewesen (P24: 235-236)
Er schreibt dem Bekannten und spricht ihn drauf an, dass er mit einem der Gäste ungeschützten
Sex gehabt habe. Dieser Bekannte reagiert mit der Zustellung des Internetlinks zum EKAFStatement:
P24: Und dann habe ich dann eben den angefragt, und ähm so gesagt, ja, jetzt mache ich mir da Sorgen und so,
es sei unsafe gewesen. Und dann ähm schickt er mir den Link von der Studie ähm von der EKAF (mhm), es sei
ok. Sie seien alle therapiert. (P24: 241-245)
Offenbar (nicht ganz sicher) erhält er auch vom betreffenden Sexpartner dieselbe Antwort:
P24: Aber nachher, wo ich gesagt habe, es ist ähm, eben ich mache mir Sorgen, und so, es hätte ja etwas passieren können. Dann hat er mir dann eben geschrieben, … ich solle mir keine Sorgen machen, insofern weil sie
therapiert seien und alle unter-, also nach- nicht nachweisbar. (P24: 253-257)
Dies scheint ein Schlüsselerlebnis zu sein:
P24: Und dann hat es bei mir angefangen zu schaffen. (P24: 245)
Er erfährt so, dass es möglich ist, ohne Risiko auf Kondome beim Sex zu verzichten, wenn der
Partner in wirksamer Therapie sei. Er muss also weniger darauf achten, ob sein Partner allenfalls
HIV-positiv ist. Es ist auch zu beachten, ob in Therapie oder nicht, ob supprimiert oder nicht. Das
Spiel wir neu gemischt:
P24: Und dort bin ich auch zum ersten Mal in Kontakt gekommen mit dem: aha, es gibt also das ((betont)), also,
es gibt nicht nur positiv und negativ. Es gibt … irgendwo auch noch therapiert und nicht therapiert. (P24: 257260)
Dies öffnet P24 den Weg zu einer neuen Strategie, die ohne Kondome auskommt und den Verzicht auf Kondome, den sexuellen Genuss und den Schutz vor einer HIV-Infektion verbinden
lässt. Er sucht nach Bareback-Sex und Partnern, die dafür offen sind - und da die meisten, die er
trifft, HIV-positiv sind, sucht er nach solchen, die in Therapie sind.
P24: …. mit diesem EKAF-Statement oder, wo ich dann wirklich gemerkt habe, aha, ah, Moment, ok, jetzt gibt es
andere Möglichkeiten. Klar, das sagt natürlich ganz klar nur in der Beziehung und das ist mir dann auch bewusst
gewesen. Und es ist denn, also es ist ganz klar in der Szene benützt, also wir sind therapiert, also sind wir nicht
ansteckend - in jedem Zusammenhang. (mhm) Ähm. Hat für mich dann klar, das "immer" mit Gummi und "nie"
abspritzen dann doch entschärft. Habe ich mir gesagt: Aha, ok gut. Es gibt eine Möglichkeit, das zu tun, was ich
gerne möchte. (P24: 1086-1095)
Dies geschieht vor einer veränderten Wahrnehmung von HIV/AIDS und der Therapie. Er hält die
Therapie für "anstrengend". Doch dies wird entdramatisiert:
P24: Aber ich habe das so zu mir gesagt, ja, so schlimm kann es nicht sein. (P24: 357f).
Und auch hierbei unterstützt das Wissen aus dem EKAF-Statement:
P24: Dann eben auch, das ähm, ich werde nicht auf ewig ansteckend bleiben mit der Therapie. Das ist auch eine
Überlegung gewesen. (P24: 358-360)
Dies ist die neue Freiheit, die Aids-Hilfe kann ihm so nichts mehr vorschreiben.
P24: Das Leben dort ist relativ aufregend gewesen, im Moment, einen Moment lang. Ähm. Ja, ist halt so ein bisschen diese Trotzreaktion gewesen, von ich lasse mir sicherlich nicht von einer Aids-Hilfe vorschreiben, was ich
darf und was ich nicht darf. Ähm das hat sicher auch damit zu, hineingespielt, ähm, Ja, relativ eine kurze Phase
ist es aufregend gewesen ((lacht)). (P24: 423-429)
Nun wendet sich P24 der Barebacker-Szene zu, die er so charakterisiert, dass es dort nicht nur
um ungeschützten Sex (mit multiplen Partnern) gehe, sondern stets auch um Drogen. P24 führt
aus, dass auch er zeitweise ein Drogenproblem hatte (vgl. P24: 468).
P24: Und ja, die, der so genannte bare backer-Kreis ist … fast identisch mit dem Drogen-Kreis eigentlich. Also das
ist jeweils erstaunlich, wenn Leute sagen, ich nehme gar nichts (mhm) und will doch Sex ohne Kondom. Also das
ist so … Seltenheitswert. Aber es gibt ein paar. (P24: 668-672)
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In der Bareback-Szene hat er fast nur mit HIV-positiven Männern zu tun. Dies erlaubt ihm, seine
neue Schutzpraxis umzusetzen: Sex ohne Kondom aber mit HIV-positiven Männern, die in Therapie sind. Mit Negativen benutzt er, falls er überhaupt auf solche Männer trifft, Kondome weiterhin. Er lobt das Wissen und die Differenziertheit der Leute, die in der Bareback-Szene verkehren:
Sie wissen eben, dass es nicht nur auf Kondome ankommt, und zeigen den Umgang mit Sex,
den er sich wünscht.
P24: Lustigerweise, seit Anfang ähm … dem letzten Jahr, wo eben dieser Entscheid quasi gewesen war, habe ich
ungeschützten Verkehr quasi nur mit Positiven gehabt oder eigentlich nur. … Mit Negativen ist es eigentlich immer geschützt gewesen. Also soweit ich weiss, (ja) ob sie negativ oder positiv gewesen sind. Oder, das ist natürlich immer, das ist die grosse Frage, die sich immer stellt. Aber ähm, irgendeinmal habe ich für mich sagen
müssen: Du, äh, hä? Warum ist das eigentlich so. (mhm) Und ich weiss nicht, ob das irgendwie, häh, ob diese
Leute halt doch, zumindest in meiner Vorstellung, äh den Umgang mit Sex haben, den ich mir wünsche. (mhm)
(10) Dass, dass Positive eher … aufgeklärt sind über Risiken und sich irgendwie auch Gedanken gemacht haben,
gewisse ähm … und eben nicht nur dieser eine, dieser eine Spruch kennen von der Aids-Hilfe oder die zwei Regeln, sondern auch weiter das Ganze differenzierter sehen können, was also mein Wunsch wäre an die schwule
community. Aber es ist, aber es ist wieder ein weiteres Feld. (mhm) Vielleicht ist es das, dass ich mir diese Leute
ausgesucht habe. Ähm. Natürlich ist auch ein grosser Faktor, dass ich mehr mit Positiven zu tun gehabt habe,
dass diese halt dann auch mehr, eben, diese Geschichte mit Drogen haben und dass, dass das in jener Zeit sehr
wichtig war für mich. Was es jetzt zum Glück auch nicht mehr so ist. Äh (5) Ja, eben, ich glaube, ich habe einfach
Leute gesucht, die gleiche Einstellungen haben, gleiche Vorstellungen.
I: Also jetzt bezüglich dieser Linie, was man sich beim Sex zu machen gestattet?
P24: Genau
I: Also nicht, dass die andere Praktiken anbieten, per seP24: Nö, nägä, das nicht.
I: Das, was Sie umschreiben mit "mehr wissen", "reflektierter sein", heisst das auch bereiter sein, mit Ihnen
Grenzen auszuloten (ja) und in den Bereich zu gehen, in dem die zwei Regeln einzuhalten, nicht geht?
P24: Ja.
I: Und dann wäre, das heisst, das Publikum, das Sie gesucht haben, da haben Sie nachher, im Nachhinein gemerkt, ok, die sind positiv.
P24: Ja. Oder - was heiss im Nachhinein. Das ist eher Hand in Hand gegangen. (P24: 485-524)
d)
Personen mit flexibler Schutzstrategie
Personen mit einer flexiblen Schutzstrategie kombinieren unterschiedliche explizite Schutzstrategien.
P12 wechselt je nach Situation zwischen einer sicheren und einer risikoreduzierenden Strategie.
Die Wahl zwischen der einen oder anderen Strategie erfolgt situativ und ist mitunter vom Sexualpartner abhängig. Die Ansteckungssituation zeigt, wann offenbar Strategien der Risikoreduktion
(z.B. „Dipping“) möglich sind (vgl. P12: 136-153).
P12 unterhielt zum besagten Gelegenheitspartner seit längerem geschützte sexuelle Kontakte.
Die Tatsache, dass Schutz mit diesem Partner zuverlässig und über mehrere Sexualkontakte
möglich war, stärkte das Vertrauen von P12 in diesen Sexualpartner. Dieses so installierte Vertrauen führte dazu, dass die Wahl einer Strategie der Risikoreduktion überhaupt erst möglich
wurde. Das Vertrauen war soweit gestärkt, dass P12 glaubte, davon ausgehen zu können, dass
der Partner sich an die explizite Absprache, sich gegenseitig zu schützen, halten und beim rezeptiven Analverkehr ohne Kondom nicht in ihm ejakulieren würde:
P12: (…) ce moment-là de la pénétration sans préservatif ((holt Luft)) euh euh elle est ((zögert)) du moment où
vous avez confiance en vo- au partenaire "mh" disons oui du partenaire ((holt Luft)) euh il il est entendu qu'y pas
de- d'éjaculation ((räusper)) moi j'ai fait confiance à ce partenaire-là "mh" ((räusper)) parce que nous avions eu
((deutlich)) des rapports protégés où il avait été très clair "mh" que ((sehr deutlich)) et lui et moi se protégeons
((holt Luft)). Pourquoi il a passé à cet acte-là ((deutlich)) ce jour-là je ne comprends pas ((holt Luft)) si ça avait
été la première fois que j'avais un rapport avec lui c'est ((sehr deutlich)) clair " mh " que cet acte sans préservatif
n'aurait "mh" pas été fait "mh". Donc c'est parce qu'y a eu … ((leiser)) une certaine confiance qui s'est installée
"mh". (P12: 137-153)
Bei P12 wird auch die Veränderung bzw. der Prozess hin zu einer flexiblen Schutzstrategie hinsichtlich HIV deutlich. In der Jugendzeit („adolescence“) erfolgte bei P12 aufgrund einer EinbinInstitut Integration und Partizipation
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dung in eine wissenschaftliche Studie eine intensive Auseinandersetzung mit HIV/Aids. Sein Verhalten wurde durch diese Studie gespiegelt und er konnte mögliche Risiken in seinem Verhalten
erkennen (P12: 92-115). Im Interview wird deutlich, dass im Jugendalter und dem frühen Erwachsenenalter der Schutz vor HIV – mit wenigen Ausnahmen – konsequent erfolgte: „Moi je le
prenais toujours c’était toujours protégé“ (P12: 114-115). P12 verfügte über eine sichere Schutzstrategie. Erst mit den veränderten Möglichkeiten zur medikamentösen Eindämmung von HIV
und den neuen Diskursen um HIV/Aids, in denen z.B. die Option für ungeschützten Verkehr bei
wirksamer antiretroviraler Therapie thematisiert wird, erfolgt eine Veränderung des Sexualverhaltens von P12. Was früher nie möglich war, anale Penetration ohne Kondom, ist heute neu
zulässig, natürlich nur – so P12 – unter der Bedingung, dass keine Ejakulation erfolgt:
P12: Maintenant c'est vrai que y a eu un relâchement c-((langsamer)) peut-être je veux pas l'accuser euh parce
que eh hein /ça ne le/ concerne pas ((räusper)) mais c'est vrai avec les les les ((zögert)) confirmations du professeur X à A-Stadt avec ce qu'il à dit à la télévision ((klein räusper)) c'est vrai qu'il y a un relâchement "mh"
((räusper)) je pense aussi avec les trithérapies les gens ont pris un certain recul ((holt Luft)) et puis une chose
qu'on ne faisait jamais avant c'était une pénétration sans capote ((schnauft)) "mh" aujourd'hui on se laisse cette
liberté … "mh" mais euh il est clair que l'éjaculation fait pas partie ((langsam)) "mh" euh du jeu „mh” euh du (safer sex) hein. (P12: 116-129)
Die sichere Schutzstrategie, die bisher einzig und allein angewandt wurde, wird – vor dem Hintergrund aktueller Diskurse um HIV/Aids – durch Risikoreduktionsstrategien (z.B. „Dipping“)
ergänzt.
Bei P4 finden sich sichere wie auch nicht-adäquate Schutzstrategien, die ihm den Wechsel zu
ungeschütztem Sex hin erlauben. In der Zeitspanne, während der bei P4 die Ansteckung erfolgt
sein muss, hatte er Kontakt zu fünf Gelegenheitspartnern. Mit zwei dieser Partner hatte er nebst
Oral- auch rezeptiven Analverkehr, wobei anfänglich immer Kondome verwendet wurden, P4 also
eine sichere Strategie verfolgte. Beim ersten dieser beiden Partner ist es beim dritten Mal Analsex zu einer Panne mit dem Kondom gekommen. P4 glaubt, dass das Kondom abgerutscht ist,
während er penetriert wurde (P4: 58-60). Beim zweiten dieser Partner hat er nach einer Woche,
nachdem er ihn nun ein bisschen kennengelernt hat, auf das Kondom verzichtet:
P4: (…) en fait, j‟ai décidé qu‟on se protége au début eh ensuite, après après une semaine, on commençait à se
connaitre un peu mieux, j‟ai en fait décidé d‟arrêter le ehm, de pas mettre de préservatif. (P4: 70-73)
Er erwähnt, dass er beide Partner, mit denen er Analsex hatte, zwar nicht direkt auf HIV angesprochen habe, sie jedoch über ihren Gesundheitszustand befragt hätte, und beide ihm versicherten, dass sie gesund seien (P4: 491-524). P4 ist sich des Risikos dieser nicht-adäquaten
Strategie jedoch auch bewusst:
P4: Donc, ehm ehm ça [das Nachfragen], ça rassure un peut sans rassurer, puisque dans ma tête on connait pas
la personne, donc ehm= (P4: 499-501)
Die flexible Schutzstrategie von P1 umfasst drei Dimensionen. Er bewegt sich zwischen einer
sicheren, einer risikoreduzierenden und einer nicht-adäquaten Strategie. In gewissen Situationen
gebraucht er Kondome. In anderen Situationen hingegen setzt er auf Strategien, die das Risiko
reduzieren. Wenn er rezeptiven Analverkehr ohne Kondom eingeht, versucht er das Risiko einer
Infektion in diesen Situationen damit zu reduzieren, dass er die Partner nicht in sich ejakulieren
lässt („Dipping“). Doch es finden sich auch Momente, in denen er zu Vorgehensweisen greift, die
ihn nicht sicher vor einer HIV-Infektion schützen. So wird z.B. deutlich, dass er vor dem Sex in
der Sauna zu den potentiellen Sexualpartnern einen persönlichen Kontakt herstellt, z.B. mit ihnen
etwas trinkt oder mit ihnen spricht. So versucht er einzuschätzen, ob er dem Partner vertrauen
kann. Weiter schätzt er anhand der Sauberkeit der Hände und Füsse ein, ob ein Mann zu sich
Sorge trägt:
P1: Also ich achte immer auf die Finger und die Füsse, ob das alles sauber ist und „mhm“ dann ist der Rest- also
ich sage immer, wenn ein Mann sich Zeit für die Pflege seiner Füsse nimmt, dann für den Rest seines Körper ganz
sicher (I lacht). Das ist immer das, was man vergisst. (P1: 232-238)
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P1 meint, so auch das Risiko hinsichtlich einer bestehenden HIV-Infektion abschätzen zu können
(vgl. P1: 229-238). Er glaubte vor seiner Ansteckung, dass man eine HIV-Infektion jemandem ansehen könne, und dass man mit dieser Krankheit regelrecht dahin „siecht“ (P1: 264-265).
Unter den befragten Personen befindet sich auch ein MSM, der in der Regel auf eine HIVSchutzstrategie verzichtet, um seinem Wunsch nach Sex ohne Kondom nachkommen zu können.
Diese Praxis begleitet er mit einer nicht-adäquaten Strategie. In bestimmten Kontexten wechselt
er aber zu einer Risikoreduktionsstrategie über. Auch dieser Fall gibt interessante Einblicke in
eine Konstruktion, die für die Prävention interessant ist. Deshalb soll auch dieser Fall, P32, hier
ausführlicher dargestellt werden.
Exkurs P32
Unter dem Einfluss der frühen HIV-Präventionsbotschaften seit den 1980er Jahren und dem Miterleben von Kollegen, die an den Folgen von Aids gestorben sind, hat P32 seine sexuellen Aktivitäten mit einer Strategie des Kondomgebrauchs begonnen (vgl. P32:409-426). Trotz des Wissens über die Risiken hat er jedoch "verhältnismässig früh" (P32:24) angefangen, aufs Kondom
zu verzichten. Dies lag daran, dass der Kondomgebrauch bei P32 Erektionsstörungen hervorruft
und er Sex ohne Kondom als intensiver und störungsfreier erlebt:
P32: Mit dieser Gummifummelei habe ich regelmässig irgendwo … kein Ständer mehr. (P32:15-17)
P32: und … hast so ein gutes Vorspiel, bist, bist irgendwie heiss auf einander und jetzt weißt, ok, jetzt ginge es
eigentlich darum, den Präser drüber zu ziehen und dann mit dem Kopf schon dort, dort bist: Jetzt bloss nicht
zusammenfallen, oder. Der Typ ist so geil, den ich da habe, ähm, und jetzt diese Peinlichkeit nicht, und bitte stehen bleiben - und genau dann sackt er zusammen, oder. "mhm". Es ist definitiv kein organisches Problem, sondern äh, oder ein motorisches Problem, sondern rein nur vom Kopf. (P32:385-395)
Vor 17 Jahren, also ca. Mitte der 1990er Jahre, ging P32 schrittweise von der Safer SexStrategie ab. Dabei handelte es sich nicht um einen Entscheid oder bewusst gewählten Bruch.
Vielmehr scheint sich die Verhaltensänderung, die der Auflösung der bisherigen Schutzstrategie
gleichkommt, nach und nach eingeschliffen zu haben:
P32: das ist dann ein schleifender Übergang gewesen, oder. Dann ein Mal einmal erfahren wie's, wie es eigentlich, ähm, sein kann ohne. Und, und dass diese Probleme plötzlich nicht mehr da sind. Und, und dann ein zweites
Mal, ein drittes Mal. Und irgendwann hast du das Gefühl: Hey, das … ist so viel besser, oder, "mhm" ähm, dass
dann wirklich so anfängst: Ja, was ist das Erlebnis versus was ist die Theorie (P32:400-407).
Zu Beginn passiert dies mit Leuten, zu denen er bereits ein Vertrauen gefasst hat. So erfährt er,
wie intensiv Sex ohne die psychischen Probleme im Zusammenhang mit dem Kondom sein kann.
Zum Teil erfährt er erst später, dass seine Sexpartner HIV-positiv sind, jedoch medikamentös behandelt werden. Bei den HIV-Tests erwartet er über lange Zeit, positiv auf HIV getestet zu werden. Da diese aber jeweils negativ ausfallen, bekräftigt ihn dies auch in seinem sexuellen Risikoverhalten:
P32: da sind so zwei, drei Leute, wo man, wo man dann irgendwie regelmässig trifft, wo man gut kennt, ähm,
und dann ist so der, der, der … Faktor, … Zutrauen, Vertrauen, äh, aneinander gewohnt sein, der mit rein spielt,
oder. äh. Und dann hast du das Gefühl, ja, mit dem, mit dem kann ich's oder ähm riskieren, "mhm" dass ich es
ohne mach, oder. Ähm, und dann selbst, wenn jetzt über den einen oder anderen erfährst, ja, der ist positiv,
oder, und, und dann wei-, hörst du dann aber als Zusatzinformation: Ja, aber er, er nimmt seine Medikamente.
Und dann hat ein Test und bist negativ, oder. Dann, dann heisst es, ja, ok, dann ist es ja offensichtlich nicht so
schlimm, oder. Und das, das, das schleift dann wie so … ja, wie so ein: ja, es geht ja auch gut ohne, oder.
"mhm" Und, und es ist ja nicht so, dass, dass einmal weg lässt und es schlägt ein, oder. (P32:466-483)
Hat P32 das Gefühl, sein potentieller Sexpartner könnte HIV-positiv sein, fragt er ihn direkt nach
seinem Serostatus (vgl. 588-601). Bei Internetkontakten geschieht dies z.T. bereits im Chat (vgl.
P32:1322-1334). Um abschätzen zu können, ob's "es weiter erträgt" einen ungeschützten oder
überhaupt sexuellen Kontakt einzugehen, erkundigt sich P32 ebenfalls nach Viruslast und Anzahl
Helferzellen (P32:621ff). So ist es auch schon vorgekommen, dass er auf den Sex verzichtet hat,
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da er den Partner als unehrlich einschätzte, aber mehr aus Angst vor einer Hepatitis-C-Infektion
als vor einer HIV-Infektion (vgl. P32:678-685).
Bei HIV-positiven und in Therapie befindlichen Sexpartnern verändert P32 sein Schutzverhalten
und auch die Sexpraktiken nicht, d.h. weiterhin ungeschützt mit Ejakulation (P32:791-816). Wichtiger ist ihm der Umstand, dass der Partner keine STD hat:
P32: Wenn er positiv ist, und, und Medikamente nimmt, … gar nicht. Nein. "ja". Ist eigentlich eher der, das Faktum, ist er sauber oder nicht. (P32:791-793)
Anders verhält es sich mit HIV-negativen Sexpartnern. Hier ist er eher darauf bedacht, den Partner zu schützen und hilft auch mal medikamentös nach, um die Erektionsstörungen beim Kondomgebrauch zu bewältigen:
P32: wenn ich von einem gewusst habe, der ist negativ, dann lieber ein Viagra reinhauen und dann halt doch mit,
mit Präser, ähm, Sex haben wie irgendwo dem gegenüber in eine komische Situation hinein zu laufen. … Das
habe ich dann schon. … Also ich habe durchaus Kondome da. ja" Oder? Aber dann eigentlich eher, also vorher
schon zum, zum dort nicht in komische Situationen hinein zu laufen, aber eigentlich mehr, um den anderen zu
schützen und nicht um, um mich zu schützen, oder. (P32:833-843)
Bei anonymen Gelegenheitskontakten, wo nicht gross verbal kommuniziert wird, achtet P32 darauf, dass keiner in ihm ejakuliert und vice versa (vgl. P32:1300-1307).
Somit verfolgt P32 eine flexible Strategie. Grundsätzlich praktiziert er Sex am liebsten ohne Kondom. Mit HIV-Positiven basiert ungeschützter Sex auf Vertrauen und der Erkundigung nach den
Laborwerten (inadäquat). Beim Sex mit HIV-Positiven, deren Viruslast unter der Nachweisgrenze
liegt, gibt es keine Einschränkungen in den Sexualpraktiken. Inwiefern sexuelle Kontakte mit HIVPositiven mit keiner oder wirkungsloser Therapie ausgelebt werden, wird nicht eindeutig artikuliert. Das Beispiel des Ansteckungspartners zeigt jedoch, dass unter Umständen keine Konsequenz erfolgt und P32 auch in diesem Fall ungeschützten Sex praktiziert. Mit HIV-Negativen benutzt er auch Kondome. Bei Gelegenheitskontakten im anonymen Setting verfolgt er eine
Risikoreduktionsstrategie (dipping).
Allgemein relativiert P32 sein Risikoverhalten auch mit dem Umstand, dass das Konzept Safer
Sex gerade von Präventionsseite her nicht ausformuliert ist. Denn als wirklich safe betrachtete er,
auch beim Oralverkehr ein Präservativ zu benutzen, wobei er hier eher das Übertragungsrisiko
der STD's erwähnt. Da er der Praktik Oralverkehr ohne Kondom, die nicht unter die Safer SexRegeln fällt, bereits ein relativ hohes Ansteckungsrisiko beimisst, stellt sich beim Weglassen des
Kondoms beim Analverkehr für ihn nur noch die Frage, ein paar Prozent mehr Risiko einzugehen:
P32: ok, du hast so und so viele Risikosituationen sowieso ähm … dort geht es darum nehme ich soviel Risiko
oder nehme ich irgendwo noch anstatt 80, äh 90- 95 Prozent Risiko, oder. (P32:380-383)
3.3.2 Personen ohne explizite Schutzstrategie
Personen dieser Gruppe haben sich keine Strategie zurechtgelegt, wie sie sich in Situationen, in
denen ein Risiko für eine HIV-Infektion besteht, schützen wollen. Eine HIV-bezogene Handlungsplanung ist ausgeblieben. (P2, P3, P9, P14, P19, P23, P26). Dieser Sachverahlt an und für sich
nimmt unterschiedliche Färbungen an und die Hintergründe dafür, sind ganz unterschiedlich. Zunächst lässt sich feststellen, dass einige der Befragten überdauernd über keine HIVSchutzstrategien verfügten (lebenszeitlich stabil), während andere in früheren Lebensphasen
sich für eine HIV-Schutzstrategie entschieden hatten – in der Regel Safer Sex – und diese Strategie mehr oder weniger zeitnahe zur HIV-Infektion aufgegeben hatten (lebenszeitlich dynamisch).
Schon in früheren Auflagen der CHAT-Studie konnten Befragte mit lebenszeitlich stabilen Verzicht auf eine explizite HIV-Schutzstrategie beobachtet werden. Die ausbleibende Planung, sich
vor HIV zu schützen, war zum einen mit der Annahme der Befragten verbunden, selbst keiner
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Risikogruppe anzugehören (stereotype Gesundheitsüberzeugung). Dies führte dazu, dass sie
sich vor HIV sicher fühlten. Zum anderen fand sich der Verzicht auf eine HIV-Schutzstrategie in
Verbindung der Haltung, dass das Risiko, das gesehen wird, in Kauf zu nehmen sei. Ähnliche
Konstellationen sind auch bei den Betroffenen zu finden, die zwischen 2008 und 2011 befragt
wurden, auch wenn sie dies selbst nicht explizit so benennen.
So war für P9 der Schutz vor HIV schlicht kein Thema, auch keines, über das er mit seiner Frau
sprach P9 und seine Ehefrau, die aus Afrika eingewandert war, konzentrieren sich in ihrer langjährigen Beziehung vielmehr auf die Verhütung. Hierfür wählten sie allerdings Kondome. Diese
Methode der Kontrazeption brachte P9 über Jahre den Schutz vor HIV, wenn gewissermassen
auch als nicht weiter intendierter Nebeneffekt.
I: Oui, oui. (4) Et puis est-ce que vous vous avez parlé une fois de- est-ce que vous avez eu des stratégies de- de
protection avant dans dans- 6 ans avant ?
P9: ((Unterbricht I)) Non- je me suis dit eh c‟est sain et tout et on n‟en parle pas il y a rien eu. (P9: 145-150)
P9 setzte den Kondomgebrauch, der explizit auf die Verhütung einer Schwangerschaft gerichtet
ist, bezeichnenderweise dann ab, als sich das Paar ein Kind wünschte.
P9: Oui j‟ai utilisé des préservatifs mais au bout d‟un moment ben si on veut avoir un enfant ben il faut il faut
arrêter le préservatif pour pour ainsi dire. Sinon ça peut pas arriver. (P9: 157-160)
An HIV und die Möglichkeit einer HIV-Infektion dachte er bezeichnenderweise auch in dieser
neuen Situation nicht. Das Paar ging zu ungeschütztem Sex über, ohne zuvor einen HIV-Test zu
machen.
P19, der andere heterosexuelle Mann unter den Befragten, ist bereit, für den seltenen sexuellen
Genuss von Vaginalverkehr auf den Gebrauch von Kondomen, der ihm ausserdem umständlich
zu sein scheint und den Fluss beim Sex unterbricht, zu verzichten – im Wissen um die langjährige Infektion seiner Partnerin und im Wissen darum, dass sie nicht in antiretroviraler Therapie ist.
Im Kontext eines Lebens, das vom langjährigen Konsum illegaler Drogen mit all den damit verbundenen (gesundheitlichen) Risiken, von der methadongestützten Behandlung und Zusatzkonsum, aber auch von der täglichen Anstrengung, den Mangel zu bewältigen und zu einer selbstbestimmten Lebensführung zurückzufinden, geprägt ist, scheint das Risiko einer HIV-Infektion ein
Risiko unter anderen zu sein und nicht als herausragende Gefährdung wahrgenommen zu werden, zu deren Vermeidung z.B. eine Beeinträchtigung der seltenen gewährten sexuellen Lust in
Kauf genommen würde.
Etwas anders gelagert ist der Fall von P3, einem MSM, dessen Verzicht auf eine HIVSchutzstrategie zunächst darin gründet, dass er eine Abneigung gegenüber Kondomen hegt (P3:
58-60). Er selbst benutzte (beim insertiven Analverkehr) keine Kondome.
P3: Und dann äh, gibt das halt manchmal, dass man ohne. Das habe ich schon früher gehabt, „mhm“ dass ich
ohne. Ich bin also da sehr, sehr nachlässig gewesen, „mhm“ ganz klar. (P3: 63-66)
Es ist aber festzuhalten, dass P3 nicht der "barebacker szene" zuzurechnen ist. Er lehnte den
Kondomgebrauch nicht grundsätzlich ab, suchte nicht bewusst nach Partnern, die auch ungeschützten Sex haben wollten und wehrte sich auch nicht dagegen, wenn seine Partner Kondome
einsetzten. So ergab sich sein HIV-Schutz beim rezeptiven Analverkehr gewissermassen "passiv"
durch das Schutzverhalten seiner insertiven Partner. Hatte er den insertiven Part, verwendete er
keine Kondome. Dies ist wiederum nicht mit der Risikoreduktionsstrategie der strategischen Positionierung zu verwechseln. Er wählte nicht die insertive Position der geringeren Infektionswahrscheinlichkeit wegen, sondern er war sich damals des Infektionsrisikos in dieser Situation gar
nicht bewusst (P3: 677-679).
Auch beim Sex mit seinem jetztigem HIV-positiven festen Partner war es so, dass der Partner
Kondome benutzte, während er selber darauf verzichtete. Zusätzlich, möglicherweise aber infolge
der Paardynamik – P3 spricht von Liebe – erfolgt eine Verdrängung von HIV bzw. des Serostatus
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seines Partners, die es P3 erlaubt, auch unter diesen Umständen auf eine eigene Handlungsplanung zum Schutz vor HIV zu verzichten.
P3: Äh … ja, es ist halt, es ist halt eine Liebe herum und irgendwie habe ich äh, das heisst, ja, wir lieben uns, …
und … irgendwie habe ich das fast so ein bisschen … gewisse Momente … ein bisschen so gar nicht wahr haben
wollen, was er hat. So ein bisschen normal umgehen mit dieser Situation. (P3: 36-41)
P26 hat sich weder eine explizite Handlungsplanung zum Schutz gegen HIV zurecht gelegt, noch
hatte er die Intention, eine HIV-Infektion zu vermeiden, obwohl er um die Infektionsrisiken wusste,
die sich mit seinen Praxen verbanden, und sich in vielfachen HIV-Tests über seinen Gesundheitszustand ins Bild setzte. Er hat auch schon die Erfahrung einer Post-Expositions-Prophylaxe
gemacht. Dies führt aber nicht dazu, dass er sich beim rezeptiven Analverkehr schützen würde.
P26: Dort ist es mir egal gewesen. (P26:941-941)
Im Hintergrund dieser Abstinenz steht der Konsum von Suchtmitteln, die Neigung, Risiken erst
wahr haben zu wollen, wenn sie sich realisieren, und eine gewisse Naivität ("blauäugig bin ich",
P26: 559), Gleichgültigkeit und Desinteresse, Freude, mit dem Feuer zu spielen, und Leichtsinnigkeit (vgl. P26: 73-79; 553). Wissen und Umsetzung sind für P26 "(…) so ein bisschen zwei
sehr unterschiedliche Paar Schuhe" (P26: 621-622).
Zum anderen schien er sich vor allem über äusserst häufiges Testen die Gewissheit darüber zu
verschaffen, sich diesen Umgang mit HIV leisten zu können:
I: Hat das einen Grund, dass Sie so viele gemacht haben?
P26: Ja. Ungeschützter Sex, jeweils ((lacht leicht)).
I: Dann sind Sie nachher einfach wirklich alle drei Monate
P26: Ja ja.
I: einen Test machen gegangen?
P26: Also, wahrscheinlich nicht mal alle drei Monate, manchmal sogar noch häufiger. Jeden Monat, manchmal.
Manchmal zwei Mal im Monat. Einfach so, um das Gewissen zu beruhigen ((belustigt)). Das ist mehr so um das
Gewissen zu beruhigen gewesen, jeweils. (4) Ja ((gehaucht)). (P26: 648-660).
Die jeweils negativen HIV-Testresultate vermittelten ihm ein Gefühl der Unverwundbarkeit:
P26: (…) und ich habe eigentlich lange Zeit immer das Gefühl gehabt ja ja mir passiert das schon nicht. Ich habe
eigentlich so viele Male Glück gehabt, da wird jetzt eh nichts mehr passieren. (P26: 16-20)
Im Gegensatz hierzu wird bei anderen Befragten deutlich, dass der Verzicht auf eine HIVStrategie eine frühere Strategie abgelöst hatte. Es ist also von einer lebenszeitlichen Dynamik
auszugehen.
Bei P23 erfolgte die Ablösung der HIV-Schutzstrategie ereignishaft in Form des Entscheids, mit
der bisherigen Schutzstrategie zu brechen. Bis rund eineinhalb Jahre vor seiner Infektion praktizierte er konsequent Safer Sex. Doch dann im Januar 2009 kam die entscheidende Wende:
Nachdem er sich zwei Jahre lang mit den Folgen einer gescheiterten Beziehung herumgequält
hatte, entschloss sich P23, einen Schlussstrich zu ziehen, das Leben wieder zu geniessen und
diese eher schwierige Lebensphase endgültig hinter sich zu lassen (P23: 178-186). Zum Leben
geniessen gehörte für ihn in dieser Situation dann auch, ungeschützt Sex haben zu können:
P23: Da dachte ich einfach, ich will mal wieder mehr Spass haben. Und so blöd sich das anhört, in der schwulen
Welt ((lacht)) hast du nicht so viel Spass, wenn du geschützten Verkehr machst. Also äh das meiste läuft auf ungeschützt jetzt wieder hinaus, ja? "Mh". Du versuchst natürlich immer noch gesund zu bleiben, solange es gut
läuft, ist alles wunderbar, na? (P23: 48-55).
Nicht dass sich P23 der Risiken nicht bewusst gewesen wäre. Er wusste, dass ungeschützter
rezeptiver Analverkehr ein hohes Ansteckungsrisiko in sich birgt, dies auch dann, wenn er von
seinen Gelegenheitspartnern verlangte, dass sie nicht in ihm ejakulierten (P23: 473-497; 510512). Das Risiko, sich mit HIV anzustecken, nahm er also bewusst in Kauf. Sich mit HIV zu infizieren oder nicht, betrachtete er als eine Frage des Schicksals bzw. des Glücks oder Pechs.
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I: Das heisst, so ab Januar 09 hast du ganz bewusst gesagt, von jetzt an schaue ich nicht mehr "richtig" auf Safer
Sex. P23: Also jetzt nicht unbedingt, ich hab nicht gesagt ich will unbedingt HIV-positiv werden "mh", aber ich
hab gesagt, wenn es passiert, passiert es halt, na? (P23: 58-63)
Entscheidend für diese Haltung ist die Tatsache, dass P23 eine HIV-Infektion als keine schwerwiegende Krankheit mehr ansieht. Dies hat einerseits damit zu tun, dass zu seinem Freundeskreis zahlreiche HIV-positive Personen zählen, welche bereits seit rund zwanzig Jahren gesund
mit ihrer HIV-Infektion leben. Andererseits haben auch die Möglichkeiten der medikamentösen
Behandlung P23 die Angst vor einer HIV-Infektion genommen:
P23: Also ich bin wirklich bewusst dieses Risiko eingegangen, weil ich auch wusste, also viele meiner Freunde
sind halt auch positiv, weißt du, und irgendwie äh geht die Angst vor der Krankheit weg, na? Also du siehst es
nicht mehr so ((betont)), dass 'ah, ich sterbe, wenn ich 45 bin' oder so was. Du siehst, es kann medikamentös
behandelt werden, das ist =das hört sich zwar Scheisse an, aber es nichts anderes, als hätte ich 'ne Diabetes.
Muss ich mich auch spritzen, jeden Tag, na? Und so nehm ich halt Tabletten. Hört sich sehr leichtsinnig an, aber
ich glaube so dieser ah Umgehensweise der Leute hat sich ziemlich verändert in Bezug auf äh HIV, in den letzten
Jahren, na? Also du gehst wieder viel viel sorgloser damit um (P23: 27-41).
In anderen Fällen lässt sich eine stärker prozesshafte Entwicklung beobachten, in der schrittweise über mehrere Stationen und Etappen in Interaktion mit Diskursen im Umfeld der Betreffenden
von der früheren HIV-Schutzstrategie abgegangen wird. Dabei mischen sich bewusste, gerne als
informiert getroffen dargestellte Entscheidungen und mit Effekten des Nachgebens gegenüber
dem Gewicht des faktisch nicht perfekt konsequenten Kondomgebrauchs, ähnlich wie dies in den
Entwicklungen von P24 oder auch P32 festzustellen war.
Dass P14 eine Infektion in Kauf nimmt, markiert den Endpunkt einer längeren Entwicklung. Wir
finden hier eine Geschichte der Erosion einer einstmals starken Schutzbereitschaft in früheren
Jahren, die sich mit einer tauglichen Schutzstrategie verband, die wiederum auch umgesetzt
wurde.
Nach einer Phase des kondomfreien Sexes in festen Beziehungen, die immer noch adäquat geschützt waren (Strategie war der gemeinsame Test vor dem Verzicht auf Kondome im Paar bei
gleichzeitiger Verabredung von Kondomgebrauch, falls es zu Sex ausserhalb des Paares kommt)
wird der Kondomgebrauch aber nicht reetabliert:
P14: (…) und was dazu geführt hat, ähm, … also nachher sind es ja zwei lange Beziehungen gekommen, dort ist
erst dann vielleicht entdeckt, wie es ist ohne, „mhm“ und dann wie gesagt, ähm, die verschiedenen Situationen,
wenn du dann mal ein Date hast. Was dazu führt „mhm“ dass man es nicht nimmt. „mhm“ Entweder nicht gerade
zur Hand, … ja vor allem beim ersten Kontakt … „ (P14: 1107-1117)
P14 geht in dieser Phase von der sicheren Strategie des Kondomgebrauchs ab und setzt – nicht
unberührt von der Tatsache, dass unsafe Sex ein Risiko bedeutet – zunächst inadäquate
Schutzstrategien ein. Er beginnt auf die Strategien der Absicherung durch Fragen („bist du gesund“) und auf die Annahmen zur „sexual history“ („der hat viele Parties“) abzustellen. Die Aussage, gesund zu sein, beruhigt ihn und lässt ihn Sex ohne Kondome haben. Die Einschätzung
des „Lebenswandels“ des einen Partners, der sich im Nachhinein auch prompt als HIV-positiv
herausstellt, veranlasst ihn dann aber, sich beim Sex mit diesem Partner zu schützen (P14: 534644; 692-699).
Für P14 gibt es mehrere Gründe, diese Strategien an die Stelle von jener des Kondomgebrauchs
zu setzen: Kondome waren nicht in Griffweite (P14: 725-729; 565-666) und/oder die sexuelle Erregung war zu gross (P14: 680-682).
Es kommt zu einem passiven, also nicht durch eigene Intention und aktives Handeln initiierten,
Kondomgebrauch: Fordert der Partner das Kondom ein, geht dies für P14 in Ordnung. Damit unterscheidet er sich klar von Personen, die bewusst und aktiv unsafe Sex suchen. Er selbst initiiert
aber den Kondomgebrauch nicht mehr. In einem Umfeld, in dem der Kondomgebrauch entgegen
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den Zeiten vor noch zehn Jahren keine verbindliche soziale Norm mehr ist, bedeutet dies eine
Abhängigkeit von einem unsicher gewordenen Schutzverhalten der Partner und damit ein Risiko.
Entscheidend ist nun aber, dass damit nicht einfach einmal ungeschützter Sex stattfindet, sondern dass sich in diesen Beziehungen mit mehrfachen Treffen damit quasi eine neue Norm etabliert, die dramatisch gesprochen einem „Dammbruch“ gleichkommt: Wird einmal auf Kondome
verzichtet, wird dies nicht etwa thematisiert und der Wille bzw. die Norm des Schutzes bestärkt,
sondern stillschweigend übergangen und in späteren Kontakten auch nicht mehr korrigiert:
P14: Und wenn du es dann mal ohne gemacht hast, dann machst du es mit der gleichen Person wieder. Und so
hat es dann fünf Personen geben gehabt mit der Zeit, wo das einfach so entstanden ist. (P14: 631-634)
Als Effekt dieser Dynamik ist festzustellen, dass sich P14 in der letzten Phase vor der Infektion
beim Sex mit mehreren seiner Sexpartner nicht mehr vor HIV schützte. Er verzichtete in diesen
Beziehungen gänzlich auf eine Schutzstrategie.
Hinter der Abkehr von den Schutzstrategien kann auch eine komplexe Entwicklung der Wahrnehmung von Aids, bzw. HIV stecken. Dies ist bei P2 zu beobachten, der in der Zeit, resp. den
Jahren vor der Ansteckung über keine HIV-Schutzstrategie mehr verfügt. Der Kondomgebrauch
hängt jeweils von seinem Sexpartner ab, respektive erfolgt auf dessen Wunsch. P2 ist sich des
Risikos bewusst, sucht es zwar nicht, nimmt es jedoch in Kauf:
P2: Ich bin das Risiko nicht bewusst eingegangen. Das nicht. Aber es ist mir eigentlich egal gewesen. (P2: 97-99)
Er kann die Ansteckungssituation sowohl zeitlich als auch auf eine Person bezogen identifizieren,
mit der er zweimal sexuell verkehrte. Sie haben sich bei beiden Treffen nicht vor HIV geschützt,
das zweite Mal bereits „aus alter Gewohnheit“ (P2: 48-49).
Die Ansteckungssituation scheint bei P2 Ausdruck eines längerfristigen Handlungsmusters zu
sein. Im Vorfeld eines möglichen Kontaktes plant er den Schutz nicht, lässt sich aber auch nicht
vom Analsex ohne Kondom abhalten, wenn es zum Sex kommt, beispielsweise im Park. Dahinter
steht weder eine Ablehnung noch eine negative Einstellung gegenüber Kondomen oder dem
Kondomgebrauch. Verlangt nämlich der Partner ein Kondom, ist P2 durchaus bereit, ein solches
zu benutzen (vgl. P2: 59-61). Auch spielt die Verfügbarkeit von Kondomen für das HIV-Schutzverhalten von P2 keine Rolle. Es kommt ausschliesslich auf den Partner an.
Im Hintergrund dieser Haltung, die für die letzten Jahre steht und früher durchaus anders gestaltet war, steht eine komplexe Entwicklung des Bildes von Aids bzw. der HIV-Infektion. In einer früheren Phase seiner sexuellen Biografie verbindet P2 Aids bzw. HIV mit Bildern von abgemagerten, mit Ekzemen überstreuten Menschen (P2: 311f). Diese Bilder sind negativ und entsprechen
dem von den Medien in den 1980er und Anfang der 1990er Jahren transportierten Bild von HIVpositiven und Aids-Kranken Menschen (Gredig, 1994). Gleichzeitig schien P2 in dieser Zeit eng
mit Personen zusammen zu sein, die HIV-positiv sind, so sein damaliger Freund, der damals
schon längere Zeit infiziert war, in Therapie war und an Nebenwirkungen litt (vgl. P2: 361-363).
Diese vermittelten ihm zwar einen Eindruck davon, dass das Leben mit Therapie nicht ganz einfach war – doch sie zeigten auch, dass ein Leben möglich war. Er kann locker mit Menschen mit
HIV umgehen. Er ist mit Betroffenen vertraut. Diese entsprechen nicht dem medial vermittelten
Bild:
P2: Also für mich hat diese Krankheit nie ein unheimlich grausames Bild gehabt, ein schlimmes Bild. (P2: 449451)
Damit ergibt sich eine Spannung zwischen den Bildern und Botschaften, mit denen P2 konfrontiert ist. Das medial vermittelte Bild war eines der Gefahr. Das erlebte Bild war aber kein „unheimlich grausames“. Sein eigenes Erleben kontrastiert mit der Botschaft zur Krankheit. Und sie lässt
ihn eine Vertrautheit mit HIV, eine vermeintliche Kompetenz gewinnen: Er denkt, er könne jemandem ansehen, ob er infiziert ist:
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P2: Aber ich habe mich ja dann auch an meinen Freund erinnert, damals und so, … und habe einfach das Gefühl
gehabt, ich würde das jemandem ansehen. (P2: 424-428)
In dieser Zeit schien sich P2 vor HIV zu schützen. Dabei half ihm auch die Prävention. Als Aktivist
der (jungen) Schwulenbewegung hatte P2 selbst an der Veranstaltung von Präventionsangeboten teilgenommen. Er war informiert. Er sah sich immer wieder aufgerufen, sich zu schützen.
Dabei half ihm, dass diese Botschaft quasi allgegenwärtig war und auch die Kondome an den
Orten verfügbar waren, an denen Sex zu haben war. Daraus lässt sich interpretieren, dass die
ständig präsente Botschaft der Prävention, die – wenn auch bewusst unausgesprochen, aber
dennoch – mit dem Referenzpunkt arbeitete, Schutzmassnahmen gegen einen nicht wünschbaren Zustand von Krankheit zu treffen, den Effekt hatte, P2 stets in der Spannung zwischen seinen
zwei Bildern von HIV/Aids zu halten, indem sie ihm mit dem Bild einer schweren Krankheit, einen
Gegenpol zu dem aus eigener Anschauung gewonnen Bild bot, dass man mit dieser Krankheit
leben konnte. Damit hielt sie den Pol der „ernsthaften“ Krankheit in seinem Bild.12
P2 zeigt hernach eine Entwicklung auf, die zur Auflösung dieser Spannung zwischen den Bildern
bzw. der sich entgegen gesetzten Einschätzung der Schwere von Aids resp. einer HIV-Infektion
beigetragen hat: Zum einen wurde nun auch medial vermittelt, dass medizinische Erfolge erzielt
worden seien, woraus sich eine Abschwächung der Einschätzung der Schwere der Krankheit ergab:
P2: Ich meine, das wird einem ja auch irgendwie … zum Teil suggeriert (…) Und, und äh, man weiss auch, dass
eben dieses Medikamente lange zu überleben helfen. (…) Das wird auch immer wieder erzählt. Es wird auch immer wieder von … einem wahnsinnigen fundamentalen Durchbruch in den der Forschung erzählt. Und das gibt
einem schon den Eindruck, dass … es ist zwar noch eine lebenslange Krankheit, aber, meine, es gibt viele, die
was weiss ich was haben, oder, auch ein leben lang und trotzdem mit neunzig sterben. (P2: 339-349)
Die Spannung zwischen den zwei Bildern und den darin angelegten Einschätzungen der Schwere der Krankheit löst sich zugunsten des einen Pols auf. Aus der Spannung wird ein konsonantes
Bild: HIV/Aids ist nicht mehr so schlimm. Die Folgerung, es kommt nun auf den Schutz nicht mehr
so an, ist damit möglich.
3.4
Zusammenhang HIV-Schutzstrategie und Risikoverhalten in der Ansteckungssituation
Wie vorhergehend beschrieben, begaben sich Personen ohne explizite HIV-Schutzstrategien unvorbereitet in die jeweilige Risikosituation, da sie sich entweder vor HIV sicher glaubten oder –
zwar nicht das Risiko verneinten – aber eine Infektion in Kauf nahmen. Im Folgenden richtet sich
der Fokus auf jene Befragten, die zwar eine der herausgearbeiteten Schutzstrategien verfolgten,
es aber trotzdem zu einer Ansteckung kam.
a)
Sichere Schutzstrategie und Risikoverhalten
Unter dem Vorbehalt, dass nicht alle Befragten mit einer sicheren Schutzstrategie die Ansteckungssituation identifizieren können, lässt sich erkennen, dass bei einigen situative Einflüsse dafür verantwortlich waren, dass die sichere HIV-Schutzstrategie nicht umgesetzt wurde,
12
Hier zeigt sich ein Zusammenhang, der dem im Aids Risk Reduction Model (Catania, Kegeles, & Coates, 1990)
entgegen läuft. Dort wird davon ausgegangen, dass die Tatsache, jemanden mit HIV zu kennen, ein „cue“ sei, von
einer Stufe im Modell auf die nächste zu kommen, also vom Labelling zum Commitment und vom Commitment zur
Action. Hier zeigt sich jedoch, dass die Kenntnis/das Vertrautsein mit PLWHA eher dazu führte, die Einschätzung
der Schwere der Krankheit zu senken und in die genau entgegengesetzte Richtung zu wirken.
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dass Kondome versagten oder dass erschwerende Umstände bestanden, die ein Risiko schufen, das auch durch die risikominimierenden Strategien nicht ausgeschaltet werden kann.
Als situativer Einfluss konnte der Konsum von Alkohol beobachtet werden.
Bei P11 scheint der Alkoholkonsum eine ausschlaggebende Rolle zu spielen, was die Umsetzung seiner sicheren HIV-Schutzstrategie verhinderte. P11 hatte vor dem Sexualkontakt, in dem
aus seiner Sicht die Infektion erfolgte, mehrmaligen (geschützten) sexuellen Kontakt mit einem
Gelegenheitspartner. P11 war bei diesem Gelegenheitspartner in der Wohnung für ca. neun Tage untergebracht. Gleich zu Beginn des Aufenthaltes wurden geschützte Sexualkontakte in der
Wohnung des Gelegenheitspartners aufgenommen. Der ungeschützte Sexualkontakt kommt
dann zu Stande, als P11 stark alkoholisiert vom Ausgang in die Wohnung zurückkehrt. Der Gelegenheitspartner – so wird P11 nachträglich informiert – setzte ihn über seinen HIV-positiven Status in Kenntnis und penetrierte P11 anschliessend ohne Kondom. P11 kann sich jedoch – wahrscheinlich aufgrund des stark alkoholisierten Zustandes – an nichts mehr erinnern.
P11: Also ziemlich hundertprozentig sicher beim Geschlechtsverkehr „mhm“ mit einem Mann und ähm ich war
dort, also ich war in den Ferien in A-Grossstadt (Ausland) „mhm“ wohnte dort privat bei jemandem und habe mit
diesem das Bett geteilt und ähm ich kam mal ziemlich sturzbetrunken aus dem Ausgang nach Hause frühmorgens. Dann legte ich mich einfach ins Bett und weg war ich, und ähm anscheinend kam es dann äh, äh zu Sex
ohne zu verhüten, was ich eigentlich gar nicht, gar nicht wusste, gar nicht realisiert hatte. Anscheinend so hat er
mir das im Nachhinein erzählt, hätte er mich gefragt, ob es okay sei und er hätte mir gesagt, dass er HIV-positiv
sei und ich hätte einfach so mhm gesagt. „Mhm“ Ich weiss nichts davon, ich kann mich nicht daran erinnern, ich
weiss jetzt einfach nur, dass ich HIV-positiv bin seither. (P11: 7-22)
P11 ist der Meinung, dass er unwillentlich ungeschützten Verkehr ausführte und der Gelegenheitspartner seinen alkoholisierten Zustand ausnutzte. So hat er denn auch vor Gericht Klage
gegen diesen Mann eingereicht.
Wie deutlich wird, kann P11 seine sichere Schutzstrategie (Safer Sex) aufgrund seines stark alkoholisierten Zustandes nicht durchsetzen.
P6 stand in der Ansteckungssituation ebenfalls unter Alkoholeinfluss:
P6: Also ich bin also, ich bin nicht besoffen gewesen, aber ich bin angetrunken gewesen“. (P6: 118-120)
Er denkt jedoch, dass er die Situation im Griff hatte und schreibt dem Alkohol keinen grossen Einfluss auf sein Kontrollvermögen zu (vgl. P6: 622-634). Er erklärt sich die Infektion durch insertiven
Oralsex mit einem männlichen Gelegenheitspartner. Dieser hatte durch eine Operation eine
Wunde im Mund, die nicht heilen wollte:
P6: (…) die Wunde will nicht gut heilen (…) und ich habe natürlich Oralsex gehabt, (…) und ich denke es wird
über diese Wunde passiert sein, weil die entweder, ich weiss nicht, im blödesten Fall geblutet hat, (…) oder irgendwie sonst irgendwie Flüssigkeit ausgetreten ist (…), und es muss fast über das gewesen sein, weil Analsex
haben wir geschützt gehabt, (…). (P6: 43-50)
Obwohl P6 die sichere Strategie, beim Analsex ein Kondom zu verwenden, bei diesem Sexualpartner trotz gegenteiliger Druckversuche durchsetzt, bestehen offene Fragen bezüglich des
Schutzverhaltens beim rezeptiven Analverkehr. P6 geht davon aus, dass der Partner das Kondom bis zum Schluss durchgängig benutzte, ist sich jedoch diesbezüglich nicht ganz sicher:
P6: (…) ich mag mich noch daran erinnern, ich mag mich noch daran erinnern, dass irgendwann ein Kondom neben dem Bett gelegen ist. Und es hat benutzt ausgesehen. „Mhm“ Und von dem her gehe ich eigentlich davon
aus, dass es irgendwie benutzt worden ist bis zum Schluss, oder. (P6: 147-152)
Diese Konstellation der entspannten Atmosphäre unter Alkoholeinfluss, dem Umstand, dass sein
Sexualpartner das Kondom erst nach Insistieren von P6 benutzt hat und dem Fakt, dass P6 das
Kondom, das gebraucht ausgesehen habe, nach dem Analverkehr nicht mehr an seinem Gelegenheitspartner, sondern „irgendwo neben dem Bett“ in Erinnerung hat, lässt die Frage offen, ob
wirklich durchgehend geschützter Analsex stattgefunden hat, oder ob das Kondom ohne Wissen
von P6 vorzeitig abgestreift wurde, was zu einer Übertragung von HIV hätte führen können.
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Eine HIV-Infizierung durch den Umstand einer Verletzung ist auch eine der Erklärungsmöglichkeiten von P5. Er denkt, dass er sich aufgrund seiner Verletzungen an den Fingern (durch Nägelkauen) mit HIV infiziert hat:
P5: Mit dem Sperma, das darauf kommen könnte. Und mit den Fingern, mit denen man ja ins After geht, oder so
etwas. Auf dem Gebiet, ja. (P5: 167-169)
Er bringt weitere Situationen ins Spiel, in denen eine Infektion mit HIV hätte erfolgen können.
Zwei bis drei Mal platzte während dem Sexualkontakt (rezeptiver Analverkehr) mit einem Sexarbeiter in Thailand das Kondom (P5: 176-213). Diese Situationen liegen jedoch bereits drei Jahre zurück und P5 erachtet sie nicht als relevant hinsichtlich der erfolgten HIV-Infektion.
Ähnlich liegt der Fall bei P29, der sich über die Situation, in der sein konsequentes Schutzverhalten versagt haben muss, nicht im klaren ist. Er sucht die Gründe z.B. bei Verletzungen des Partners oder eine manuelle Übetragung von infizierten Sperma auf seine rektale Schleimhaut (P29:
719-724).
Kondompannen sind jedoch Umstände, die eine sichere Strategie durchkreuzen und von mehreren Befragten erwähnt wurden. So hatte P10 seinem Gelegenheitspartner vor dem Sex mitgeteilt,
dass für ihn Sex nur mit Kondom in Frage kommt. Sein Sexpartner war damit einverstanden
(P10: 76). Vor dem Sex hatte P10 zwar gesehen, wie sich sein Sexpartner ein Kondom übergezogen hat, ist sich jedoch nicht ganz sicher, ob der Schutz auch durchgehend stattgefunden
hat:
P10: Ja gut er hat ein Kondom angezogen, aber was wirklich dann am Schluss passiert ist […], ich weiss es auch
nicht. (P10: 646-649)
Er vermutet, dass das Kondom „vielleicht zerplatzt […] oder kaputt gegangen ist“ (P10: 109-110).
Ob dies sein Partner gemerkt hat, kann P10 nicht sagen (P10: 656-658). Er hat lediglich gesehen, dass sein Sexpartner das Kondom noch angehabt hatte, nachdem sein Sexpartner ejakulierte (P10: 126-129). Wie bereits vorhergehend erwähnt, zieht P10 ebenfalls in Betracht, dass
die Ansteckung beim anschliessenden Oralverkehr erfolgt sein könnte. Dort besteht die Möglichkeit, dass P10 Sperma geschluckt hatte, welches sich möglicherweise noch am Penis des Sexpartners befunden hat.
Auch P20 ist sich sicher, sich aufgrund eines beschädigten Kondoms beim Vaginalverkehr infiziert zu haben.
Als weiterer situativer Einfluss kann eine einmalig veränderte Rollenverteilung innerhalb einer
Beziehung eine Rolle spielen.
P17, der über eine sichere HIV-Schutzstrategie verfügt (P17: 705-713), kann diese in der ungewohnten Situation, der rezeptive Partner zu sein, nicht umsetzen. P17, der in der Regel insertiven
Analverkehr praktiziert, hat das selbstständige Überrollen des Kondoms fest in seinem sexuellen
Skript integriert. Er macht dies immer selbst und zwar unter anderem, um die völlige Kontrolle
darüber zu haben, ob das Kondom unversehrt ist und richtig sitzt. Nun mal in die rezeptive Rolle
gekommen, kann er sich nicht mehr auf dieses habitualisierte Skript verlassen, weil es seiner Position beim Sex nicht angemessen ist. Er müsste nun seinen Partner veranlassen können, ein
Kondom zu benutzen, der seinerseits das Überrollen des Kondoms vor dem Eindringen nicht habitualisiert hat (P17: 515-535). P17 wird in der Situation bewusst, dass nun der Schutz fehlt. Doch
er vermag als rezeptiver Part den Kondomgebrauch nicht durchzusetzen und beruhigt sich in
dieser Situation – eine wirkliche Schutzstrategie substituierend – über die Vorstellung, dass er
wohl bemerkt hätte, wenn sein Partner „krank“ wäre (P17: 336-342).
Es wird ebenfalls ersichtlich, dass Risikominimierungsstrategien je nach Situation der kommunikativen Durchsetzung bedürfen. Dies ist dann der Fall, wenn die Person z.B. rezeptiven Analverkehr hat und damit strukturell darauf verwiesen ist, dass der eindringende Partner sich ein
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Kondom überzieht. Risikominimierende Strategien können dann versagen, wenn sie kommunikativ nicht durchgesetzt werden können.
So gibt P8 einerseits an, immer Safer Sex praktiziert zu haben, erzählt dann aber von Situationen, wo er ungewollten ungeschützten rezeptiven Analverkehr hatte:
P8: Ja man fängt an und es ist eigentlich klipp und klar und du drehst dich um, Kondome sind da, Gel ist da und
ok ich warte und auf einmal fragt er darf ich das? ne ne ne und auf einmal ist er schon drin. "Mhm mhm" Also
ganz schnell. "ok" Und sag ne ne hör auf, ne hör auf, ne. Nimm doch ein Kondom. "mhm" zieh jetzt raus. ah nene nur ein bisschen. Da musste ich ihn dann zwingen, ihn wegtun, ne. "ah ok" sogar. (P8: 375-382).
P8 relativiert das Risiko dieses Ereignisses im Nachhinein, indem er sich darauf beruft, dass es ja
nicht so schlimm sei und damit Anleihen an den Diskurs der Risikoreduktion macht:
P8: (…) also richtig eine Minute drin gewesen, was auch nicht so wahnsinnig ungefährlich, was auch nicht so unsafe ist, ne. (P8: 162-163)
Er schildert zudem eine Situation, wo er sich in einem Darkroom von einem Gelegenheitspartner
unbeabsichtigt in den Mund ejakulieren liess. Hieraus wird ersichtlich, dass P8 grundsätzlich zwar
Safer Sex ausübt, in gewissen Situationen aber den Kondomgebrauch oder den Verzicht auf die
Ejakulation im Mund nicht durchzusetzen oder vorgängig kommunikativ abzusichern vermag.
P31, die sich sorgfältig vorbereitet und sogar noch neue Kondome gekauft hatte, bevor sie loszog, ein sexuelles Abenteuer zu erleben, liess ihre Tasche zu Hause und so waren die Kondome
im Moment, wo es darauf angekommen wäre, nicht zu greifen. Als es mit dem Gelegenheitspartner zum Sex kam, sagte P31, dass sie möchte, dass er ein Kondom benutzt. Doch er übergeht ihren Wunsch und wischt das Thema mit einem Nein vom Tisch.
P31: "da wir zu ihm gegangen sind, ich hatte ihm noch gesagt, wir müssen aber Kondome nehmen. Sagt er, oh
nein ((betont)). ... „mhm“ Dann habe, dann bin ich, dann habe ich dann gedacht, ja gut, dann hat er halt keine."
(P31: 330-334)
In dieser Situation beharrt sie nicht auf dem Kondomgebrauch, obwohl das ihr Wunsch wäre. Sie
kann sich damit nicht durchsetzen und nimmt das Nein entgegen und an. Sie weist ihren Partner
nicht zurück, sie bricht den Sex nicht ab und weicht auch nicht auf andere Praktiken aus.
P31: "Nein, also ich meine, wenn er sagt, oh nein, dann will er nicht und hat keine und ich dumme Kuh habe
auch keine gehabt und dann habe ich halt gedacht, ja eben." (P31: 336-339)
Sie kann sich darauf einlassen, weil sie das Risiko in diesem Moment relativiert. Sie verlässt sich
auf ihre Wahrnehmung, dass der Gelegenheitspartner gesund sei. Sie stützt sich auf den Eindruck, den sie von ihm auf Grund seines Aussehens und seiner Arbeitstätigkeit gewonnen hatte:
Sie geht gestützt von der Annahme, man würde Betroffenen ihre HIV-Infektion ansehen, davon
aus, dass ein junger, starker und gesund aussehender Mann, der fit genug ist, um auf dem Bau
arbeiten zu können, nicht HIV-infiziert sein könne. Also ging sie die Nacht mit ungeschütztem
Verkehr mit dem Gelegenheitspartner ein.
P31: "Und dann das zweite Idiotische ist, dass ich irgendwie, also nicht rational, aber ein wenig subrational
((sic)), das Gefühl haben, man sieht das den Leuten an, klar er ist jung und stark und gesund hat er ausgesehen,
oder, habe ich gedacht. Und er arbeitet auf dem Bau, oder, habe ich gedacht, wenn der jetzt krankt wäre, dann
könnte er gar nicht auf dem Bau arbeiten, oder „mhm“. Dann wäre er doch nicht so stark und so gesund." (P31:
339-347)
P31: "Und jaha, ich habe gedacht, einer der gesund und stark aussieht, der kann es ja nicht haben." (P31: 743745)
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P31: "Nein, also wenn ich jetzt das Gefühl gehabt hätte, er wäre krank, dann hätte ich mich ja nicht mit ihm eingelassen „mhm“. Mir hat eben imponiert, dass er so gesund und stark ist und so „mhm“. (3) Und dann habe ich
gedacht, der wird dann auch nichts haben, oder. (P31: 352-357)
Im Nachhinein reflektiert sie ihre Relativierung des Risikos auf Grund der Annahme, man würde
Infizierten die Infektion ansehen, als Fehler. Sie dachte, ihr Sexpartner gehöre keiner Risikogruppe an (P31: /54). Sie entdeckt, dass sie in diesem Punkt einer stereotypen Gesundheitsüberzeugung gefolgt war. Ihre Denkweise sei "absolut gestört" (P31: 347-348). Und sie bereut, dass sie
ohne Kondome losgezogen ist:
P31: "Und ich dumme Kuh. Warum habe ich dann keinen Gummi dabeigehabt?" (P318-319)
Auch P21 kann sich bei seinem Partner nicht durchsetzen. Er geht davon aus, dass bei Analverkehr selbstverständlich Kondome gebraucht würden. Alles andere hätte Verhandlungen zur Voraussetzung (P21: 480-186; 488-495). Als P21 bemerkte, dass sein Gelegenheitspartner kein
Kondom überrollte, forderte er diesen auf, ein Kondom zu benutzen. Der Partner erwiderte, er
würde diesem Wunsch nachkommen, tat es dann aber nicht (P21: 495-498). P21, der registriert,
dass er sich mit seinem Wunsch nicht durchsetzen konnte, wollte dann aber nicht weiter auf den
Gebrauch eines Kondoms beharren, da er die Stimmung nicht verderben wollte (P21: 502-504).
Im Weiteren begründet P21 seine Unfähigkeit den Kondomgebrauch durchzusetzen mit dem
Umstand, dass er schon seit längerem auf der Suche nach einer festen Beziehung war (P21:
710-720). Er glaubte, diese nun in diesem Partner gefunden zu haben.
P21: Parce que voilà depuis plus d‟une année, depuis une année j‟avais, j‟avais toujours été à la recherche du
quelque chose que je n‟ai pas trouvé et puis j‟ai eu un peu cette impression « Ah, tiens, eh, pour une fois il y a
quelqu‟un qui veut bien de moi » Et puis, ban, j‟étais, je n‟avais pas envie de, ben comme je l‟ai dit pas de faire le
chieur.
I: Mmh.
P21: Et puis c‟est clair que, voilà quand on est, on devient d‟un coup moins sûr de soi et puis on adm- on admet
plus difficilement le, oui le devoir de mettre des conditions (P21: 675-686).
b)
Nicht adäquate Schutzstrategie und Risikoverhalten
P13 versuchte durch die Frage nach dem HIV-Status das Risiko einer Infektion mit HIV zu reduzieren. Da diese Strategie per se nicht sicher vor einer HIV-Infektion schützt, kam es bei einem
dieser ungeschützten Kontakte mit Gelegenheitspartnern zu einer Infektion mit HIV.
Offenbar hatte auch die sexuelle Erregung als situativer Faktor einen Einfluss darauf, dass ungeschützte Kontakte eingegangen wurden. Zudem wird deutlich, dass P13 die Gelegenheitspartner,
mit denen er ungeschützte Kontakte einging, zumindest flüchtig kannte oder mit ihnen bereits
vorher sexuelle Kontakte unterhielt. Inwieweit also nicht nur das Vertrauen darauf, dass der Partner eine wahre Testauskunft gibt, sondern auch ein über mehrere Kontakte entwickeltes generelles Vertrauen einen Einfluss auf das Risikoverhalten hatte, ist offen. Dies kann aus dem Interview nicht schlüssig rekonstruiert werden.
c)
Risikoreduzierende Schutzstrategie und Risikoverhalten
P16 kann nicht darlegen, wie es dazu kam, dass sich das Risiko, das sich mit der von ihm gewählten Risikoreduktionsstrategie verbindet, konkret realisieren konnte. Er stellt aber in den
Raum, dass er sich wohl einmal hat mitreissen lassen und dass dieses eine Mal wohl dasjenige
sei, das nun die Ansteckung brachte (P16dt: 34-35). Sein Fazit: Seine Strategie, die Spontaneität, „Sich-gehen-lassen“ und Schutz verbinden soll, ist wohl einmal „schief gelaufen“ (P16dt: 81).
Im Kontext von „Dipping“ darf dies dahingehend interpretiert werden, dass es vorkam, dass es
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bei der ungeschützten Penetration schliesslich nicht beim „Dipping“ blieb und – einmal mit dem
Analverkehr begonnen – der Sex nicht mehr unterbrochen und schliesslich kein Kondom eingesetzt wurde.
Ausgangspunkt für das Scheitern des Treatment Sorting von P24 ist der Umstand, dass er sich in
einen HIV-positiven Partner verliebt, der nicht in antiretroviraler Therapie ist. P24, der in der Bareback Szene verkehrt und seinen neuen Partner an einer Sexparty kennenlernt, hatte mit diesem (der Bareback Szene entsprechend) von Anfang an ungeschützten Sex und hielt sich dann
nicht dafür, im Nachhinein hieran noch etwas zu ändern:
P24: Auf der anderen Seite, es wäre fast unnatürlich gewesen, wenn ich irgendwann gesagt hätte, du, ähm, sorry, das Risiko wäre mir zu gross, wir machen es nur noch mit Kondom. …. (P24: 446-449)
Seine Strategie, mit supprimierten Partnern Sex zu haben, kann er so nicht umsetzen, weil er
sich in der Beziehung zu dem HIV-positiven Mann die Ethik auferlegt bzw. die romantische Vorstellung aufrecht erhält und implementiert, wonach er einem anderen Menschen (und wohl schon
gar nicht einem geliebten Menschen) aufdrängen dürfe, was dieser zu tun habe. Auch nicht, sich
in eine Therapie zu begeben:
P24: Oder was ich gar nicht könnte, irgendwie jemanden zwingen zu einer Therapie - für mich. Also, das sind
alles so Sachen, die nicht in Frage gekommen sind, eigentlich. Darum ist es dann an mir gelegen zu sagen: Ja
gut, nein, ich will das [HIV] nicht. ((sehr, sehr leise, fast unverständlich)) Aber lustigerweise, wenn man ja mit
jemanden, jemandem einmal zusammen ist, nimmt man ja irgendwie alles … Ja, es ist jetzt so ein bisschen ein
Sinnbild von: Man muss ihn einfach so nehmen, wie er ist. (P24: 449-457)
Er weiss um das Risiko, nimmt es aber in Kauf – nicht zuletzt auch wegen der Beziehungsdynamik. Er lässt sich also auf den nicht therapierten Mann ein, hat mit ihm ungeschützten Sex, ohne
dass der Andere wirksam therapiert und einen Viral Load seit 6 Monaten unterhalb der Nachweisgrenze hätte, und macht dies, weil er denkt, er dürfe den Anderen nicht zu einer Therapie
überreden oder gar zwingen, sich aber auch nicht mehr zum Kondomgebrauch entschliessen
kann. Er nimmt das Infektionsrisiko deshalb in Kauf. (P24: 1108-1111).
P24: Das habe ich vorher gesagt, weil ich von ihm nicht etwas verlange, das er nicht will, oder. (P24: 883-884)
Sie hatten "sehr oft, eigentlich nur ungeschützten Verkehr miteinander gehabt" (P24:9-10), weshalb P 24 resumiert:
P24: Ähm … wo eigentlich das nur eine Frage der Zeit gewesen ist, bis ich mich anstecke. … (…) Und wir haben
eigentlich alles gemacht, was die Prävention verboten hat ((lacht)). (P24: 35-41)
d)
Flexible Schutzstrategie und Risikoverhalten
Bei P12 steht die Veränderung seiner HIV-Schutzstrategien nicht zuletzt in Zusammenhang mit
dem neuen diskursiven Kontext von HIV/Aids. P12 erweitert sein bisher sicheres Schutzrepertoire
um Risikoreduktionsstrategien. Die so neu geformte flexible Schutzstrategie erhöht die Risiken,
da durch die Möglichkeit der Wahl einer Risikoreduktionsstrategie das Risiko einer Infektion mit
HIV stärker gegeben ist, als wenn durchgängig eine sichere Schutzstrategie angewandt würde.
Das Risiko einer Infektion mit HIV wurde in der Ansteckungssituation noch verstärkt, indem der
Gelegenheitspartner von P12 die Risikoreduktionsstrategie „Dipping“ entweder nicht teilte oder
die Ejakulation nicht zurückhalten konnte. Zudem wird deutlich, dass der Partner dem sexuellen
Idealtyp von P12 entsprach, die sexuelle Erregung sehr gross war und die Barriere zu ungeschütztem Sex immer kleiner wurde. Die Wahl einer Risikoreduktionsstrategie innerhalb dieser
flexiblen Schutzstrategie wird also auch durch den situativen Faktor der „sexuellen Erregung“ bestimmt.
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P12: Je peux tout vous dire parce que les 3 questions je peux vous les mettre ensemble ((klein räusper)) moi
j'étais euh sobre euh " oui " ((zögert)) je pense que lui non " mh " ((holt Luft)) euh amoureux non je peux pas
dire amoureux mais euh excité oui bien sûr " mh " ((räusper)) et euh ((zögert)) oui c'était un type euh ((zögert))
un type d'homme oui vous avez peut-être- // dans lequel vous pouvez plus /peut-être/ vous sexuellement correspond tout à fait à votre type donc vous êtes même à plus vous laisser aller " mh " parce que cette barrière cette
limite est très … ((leise)) est très fine hein. (P12: 184-195)
Bei P1 lassen sich verschiedene Einflussfaktoren für seine flexibel gehandhabten HIV-Schutzstrategien ausfindig machen. Zum einen verstärkt eine als zunehmend präsent wahrgenommene
Bareback-Szene, insbesondere Bareback-Pornos seine Fantasien von Sex ohne Kondom (vgl.
P1: 197-211, 1176-1179). Im Weiteren geben ihm zahlreiche HIV-Tests eine falsche Sicherheit.
Über die Jahre gibt es Risikosituationen, die bei ihm ein Angstgefühl einer möglichen Ansteckung
auslösen. Die darauffolgenden Tests sind jedoch stets negativ. In der Folge beginnt er, die Männer nach gewissen Kriterien, beispielsweise der Einschätzung der Gesundheit nach dem Äusseren oder den Wertvorstellungen bezüglich des Lebens einzuschätzen (vgl. P1: 1234-1246). Wenn
er sich nach einer solchen nicht-adäquaten Strategie entschliesst, ungeschützten Sex einzugehen, versucht er beim rezeptiven Analverkehr das Risiko zusätzlich zu reduzieren, indem er die
Partner nicht in sich ejakulieren lässt. Ein weiterer Faktor, auf das Kondom zu verzichten, liegt
nicht zuletzt darin, dass P1 das Kondom als sensitivitätsvermindernd empfindet (vgl. P1: 987994).
P32, der zwischen einer nicht adäquaten Strategie, die quasi dem Verzicht auf eine Strategie
sehr nahe kommt, und (in anonymen Kontexten) zu Dipping wechselt, infiziert sich nicht im anonymen Kontext, sondern beim ungeschützten Sex mit einem Partner, mit dem er vor dessen, wie
auch nach dessen Serokonversion regelmässig ungeschützten Sex hatte. Von diesem Partner
hatte er bereits vor etwa einem Jahr eine Lues "eingefangen" (P32:51). Ein paar Wochen nach
der Lues-Ansteckung eröffnete ihm dieser Sexpartner, dass der HIV-Test bei ihm positiv ausgefallen ist. Trotzdem entschieden sie sich, weiterhin ungeschützt zusammen zu verkehren, "ja, irgendwo, auch mit dem, mit dem Wissen, was, was, was äh passieren kann (…)" (P32:62-63).
Dreiviertel Jahr ist dies gut gegangen, bis zu einer klar identifizierbaren Nacht im Januar 2011.
P32 hatte in dieser Nacht zuerst einen ungeschützten sexuellen Kontakt mit einem HIV-positiven,
in antiretroviraler Therapie befindlichen Mann, verliess diesen jedoch unbefriedigt und traf sich
noch mit dem regelmässigen Sexpartner. Letztlich macht P32 den Umstand für die HIVInfizierung verantwortlich, dass dieser Sexpartner noch nicht in Therapie sei.
P32: Wenn einer seine regel-, seine Medikamente nicht regelmässig nimmt oder eben gar nicht nimmt, weil er
jetzt noch am warten ist bis die Werte zu hoch sind, bis er anfängt mit Therapie. "mhm" Ist halt nicht das gleiche,
oder. Und dort bin ich eigentlich drein gelaufen, oder. (P32:341-347)
3.5
Wahrnehmung der Präventionsarbeit durch die Befragten
In den problemzentrierten Interviews finden sich auch Aussagen zur Beurteilung der Präventionsarbeit in der Schweiz. Diese Beurteilungen basieren in der Regel auf der Wahrnehmung der
Präventionsarbeit im öffentlichen Raum. So wird in den Aussagen oft als erstes auf die
Plakatekampagnen oder auf die TV-Spots der Love Life – Stop Aids Kampagne hingewiesen.
Ferner kommen Flyer, Plakate und Informationsmaterial in Lokalen für MSM zur Sprache. Dabei
kommen die Befragten zu unterschiedlichen Einschätzungen der Präventionsarbeit. Einerseits
wird sie von vielen als gut befunden:
P9: C‟est-à-dire que- ehm je trouve- la prévention est bien. (P9: 571-572)
Der Grad der Informiertheit wird durch die Befragten als hoch eingeschätzt. Die Kommunikation
der Kampagne als klar und verständlich bezeichnet. Gerade im Bereich der zielgruppenspezifischen Prävention bei MSM seien die einzelnen Präventionsmassnahmen und -botschaften sehr
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präsent. Von Einzelnen wird die HIV-Prävention in der Szene z.B. in Saunen sogar als etwas zu
aufdringlich erlebt und entsprechend als störend bezeichnet:
P1: Von der Prävention her? Also mir ist es gestern aufgefallen äh vorgestern am Samstag, als in dieser Sauna
war, überall diese Kleber, überall HIV, das störte mich eher. In einem schönen Moment drin, man geht sich entspannen, man hat Sex, wird man mit so etwas konfrontiert, fühlt man sich eher gestört, von dem her gesehen.
(P1: 1272-1279)
Andererseits aber wird kritisiert, dass die Prävention immer weniger sichtbar sei, gerade in Bezug
auf die HIV-Prävention im Bereich MSM. Diese konzentriere sich praktisch nur noch auf die Szene, was dazu führe, dass sie von denjenigen MSM, die nicht mehr entsprechende Lokale und
Clubs aufsuchen, gar nicht mehr wahrgenommen werde. P2 etwa meint dazu, dass ihn die Prävention nicht mehr erreiche, seit er nicht mehr in Szenelokalen verkehre. Früher, als er noch in
Bars ging oder in der schwulen Jugendgruppe aktiv war, waren die Botschaften der Prävention
quasi „allgegenwärtig“ (P2: 657). Seit er da nicht mehr hingeht, und sich vermehrt dem Chat zugewendet hat, trifft er nicht mehr auf die Botschaften der Prävention; die sind da nicht zu finden
(P2: 712-715).
Im Weiteren wird bemerkt, dass dort wo die HIV-Prävention für MSM noch öffentlich präsent sei,
wie etwa im Rahmen der Love Life – Stop Aids Kampagne, die Darstellung von Trans- und Homosexuellen vor allem stereotypen Vorstellungen folgen würde. Darin wird die Gefahr gesehen,
insbesondere heterosexuelle Jugendliche könnten zur Ansicht kommen, dass HIV kein Thema für
sie sei (P17: 1124–1147).
P17: Gut es gibt ja diese Kampagne. Aids for Life, weiss gar nicht was da jetzt immer läuft, mit diesen pinkenen
Kondom.
I: Love Life
P17: Love Life, ja genau. Aber irgendwie, das sind halt Situationen, also ich finde das, also die Werbespots sind
zum Teil recht daneben. Wo mehr transsexuelle oder schwule, homosexuelle dort so dargestellt werden, ja aber
das finde ich dann halt auch wieder, dass das halt… Es gibt so einen Spot da wo ich, mein Freund sagte, dass der
Schwule oder der Homosexuelle wird ja wieder ins rechte Licht gerückt. Also so fraulich, tuntig dann also, das
finde ich echt ein bisschen daneben“. (P17: 1124-1136)
Im Weiteren lässt sich in den Aussagen einzelner Befragter auch Kritik an der zunehmenden
Verbreitung von Risikoreduktionsstrategien und an der Lockerung des Schutzverhaltens u.a. als
Folge der neuen biomedizinischen Präventionsdiskurse (Mitteilung EKAF) (P12: 950f.) erkennen.
So ist P12 der Ansicht, dass diese Botschaften durchaus einen Einfluss auf das Unterbewusstsein haben (P12: 1014f.). Vor 20 Jahren wäre es – damit bezieht er sich wohl wieder auf sein eigenes Infektionsgeschehen – nie zu „Dipping“ gekommen.
P12: (…) y a 20 ans en arrière on aurait jamais eu ce rapport " mh " ou il y aurait jamais de pénétration ((betont)) même 30 secondes sans préservatif“ (P12: 1020-1023).
Mitunter führen die unterschiedlichen Präventionsdiskurse auch zu Verwirrung bei den Befragten.
So nimmt etwa P8 die bisherigen Botschaften der HIV-Prävention als sehr widersprüchlich wahr
(P8: 980-986). Er ist der Ansicht, dass selbst die Expertinnen und Experten nicht eindeutig sagen
können, welche Praktiken denn nun safe bzw. unsafe seien: „Ne es gibt ja eine graue Zone „ja“
so wie ich das verstehe, es gibt ein paar Punkte die man nicht weiss. „mhm“ Wie viele, wie viele,
ne bei mir jetzt „hm“ habe ich da diese frisch gespritzte Schwanz gelutscht „mhm“ vielleicht kam
noch ein bisschen danach „mhm“ nicht viel war das, war das jetzt genug, war das jetzt infektiös,
es gibt, man weiss ja nicht, ne“ (P8: 1088-1095). Die Prävention sollte seiner Meinung nach nicht
zu stark auf Safer-Sex-Praktiken fokussieren, sondern bei allen Regeln immer auch auf das Restrisiko hinweisen und zur Vorsicht ermahnen.
Es wird aber auch dazu aufgefordert an der alten Botschaft des konsequenten Kondomgebrauchs festzuhalten. Gerade bei 40-Jährigen, die sich grundsätzlich schützen, bei denen sich
aber aufgrund der fortgeschrittenen Jahre HIV-Infektionsrisiken multiplizieren, müsse die Prävention weiterhin aktiv sein (P12: 1001f.). So sei die Aufforderung zum konsequenten KondomgeInstitut Integration und Partizipation
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brauch auch weiterhin wichtig und zentral für die HIV-Prävention: „Ganz klar: Im Minimum ein
Gummi drum. Ohne Gummi geht nichts“ (P3: 951-952).
Von jenen MSM, die sich im Laufe ihrer Biographie von der Safer-Sex-Strategie lösten, wird die
Prävention kritisch beurteilt und der Wunsch nach differenzierteren Botschaften und Informationen wird geäussert. P24 beispielsweise betrachtet die kategorische Forderung nach konsequentem Schutz als zu absolut (vgl. P24: 1053-1057). Diese Forderung vermochte nicht auf seine besondere Spannung einzugehen. Zudem fühlt er sich im Umgang mit Unfällen und Ausrutschern
von der Prävention nicht begleitet. P32 fehlen in der Prävention heutzutage die Botschaften, dass
das Weglassen des Kondoms nicht unweigerlich zu einer HIV-Ansteckung führen muss und dass
die wissenschaftliche Erkenntnis, dass jemand unter der Nachweisgrenze unter gewissen Umständen nicht mehr infektiös ist, nicht mitgeteilt wird (vgl. P32: 482-496):
P32: (…) über solche Sachen wird nicht gesprochen in der Prävention, sondern es wird nur gesagt: Oh, einmal d'
den Präser weglassen und und das Risiko ist extrem hoch, dass du dich mit, mit HIV ansteckst, oder. Und, und
das ist, das ist so eine Dogmatisierung wie es früher die Kirche gemacht hat, zum irgendwo die dummen Leute
auf dem Weg zu halten. Und genau so versucht es die Prävention, dass sie, dass sie irgendwo so extrem überspitzte oder, oder überzeichnete Bilder äh kreiert, wo dann, wenn's, wenn, wenn's so nach dem Motto try and
error … versuchst, wo du sagen musst, irgendwie kann das gar nicht sein. (P32:497-509)
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4.
Bewältigung der HIV-Diagnose
Personen, denen mitgeteilt wird, dass bei ihnen eine HIV-Infektion festgestellt worden sei, eröffnet sich mit der Überbringung dieser Diagnose eine neue Ausgangslage für ihre künftige Lebensführung. Diese neue Situation mag die einen ganz unerwartet treffen, während andere mit der
Diagnose nur bestätigt erhalten, was sie schon geahnt hatten. In jedem Fall markiert die Diagnose aber den Punkt, an dem die Betroffenen sich notwendigerweise damit auseinandersetzen
müssen, ab dato ihr Leben unter den Bedingungen einer HIV-Infektion (weiter-)führen zu müssen.
Es ist deshalb von Interesse, Einblick darin zu erhalten, wie die Betroffenen die HIV-Diagnose
erleben, welche Konsequenzen sie infolge der Diagnose wahrnehmen und wie sie diese Situation
bewältigen.
4.1
Bewältigungshandeln und Stress: Begriffliche Klärungen
Auf ein bestimmtes konkretes Ereignis, wie zum Beispiel eine Infektion mit dem HI-Virus, zeigen
Menschen ganz unterschiedliche Reaktionen. Ihre Reaktionen werden von unterschiedlichen
Faktoren beeinflusst, die sowohl in der Person, als auch in ihrer jeweiligen Umwelt lokalisiert
werden können. Die jeweiligen Reaktionen hängen davon ab, ob ein Ereignis als bedrohlich für
das eigene Wohlbefinden bewertet wird oder nicht. Dieser Prozess der Bewertung wird als primäre Bewertung bezeichnet. Bei der Bewertung eines Ereignisses spielen die zur Verfügung stehenden Ressourcen eine wichtige Rolle. Zu den zur Verfügung stehenden Ressourcen müssen
sowohl eigene Fähigkeiten, Wissen als auch Erfahrungen gezählt werden. Im Kontext von HIV ist
davon auszugehen, dass die Bewertung einer Infektion mit dem HI-Virus auch davon abhängig
ist, was für ein Bild die Betroffenen von der HIV-Infektion haben.
Wird ein Ereignis als bedrohlich eingeschätzt, so muss eine Person Strategien entwickeln, wie sie
dieses Ereignis bewältigen bzw. besser mit den Folgen dieses Ereignisses umgehen kann. Die
Bewertung eines Ereignisses erfolgt ständig aufs neue unter Berücksichtigung der Folgen einer
anvisierten Bewältigungsstrategie. Innerhalb des Bewältigungsprozesses können sich neue Möglichkeiten eröffnen, sich aber auch aufgrund fehlender Ressoucen als nicht realsierbar oder nicht
wirksam erweisen. Zudem können Bewältigungsstrategien, die eingesetzt werden, die Wahrnehmung des Ereignisses selbst verändern. Dieser Schritt wird als sekundäre Bewältigung bezeichnet.
Mit diesem einleitend dargestellten Verständnis wird das Konzept der Bewältigung von Lazarus
und Folkman (1984) als Grundlage für die Auswertung aufgenommen und als Grundlage für die
weiteren Schritte verwendet.
Der Begriff Bewältigung wird anhand des im englischsprachigen Raum gängigen Begriffs „Coping“ aufgearbeitet. Das deutsche Verb "bewältigen" ist ursprünglich eine Ableitung von "walten,
etwas in seine Gewalt bringen, etwas beherrschen". Heute wird dem Begriff die Bedeutung "mit
etwas fertig werden" zugeschrieben (Kluge & Seebold, 2002, p. 118). Das englische Verb "to cope" wird mit "etwas beherrschen, bewältigen, genügen, meistern, schaffen, mit etwas zurechtkommen, mit etwas fertig werden“ (Online-Wörterbüch leo.org, 2009) übersetzt.
Bewältigung wird als ein Prozess verstanden, der auf ein für eine Person stressreiches Ereignis
zurückgeht. Stress wird dabei als Folge einer Beziehung zwischen einer Person und ihrer Umwelt
betrachtet (vgl. Lazarus & Launier, 1981). Lazarus und Launier (1981) definieren mit dem Begriff
Stress "jedes Ereignis (...) in dem äussere und innere Anforderungen (oder beide) die Anpassungsfähigkeit eines Individuums, eines sozialen Systems oder eines organischen Systems beanspruchen oder übersteigen." (Lazarus & Launier, 1981, p. 226) Der transaktionale Ansatz
nimmt verschiedene Faktoren und Reize, wie zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale, als produzierende Faktoren wahr, bezieht aber auch die verschiedenen Dimensionen der Stressverarbeitung mit ein. Gemäss Lazarus ist Stress weder alleine gleichbedeutend mit einem Umweltreiz,
einem Personenmerkmal oder einer Reaktion (vgl. Lazarus, 1990, p. 213), für ihn stellt Stress
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„ein relationales Konzept dar, indem ein Gleichgewicht hergestellt werden muss zwischen Anforderungen und der Fähigkeit, mit diesen Anforderungen ohne zu hohe Kosten oder destruktive
Folgen fertigzuwerden“ (Lazarus, 1990, p. 213).
Eine Krankheit im Allgemeinen stellt in der Regel bereits ein stressreiches Ereignis dar, welches
die betroffene Person vor zahlreiche Herausforderungen im Hinblick auf die Bewältigung stellt.
Dabei muss unter anderem eine Bewertung erfolgen, ob der Person die nötigen Ressourcen zur
Bewältigung zu Verfügung stehen. Je nach Schwere und den damit verbundenen Folgen, fällt es
einer Person schwerer oder leichter, entsprechende Strategien zur Bewältigung zu entwickeln.
HIV hat sich im Laufe der Zeit von einer Krankheit mit einer früher oder später mit Sicherheit eintretenden Todeswahrscheinlichkeit hin zu einer zwar nicht heilbaren, jedoch behandelbaren
chronischen Krankheit gewandelt. Dementsprechend hat sich im Laufe der Zeit auch die von den
betroffenen Personen vorzunehmende Bewertung verändert, wenngleich, auch auf Grund der
historischen Hintergründe, davon auszugehen ist, dass die Infektion mit dem HI-Virus von den
Betroffenen eine erhebliche Bewältigungsleistung erfordert. Die Bewältigung von HIV Infektionen
wird im wissenschaftlichen Diskurs intensiv thematisiert. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen
Beiträgen zeigen auf, dass eine HIV Infektion als schwerwiegendes wahrgenommen werden
kann und unterschiedliche Bewältigungsstrategien angewandt werden.
Es zeigt sich auch in den Interviews, dass die Infektion mit dem HI-Virus eine grosse Bandbreite
an Bewertungen zur Folge hat und höchst individuell ist. Direkt nach der Diagnose ist die HIVInfektion für die meisten ein schockartiges Ereignis, die ersten Reaktionen reichen von "leeres
Schlucken" (P24: 533) bis hin zu einem Ohnmachtsgefühl.
4.2
Der Forschungsstand
Das Konzept von Lazarus und Folkman (1984) stellt bis heute eines der am häufigsten beachteten Konzepte in der Bewältigungsforschung dar und findet sich auch in vielen wissenschaftlichen
Arbeiten zum Thema Bewältigung im Kontext von HIV wieder (vgl. z.B. i Clement &
Schonnesson, 1998; Hart et al., 2000; Leiberich et al., 1993; Moskowitz & Wrubel, 2005;
Pakenham & Rinaldis, 2001).
Eine erste Untersuchung zur Bewältigung findet sich aus der Zeit vor der Einführung der antiretroviralen Therapie (Haart) (McCain & Gramling, 1992). Sie identifizieren bei Menschen mit HIV
erhöhte multiple Stressoren, die mit der Infektion verbunden sind, unter anderem Stigmatisierung,
Diskriminierung und psychosoziale Probleme. Die grösste Herausforderung bei der Bewältigung
war gemäss dieser Studie die mögliche bzw. absehbare Todesfolge bei Ausbruch des Krankheitsbildes AIDS aufgrund der HIV-Infektion. Leiberich et al. (1993) konstatieren ähnliche Bewältigungsleistungen, die vor allem darauf ausgerichtet sind, dass die Betroffenen sich nicht zu sehr
"vom Damoklesschwert des Ausbruchs der Aids-Vollbilderkrankung bestimmen zu lassen."
(Leiberich, et al., 1993, p. 298) Leibericht et al. zeigen in ihrer Studie auf, dass nach der HIV Diagnose die Belastung für die Betroffenen am höchsten ist. Diese reagieren zunächst mit problemzentrierten Bewältigungsstrategien, nach nach einiger Zeit jedoch ergeben sich Veränderungen der Bewältigungsstrategien die auf "Bagatellisierung/normal weiterleben" (Leiberich, et al.,
1993, p. 292) ausgerichtet sind. Clement und Schonnesson (1998) verknüpfen Attribute, die mit
einer HIV-Infektion in Verbindung gebracht werden, mit den Bewältigungsstrategien, die in der
von Lazarus entwickelte "Ways of Coping Check List (WCCL) enthalten sind in Beziehung. Reeves/Merriam/Courtenay (1999) stellten in ihrer Untersuchung fest, dass Menschen die direkt mit
einem positiven HIV-Testergebnis konfrontiert werden, zunächst reaktive Bewältigungsstrategien
entwickeln, diese dann jedoch zu proaktiven Bewältigungsstrategien umwandeln. Damit verbunden ist auch ein Übergang von wenig kontrollierten hin zu kontrollierten Bewältigungsstrategien
sowie der Wechsel von selbstkontrollierten zu auf andere konzentrierte Bewältigungsstrategien.
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Die weiteren Untersuchungen im Kontext von Bewältigung einer HIV-Infektion folgen der zeitlichen Einteilung13 von Lohse et al. (2007) und können dem Zeitraum der "late HAART" zugeordnet werden. Die Studie von Pakenham und Rinaldis (2001) kann zu den ersten gezählt werden,
die Bewältigung von einer positiven HIV-Infektion nicht mehr nur unter der Dichotomie des Überlebens oder des drohenden Tods hin untersuchen, sondern unter dem Wandel hin zu einer chronischen, behandelbaren Krankheit. Im Sample waren 114 MSM, der Zeitpunkt der Diagnose lag
im Schnitt 76 Monate zurück, ob es sich dabei um eine recent infections handelt, geht aus der
Studie nicht hervor. Zur Identifikation der Bewältigungsstrategien wurde auf ein standardisiertes
Verfahren zurückgegriffen, welche ebensfalls wie bei Clement und Schonnesson (1998) auf der
"Ways of Coping Check List (WCCL)" basiert. Ebenfalls auf einem standardisierten Verfahren
baut die Studie von Fleishman et al. (2003) auf. Die am häufigsten identifizierten Bewältigungsstrategien waren "die Situation zu nutzen, um daran zu wachsen", "sich nicht von der Infektion
beeinträchtigen zu lassen" und "nicht über die Infektion nachdenken". Die Bewältigung einer HIVInfektion als eine chronische Krankheit hat die Studie von Moskowitz und Wrubel (2005) zum
Gegenstand. In dieser qualitativ angelegten Untersuchung konnten 20 Bewältigungsformen identifiziert werden, von denen sich wiederum acht in der "Ways of Coping Check List (WCCL)" wiederfinden. Zu diesen, über die in der WCCL festgehaltenen Formen von Bewältigung wurden folgende Formen identifiziert: Einer anderen Person Schuld zuweisen, andere positive Erfahrungen
kreieren, auf etwas anderes Positives fokussieren, Humor, pflegen von Erinnerungen, soziale Unterstützung anbieten, beten, sich vorbereiten, sich beruhigen, Selbstbeherrschung und "Druck
ablassen". Orban et al. (2010) untersuchten die Bewältigungsstrategien von jungen HIV-positiven
Menschen zwischen 13 und 21 Jahren. Die Stressoren wurden durch qualitative Interviews erhoben, die Bewältigungsstrategien wurden quantitativ erfasst und bewertet.
Über diese Untersuchungen hinaus bestehen Studien, die Bewältigung auf einen spezifischen
Aspekt hin untersuchen. Dazu gehört der Fokus Gender (Vosvick, Martin, Smith, & Jenkins,
2010), Ethnische Zugehörigkeit (Tarakeshwar, Hansen, Kochman, & Sikkema, 2005; Tate, Van
Den Berg, Hansen, Kochman, & Sikkema, 2006), psychische Beeinträchtigungen (Chan et al.,
2006; Joseph & Bhatti, 2005; Leserman, 2000; J. M. Simoni & Ng, 2000), Armut (Mayers, Naples,
& Nilsen, 2005), Jugend (J. A. Stein & Rotheram-Borus, 2004), Internet (Reeves, 2000) sowie
Offenlegung der HIV-Infektion (Holt et al., 1998).
Die dargestellten Studien zur Bewältigung einer positiven HIV-Infektion beziehen sich nicht auf
den Zeitpunkt der Infektion (recent infections), allenfalls wird im Hinblick auf die Bewältigungsprozesse, die direkt nach der Diagnosestellung und jenen, die zu einem späteren Zeitpunkt längerfristig stattfinden, unterschieden.
Aus den vorliegenden Forschungsarbeiten geht hervor, dass sich eine Forschungslücke bei der
Frage nach der Bewältigung von frischen HIV-Diagnosen ergibt. Zu dieser Thematik liegt nur die
ältere Studie von Reeves et al. (1999), die sich auf ein Sample in den USA bezieht vor. Für die
Schweiz fehlen bisher Erkenntnisse zu diesem Aspekt der Bewältigung von HIV.
.
4.3
Diagnose und Bewältigungshandeln bei frisch HIV-infizierten Personen in der
Schweiz
Als erstes Ergebnis kann festgestellt werden, dass die Konfrontation mit einem positiven Testergebnis einer HIV-Infektion in aller Regel ein stark krisenhaftes Ereignis darstellt, dessen Bewältigung die Betroffenen vor die Herausforderung stellt, neue Routinen bzw. Bewältigungsstrategien
zu entwickeln, d.h. dass – um in der sprachlichen Terminologie von Lazarus zu bleiben – die HIV-
13
Pre-HAART: 1995-1996; Early HAART: 1997-1999; Late HAART: 2000-2005 (Lohse et al., 2007)
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Infektion in der primären Bewertung unmittelbar nach Diagnosestellung als ein Ereignis eingeordnet wird, das die aktuelle Lebenspraxis bedroht. Die unterschiedliche Bewertung zeigt sich in
den sich unterscheidenden Reaktionen der Betroffenen. Je nachdem, wie gut sich die Betroffenen schon im Vorfeld über die Folgen einer Infektion informierten bzw. informieren konnten, löste
die Übermittlung der Diagnose starke Angst bzw. Unsicherheit bezüglich der eigenen Zukunft
aus, sowohl im Hinblick auf die eigene Gesundheit, als auch über die sozialen Folgen. Die Bandbreite der Wahrnehmung der HIV-Infektion der Betroffenen vor dem Zeitpunkt reicht in den Interviews von "ich habe (…) gedacht (…), wenn ich positiv bin, springe ich vors Tram" (P26:972-674)
über "für mich hat die Krankheit nie ein unheimlich grausames Bild gehabt" (P2: 449-451) bis hin
zu einer relativierenden Haltung "das man mittlerweile gut damit leben kann" (P11: 155-157).
Dementsprechend zeigt sich bei den Betroffenen eine grosse Varianz in den Bewältigungsvoraussetzungen im Hinblick auf die Wahrnehmung der erwarteten Folgen bzw. notwendigen Bewältigungsleistungen.
Dies insbesondere dann, wenn die Betroffenen nicht mit einem positiven Ergebnis rechneten oder sich bisher noch nicht mit den Folgen und Möglichkeiten, mit dem HI-Virus zu leben, auseinandergesetzt haben. P1 fragte sich direkt nach Bekanntwerden der Infektion ob er jetzt sterben
müsse und war verunsichert darüber, was er jetzt tun müsse (vgl. P1: 371-378). Bei P5 zeigt sich
dies darin, dass dieser in den ersten Tagen nach dem positiven Testergebnis keinen Hunger
mehr hatte, „Drei oder vier Tage mochte man nicht mehr Essen“ (P5: 452-453) berichtet er. Auch
für P8 war das positive Testergebnis zunächst ein Ereignis, welches mit einem anfänglichen
Schock einherging, verbunden mit der Frage, was die HIV-Infektion jetzt für ihn bzw. sein Leben
bedeuten wird (vgl. P8: 671-672). Für P13 war die Diagnose ein Schock, da er nicht damit gerechnet habe, dass er positiv sein könnte (vgl. P13 393-396). Dementsprechend gross war die
Betroffenheit, welche die Diagnose bei P13 ausgelöst hat. Dass die Infektion mit dem HI-Virus für
die Betroffenen gerade am Anfang ein einschneidendes Ereignis darstellt, zeigt sich auch bei
P17:
P17: Also es war schon am Anfang, an dem Tag wo ich es erfahren habe (…) war es schon ein Schock gewesen
für mich. (P17: 160-162).
Auch für P16 war die Information über das positive Ergebnis des HIV-Tests ein einschneidendes
Ereignis:
P16: es war so schlimm ich kann dir kein Vergleich machen, wenn du so schlimme Nachrichten erhältst. (P16:
252-254)
Weiter berichtet P16 über seine ersten Gedanken, direkt nach der Diagnose:
P16: Für mich war es ein schwerer Schlag und ich habe einen Grab bereits vor mir gesehen (P16: 263-264)
Ebenfalls schockiert reagierten P11 und P28. Sie erinnern sich, dass das Ergebnis für sie ein
"recht grosser Schock" (P28: 214) bzw. "ein echter Schock" (P11: 144) gewesen sei. P11 beschreibt, dass für ihn einen Moment lang seine Welt zusammengebrochen sei und er sich nun mit
der Frage beschäftige, welche Auswirkungen die HIV-Infektion auf die Ausübung seiner Berufstätigkeit und das Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld haben wird (vgl. P11: 150-155).
Personen, die sich bereits im Vorfeld informiert hatten, was es bedeutet mit HIV zu leben, wussten dass aus medizinischer Sichtweise ein normales Leben ohne weitreichende Folgen möglich
ist. Somitwar die Diagnose für sie ein weniger schockierendes Ereignis. Dies zeigt sich bei P24:
P24: Also das Erste, wo es geheissen hat, dass etwas nicht in Ordnung sei mit dem ersten Test, (…) da habe ich
dann schon das erste Mal leer geschluckt (…). Aber äh nachher eigentlich ja, habe ich gefunden ja, gut, leben wir
halt weiter, (…) jetzt musst du halt Tabletten nehmen (…) Ich habe jetzt nicht irgendwie das Gefühl gehabt, jetzt
sei alles vorbei oder so. (P24: 812-823).
Die Interviews zeigen, dass die Infektion mit dem HI-Virus ein stressvolles Ereignis darstellt, das
von den Betroffenen bewältigt werden muss. Dabei lassen sich Faktoren identifizieren, die einen
Einfluss darauf haben, wie die Betroffenen die Infektion bewältigen und was für Bewältigungsstrategien sie dabei anwenden.
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4.4
Einflüsse auf die Bewältigung
Bevor eine Person sich für die Wahl einer Bewältigungsstrategie entscheidet, findet eine Bewertung der für die Bewältigung zur Verfügung stehenden Ressourcen statt. Diese Faktoren mit Einfluss auf die Bewältigung, können mit jenem Prozess verglichen werden, welcher von Lazarus als
sekundäre Bewertung bezeichnet wird. Im Folgenden werden jene Faktoren dargestellt, die einen
Einfluss auf die Wahl der Bewältigungsstrategie haben, aber noch keine Bewältigungsstrategie
darstellen.
4.4.1 Formelle Hilfesysteme
Ein wesentlicher Faktor bei der Bewältigung einer kürzlich erfolgten HIV-Infektion stellen Hilfesysteme dar, die formell organisiert sind. Dies sind vor allem Angehörige der helfenden Professionen
wie zum Beispiel Ärzte, Psychologen sowie Mitarbeitende in Beratungsstellen. Sozialarbeitende
werden nicht explizit erwähnt, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese in den
Beratungsstellen auch anzutreffen sind.
Gerade direkt nach Bekanntwerden einer Infektion sind Ärzte eine wichtige Ressource für die
Bewältigung von HIV-Infektionen. Dies ist einerseits dadurch bedingt, dass Ärzte jene Personen
sind, die die Betroffenen gewöhnlich mit der Diagnose konfrontieren. Deshalb ist es aber auch
naheliegend, dass der behandelnde Arzt bzw. die Ärztin in etlichen Fällen zu den wenigen Personen gehört, denen gegenüber der positive HIV-Status offengelegt wird. P5 hat keine anderen
Personen, mit denen sie über ihre HIV-Infektion sprechen konnte,
P5: ausser dieser Frau Doktor, zu der ich ins Spital gegangen bin ‚mhm‟(…) Also sie ist eine sehr gute Fraudoktor
[...]. Die hat einen ein bisschen aufgepäppelt, wenn man so will. (P5: 569-576)
Diese Funktion als Ansprech- und Gesprächspartner für die Bewältigung einer HIV-Infektion zeigt
sich auch im Interview P24:
P24: ich bin im Moment froh, habe ich diesen Arzt, den ich habe, wo ich einfach hin gehen kann und irgendwie
fragen, wenn irgendetwas anderes ist, oder. (P24: 778-781)
Durch die ärztliche Betreuung konnte auch die Angst vor den körperlichen Krankheitssymptomen
genommen werden: „physisch ist klar, was wird laufen, wo das durch geht.“ (P24: 869-870). Die
Wichtigkeit der Unterstützung durch Ärzte für die Bewältigung der HIV-Infektion zeigt sich auch
bei P15. Dieser beschreibt, dass er durch die Erklärungen seines Arztes die HIV-Infektion als
nicht mehr so sehr gravierend ansehen kann und mit den Einschränkungen, die mit der Therapie
verbunden sind, nun gut leben kann (vgl. P15:118-122). Auch für P27 war sein Hausarzt unterstützend bei der Bewältigung der Infektion, indem er ihm beratend zur Seite stand (vgl. P27: 294296). Auch bei P30 kommt dem behandelnden Arzt eine unterstützende Rolle bei der Bewältigung zu, in dem er P30 erklärte, dass eine HIV-Infektion kein Todesurteil mehr bedeute und ihn
damit beruhigen konnte (vgl. P30: 131-133).
Neben der Unterstützung durch Professionelle aus dem medizinischen Bereich, spielt auch die
psychologische Unterstützung für die Bewältigung eine wichtige Rolle. P24 gibt an, dass er nach
der Entdeckung der Infektion auf psychologische Hilfe zurückgreifen konnte und dass diese ihm
bei der Bewältigung half.
Innerhalb des professionellen Hilfesystems spielen auch die HIV-Beratungsstellen und deren
HIV-Sprechstunden eine Rolle und unterstützen die Bewältigung. In vielen Interviews wird auf
diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht. Besonders deutlich wird dies aus dem Interview mit
P11. Für ihn brach, nachdem er von der HIV-Infektion erfahren hat, zunächst einmal eine Welt
zusammen. Er wusste nicht, wie es in seinem Leben weitergehen sollte. Auch für seine Familie
war seine HIV-Infektion ein sehr grosser Schock. P11 suchte die HIV-Sprechstunde auf, wo er
sehr viele Fragen stellen konnte und diese auch beantwortet bekam. Dazu führt er aus:
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P11: In der HIV-Sprechstunde bekam ich recht viel Sicherheit, habe wie den Boden [wieder unter mir] gefunden.
(P11: 162-165).
Aus den Beratungen gewinnt er vor allem in Bezug auf die Berufsausübung als HIV-Positiver
Klarheit (vgl. P11: 166-177). Da P11 die Möglichkeit nutzt, seine Mutter mit zur Beratungsstelle
zu nehmen, kann er seine anfänglich geschockte Familie in sein Bewältigungshandeln miteinbeziehen:
P11: Für die brach zunächst auch mal eine Welt zusammen. Die dachten ich sterbe gleich übermorgen. (P11:
175-177).
Er zeigt auf, wie die HIV-Beratungsstelle ihm geholfen hat, die Angst seiner Familienangehörigen
abzufangen und ihm dadurch auch bei der Bewältigung geholfen hat:
P11: dann nahm ich meine Mutter auch mal mit (…) und dass ähm sie auch noch ein paar Fragen stellen konnte
und das war dann glaube ich auch noch gut. Sie konnte dann danach auch meinen Vater besser besänftigen, als
ich das geschafft habe. (P11: 180-195)
Auf eine andere Beratungsstelle bzw. der von dieser Beratungsstelle angebotene Workshop wird
im Interview P24 als unterstützende Ressource für die Bewältigung verwiesen:
P24: Ich bin dann, wenn ist das gewesen, im April, … ist noch auf dem Stoss so ein, so ein für Neuinfizierte so
ein Workshop gewesen. Dort bin ich auch gewesen. Das hat mir dort … sehr viel gebracht, um irgendwie zu sehen, ja, ok, es gibt ganz viele Leute, die damit zu tun haben, die ganz verschiedene Arten haben, damit umzugehen. Ähm, überhaupt mal über das zu reden. (P24: 955-968)
Beratungsstellen für HIV-positive Menschen werden auch dann wichtig, wenn mit der HIVInfektion andere belastende Lebenssituationen einhergehen, z.B. der Verlust des Partners oder
schon vorher bestehende Krankheiten wie Depressionen. Dabei erhält der/die Betroffene Unterstützung durch eine HIV-Beratungsstelle in Deutschland. Dort nimmt er/sie an Einzel- und Gruppengesprächen teil, was für ihn/sie, neben der psychiatrischen Behandlung, welche er/sie wegen
seiner/ihrer Depressionen in Anspruch nimmt, unterstützend bei der Bewältigung wirkt (vgl. P8:
1039-1047).
Neben den bereits aufgeführten, unterstützenden positiven, die Bewältigung unterstützenden Einflüssen kann ein Professionelles Hilfesystem jedoch auch negative Auswirkungen haben. Ddies
ist z.B. der Fall, wenn aus dem professionellen Hilfesystem unterschiedliche Einschätzungen
über die Infektion bzw. über deren Behandlung an den Betroffenen gelangen:
P16: Aber du hörst einen und der anderen und hier muss ich noch verstehen was tun und dass gefällt mir nicht,
es gefällt mir nicht die Ärzte hören die eine "unterschiedliche Meinung" unterschiedliche Meinung haben über ein
solches Thema, nach meiner Meinung soll es klar sein. (P16: 400-405)
Daraus kann abgeleitet werden, dass es für die Betroffenen für die Bewältigung wichtig ist, über
klare, eindeutige Informationen zu verfügen, die ihnen Sicherheit geben und Unklarheitennehmen.
4.4.2 Informelle Hilfesysteme
Neben den formellen spielen auch informelle Hilfesysteme eine wichtige Rolle. Aus dem Interviewmaterial lassen sich die folgenden informellen Unterstützungssysteme, d.h. nicht durch Professionelle organisierte Hilfesysteme im Umfeld einer Person, finden: Unterstützung durch den
Partner, durch Familienangehörige bzw. die Familie und durch den Freundeskreis.
In etlichen Interviews (P1, P8, P12) wird die Wichtigkeit der Unterstützung durch den eigenen
Partner bzw. die Partnerin hervorgehoben. Gerade in der ersten Zeit nach der Diagnosestellung
erscheint diese Art der Unterstützung als sehr wichtig. Dass Hilfe auf verschiedenen Ebenen
wichtig ist, zeigt das Interview mit P1: „Er kochte für mich, hat mit mir geredet. Er sagte auch,
vergessen wir es für heute einmal, weil wenn man sich da ständig informiert und immer im Internet hockt, also jede freie Minute!“ (P1: 707-710) Hier erfolgte die Unterstützung sowohl bei der
Gestaltung des Alltags als auch auf psychischer Ebene, was P1 mit den Worten „er gibt mir wirkInstitut Integration und Partizipation
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lich Kraft“ (P1: 737) deutlich macht. Ähnlich beschreibt dies P17, welcher durch seinen Partner
aufgebaut wird, wenn P17 Mühe hat, mit seiner Infektion klar zukommen:
P17: aber ich habe ja meinen Freund an der Seite und er hat denn auch gesagt das schaffen wir schon irgendwie.
(P17: 193-195)
Die Unterstützung der Ehefrau ermöglicht P13 eine positive Bewertung der Gesamtsituation vorzunehmen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass seine Frau die Beziehung trotz der
HIV-Infektion weiterführen möchte. Diese unterstützt ihn auch im Alltag und ist allgemein die
grösste Unterstützung bei der Bewältigung der Diagnose (P13 288-302).
Ebenso wie der Partner in einer Beziehung können auch Personen aus dem jeweiligen Freundeskreis die Bewältigung positiv unterstützen. So reagierte P6 auf die Diagnose zunächst mit
Schock und Hilflosigkeit, worauf er sich Unterstützung in seinem Freundeskreis geholt hat, was
eine grosse Hilfe für ihn darstellte (P6, 377-394). Für P6 ist es wichtig, dass er sich seinen
Freunden anvertrauen kann und diese sein Schicksal mit ihm teilen können (P6, 520-522). Aber
auch das „Verständnis, wo man aufgebracht hat gegenüber [der Infektion mit dem HI-Virus]“ (P6,
538f.), ist für ihn von Bedeutung.
Des Weiteren kann die Unterstützung durch die Familie oder durch einzelne Familienangehörige
eine wichtige Ressource bei der Bewältigung einer positiven HIV-Diagnose sein. Im Interview mit
P12 wird deutlich, dass die Unterstützung durch die Familie für ihn sehr wichtig ist, um mit der
Diagnose klarzukommen:
P8: also ich habe dann meiner Familie [von der HIV-Infektion] erzählt, dass hat mir sehr gut getan. (P8: 824825)
Auch bei P9 zeigt sich die Unterstützung bei der Bewältigung durch seine Frau und seine
Stieftochter:
"Moi je vous dirais ce qui m‟aide, franchement, c‟est la petite fille. « Mh, mh ». C- c‟est ma femme, la petite fille"
(P9 523-525).
Wird vom engeren familiären bzw. partnerschaftlichen Umfeld weggegangen, so zeigt sich, dass
auch ein erweitertes soziales Netz eine wichtige Ressource zur Bewältigung einer frischen HIVInfektion darstellt. Der wichtige Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Bewältigung zeigt sich bei
P24:
P24: Und jetzt ist es dann eben auch nach und nach so gewesen, dass ich eben guten Freunden erzählt habe,
und meiner Schwester, weil wir auch ein recht nahes Verhältnis haben. Ähm. Ja, und jetzt merke ich, ich möchte
jetzt doch relativ offensiv mit dem umgehen, mit den Leuten, die mir nahe stehen. Das ist eigentlich schon immer
so gewesen, dass ich nicht, nicht gut um Themen umschiffen kann in äh in Gesprächen oder in Beziehungen. Das
ist für mich wichtig. Und durch das … am Anfang habe ich es mit mir ausgemacht. (P24: 968-977)
P32 hilft die stablie soziale Einbettung dabei, mit der HIV-Infektion klarzukommen, er zählt dazu
seine „Wohnsituation ist klar, ähm, … Arbeitssituation ist klar … ähm … irgendwo Bezugspersonen zu haben, ist klar.“ (P32: 987-989) Zu diesem sozialen Umfeld im erweiterten Sinn muss
auch der Freundeskreis der betroffenen Personen gezählt werden, da es diesen Personen gelingt, die Infektion einzuordnen, zu relativieren und somit besser damit zu leben:
P17: Wo ich dann schon eher gesagt habe, es lässt sich eh nichts ändern, was soll man jetzt verzweifeln da dran.
Es gibt einen guten Kollegen von mir der hat zu mir gesagt, er ist auch homosexuell, mein bester Kollege aus
Deutschland, der sagte zu mir, du wenn du mir die Nachricht gegeben hättest, dass du Krebs hast, wär's für mich
schlimmer gewesen als dass du HIV hast. (P17: 199-205)
Für P17 ist dieses soziale Umfeld nicht nur auf jene Personen beschränkt, die direkt vor Ort verfügbar sind, sondern auch auf Freunde, die er im Internet kennen lernt.
P17: im Chat oder so ne, MSN oder so“ erreichen kann und mit ihnen über seine mit der HIV-Infektion verbunden
Themen sprechen kann (vgl. P17: 852-859).
Es kann davon ausgegangen werden, dass sich mangelnde Unterstützung durch den Partner
oder das Abwenden des Partners auf Grund der Infektion negativ auf die Bewältigung auswirkt.
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Dies zeigt sich im Interview mit P8. Der Verlust des Partners und somit die fehlende Unterstützung durch den Partner haben für ihn äusserst negative Folgen bei der Bewältigung. In seinem
Fall wurden frühere, schon vor der HIV-Infektion vorhandene Depressionen durch den Verlust
des Partners wieder neu hervorgerufen. Auch bei P21 zeigt sich, dass eine fehlende Unterstützung aus seinem persönlichen Umfeld die Bewältigung erschwert. So erzählte er seiner Grossmutter, seinem Vater, zwei Freundinnen und einem Freund von seiner HIV-Infektion (P21: 126130). Die erhoffte Unterstützung kam aber nicht. Sie waren alle ebenfalls geschockt oder in Sorge und waren nicht bereit mit ihm wirklich darüber zu diskutieren, ihm zuzuhören (P21: 130-162).
4.4.3 Allgemein positive Einstellung zum Leben
Eine grundsätzlich positive Einstellung zum Leben scheint ein wichtiger Faktor für die Bewältigung zu sein. Aus verschiedenen Aussagen lässt sich der Schluss ziehen, dass eine Person mit
grundsätzlich positiver Einstellung zum Leben versucht, aus einer Situation etwas Gutes für sich
zu ziehen, und dass es dieser Person dann auch einfacher fällt, eine Krise wie eine HIV-Infektion
zu bewältigen.
Welche Bedeutung eine positive Einstellung zum Leben bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse hat, wie sie eine HIV-Infektion darstellt, verdeutlicht der folgende Interviewausschnitt:
P6: Eigentlich, ich würde jetzt mal sagen, ich habe eher einen positiven Charakter, einen positiv denkenden Charakter, „Mhm“ … ich … sage jetzt mal, ich kann relativ gut mit gewissen Sachen umgehen, [...] also ich bin jetzt
nicht ein psychisch sehr labiler Mensch, sagen wir es mal so. (P6: 522-534)
Im Interview P16 zeigt sich, dass eine grundsätzlich positive Einstellung zum Leben den Betroffenen bei der Bewältigung einer HIV-Infektion hilft. P16 beschreibt, wie er versucht, trotz der
Infektion die positiven Dinge im Leben zu sehen. So sei er „zu seinem Glück schon positiv und
optimistisch“ und versuche immer zu sehen, dass das Glas halb voll statt halb leer sei (vgl. P16:
567-469).
4.4.4 Weitere Faktoren mit Einfluss auf die Bewältigung
Eine unterstützende Rolle bei der Bewältigung scheint auch die Situation am Arbeitsplatz zu spielen. Arbeit schafft Normalität. Dieser Faktor half P6 bei der Bewältigung der Diagnose. Deshalb
arbeitet er auch in den ersten Wochen nach der Diagnosestellung ganz normal weiter (vgl. P6:
383-386). Der Zeitpunkt an dem er durch reduzierte Arbeitstätigkeit die Normalität nicht mehr aufrechtherhalten kann, bereitet es ihm Sorgen:
P6: Wenn ich beispielsweise, wenn ich nicht mehr mag 100 Prozent schaffen, dass macht mir Angst. (P6: 546548)
Eine feste Arbeit zu haben, welche auslastet und gefällt, ist auch für P3 ein wichtiger Faktor bei
der Bewältigung der HIV-Diagnose. Er führt aus, dass die Arbeit ihm aufzeigt, dass es im Leben
weitergeht „und das hilft natürlich zusätzlich.“ (P3: 917)
Auf der anderen Seite kann die Situation am Arbeitsplatz aber auch stark belastend sein und sich
somit negativ auf die Bewältigung auswirken. Gerade dann, wenn am Arbeitsplatz ein gewisses
Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotential vorhanden ist, kann sich dies negativ auf die
Bewältigung der Diagnose auswirken. Deshalb versucht zum Beispiel P5 möglichst lange gesund
zu bleiben, damit er seinem Arbeitgeber nicht auf Grund von krankheitsbedingten Ausfällen seine
HIV-Infektion offenlegen müsste. So hofft er, nicht Opfer von Stigmatisierungen und Diskriminierungen zu werden (vgl. P5: 814f.).
Wie eine Person die Diagnose verarbeiten bzw. damit umgehen kann, scheint also vom Kontext
abzuhängen, in dem sich eine Person zum Zeitpunkt der Diagnosestellung befindet. Auf der einen Seite scheint ein möglichst geregelter Arbeitsalltag die Bewältigung zu unterstützen, möglich
ist aber auch, dass ein völlig anderer Kontext und Ort des Aufenthalts bei der Bewältigung hilft.
P11 befand sich beispielsweise gerade im Urlaub, als er von seinem Arzt telefonisch erfährt, dass
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er möglicherweise HIV-positiv sei und deshalb ein Bestätigungstest durchgeführt werden müsse.
Durch die Situation des Urlaubs konnte sich P11 darauf vorbereiten, wie es wäre, wenn er wirklich HIV-positiv ist.
P11: Aber irgendwie hatte ich noch die weite Distanz, ich war am Meer, Sonne, und alles schön. Irgendwie ging
dies noch gut, anders als wenn ich zu Hause gewesen wäre. (P11: 140-144)
4.4.5 Offenlegung als Faktor der Bewältigung
Bei der Bewältigung der HIV-Diagnose spielt das Thema Offenlegung der HIV-Infektion eine
wichtige Rolle. Hierbei lassen sich zwei Pole feststellen. Entweder wird die Offenlegung des positiven HIV-Status sehr offen betrieben und ist Teil einer aktiven Bewältigungsstrategie oder sie
wird vermieden, weil erwartet wird, dass mit der Offenlegung Nachteile verbunden sind und die
Bewältigung erschwert wird. Diese Form der Nichtoffenlegung kann als eine auf Rückzug gerichtete Strategie betrachtet werden. Auf die genauere Bedeutung von Offenlegung oder Nichtoffenlegung als Bewältigungsstrategie wird im folgenden Kapitel über die Bewältigungsstrategien weiter eingegangen.
4.5
Bewältigungsstrategien
Die bis jetzt dargestellten Ergebnisse zeigen auf, wie unterschiedlich die Bewertung der Situation
nach einer HIV-Infektion sein kann und welche Faktoren einen Einfluss auf die Bewältigung haben können. Diese Faktoren haben einen erheblichen Einfluss darauf, was für Bewältigungsstrategien gewählt werden, nach dem die Betroffenen mit dem positiven Testergebnis konfrontiert
wurden.
Im Folgenden werden die in den Interviews dargestellten Bewältigungsstrategien dargestellt.
Grob lassen sich aktive, normalisierende und rückzugsorientierte Bewältigungsstrategien unterscheiden.
4.5.1 Aktive Bewältigungsstrategien
Die aktiven Bewältigungsstrategien bestehen, wie schon der Name sagt, aus aktiven Massnahmen, um die HIV-Infektion besser bewältigen zu können. Als aktive Bewältigungsstrategie konnte
die Offenlegung der HIV-Infektion, die Suche nach Informationen, Kontakt und Erfahrungsaustausch mit anderen HIV-positiven Personen sowie das Setzen von neuen Prioritäten im Leben
rekonstruiert werden.
Informationssuche
Informationssuche über die Krankheit im Allgemeinen, über ihre Geschichte, ihren Verlauf, den
heutigen Wissensstand und insbesondere über das Leben mit HIV scheint die wichtigste Bewältigungsstrategie darzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Infektion erfolgt am Anfang vor allem durch die Suche nach Informationen, was für Auswirkungen die Infektion auf das weitere Leben haben könnte. Es zeigt sich, dass es sich bei der Informationssuche um eine aktive
Bewältigungsstrategie handelt und den Betroffenen dabei hilft, die Infektion besser zu bewältigen
bzw. damit besser leben zu können.
P1 besorgte sich über das Internet und durch Broschüren vor allem Informationen über den Verlauf der Krankheit. Jene Informationen, welche er sich zuerst besorgte, bereiteten ihm allerdings
zunächst aber vor allem Angst, da diese sich nicht auf den Stand der heutigen Behandlungsmöglichkeiten bezogen. P1 beschreibt, dass er, nachdem er von seinem positiven HIV-Status erfahren hatte, sofort mit der Informationssuche begann:
P1: Ich informierte mich im Internet und zuerst las ich natürlich nur schreckliche Dinge. Also so über den Infektionsverlauf, eben so die Phasen ohne Medikamente, ohne die Behandlung, wie das so verläuft, „mhm“ dann dachte ich‚ ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott‟ oder. Also das möchte ich also nicht erleben. (P1: 439-444)
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Je intensiver sich P1 jedoch mit weiterer Literatur beschäftigte, desto mehr konnte er sich von
diesem erschreckenden und belastenden Bild lösen.
P1: Und dann nimmt man die andere Broschüre und da sieht es schon anders aus, viel positiver.“ (P1: 549-551)
Es zeigt sich jedoch auch, dass für P1 nicht unbedingt Informationen zur Krankheit selbst wichtig
sind, sondern vor allem auch darüber, wie man mit der Krankheit leben kann (vgl. P1: 440 ff.).
Auch bei P6 stellt die Suche nach Informationen ein zentrales Element seiner Bewältigungsstrategie dar:
P6: Hab mich (...) selber noch informiert über das Internet, irgendwie über die Aids-Hilfe Schweiz, habe die Broschüren gelesen, (...) ich habe einfach wie müssen wissen, was da passiert (P6: 403-407)
Über möglichst umfassende Informationen zu verfügen, kann für die Betroffenen bedeuten, die
Deutungshoheit sowie Kontrolle über die Krankheit zu haben. Im Besitz von Informationen zu
sein, bedeutet, das Heft des Handelns trotz der Krankheit bei sich zu behalten:
P6: ich habe es nicht gern wenn ich so unkontrolliert bin. Also ich muss mich einfach auf eine gewisse Art und
Weise im Griff haben. Also im Griff haben heisst, ich muss irgendwie wie … ich überlasse mich nicht gerne dem
Zufall, sagen wir es mal so, oder irgendwie so, wenn irgendetwas ist, dann muss ich irgendwie wissen um was es
geht. (P6: 408-414)
Informationssuche stellt also einen Versuch dar, handlungsfähig zu bleiben und die autonome
Lebenspraxis aufrecht zu erhalten.
Bei der Übermittlung von Informationen scheint den formellen Hilfesystemen eine besonders
wichtige Rolle zuzukommen, da es diesen gelingt, die Betroffenen vor allem direkt nach Bekanntwerden der Infektion über die notwendigen Informationen im Hinblick darauf zu versorgen,
dass ein Leben mit einer HIV-Infektion möglich ist:
P16: Nachher, habe ich mit dem Arzt gesprochen und habe Informationen erhalten und alle diese positiven Nachrichten, ich habe wieder Gewicht an zugenommen und Kraft bekommen usw. (P16: 360-363)
Ebenfalls in die Kategorie der Informationssuche kann eine weitere Aussage von P16 eingeordnet werden, in dem zum Ausdruck kommt, dass Informationen über neue Forschungsergebnisse
schon zur Behandlung von HIV eine Hilfe zur Bewältigung der Infektion sind.
P16: Wenn du liest, in der letzten Zeit (…) hat (…) man ein Protein gefunden. dort hat man eine Behandlung gefunden, (…) aber man sieht, dass Fortschritte gemacht werden. (P16: 584-589)
Im Interview P14 zeigt sich eine Form der Informationssuche, die sich vor allem auf das Internet
und den Austausch mit Betroffenen und Nichtbetroffenen bezieht. P14 berichtet, dass er sich auf
einer Internetplattform ein Profil eingerichtet hat, über welches er mit anderen über seine Infektion diskutieren konnte, was ihm sehr bei der Bewältigung geholfen hatte.
P14: ich habe von mir persönlich ein bisschen erzählt, und zuunterst habe ich geschrieben, dass Profil ist einfach
mal da. Melde dich, wenn du Lust hast. (…) Dann haben sie sich gemeldet. Und das hat dann geholfen, am Anfang habe ich gar nichts erwartet, aber nachher sind so viele Mitteilungen reingekommen, … das ich jetzt sagen
muss, dass mir das auch ziemlich gut getan hat. (P14: 332-340)
Über dieses Profil hinausgehend, nutze P14 auch die im Internet auf verschiedenen Plattformen
angebotenen Informationen, um eine Sicherheit über mögliche Folgen einer Infektion mit HIV zu
erhalten bzw. sich zu beruhigen. Damit wird deutlich, dass die sozialen Netzwerke nicht nur für
die Suche nach neuen Kontakten genutzt werden, sondern auch dafür, gezielt Informationen zu
erhalten. Über den damit verbundenen Effekt auf die Bewältigung berichtet P14:
P14: jetzt weisst du um was es geht und dann lässt du dich auch wieder ein wenig in Ruhe» (P14: 382-383)
Auch im Interview P17 wird deutlich, dass die Suche nach Informationen einerseits über HIV
selbst, aber auch über das Leben mit HIV eine wichtige Bewältigungsstrategie darstellt. Für P17
ist es wichtig, dass er im Internet die Möglichkeit hat, sich gezielt jene Informationen rauszusuchen, die für ihn relevant sind:
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P17: Als jetzt rein diese Broschüre die ich von meinem Arzt bekommen habe, diese HIV Broschüre. Ich bin nicht
so ein Mensch der da so ein Heftchen sich da durchliesst… so ein Heftli und ich brauche das dann wirklich detailliert im Internet wo ich dann halt auch selber schauen kann zu welches Thema ich gerade am Lesen bin und nicht
so wie die das da geschrieben haben, da mal so steril alles und dann vielleicht auch noch Beispiele die ich im Internet halt auch sehen konnte, dann halt von auch HIV positiven, wie gehen HIV positive mit ihren HIV positiven
Partnern um oder wie gehen negative Partner mit dem positiven Partner um, diese Beispiele haben mir das auch
noch nahe geführt. Es war halt recht interessant. (P17: 810-815)
Offenlegung
Wie bereits im Kapitel beschrieben, muss die Kategorie Offenlegung als ein Faktor verstanden
werden, welcher sowohl einen positiven als auch einen negativen Einfluss auf die Bewältigung
haben kann. Wenn die Offenlegung des positiven HIV-Status aktiv betrieben wird, kann sie als
eine konkrete Bewältigungsstrategie eingeordnet werden. Dies zeigt sich insbesondere im Interview mit P2. Er hat von Beginn an entschieden, seinen positiven HIV-Status offenzulegen. Bereits 10 Tage nach der Diagnose hat P2 seinen Arbeitgeber, seinen Arbeitskollegen und seine
Familie über seine HIV-Infektion informiert. Dabei helfen ihm die Erfahrungen, welche er bei seinem Coming-Out bezüglich seiner Homosexualität gesammelt hat:
P2: Ja. Ja. Also für mich ist das wirklich ein, eine Art zweites coming out. „ja“, wo ich möchte … in derselben
Konsequenz betreiben wie damals meine, meine Homosexualität. (P2: 928-931)
Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass eine Person, welche schon einmal ein Coming
Out bzw. den Prozess der Offenlegung erfolgreich durchlebt hat und dabei gute Erfahrungen gemacht hat, die Offenlegung der HIV-Infektion auch als eine bewältigungsfördernde Strategie
wahrnehmen kann.
Kontakt mit anderen HIV-positiven Personen
Eine weitere Form der aktiven Bewältigungsformen ist der Austausch mit anderen HIV-infizierten
Personen. Diese Bewältigung kann auch Formen der Informationssuche beinhalten oder mit ihr
einhergehen. Aus den Kontakten mit anderen Betroffenen können deren Erfahrungen abgeholt
und Informationen ausgetauscht werden. Aus dem Interview mit P8 wird deutlich, dass er auf den
Kreis einiger HIV-positiver Freunde und Kollegen zurückgreifen und von deren Erfahrungen profitieren kann (vgl. P12: 456f.). Ein vergleichbares Bild zeigt sich auch bei P23, dieser beschreibt,
wie er von den Erfahrungen seiner HIV-positiven Freunde profitieren konnte:
P23: Aber so, ich würde sagen, fünf, sechs meiner Freunde sind positiv und sind seit, ja so zwischen zehn und
zwanzig Jahren positiv. Also da da hast du schon ne gewisse Erfahrung ((lacht kurz)) so von dem, was sie erzählen, weisst du, auch, auch wie sich die äh … ja wie sich die Medikation und alles Mögliche verändert hat über die
Jahre, na? Also, ich ich bin nicht, wir sind beide nicht geschockt gewesen. (P23: 361-369)
P1 berichtet im Interview davon, dass er zusammen mit seinem Partner Kontakt mit einem anderen schwulen Paar aufgenommen hat und sich mit diesen regelmässig trifft. Aus diesem Kontakt
lernt P1, dass man mit der Krankheit gut leben und trotzdem eine positive Einstellung zum Leben
behalten kann (vgl. P1: 448ff.). P1 hat in erster Linie den Kontakt zu anderen Betroffenen gesucht, um „zu schauen, wie sehen die Leute, die schon seit Jahren damit leben aus. Sieht man
es?“ (P1: 527-529)
Der Umgang mit anderen Betroffenen kann auch das Bild der Schwere der Krankheit prägen. In
verschiedenen Interviewsequenzen kam zum Vorschein, dass bei einigen Personen zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der HIV-Infektion ein stark veraltetes Bild von HIV vorlag. Die Personen
hatten das Bild der abgemagerten, auf dem Sterbebett dahinsiechenden Menschen vor sich. Der
Kontakt mit anderen Betroffenen hilft den Personen, welche sich neu mit dem Virus infiziert haben, dieses Bild über Bord zu werfen und zu realisieren, dass bei konsequenter Therapieanwendung ein weitgehend normales Leben möglich ist.
Im Interview mit P2 berichtet dieser, wie er den Kontakt mit anderen HIV-positiven Personen erlebt: „Also von der Krankheit gekennzeichnet war er nicht. Er hat einfach diese Nebenwirkungen
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gehabt. ‚ja’ Aber der Umgang mit ihm ist sehr locker gewesen, sehr einfach“ (P2: 456-458). Er
zieht daraus das Fazit "Also für mich hat diese Krankheit nie ein unheimlich grausames Bild gehabt, ein schlimmes Bild." (P2: 449-450) Damit gelingt es P2, sich von dem veralteten Horrorbild
von HIV/Aids zu distanzieren und die Folgen nicht mehr auf sich selbst zu antizipieren.
P9 möchte auch weiter an der Bewältigung seiner Krankheit arbeiten und sieht dies in der Möglichkeit, sich gemeinsam mit seiner Frau einer Selbsthilfegruppe anzuschliessen (P9 591-596).
Dort besteht die Möglichkeit, sich mit anderen HIV-positiven Personen auszutauschen.
Prioritäten neu setzen
Eine Bewältigungsstrategie die identifiziert werden konnte, ist das Setzen von neuen Prioritäten
in der alltäglichen Lebenspraxis. Zu diesen neu zu setzenden Prioritäten kann eine bewusstere
Lebensführung gehören. P12 versucht dies durch einen gesunden Lebensstil zu erreichen, indem
er genügend schläft, sich gesund ernährt, nicht raucht und Sport treibt (vgl. P12: 621-631). Durch
das Setzen von Prioritäten wird versucht, die aktuelle Lebenssituation aktiv positiv zu beeinflussen und aus einem Opferstatus14 herauszukommen. Dies kommt aus verschiedenen Stellen im
Interview hervor (vgl. P12: 281f., 621f., 777f., 769f.). Er versucht auch, einen gesunden Lebensstil (genug Schlaf, gesundes Essen, nicht rauchen, Sport) beizubehalten bzw. diesen in gewissen
Bereichen zu initiieren (P12, 621-631).
P21 kann seiner HIV-Infektion eine gute Seite abgewinnen. Durch seine HIV-Infektion hat er einen besseren Bezug zu sich selber, insbesondere zu seinem Körper. Vorher beschäftigte er sich
immer mit geistigen, abstrakten Themen und Problemen. Die HIV-Infektion hat ihm auch gezeigt,
dass in Wahrheit die Dinge nicht einfach nur weiss oder schwarz sind. Er sieht nun alles etwas
differenzierter (P21: 301-333).
Auch bei P24 zeigt es sich, dass die Infektion mit dem HI-Virus ihn dazu bringt, Prioritäten neu zu
setzen, einerseits dadurch, das P24 bewusster mit seinem Körper umgeht, anderseits vor allem
beruflich neue Pläne fasst:
P24: Ich habe jetzt plötzlich angefangen, äh, mir berufliche Pläne zu machen, was ich mir vorher nie richtig habe.
(mhm) Jetzt habe ich tatsächlich einen, einen Plan, der weiter raus geht. Also, mehrere Jahre, was ich will und
wie will. … Ja, das ist schon erstaunlich, dass es irgendwie … gewisse Sachen dreht. (P24: 380-391)
HIV-Infektion als Neuanfang / Chance
Ebenfalls als eine aktive Bewältigungsstrategie kann die Kategorie HIV-Infektion als Neuanfang /
Chance eingeordnet werden. Im Interview P26 kommt diese Hoffnung zum Ausdruck:
P26: Vielleicht gibt mir das dann irgendwie wieder einen Lebenswillen zurück, weil ich bin … so leicht depressiv
veranlagt. […] ein Stückweit habe ich mir das gewünscht, dass er mich ansteckt, [..] damit ich irgendetwas habe,
worum es sich zu kämpfen lohnt im Leben. […] Hast irgendetwas […] das einen Namen hat, wogegen du kämpfen kannst. (P26: 264-280).
In diesem Zitat zeigt sich, dass das Ereignis einer HIV-Infektion nicht nur eine bestehende Krise
verstärken kann, sondern vielmehr sinnstiftend sein kann und somit für den Betroffenen die subjektiv wahrgenommene Chance eröffnet, seinem Leben einen Sinn zu geben, in dem er gegen
die Infektion ankämpft.
HIV-Infektion als Auflösung von Unsicherheit
Bevor P24 mit seiner tatsächlich erfolgten HIV-Infektion konfrontiert wurde, beschreibt er es als
Unsicherheitsfaktor, wenn er mit anderen Sex hat, nicht genau zu wissen, ob er HIV-positiv sei,
14
Zitat auf französisch: „Ben écoutez quand vous accumulez deux choses comme ça c'est vous avez deux choix =enfin vous
accrocher à la vie ‘mh’ ou vous êtes victime, victime de vous-même victime du monde ce qui est un choix qui me correspond
pas euh donc euh au bout d'un moment euh oui j'ai mis qu- en place tout ce qu'il fallait...“ (P12, 776-782)
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oder nicht. Durch die Infektion sieht P24 so mehr Klarheit über seinen Status im Bezug auf HIV
und betrachtet dies als guten Aspekt der Infektion, da man nicht immer in der Angst leben müsse,
sich zu infizieren, da man mit erfolgter Infektion auf der „sicheren Seite“ (P24: 167-168) sei. Dennoch werden die Folgen der Infektion als negative Faktoren für das eigene Leben wahrgenommen, zugleich gewinnt P24 aber auch positive Aspekte aus der HIV-Infektion: „Aber ähm … Ja,
es ist einfach klarer für mich. (mhm) Wenn man dem so sagen will.“ (P24: 176-178)
4.5.2 Normalisierende Bewältigungsstrategien
Nicht nur in der Debatte um die Ausrichtung der Politik in Bezug auf HIV/Aids und im Kontext von
Prävention ist Normalisierung eine viel diskutierte Thematik (vgl. Rosenbrock & Kohler, 2002). So
nennt „das bundesweite Netzwerk der Menschen mit HIV und Aids - Netzwerk plus e.V.“ in seinem Jahresbericht 2007 Normalisierung als ein Hauptziel der Präventionsarbeit: „Die gesellschaftliche Akzeptanz von HIV/Aids muss verbessert werden: Normalisierung, HIV/Aids als normale Krankheit; Vermitteln von Realitäten im Alltag mit HIV; selbstverantwortliches
Risikomanagement; offener Umgang mit der Infektion zur Aufklärung.“ (Netzwerk plus e.V. - Das
bundesweite Netzwerk der Menschen mit HIV und Aids, 2007, p. 5)
Dieses Bestreben nach Normalisierung der Infektion mit dem HI-Virus findet sich auch in einigen
Interviews wieder. Als Bewältigungsstrategie zeigt sich dies vor allem darin, dass die Betroffen
eine Einordnung vornehmen. Die Einordnung erfolgt auf zwei Ebenen. Einerseits wird ein Bezug
zu Krankheiten hergestellt, die deutlich schwerwiegendere Folgen mit sich bringen als eine HIVInfektion, andererseits wird HIV mit anderen chronischen Krankheiten verglichen. P26 beschreibt
die mit seiner Infektion verbundenen Folgen im Vergleich zu einer nicht infizierten Person wie
folgt:
P26: ich finde das einfach für mich nicht schlimm. Ich merke nichts ausser ja, ich muss halt Tabletten schlucken.
(P26: 663-669)
Zu dieser Ansicht hat geführt, dass einerseits gesehen wird, dass andere Menschen auch mit
dieser Krankheit weitgehend ohne Komplikationen leben können, andererseits dass die eigene
Infektion bis zum Zeitpunkt des Interviews noch keine Beeinträchtigungen mit sich brachte.
P26: ich schaue es eher als eine chronische Krankheit an. Jemand wo eine Diabetes oder ein… ich weiss auch
nicht, ich finde sogar Krebs schlimmer. (P26: 830-835)
Auch bei P23 findet sich die Bewältigungsstrategie der Normalisierung in Form des Vergleichs
mit anderen chronischen Krankheiten wieder, verbunden mit dem Hinweis auf den Wandel von
einer Krankheit mit Todesfolge hin zu einer behandelbaren, aber nicht heilbaren Erkrankung:
P23: Also du siehst es nicht mehr so ((betont)), dass 'ah, ich sterbe, wenn ich 45 bin' oder so was. Du siehst, es
kann medikamentös behandelt werden, das ist =das hört sich zwar Scheisse an, aber es nichts anderes, als hätte
ich 'ne Diabetes. Muss ich mich auch spritzen, jeden Tag, na? Und so nehm ich halt Tabletten. Hört sich sehr
leichtsinnig an, aber ich glaube so dieser ah Umgehensweise der Leute hat sich ziemlich verändert in Bezug auf
äh HIV, in den letzten Jahren, na? Also du gehst wieder viel viel sorgloser damit um. (P23: 27-41)
Die Aussage von P32 kann ebenfalls der Bewältigungsstrategie der Normalisierung zugerechnet
werden. Dieser relativiert die Folgen der bewusst im Hinblick auf den Verzicht von Kondomen
eingegangenen Risikosituation und der erfolgten Infektion damit, dass
man natürlich heutzutage wirklich anders damit umgehen kann und andere Möglichkeiten hat, oder. (P32: 576577)
Eine Veränderung der Wahrnehmung von HIV bzw. der Bewertung der HIV-Infektion zeigt sich
auch im Interview mit P21. P21 hatte sich bei früheren HIV-Tests immer gesagt, er würde sich vor
den Zug werfen, sollte das Ergebnis positiv ausfallen. Er dachte, dass sei nun das Ende, obwohl
ihm klar war, dass es nicht mehr wie in den 1980er Jahren war (P21: 94-98). Nachdem er dann
aber tatsächlich von einer HIV-Infektion betroffen war, zeigt es sich, dass auch P21 eine normalisierende Bewältigungsstrategie anwendet. Ihn quälte am Anfang die Frage, nach den durch ihn
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verursachten Kosten für die Gesellschaft. Doch dann kam er zum Schluss, dass im 21. Jahrhundert die meisten Menschen an irgendeiner Krankheit leiden und Medikamenten bedürfen (P21:
244-256).
Auch bei P16 zeigt sich die Bewältigungsstrategie der Normalisierung. Für P16 ist es nicht ganz
klar, in wie weit die Infektion mit dem HI-Virus ihn verändert hat. Jedoch ist es bei der Bewältigung der Infektion für P16 wichtig, dass die Menschen, die ihn umgeben keine Veränderungen
an ihm wahrnehmen, damit er selbst merkt, dass er sich durch die Infektion nicht verändert hat
und die Infektion nicht so offensichtlich ist, wie bei einer anderen Krankheit:
P16: weisst du, es ist nicht wie wenn du Krebs hast und an einem gewissen Zeitpunkt nach einer Woche sieht
man ihn ohne Haare, man sieht dass es ihm schlecht geht und man sieht dies und das. (P16: 376-379)
Diese relativierende Einordnung von HIV im Vergleich zu einer anderen schweren Erkrankung
zeigt sich auch an einer anderen Stelle im Interview mit P16:
P16: Ich bin positiv und ich sage mir, besser als Krebs, wirklich, weil Krebs sicher tödlicher ist. (P16: 554-556)
Wiederaufnahme alter Alltagsmuster
Die Infektion mit dem HI-Virus stellt für die meisten Personen zunächst einmal ein grosser
Schock dar und bringt erhebliche Veränderungen der bisherigen Lebenspraxis mit sich. P5 erhofft sich, trotz der HIV-Infektion ganz normal weiterleben zu können, in der Hoffnung, „dass
nichts passiert“ (P5: 563) und die Krankheit nicht ausbrechen wird (vgl. P5: 474f.).
Eine ähnliche Einschätzung lässt sich auch aus dem Interview mit P11 gewinnen. Dieser versucht sein bisheriges Leben, so weit wie es geht, fortzuführen und sich durch die Infektion nicht
beeinflussen zu lassen. Er „werde weiterleben wie bisher“ (P11: 342-344).
P12 vergleicht die Folgen einer HIV-Infektion beispielhaft mit jenen eines Fahrradunfalls. Nach
einem Fahrradunfall habe man möglicherweise grosse Angst vor dem Fahrrad fahren. Nur wenn
man dann wieder auf das Fahrrad steige und wieder regelmässig fahre, könne man die Angst
überwinden (vgl. P12: 868-881).
Bei P1 führt die Aufnahme alter Alltagsmuster dazu, dass er sich von dem Gefühl lösen kann,
dass ihm jeder ansehen könnte, dass er HIV-positiv sei. Er beschreibt, dass er das Gefühl hat,
einen Punkt auf der Stirn zu haben, welcher „bling bling oder…“ (P1 1033f.) jedem zeigt, dass er
sich infiziert hat. Da er aber nach einiger Zeit wieder wie früher in den Ausgang geht, merkt er,
dass man es ihm nicht ansieht und er ganz normal ohne Angst weggehen kann.
Die Aufnahme alter Alltagsmuster, also solche, welche schon vor dem Bekanntwerden der Infektion etabliert waren, hilft den Betroffenen, ihre Infektion besser zu bewältigen. Aus den Interviews
lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass die Wiederaufnahme alter Alltagsmuster eine wirksame
Bewältigungsstrategie sein kann.
Direkt nach der Diagnose hat P16 sich zunächst von jenen Aktivitäten zurückgezogen. Er sagt
dazu:
P16: Nachher ist es mir schlecht gegangen, ich habe die Nachricht erhalten und habe keinen Sport mehr gemacht
und habe nichts mehr gemacht und das wirklich … es war mir egal (P16: 357-360)
Nach dem anfänglichen Schock und der Aufklärung durch den Arzt, dass trotz einer HIV-Infektion
ein weitgehend normales Leben möglich ist, zeigt sich, dass P16 wieder mit der Aufnahme von
alten Alltagsmustern beginnt:
P16: «Jetzt geht es mir gut, d.h. ich auch wieder begonnen haben, vorher habe ich viel Sport gemacht und ich
habe mich um meine Gesundheit gekümmert, Essverhalten, weisst du all diese Sachen … (P16: 345-349)
Akzeptanz der Situation
Als eine Bewältigungsform, die zwischen den Polen aktiv und rückzugsorientiert einzuordnen ist,
kann die Bewältigungsstrategie der Akzeptanz der Situation identifiziert werden. Diese findet sich
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im Interview P26 wieder, in welcher der Interviewte sich darüber äussert, wie er mit der Ansteckungssituation umgeht:
P26: Ich bin da jetzt nicht irgendwie böse auf jemanden. Und ich sehe es für mich eben auch nicht so tragisch.
(P26: 55-57)
Die Einschätzung der möglichen Folgen der Infektion tragen bei P26 zur Akzeptanz des HIVpositiven Status bei:
P26: das Leben geht weiter und … es hat auch keine Einschränkungen eigentlich auf meinen Alltag. (P26: 225227)
Die Infektion als einen Teil des Lebens zu akzeptieren, zeigt sich auch bei P23 als eine Bewältigungsstrategie, die ihm hilft, mit der Infektion weiterzuleben:
P23: Nein nein, du, also für mich ist das äh also ich ich will's hier nicht so lapidar zur Seite legen, oder so was,
aber es ist jetzt kein Grund für mich, mir das Leben schwer zu machen oder so, na? Klar, ich bin mir dessen bewusst, was ich mir … äh, was ich jetzt habe, na? aber ich kann sehr gut damit umgehen, oder … bis jetzt. (P23:
804-810)
P10 versucht sein Leben so lange er noch keine Beeinträchtigungen aufgrund der Infektion spürt,
zu geniessen. Über die Frage der Schuld an seiner Infektion macht sich P10 keine Gedanken, er
versucht die Krankheit zu vergessen bzw. zu akzeptieren (vgl. P10 407-449).
4.5.3 Rückzugsorientierte Bewältigungsstrategien
Eine Bewältigungsstrategie des Rückzugs wurde in verschiedenen Interviews festgestellt. Die
nachfolgend dargestellten Bewältigungsstrategien können der Kategorie der rückzugsorientierten
Strategien zugeordnet werden.
Keine oder nur eingeschränkte Offenlegung
Ebenso wie die bewusste Wahl der aktiven Bewältigungsstrategie, der Offenlegung, stellt die
Nichtoffenlegung der HIV-Infektion eine Bewältigungsstrategie dar. Allerdings handelt es sich
nicht um eine aktive, sondern um eine rückzugsorientierte Bewältigungsstrategie. Die Gründe für
eine Nichtoffenlegung sind vielfältig. Im Interview P30 zeigt sich jedoch auch, dass den Betroffenen auch von den betreuenden Ärzten geraten wird, ihre Infektion möglichst nicht offen zu legen
(P30: 265-275).
Im Interview mit P5 wird davon berichtet, dass er Angst davor hat, dass alle über seine Situation
Bescheid wissen:
P5: Und die würden es dann auch wieder weiter erzählen ‚mh mh„, also das, das geht dann schnell, das weiß ich,
besonders im Homosexuellenmilieu steht das sehr schnell. (P5: 608f.)
Zu dieser Einschätzung kommt P5, weil er bereits die Erfahrung gemacht hat, dass er von Personen weiss, dass sie HIV-positiv sind, obwohl sie nie persönlich über ihre HIV-Infektion informiert
haben. Dies möchte er verhindern.
P9 hat seine Infektion nur seiner Ehefrau und seinem Vorgesetzten gegenüber offengelegt. Dies
soll auch so bleiben, denn er weiss, dass Personen mit HIV immer noch diskriminiert werden:
P9: Parce que pourquoi … au bout d‟un moment … si vous vous montrez ou vous dites ça à tout le monde et
compagnie "mh" vous avez une sorte de discrimination soit à l‟emploi soit ah à j‟ai pas quoi "mh" à la bouffe tout
"mh" ben au bout d‟un moment c‟est pas bien pour vous « mh P9: parce que c- il y a encore de la discrimination
sur ce "mh" ce domaine-là (P9 475-482).
Seinen positiven HIV-Status hat P10 niemandem offengelegt. Er glaubt, dass er mit einer Offenlegung sein Umfeld und vor allem seine Familie unnötig belasten würde und teilweise auf Unverständnis stossen würde. Eine Offenlegung könnte die sozialen Beziehungen gefährden, welche
P10 bisher gepflegt hatte, weshalb er diesbezüglich so wenig wie möglich an seiner Lebenssituation verändern möchte.
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Entscheidet sich eine Person gegen die Offenlegung der HIV-Infektion, so versucht sie dadurch,
sich vor Reaktionen aus dem Umfeld zu schützen und die Infektion besser bewältigen zu können.
Rückzug und Verdrängung
Als Reaktion, aber auch als anfängliche Bewältigungsstrategie kann der Rückzug von verschiedenen Aktivitäten gewertet werden. Diese Strategie findet sich im Interview P31 wieder, als die
interviewte Person gefragt wird, ob sie nach Bekanntwerden der Infektion wieder sexuelle Kontakte gehabt habe:
P31: Nein, ganz und gar nicht. Nie wieder. Nie wieder so etwas Grauenhaftes. Puhh ((Atmet tief ein und stösst
Luft aus)). Nie wieder (P31: 675-678)
Auch bei P24 findet sich die Strategie der Verdrängung wieder. Nach dem anfänglichen Schock
versucht die betroffene Person, durch Nichtbefassung die Infektion zu verdrängen:
P24: wo dann irgendwie habe eine Stunde lang weinen müssen, wie ich einfach gemerkt habe, wow, doch es ist
ein Thema. Ähm, da irgendwie gemerkt habe, ok, ich habe es doch ein paar Monate so ein bisschen quasi ein
bisschen verdrängt. (P24: 964-968)
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5.
Sexuelle Gesundheit von Menschen mit einer frischen HIV-Infektion
5.1
Veränderungen im Sexualverhalten
In der schriftlichen Befragung geben 78.0% (n=39) an, nach der HIV-Diagnose ihre sexuellen Aktivitäten oder ihr Verhalten verändert zu haben. Fünfzehn Befragte, darunter 10 MSM, 4 heterosexuelle Männer und 1 Frau, sagen sogar, dass sie seit der Diagnose auf jegliche Sexualkontakte verzichten würden bzw. keinen Sex mehr hätten. Die am häufigsten genannte Veränderung
war der konsequente Kondomgebauch. Am zweithäufigsten wurde bei den MSM die Vermeidung
risikoreicher Praktiken genannt und am dritthäufigsten die Beschränkung der Anzahl Sexualpartner (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 4: Veränderungen im Sexualverhalten seit der HIV-Diagnose in % (N=39, Mehrfachnennungen)
Vermeidung risikoreicher Praktiken
36
Sex mit weniger Partner/innen
26
Frauen (n=3)
Anderes
heterosexuelle Männer (n=5)
16
Einschränkung auf eine/n Sexualpartner/in
MSM (n=31)
20
7
Konsequente Kondomverwendung
67
40
39
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Der unterschiedliche Umgang mit dem Thema Sexualität und entsprechende Veränderungen im
Sexualleben der Betroffenen zeigen sich teils auch in den problemzentrierten Interviews.
So finden wir zunächst Personen, die sagen, dass sie langfristig keine Veränderungen in ihrem
Sexualleben spüren würden (P11, P12, P32). P11 fühlte sich zwar direkt nach der Infektion in
seiner Sexualität eingeschränkt. Mittlerweile lebt er seine Sexualität wieder wie vor dem Zeitpunkt
der Infektion:
P11: „Ja die ersten paar Wochen ist mir schon ein bisschen der Appetit [auf Sex] vergangen. Aber ähm mittlerweile hat sich das auch wieder … sage ich mal normalisiert.“ (P11: 339-341).
Diejenigen Befragten, welche Veränderungen in ihrem Sexualleben oder Verhalten feststellten,
berichten einmal davon, dass sie weniger häufig Sex haben. P17 erwähnt, dass die sexuelle Lust
seit der HIV-Diagnose vermindert vorhanden sei, was die Häufigkeit der sexuellen Kontakte mit
seinem festen Partner verändert hat (P17: 570-571) und damit auch seine sexuelle Zufriedenheit:
P17: Es ist halt nicht ständig aber grossteils ist es schon so, dass das Bedürfnis nicht da ist. Wir haben Probleme
mit dem Sex, das merke ich schon. Es ist nicht so wie früher das habe ich ihm auch gesagt. Die Erektion ist halt
nicht mehr so bei mir da, es ist schwierig. Bei ihm ist halt immer da und das ist für mich halt… weil ich das von
mir vorab nicht kenne und weil ich eigentlich immer sexuelle Lust hatte, verspürt habe und auch oft und regelmässig und jetzt ist es halt nicht mehr und da ist es für mich frustrierend ein bisschen. Es nervt, es nervt total,
weil ich das vorher von mir gar nicht kenn und jetzt ist es (…). (P17: 589-600)
Auch P3 sieht hinsichtlich der Häufigkeit des sexuellen Kontakts mit seinem festen Partner eine
deutliche Veränderung:
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P3: „Es ist äh auch nicht mehr so oft wie vorher. Manchmal vielleicht vorher zweimal im Tag und alltags, und
heute ist es, hat es sich so auf eine Woche, einmal pro Woche vielleicht. Also das ist ganz klar eine massive Veränderung.“ (P3: 551-556).
Weniger häufigen Sex hat auch P24. Er berichtet zwar von Sex mit einem ebenfalls HIV-positiven
Gelegenheitspartner nach der Trennung von seinem Partner, doch nimmt er sich auch aus Angst
davor, jemanden mit HIV anstecken zu können, stark zurück.
P24: „Es hat jetzt noch zwei, drei, viermal so einen Kontakt gegeben mit einem anderen Bekannten oder Sexpartner. Äh, der auch positiv ist, wo dann auch klar ist, so eigentlich ziemlich Offenheit ist. Und das ist gut gegangen. Sonst habe ich in der letzten Zeit gerade das Gefühl, es ist sehr wenige gewesen. (mhm) Aber wahrscheinlich auch, weil ich mich bewusst zurücknehme auch. Ähm. Weil ich jetzt auch niemanden will jetzt
gefährden, so gut es geht.“ (P24: 636-643).
Ebenfalls erwähnt wird die Einschränkung der Anzahl Sexualpartner. So sind bei P13 die Sexkontakte mit Männern seit der Diagnose selten geworden:
P13: „Maintenant il n‟y plus tellement de- à part que je vais c‟est as- c‟est rare c‟est vraiment très rare avec les
hommes“. (P13: 357-358)
Auch P23, der auch nach der HIV-Diagnose weiterhin sexuelle Kontakte ausserhalb seiner festen
Beziehung hat, sucht im Vergleich zu früher viel seltener nach Gelegenheitspartnern:
I: „Wie sind die sexuellen Beziehungen jetzt ausserhalb der Partnerschaft? Fängt das auch wieder an oder wie
erlebst du das?“ P23: „Fängt wieder an, ja. Natürlich nicht so intensiv wie vorher. Also ich such mir jetzt ((lacht))
ich such mir jetzt ((lacht relativierend)), ich treff mich vielleicht einmal im Monat, zweimal im Monat mit irgendwelchen andern Leuten. Und äh, tja also, wirklich ich such jetzt nicht unbedingt danach, aber wenn ich mal Lust
habe und so, und ich seh, irgendwelche Freunde sind on-line, dann mach ich ab". (P23: 578-589)
Auch die konsequente Verwendung von Kondomen wird in den qualitativen Interviews als Veränderung genannt.
P27 hat zwar ungeschützten Sex mit HIV-positiven Partnern. Mit HIV-negativen Personen will er
aber konsequent Kondome verwenden, um diese vor einer Ansteckung mit HIV zu schützen:
P27 : « Moi après avec d'autres personnes eh, je me protège ... je me sentirais très mal si par exemple eh, je
contaminais un de mes amis … je, je ne le fais pas. » (P27:311-314).
Bei P13 wird das Kondom nun häufiger verwendet als vor der Diagnose. Dies nicht nur, um eine
Ansteckung seines Partners zu verhindern, sondern auch um sich selbst zu schützen:
P13: „Alors eh c‟est chaque fois protégé, oui c‟est sûr. ... Même si c‟est eh j‟entends eh dans les 2 sens je veux
dire ehm moi pour pas les infecter et eux s‟ils ont autre chose // J- moi moi comme j‟ai le virus je veux pas infecter quelqu‟un „oui” et je veux pas non plus qui eh que eux me donnent autre chose, et puis surtout que
d‟après eh on a bien parlé avec le médecin il pourrait avoir des des virus qui sont eh résistants aux- à certains
médicaments.“ (P13: 339-344)
Auch P17 setzt den Kondomgebrauch auch mit seinem HIV-positiven Partner konsequent um, da
er grosse Angst vor einer Zweitinfektion und allfälligem Therapieversagen hat (P17: 539-555). Ein
ähnliches Motiv für den Kondomgebrauch trotz sero-konkordanten festen Partners finden wir bei
P3:
I: Das heisst, Sie reden jetzt von Vorsicht und Schutz. „ja“ Das heisst, Sie sind beide HIV-positiv, aber Sie schützen sich weiterhin mit Gummi.
P3: Mhm
I: Also das ist für Sie gar keine Debatte?
P3: Ja. Das ist gar keine Diskussion. Ja. Es gibt natürlich Sachen, äh, wenn man no- normal Petting macht oder
alles … äh da, da tu ich also keinen Schutz, also … äh …. Da bin ich halt immer und sage sorry, äh, ja. … Und das
wird, ich weiss nicht, ob das einmal auskommt, ob ich es, aber ich muss es ja annehmen, dass, dass es von ihm
ist, oder, weil ich ganz klar nichts anderes gehabt habe. Äh auch trotzdem, wenn ich es von ihm habe, und die
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gleichen Viren sind oder so, auch trotzdem ist für mich klar, man muss sich schützen, wenn man Sachen macht,
wo einfach …. gefährlich werden können, „ja“ wo nicht gut sind. Ganz klar (P3: 559-579).
In anderen Fällen dient die Verwendung von Kondomen vor allem dem Schutz vor anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (P23, P29). P23 möchte grundsätzlich ungeschützten Sex haben, wie er dies ja auch bereits vor seiner Diagnose praktiziert hatte. Doch seit er HIV-positiv ist,
fürchtet er sich vor einer Ansteckung mit einer STI (P23: 292-299). Bei P29, der bereits vor seiner
Ansteckung mit HIV Kondome benutzt hatte, steht nun nicht unbedingt der Schutz von Gelegenheitspartnern im Vordergrund, sondern viel eher die Vermeidung einer STI (P29: 803-814).
Einige der Befragten verzichten seit der HIV-Diagnose bewusst auf jegliche sexuellen Kontakte.
So etwa P10, der seit ihm sein HIV-positiver Serostatus bekannt ist, keine sexuellen Kontakte
mehr sucht.
P10: … Das Einzige ist der Umgang mit Sex. Ich gehe jetzt viel anders um mit dem. „mhm“ Das heisst ich jetzt
gesagt habe, also momentan will ich jetzt wirklich keinen Sex haben momentan. Ja. „mhm“ Weil die Angst ist
momentan sowieso immer da und man ist jetzt schon ein bisschen mehr vorsichtiger jetzt, ja. Jetzt bin ich so
weit, das ich ab und zu ganz verzichte. Kann ich dir ehrlich sagen. Ja. Also ich kann sagen, du ich verzichte lieber.“ (P10: 468-476)
Auch die beiden weiblichen Befragten P20 und P30 haben seit der HIV-Diagnose keinen Sex
mehr gehabt und möchten auch keine sexuellen Beziehungen mehr eingehen. Als Gründe für die
Vermeidung sexueller Kontakte werden einerseits die Angst, den Sexualpartner mit HIV anstecken zu können, andererseits die Angst vor der Offenlegung der Infektion und der damit verbundenen Stigmatisierung auf Beziehungen genannt.
Ähnliches findet sich auch bei P21. Dieser hatte zwar seit seiner Diagnose wieder zwei Gelegenheitskontakte mit Männern, doch fürchtete er dabei ständig, diese anstecken zu können
(P21:798-799). Diese Angst, die ständig im Hinterkopf sitzt, lässt ihn dann den Sex nicht in gleichem Masse geniessen wie früher (P21: 816-825). Ebenfalls fürchtet er sich vor der Offenlegung
und der damit verbundenen allfälligen Zurückweisung durch die Sexualpartner:
P21: Je ne peux pas maintenant avec des hommes parce que toute de suite toute de suite toute de suite il faut
que ça se concrétise et puis là voilà c‟est évident que si t‟es en train de boire un café avec quelqu‟un hop, tu
viens chez moi «Ah oui en fait ça, j‟ai un HIV». Je veux dire, ça tombe de nulle part et il me dira « Ah, bon, beh
dégage » et voilà. (P21: 810-816).
Andere verzichten nicht bewusst auf sexuelle Kontakte, ihnen fehlt es aber einfach an der Lust
auf Sex:
P30: "Also die Lust zu Sex ist momentan ziemlich, pfhh, ich sage mal, irgendwo … weit, weit hinten. Also ich sage
nicht die Lust zu Zärtlichkeit oder so. Aber einfach zu richtigem Sex, also, ist die Lust ist jetzt irgendwo … ja, die
ist jetzt einfach mal, die ist jetzt einfach mal auf der Seite. Und jetzt käme die Syphilis noch dazu, wobei er noch
nicht getestet ist. Also jetzt ist es mal einfach eingestellt, also. (mhm) Also Sex ist ist momentan kein Thema.
Also das ist jetzt einfach mal eingestellt ((ganz leise))." (P30 574-585).
Im Unterschied zur quantitativen Befragung, finden sich in den qualitativen Interviews aber auch
Personen, die von positiven Veränderungen hinsichtlich ihres Sexuallebens seit der HIV-Diagnose berichten. Dies zeigt sich darin, dass Personen durch ihre Offenlegung plötzlich als Partner
für andere interessant wurden und mehr Sex hatten als vor ihrer HIV-Diagnose.
So erzählt P14, dass er seit seiner Offenlegung der HIV-Infektion in Internetportalen zur Suche
nach sexuellen Gelegenheitspartnern, mehr Anfragen von potentiellen Sexpartnern erhalte als
vorher. Diese wählten ihn gerade wegen seines HIV-positiven Status aus und waren auch bereit
zu ungeschützten Sexualkontakten. In einem Fall wollte der Gelegenheitspartner nach einer
Phase mit geschütztem Sex auf das Kondom verzichten. P14 brach darauf hin den Kontakt zu
ihm ab. Er wollte die Verantwortung für eine mögliche Infektion des Partners nicht tragen (P12:
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437-442). In einem anderen Fall gab P14 dem Wunsch des Partners nach ungeschütztem Sex
nach. Es handelte sich dabei um einen Mann, der Wochen zuvor aus Deutschland in die Schweiz
gezogen war (P14: 453) und in einer in der Nähe von P14 Wohnort gelegenen Klinik arbeitete
(P14: 481). Hier tritt die Vorstellung, an einer Infektion nicht „schuld“ sein zu wollen zurück hinter
die Überlegung, dass der Partner dies selbst wissen müsse, also die Verantwortung zu übernehmen habe, zumal er als Angestellter im Medizinalbereich dafür alle Voraussetzungen erfüllt.
P14: „Ist noch interessant, … ähm, ich habe eigentlich immer geschützt haben wollen und beim letzten, bei dem
ich jetzt gerade erzählt habe, also wo sich das immer mehr entwickelt hat, der hat ungeschützt wollen und ich
habe dann mit ihm diskutiert, also er als Aktiver, ich als Passiver und mit ihm habe ich ungeschützten Sex gehabt.
I: Weil sie entschieden haben, weil er das so will?
P14: genau. … Wobei ich natürlich vorher mit dem anderen den Kontakt abgebrochen habe, weil er ungeschützten Sex haben wollte, weil ich nicht Schuld sein wollte, und beim anderen habe ich dann gesagt, hey du weisst
was du machst, oder. „ja“ und ja, aber, es ist im völlig egal gewesen und er schafft sogar im Unispital.“ (P14:
467-481)
P14: „Es ist seine Entscheidung gewesen und ich habe dann gedacht, ja gut, ähm, … musst du wissen. Ich habe
mir dann dort einfach gedacht, - … wir haben gar nichts gedacht. ((lachen))“ (P14: 515-518).
Zum anderen bietet die HIV-Infektion gerade für diejenigen, welche bereits in einer festen Beziehung mit einem HIV-positiven Partner leben, die Möglichkeit, endlich auf Kondome verzichten zu
können.
So haben bei P14 und seinem neuen festen Partner medizinische Abklärungen ergeben, dass sie
sich durch ungeschützten Sex nicht gefährden würden (P14: 484-493). Seither benutzen die beiden beim Sex keine Kondome mehr. Dies ist für P14 eine Erleichterung, weil er Kondome und
Beziehungen für unvereinbar hält:
P14: „Und wenn du eine Beziehung anfängst mit einem negativen und du pochst jetzt darauf, nur mit Kondom,
dann hebt die Beziehung wahrscheinlich auch nicht lange, oder dann steckst du ihn an und dann hast du nachher
das schlechte Gewissen.“ (P14: 999-1003).
Auch im Fall von P15, der ebenfalls mit einem sero-konkordanten Partner zusammenlebt, wird
nun auf Kondome verzichtet. Er ist sich zwar bewusst, dass ein gewisses Restrisiko hinsichtlich
Zweitinfektion und Resistenzen bestehen bleibt, dieses nimmt er aber für den ungeschützten Sex
in Kauf:
P15: „(…) et ça je me pose aussi la question aussi sous traitement eh on n‟est plus on peut plus trans-mettre ou
enfin il y a moins de chance de transmettre je pense qu‟il y a toujours des chances mais- " mh, mh ". (P15: 447450).
Die HIV-Diagnose kann auch dazu führen, dass neue sexuelle Paktiken entdeckt und ausgeübt
werden, die das Sexualleben und die festen Beziehung bereichern können. So erlebt P23 sein
Sexualleben trotz der Reduktion der Gelegenheitskontakte als erfüllend.
I: „Und auf sexueller Ebene?“
P23: „Läuft es auch besser. Das ist ja das Famose daran, na? Es äh ist toll! (P23:392-394).
5.2
Beurteilung der sexuellen Gesundheit und der Veränderungen im Sexualverhalten seit HIV-Diagnose
Die Befragten sind gemäss der schriftlichen Befragung mit ihrer sexuellen Gesundheit bzw. ihrem
Sexualleben nur mittelmässig zufrieden. So liegt der Mittelwert auf einer Skala von 0 bis 10 zur
Beurteilung der sexuellen Gesundheit bei 5.5 (SD=3.11). Von den 50 Befragten sind 14 mit ihrem
Sexualleben unzufrieden und nur 17 zufrieden. Dabei zeigt sich auch, dass die Einschätzung der
sexuellen Gesundheit deutlich tiefer ausfällt als diejenige des allgemeinen Gesundheitszustandes, wo der Mittelwert bei 7.32 (SD=2.35, 0-10) liegt und 32 zufrieden sind mit
ihrer Gesundheit (vgl. Tabelle 3)
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Tabelle 3: Zufriedenheit mit Gesundheit und Sexualleben nach der HIV-Diagnose (absolute Anzahl)
Wie zufrieden sind Sie im Allgemeinen mit
Ihrem Gesundheitszustand? (N=50)
Wie zufrieden sind Sie im Allgemeinen mit
Ihrem Sexualleben? (N=50)
unzufrieden (0-3)
5
neutral (4-7)
13
14
19
zufrieden (8-10)
32
17
Die qualitativen Interviews zeigen ein ähnliches Bild. Wir finden jene, die sich durch die Veränderungen in ihrem Sexualleben kaum eingeschränkt fühlen bzw. gut damit umgehen können (P3,
P10, P29, P32,). Dies hat unter anderem damit zu tun, dass Sexualität bereits vor der Diagnose
keinen sehr grossen Stellenwert hatte (P10), dass die Veränderungen weniger auf HIV als auf
das Älter werden zurückgeführt werden (P12), oder dass ein bereits vor der Diagnose sehr konsequent praktizierter Safer Sex fortgesetzt wird (P29).
Als Einschränkung in der Sexualität wird aber von einigen die Angst erlebt, trotz konsequentem
HIV-Schutzverhalten sich selber (Zweitinfektion) oder den festen Partner und/oder Gelegenheitspartner anstecken zu können. So wird immer wieder erwähnt, dass Sex nicht mehr ganz so
entspannt erfolge. Die Betroffenen haben ihre HIV-Infektion dabei immer im Hinterkopf.
P12 beispielsweise beunruhigen mögliche Restrisiken, welche auch bei konsequentem Kondomgebrauch bleiben:
P12: ...je suis pas je suis pas encore clair et à l'aise "mh" je sais pas où est-ce que je pourrais me- même ((langsam, betont)) ce millième de petit risque "mh" je le- j'en ai peur je veux pas mettre l'autre "mh" en danger ((holt
Luft)) donc euh voilà. (5) (P12: 915-920)
Dabei spielt auch die Angst vor rechtlichen Folgen bei einer Übertragung des HI-Virus eine Rolle.
P5, der sich ansonsten in seiner Sexualität kaum eingeschränkt fühlt, möchte vor allem niemanden beim Sex anstecken, weil dies ja auch rechtliche Folgen haben kann:
P5: Pffff, ja, dass es das vielleicht weniger gegeben hat, aber ahhh, verändert ((fragend))...pffff, ich glaube nicht
dass, sssssss ((überlegend)), dass es, dass es. Ich will schon schauen, dass nichts passiert „mh“, klar. Ich will
auch nicht jemanden anstecken. Das sowieso nicht. Sonst bin ich ja /wirklich/ haftbar. Das weiss ich auch „mh“,
dass ich da aufpassen muss. Das ist mir schon klar. (P5: 504-511)
Ebenfalls finden wir dies bei P26, bei dem der Grund für die Verwendung von Kondomen nicht im
Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Sexpartnern (P26: 960-961), sondern im Schutz vor
rechtlichen Konsequenzen liegt:
P26: Öh, einfach weil ich die rechtlichen Konsequenzen nicht tragen möchte, wenn ich jemanden anstecken würde. Aus diesem Grund. "Mh". Und äh … ob jetzt der andere ein Problem damit hätte oder nicht, dass … ob es
jetzt wegen dem ist, habe ich mir gar nie Gedanken gemacht =also es geht wirklich mehr darum, einfach nicht
gegen das Gesetz vorzugehen und nicht irgendwie einen Prozess am Hals zu haben. Hauptsächlich. (P26: 948956).
Neben der Angst vor der Übertragung der HIV-Infektion auf die Sexualpartner werden auch die
Schwierigkeiten bei der Offenlegung und die damit verbundene Angst vor Zurückweisung als
Einschränkung des Sexuallebens erlebt. Sei es, dass dies dazu führt, dass Sexualkontakte nur
noch in einer festen Beziehung gelebt werden können (P21) oder diese überhaupt als unmöglich
erachtet werden (P30).
Auch für P24 hat sich das Sexualleben seit der HIV-Diagnose verkompliziert, weil ihn immer wieder die Frage der Offenlegung gegenüber seinen Sexualpartnern beschäftigt.
P24: Aber es ist einfach, es ist wie in meinem Kopf weiss ich jetzt auch: ok, es ist, es ist jetzt recht kompliziert,
oder. Jetzt stellt sich immer die Frage: Sage ich es, sage ich es nicht. Zu welchem Zeitpunkt sage ich es. Man
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weiss nie zum Vornherein, ist das jetzt nur ein Gelegenheitssexpartner oder wird das etwas mehr. Das weiss man
wie einfach nie. Ähm. Ja, darum ist das Ganze relativ komplex geworden. (P24: 650-657).
Mit der Offenlegung wurden auch schon negative Erfahrungen gemacht. P24 informierte trotz Safer Sex einen Sexpartner, von dem er sich mehr erhoffte als einen blossen Gelegenheitskontakt
über seinen HIV-Status: Jener ging danach auf Distanz. (P24: 707-714). Auch im Fall P32 führte
die Offenlegung zum Abbruch von Beziehungen. Dieser hatte einen regelmässigen Gelegenheitspartner vor der HIV-Diagnose, dem gegenüber er nun seine HIV-Infektion offengelegt hat.
Dieser fürchtet sich so sehr vor einer Ansteckung, dass es seither zu keinen Sexualkontakten
zwischen den beiden gekommen ist, was P32 sehr bedauert (P32: 1214-1226).
Aber auch bei denjenigen Befragten, die in einer festen Beziehung leben, werden die Veränderungen im Sexualleben auch als Belastung für die Beziehung erlebt. So etwa im Fall P17, der an
Erektionsstörungen infolge der ART leidet:
P17: Und ich bin halt frustriert und das sage ich im jedes Mal. Ich sag du ich bin… für mich ist es frustrierend,
dass ich nicht so diese Lust habe wie du sie hast und vor allen Dingen so oft (lacht). Was ich nicht von mir nicht
kenne, früher war das bei mir genauso wie bei ihm dass ich täglich die Lust verspürt habe und jetzt ist es halt
nicht mehr so. Das mal alle drei, vier Tage so das ist für mich ok.
I: Das ist ne Umstellung?
P17: Ja und es ist halt, ich habe dann manchmal die- Das Gefühl, dass ich ihn damit verletze. (P17: 653-662).
Teils können die Befragten den Veränderungen auch positive Seiten abgewinnen, wie etwa im
Fall des Verzichts auf Kondome in der festen Beziehung. So etwa im Fall P23, der Kondome nie
besonders mochte und ungeschützten Sex mit seinem HIV-positiven Partner praktizieren kann,
ohne ständig mit der Angst vor einer Ansteckung leben zu müssen.
P23: „Ähm, dass du dir eigentlich keine Sorgen mehr machen musst, oder Sorgen machen musst ((relativierend)),
dass du dir keine Gedanken machen musst, äh, zieh ich mir jetzt oder fang ich mir den Virus ein oder nicht, na?
Es ist fast ein sorgenloseres Sexleben was du dann hast.“ (P23:267-272).
Oder sie sehen in den Veränderungen auch die Chance sich in ihrer Beziehung neu zu orientieren. So berichten sie davon, dass sie sich ihrem Partner nun noch näher fühlen würden.
P17: „Hatte ich ein bisschen Angst, wenn er jetzt negativ ist, wie geht es dann weiter. Aber das… Aufgrund dessen, dass wir jetzt beide negativ sind habe ich das Gefühl das schweisst doch eher noch zusammen.
I: Also beide positiv?
P17: Wenn wir beide positiv sind, schweisst das beziehungstechnisch noch recht zusammen finde ich, der
Zusammenhalt ist stärker geworden. Er traut sich noch viel intensiver an, er ruft mich an von der Arbeit, von der
Pause oder so. Dann ist es halt das gleiche. Man merkt irgendwie, dass der Zusammenhalt, dass wir jetzt noch
viel mehr miteinander unternehmen, wir machen irgendwie mehr miteinander, noch mehr miteinander Unternehmen als wirs schon vorab getan haben. Das Bedürfnis, dass er auch mal alleine Abends weggeht und so ist
halt fast weg. Dass er immer am Wochenende sich mit seinen Kollegen trifft und sagt, ich gehe heute mal da und
dahin oder so das ist relativ selten geworden finde ich. Ich sag dann immer wieder, willst du nicht mal weggehen
nein, nein, nein ich bleibe lieber bei dir“. (P17: 930-949).
Ebenfalls erwähnt wird, dass die Sexualität mit dem festen Partner nach der HIV-Diagnose eine
neue Qualität erhalten hat. So hat P23 den Sex mit seinem festen Partner quasi neu entdeckt.
Beide fanden bisher sexuelle Befriedigung nur im passiven Analverkehr. Dies war mitunter auch
ein Grund für die offene Beziehung. Seit der HIV-Infektion aber haben sich die sexuellen Vorlieben verändert, so dass P23 auch den "Kuschelsex" (P23: 401), den die beiden jetzt öfter haben,
schön findet. Dabei hat P23 auch festgestellt, dass sein Partner durchaus auch den aktiven Part
übernehmen kann.
P23: „Also es ist ja so, wir sind beide relativ passiv, sag ich mal, na? Und zwei Passive, das das funktioniert eigentlich nicht so wunderbar ((lacht kurz)) na? Das ((lacht laut)) hatten wir uns dann auch die Freiheit gelassen,
mit dieser offenen Partnerschaft, na? weil ah ansonsten ist es immer nur Kuschelsex, und das willst du ja auch
nicht, na? Aber dieser Kuschelsex, den haben wir jetzt öfter mal wieder, na? und äh ist vielleicht sogar ein biss-
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chen mehr als Kuschelsex =also äh wir haben herausgefunden jetzt, dass wir beide nicht nur passiv sind, zum
Beispiel, na? und das ist doch geil, na? Also äh beziehungsmässig ist es äh wunderschön.“ (P23: 394-406).
Oder sie erwähnen, dass sich die Einstellung gegenüber Sex verändert habe und die Häufigkeit
der Sexualkontakte weniger eine Rolle spielen würde. So weist P10 darauf hin, dass sich sein
Umgang mit Sex verändert habe und er nicht unglücklich darüber sei:
P10: „Das Einzige ist der Umgang mit Sex. Ich gehe jetzt viel anders um mit dem. „mhm“ Das heisst ich jetzt gesagt habe, also momentan will ich jetzt wirklich keinen Sex haben momentan. Ja. „mhm“ Weil die Angst ist momentan sowieso immer da und man ist jetzt schon ein bisschen mehr vorsichtiger jetzt, ja. Jetzt bin ich so weit,
das ich ab und zu ganz verzichte. Kann ich dir ehrlich sagen. Ja. Also ich kann sagen, du ich verzichte lieber.
I: „Also das hat sich geändert seit der Diagnose in dem Sinn?“
P10: „Seit der Diagnose hat es sich schon geändert. Ja. Aber nicht, dass mir das jetzt unglücklich macht, dass ich
jetzt irgendwie pro Tag doch muss Sex haben und so. Mir geht es einfach anders, also man sieht das auch anders. Dann auch, also momentan kommt bei mir kein Sex in Frage, ich muss das jetzt ehrlich sagen, das ist jetzt
vielleicht momentan, „mhm ja mhm klar“ ja aber sonst hat sich nicht viel geändert, ja.“ (P10: 468-486).
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Schlussbericht CHAT 2008-2011
75/91
6.
Zusammenfassung und Diskussion
Die vorliegende Untersuchung zeichnet zum einen nach, welche Situationen die frisch HIVinfizierten Befragten als Ansteckungssituation identifizieren.
In der schriftlichen Befragung hatten von den 50 Befragten 74.0% (n=37) eine Vermutung zur
Ansteckungssituation. Darunter sind knapp 22% (n=8), die keinen konkreten Sexualkontakt
nennen können, bzw. bei denen mehrere Gelegenheiten für die Ansteckung in Frage kommen.
Rund 78% (n=29) können die Ansteckungssituation aber auf den sexuellen Kontakt mit einer
einzigen Person zurückführen. Von diesen vermuten rund 79% (n=23), dass sie sich beim Sex
mit einem Gelegheitspartner, einer Gelegenheitspartnerin inifziert haben. Lediglich 17% (n=5)
nennen einen Sexualkontakt mit dem festen Partner, der festen Partnerin als mögliche Ansteckungssituation.
In der qualitativen Befragung können von den 32 Befragten 26 spontan oder auf
Nachforschungen gestützt eine Ansteckungssituation benennen. So haben sich insgesamt 21
Befragte beim ungeschützen vaginalen oder analen Sex mit Gelegenheitspartnern angesteckt.
Fünf Befragte haben sich eindeutig innerhalb einer festen Partnerschaft infiziert. In diesem
Zusammenhang werden auch die Partnerkonstellationen, Situationen und Umstände deutlich, in
denen die Infektion erfolgte. Gelegenheitspartner als Ansteckungspartner treten sowohl bei
Singles wie auch bei Personen in festen Beziehungen auf. Darunter finden sich
Gelegenheitsparter, mit denen die Befragten einmalig Sex hatten, wie auch Partner, mit denen
sie sich unabhängig von einer Beziehung mehrmals oder regelmässig zum Sex trafen („sex
buddies“). Ein Teil der Befragten geht zudem davon aus, dass die Ansteckung bei Kontakten mit
Partnern erfolgte, mit denen sie sich – einmalig oder wiederholt – im Ausland trafen. Dass der
grösste Teil der Befragten die Ansteckung auf einen Gelegenheitskontakt zurückführt, finden wir
auch in anderen Studien. So zeigten Jin et al. auf, dass sich rund 62% beim Sex mit einem
Gelegenheitspartner mit dem HI-Virus infiziert hatten (Jin, et al., 2007). Auch in der eingangs erwähnten australischen Seroconversion Study gaben 84% der Befragten an, sich beim Sex mit
einem Gelegenheitspartner infiziert zu haben (Down, et al., 2010). Ebenfalls konnten in der von
Bochow durchgeführten qualitativen Untersuchung, die Mehrzahl, d.h. 24 von 29 Befragten ihre
Ansteckung auf den Sex mit einem Gelegenheitspartner zurückführen (Bochow, 2011).
Von den 5 Befragten, die sich in der festen Partnerschaft infiziert hatten, wussten 3 vor ihrer HIVDiagnose von der HIV-Infektion ihres Partners bzw. ihrer Partnerin. In 2 Fällen kam die
vorbestehende HIV-Infektion des Partners erst infolge der Diagnose der Befragten an den Tag.
Die letzteren beiden Fälle repräsentieren die Problemlage, die – nebst der Problematik der so
genannten „late presenters“ – in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts zu einer gewissen
Neubewertung des HIV-Antikörpertests führten und in Bemühungen mündeten, freiwillige von
Beratung begleitete HIV-Tests inbesondere in den Hauptbetroffenengruppen stärker ins
Bewusstsein zu rücken. In den USA war in diesem Zusammenhang eine nicht unproblematische
Entwicklung zu verfolgen. Auf Veranlassung des Center of Disease Control (CDC) wurde der
Ärtzteschaft die Richtlinie ausgegeben, bei ihren 13 bis 64 Jahre alten Patienten und
Patientinnen routinemässig und unabhängig von der Zustimmung der Patienten und Patientinnen
HIV-Tests durchzuführen. Patienten und Patientinnen, die anderen Willens sind, müssen sich
aktiv gegen einen Test stellen (opt-out) (Branson et al., 2006). Diese neue Position fand in
Westeuropa wenig positives Echo. Dennoch waren auch auf unserem Kontinent die
Bemühungen unverkennbar, die Vorteile eines HIV-Tests angesichts der aktuellen medizinischen
Möglichkeiten zur medikamentösen Eindämmung der Infektion in seiner Bedeutung für die
Therapie und allenfalls auch für die Prävention in den Vordergrund zu rücken (Mounier-Jack, et
al., 2007). Auch das Bundesamt für Gesundheit hatte sich 2007 diesem Anliegen zugewandt und
– unter Berücksichtigung der in Europa hoch gehaltenen Grundsätze der Selbstbestimmung und
der Freiwilligkeit – die Konzeption des Voluntary Counceling and Testing für die Schweiz geklärt
(Bundesamt für Gesundheit, 2007) und dieses Angebot insbesondere für die Hauptbetroffenen-
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gruppe der MSM aktiv gefördert (vgl. Zürcher Aids-Hilfe, 2008). Dieser kleine Ausschnitt aus dem
Sample dieser Untersuchung, in dem diese Konstellation überhaupt feststellbar ist, bestätigen
dieses Vorgehen insofern als sie im Kontext von festen Beziehungen belegen, was in anderen
Konstellationen nicht in Erfahrung gebracht werden kann: Personen haben sich bei
Sexualpartnern infiziert, die selbst nicht über ihre HIV-Infektion im Bilde waren. Es wird aber auch
deutlich, dass dies nicht nur im Falle von MSM, sondern auch bei heterosexuellen Partnern
auftreten kann. Weiter konnte aufgezeigt werden, dass die Information über die eigene HIVInfektion auch innerhalb eines Paars verheimlicht wird bzw. über lange Zeit hinweg
geheimgehalten werden kann. Dies verweist auf den Beratungsbedarf nach einer HIV-Diagnose.
Die Untersuchung lässt aber auch deutlich werden, dass zur Dynamik in Paaren weitere – und
schon längst angemahnte (Bochow, 1995) – Forschung notwendig ist.
Die Untersuchung konnte offenlegen, welche HIV-Schutzstrategien sich die Befragten bis zur
Infektion zurecht gelegt hatten und wie sie diese umsetzen konnten.
In Übereinstimmung mit den Ergebnissen einer früheren Auflage der CHAT-Studie (Gredig,
Nideröst, Parpan-Blaser, et al., 2007) konnten Strategien der Risikominimierung im Sinne von
Safer Sex beobachtet werden. Auch inadäquate Strategien, die keinen rationalen Anspruch auf
Schutz haben können, wurden genauso wieder gefunden, wie Personen ohne explizite
Schutzstrategie.
Darüber hinausgehend wurde in der Untersuchung von Personen mit frischer Infektion im
Zeitraum von 2008 bis 2011 ersichtlich, dass insbesondere MSM die Palette von HIVSchutzstrategien erweitert haben:
 Neu war es, MSM zu finden, die auf Risikoreduktionsstrategien setzten. Insbesondere
die Risikoreduktionsstrategie des „Dippings“ (ungeschützter Analverkehr ohne
Ejakulation) konnte beobachtet werden.
 Weiterhin war festzustellen, dass einige MSM unterschiedliche HIV-Schutzstrategien
miteinander kombinierten und situativ bedingt handhabten. In diesen flexiblen
Strategien kombinierten Betroffene z.B. Verfahren der Risikominimierung mit Strategien
der Risikoreduktion. Andere kombinierten sichere, d.h. risikominimierende Strategien mit
inadäquaten Strategien und schliesslich waren auch Betroffene zu finden, die zwischen
risikominimierenden, risikoreduzierenden und inadäquaten Vorgehensweisen oszillierten.
 In der letzten Phase des Projekts wurde eine zusätzliche Erweiterung des Repertoirs der
Risikoreduktionsstrategien ersichtlich. Es gibt MSM, die auf Grundlage ihres
Informationsstandes und angesichts ihres Wunsches, ungeschützten Sex zu haben, sich
dazu entscheiden, sich auf Sexpartner zu konzentrieren, die unter antiretroviraler
Therapie stehen. Dies scheint ihnen Gewähr zu bieten, sich nicht mit HIV zu infizieren.
Dieses Vorgehen wird hier als Treamtent Sorting bezeichnet. Es handelt sich insofern
um ein Sorting, als die Wahl des Sexpartners von einem expliziten Kriterium abhängig
gemacht wird, in diesem Fall davon, inin Therapie zu sein. In Abgrenzung zu Verhandlungen rund um die Virenlast (Jin, et al., 2007)15, wendet P24 dieses Vorgehen auch bei
Gelegenheitspartnern an und macht den Verzicht auf den Schutz nicht zur Verhandlungssache, wie "negociation around viral load" zum Ausdruck bringt (Jin, et al., 2007), sondern zum Auswahlkriterium eines Partners.
Bei den frisch inifizierten Personen, die über keine explizite Schutzstrategie verfügten, wurde in
dieser Auflage der CHAT-Studie deutlich, dass der Verzicht auf einen expliziten Schutz vor HIV
15
Die Wendung "negociation around viral load" wurde im Zusammenhang gewählt, dass in serodiskordanten festen Partnerschaften von MSM HIV-negative Partner eher in ungeschützten Verkehr einwilligen, wenn die Virämie des Partners unterdrückt
ist (Van de Ven, et al., 2005)
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unterschiedliche Färbungen annehmen kann und vor unterschiedlichen Hintergründen entstanden ist.
Zunächst lässt sich feststellen, dass einige der Befragten überdauernd über keine HIVSchutzstrategien verfügten (lebenszeitlich stabil). Hierzu zählten in unserer Stichprobe zwei heterosexuelle Männer und zwei MSM. Bei einem der heterosexuellen Männer führte der
Kinderwunsch zu einem Verzicht auf Kondome und damit zum Ausfall des Schutzes, der stets als
Mittel der Kontrazeption verstanden wurde und nicht als Mittel zum Schutz vor HIV. Beim
drogenkonsumierenden heterosexuellen Mann erfolgte der Verzicht auf ein Kondom im
Zusammenhang mit einer Paardynamik, in der dem seltenen Glück einer sexuellen Befriedigung
nichts Einschränkendes entgegen stehen durfte. Bei einem der MSM gründet der Verzicht auf
eine HIV-Schutzstrategie in der Abneigung gegenüber Kondomen beim aktiven Analsex. Die Abwesenheit einer expliziten Schutzstrategie des anderen MSM ist eng verküpft mit der Neigung,
Risiken zu verneinen oder zu bagatellisieren. Dabei spielen sowohl Gleichgültigkeit und
Desinteresse als auch die Freude am Risiko eine Rolle. Zudem führten bei diesem MSM häufige
HIV-Tests, die trotz eingegangener Risikosituationen jeweils negativ ausfielen, zu einer Art
Gefühl der Unverwundbarkeit.
Der hier beobachtete Zusammenhang zwischen geringer Risikowahrnehmung und
ungeschütztem Sexualverhalten findet sich auch in anderen Studien. So konnten Flores et al. in
ihrer Untersuchung feststellen, dass einige ihrer – allerdings jugendlichen – Befragten dachten,
dass sie von einer HIV-Infektion verschont bleiben würden (Flores et al., 2011).
Bei anderen Befragten konnte rekonstruiert werden, dass sie in früheren Lebensphasen einer
HIV-Schutzstrategie folgten – in der Regel Safer Sex –, diese Strategie aber mehr oder weniger
zeitnah zur HIV-Infektion aufgegeben hatten (lebenszeitlich dynamisch). Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer prozesshaften Entwicklung in der Abkehr von der früheren HIVSchutzstrategie und einer Entwicklung, in der in einem bewussten Entschluss mit der bisherigen
Strategie gebrochen wurde. Beim MSM der sich bewusst für den Verzicht von Kondomen beim
Sex entschlossen hatte, markierte dieser Entscheid den bewussten Abschluss mit einer
Lebensphase, die durch die Verarbeitung einer gescheiterten Beziehung geprägt war. Ähnlich
wie bei Flores et al. (2011), die feststellen, dass es auch Phasen mit Sex ohne HIV-Schutz als
Reaktion auf die Beendigung einer längeren festen Beziehung gibt, mit der Absicht sich sexuell
auszutoben, stand auch bei diesem MSM das erneute und freie Geniessen des Sexes nach der
Verarbeitung der Trennung von seinem Partner im Vordergrund. Bei denjenigen MSM, bei denen
der Verzicht auf Safer Sex eher von einer prozesshaften Entwicklung gekennzeichnet ist, lässt
sich eine biografisch weit zurückliegende Phase feststellen, in der sie sich konsequent vor HIV
schützten. Die Anwendung der Schutzstrategien erodierte jedoch im Laufe der Zeit. Im konkreten
Einzelfall stellen sich die Entwicklungen dahin unterschiedlich dar. Das Material lässt zum einen
auf die Bedeutung von festen Beziehungen aufmerksam werden, in denen die Betroffenen
Arrangements trafen, welche die Anwendung von Kondomen im Paar hinfällig werden liessen –
wie z.B. Tests und verabredete Treue – und auf die Probleme mit dem Schutzverhalten, die sich
mit der Rückkehr zu einem Leben als Single und mit Gelegenheitspartnern verbinden. Zum
anderen zeigt sich, dass sich im Laufe der Zeit die Wahrnehmung von HIV im Sinne einer
tödlichen Krankheit sich hin zu einer chronischen gut therapierbaren Krankheit verändert hatte.
Dies geht einerseits auf die positive Bewertung der Behandlung von HIV und den Glauben an die
medizinischen Fortschritte zurück, andererseits führten aber auch der direkte Kontakt mit HIVpositiven Personen zu dieser veränderten Sichtweise. Der letzte Punkt weist darauf hin, dass die
Bedeutung des direkten Kontakts mit HIV-positiven Menschen für das HIV-Schutzverhalten neu
thematisiert werden muss. Ist man in spezifischen Modellen zur Entstehung und Beförderung von
HIV-Schutzverhalten, wie z.B. beim Aids Risk Reduction Model (Catania, et al., 1990), davon
ausgegangen, dass der Kontakt zu einer HIV-positiven Person das HIV-Schutzverhalten
verstärken würde, scheint sich die heutige Auseinandersetzung mit Menschen, die mit HIV leben,
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und die Beobachtung deren Lebensführung wesentlich ambivalenter auf das HIVSchutzverhalten bzw. den Entscheid für eine aktive Strategie auszuwirken. Diese Beobachtung
wird auch von Bochow gemacht, der MSM mit frischer Infektion in Deutschland untersuchte
(Bochow, 2011).
Doch nicht nur die Entwicklungen von einer risikominimierenden Strategie hin zum Verzicht auf
jegliche Strategie zum Schutz vor HIV konnten aufgezeigt werden. Es wurde auch deutlich, dass
sowohl flexible Srategien, risikoreduzierende und nicht-adäquate Strategien in den meisten Biografien der Betroffenen MSM nicht der Ausgangspunkt, sondern der vor der Infektion gegebene
Endpunkt einer Entwicklung waren. So ist auch in diesen Fällen eine eher prozesshafte Entwicklung zu beobachten, die einerseits von aktuellen Diskursen rund um Risikoreduktionstrategien
und um Nicht-Infektiösität unter ART, und andererseits von der persönlichen Erfahrung, sich beim
ungeschützten Sex nicht inifziert zu haben, beeinflusst wurde. So steht der Entscheid bei dem
einen MSM, der von einer risikominimierenden Strategie zu einer Risikoreduktionsstrategie (Treatment Sorting) wechselte, am Ende einer über die Jahre immer wieder durch Schwierigkeiten und
einzelne Misserfolge in der Umsetzung von Safer Sex, von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen geprägten Phase. Mit der Veröffentlichung des EKAF-Statements nimmt diese Phase eine
ganz entscheidende Wendung, indem nicht weiter versucht wird an einer nur schwer umsetzbaren Schutzstrategie festzuhalten, sondern in Anlehnung an das EKAF-Statement im Sinne einer
risikoreduzierenden Schutzstrategie, die supprimierte Viruslast zum Auswahlkriterium für seine
Sexpartner erhoben wird. Beim anderen MSM, der in Abhängigkeit von Kontext und sexuellen
Praktiken zwischen risikominmierenden, risikoreduzierenden und nicht-adäquaten Strategien osziliert, haben neben den Informationen zum Risiko der HIV-Übertragung bei unterschiedlichen
Sexpraktiken (Oral vs. Anal) und dem EKAF-Statement, vor allem die persönliche Erfahrung, sich
beim Sex mit HIV-positiven Partnern nicht infiziert zu haben, den Wechsel von einer risikominimierenden Strategie zu einer flexiblen Strategie bewirkt.
Führt man die gewählten HIV-Schutzstrategien mit dem HIV-Schutzverhalten und den Angaben
zur Ansteckungssituation zusammen, lässt sich bis zu einem gewissen Mass rekonstruieren, wie
die Infektion erfolgen konnte. Bei den Befragten mit risikominimierenden Schutzstrategien kam es
auf Grund von Elementen in der Situation bzw. von einmalig vorliegenden Umständen (z.B.
Verletzungen) dazu, dass die Strategie versagte oder nicht in Handeln umgesetzt wurde. Hierzu
gehören Pannen beim Kondomgebrauch oder mangelnde Absprachen bezüglich den Regeln
beim Oralsex (keine Ejakulation in den Mund des Partners). Aber auch Alkoholkonsum (vgl. auch
Volk et al, 2006) oder Konstellationen, in denen der Schutz ausfällt, weil von eingespielten
(Schutz-)Routinen oder vertrauten sexuellen Praktiken abgewichen wurde, führten zur
Ansteckung. Ebenso verhinderten beziehungsbezogene Aspekte die Umsetzung der Strategie,
wie etwa, dass der Kondomgebrauch kommunikativ nicht durchgesetzt werden konnte bzw. die
Bereitschaft zum Kondomgebrauch seitens des insertiven Partners nicht vorhanden war oder
dass auf Grund eines Vertrauens in einen inzwischen bekannten Gelegenheitspartner („sex
buddy“) ein Schutz vor HIV als unnötig erachtet wurde.
Den inadäquat, aber auch den risikoreduzierenden Strategien ist ein Risiko inhärent. Bei
Betroffenen mit diesen Strategien wie auch bei jenen, die auf eine HIV-Schutzstrategie
verzichten, kann nur festgestellt werden, dass sich das potenzielle Risiko eingestellt hat und eine
Infektion erfolgte.
Die vergleichbaren Untersuchungen zu MSM in Deutschland und Australien kommen zu
ähnlichen Ergebnissen wie CHAT. Eine nähere Betrachtung der Untersuchung von Bochow, bei
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der seine Analysestruktur aufgebrochen wird16, lässt ähnliche Dynamiken der
Ansteckungssituation erkennen, wie sie hier beobachtet wurden. Es zeigt sich auch dort, dass die
untersuchten MSM sich risikominimierende, risikoreduzierende wie auch flexible HIVSchutzstrategien zurechtgelegt hatten. Es fanden sich auch MSM ohne explizite HIVSchutzstrategie.
Bei jenen MSM, die eine risikominimierende HIV-Schutzstrategie verfolgten (Safer Sex) zeigte
sich, dass Beziehungsdynamiken oder einfach der Wunsch nach einer Partnerschaft die
Umsetzung der risikominimierenden Strategie verhinderten (vgl. z.B. Hegemann). Auch
Kondompannen sowie grosse Erregung waren Gründe dafür, dass die Strategie nicht realisiert
werden konnte (vgl. z.B. Trautmann). Anders als in CHAT fanden sich in seiner Stichprobe
allerdings keine MSM, die sich inadäquate Strategien angeeignet hatten.
Auch die Entwicklungen hin zu einer bestimmten Schutzstrategie wiesen ähnliche Verläufe auf
wie in unseren Fällen. So identifizierte Bochow ebenfalls MSM, die früher Safer Sex praktizierten,
doch immer mal wieder an der Umsetzung scheiterten und mit der Zeit ganz auf den Schutz
verzichteten. Zum Teil ist dies gekoppelt mit einer bereits erhöhten Risikobereitschaft, die
Bochow in einem generell sträker risikoorientierten Lebensstil verortet (Bochow, 2011).
Verhandlungen um die Virenlast und Strategien, wie das Treatment Sorting, bei dem auf neuere
Diskurse abgestellt wird, finden sich in seiner Arbeit nicht.
Man könnte nun geneigt sein, diese Differenz darauf zurückzuführen, dass Bochow's
Untersuchung im Jahr 2006 und 2007 stattfand, als die hierauf bezogenen Diskurse noch nicht
offensiv in die Öffentlichkeit getragen worden waren und MSM weder zur Begründung einer
neuen HIV-bezogenen Schutzstrategie (vgl. CHAT P24) noch als nachgängige Rationalisierung
eines unabhängig davon gefallenen Entschlusses (vgl. CHAT P32) zur Verfügung stand. Dem
widerspricht allerdings, dass Jin et al. (2007) auf den Zeitraum 2003-2006 bezogen bereits
aufzeigen konnten, dass es in Australien vorkommt, dass MSM darauf vertrauen, dass Partner
mit einer supprimierten Virenlast nicht mehr infektiös sind (Jin, et al., 2007). Insofern ist nicht davon auszugehen, dass den einen dieser Diskurse zur Verfügung gestanden haben und anderen
noch nicht. Dass die Argumente rund um Virenlast, Infektiosität und HIV-Schutz in Australien aufgenommen wurden und sich in Strategien niederschlugen, während sie in Deutschland nicht als
Begründung von HIV-Schutz- bzw. Risikoverhalten aufzufinden waren, zeugt eher von einem unterschiedlich verlaufenden bzw. vorangetriebenen Prozess der Diffundierung von Diskussionen
und Hypothesen aus der Wissenschaft in den Alltag von MSM17 - der unterschiedlich früh angestossen, verschieden offensiv geführt und rezipiert wurde. Offenbar wurden diese Diskurse in
Deutschland weniger forciert als beispielsweise in Australien oder später in der Schweiz (vgl. die
offensive Veröffentlichung der Botschaften rund um den 1. Dezember 2007 und das EKAFStatement im Januar 2008).
Bezüglich der Wahrnehmung der HIV-Prävention durch die Befragten zeigt die Untersuchung,
dass diese sehr ambivalent ist. Die Beurteilung variiert stark. Die einen finden die Prävention gut.
Kritisch wird hingegen berichtet, dass etwa die Sichtbarkeit der Präventionsarbeit abgenommen
habe. Ein MSM hebt hervor, dass MSM, die nicht in der Szene verkehren würden, von der
Prävention nicht mehr erreicht würden. Es wird auch vermerkt, dass MSM in dieser Kampagne zu
wenig berücksichtigt oder sehr stereotyp dargestellt würden. Letzteres berge die Gefahr, dass
gerade heterosexuelle Jugendliche zur Ansicht kommen könnten, dass HIV kein Thema für sie
sei. Einige halten fest, dass die Informationen z.T. zu wenig differenziert wären. Insbesondere
16
Um sicherzustellen, dass die quer zum Analyseschema von Bochow verlaufende Perspektive auf das Material nicht zu Fehlschlüssen führt, brauchte es den Workshop vom 1. und 2. September 2011, an dem Bochow und das CHAT-Forschungsteam
ihre Perspektiven zusammenführen und absichern konnten.
17
Dieser Vorgang kann als ein Beispiel für den übergreifenden Prozess der Verwissenschaftlichung des Sozialen verstanden
werden (Raphael, 1996), der insbesondere durch die Nuztung moderner Kommunikationsmedien (Internet, open-accessjournal) im letzten Jahrzehnt beschleunigt wurde.
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wird Kritik laut, dass die zunehmende Verbreitung von Risikoreduktionsstrategien und die Lockerung des Schutzverhaltens u.a. als Folge der neuen biomedizinischen Präventionsdiskurse in den
Präventionsbotschaften nicht erscheinen. So wird bemängelt, dass nicht mitgeteilt würde, dass
jemand unter der Nachweisgrenze unter gewissen Umständen nicht mehr infektiös sei. Auch wird
erwähnt, dass die kategorische Forderung nach konsequentem Schutz in den Präventionsbotschaften zu absolut daherkomme, da die Erfahrung gemacht wurde, dass das Weglassen des
Kondoms nicht unweigerlich zu einer HIV-Infektion führte. Zudem würden die Informationen fehlen, wie mit Unfällen und Ausrutschern umgegangen werden kann.
Das gemeinsame dieser Aussagen liegt darin, dass sich die Befragten bei ihren Beurteilungen in
der Regel auf die Kampagne im öffentlichen Raum beziehen, auf die Plakatekampagnen oder
auch TV-Spots. Ferner kommen Flyer, Plakate und Informationsmaterial in Lokalen für MSM zur
Sprache. Dies muss die Verantwortlichen für die Prävention aufhorchen lassen. Denn blickt man
auf die Entwicklung der letzten Jahre, finden sich die Botschaften der Prävention bereits längst
im Internet, sei es aufdringlich auf Portalen zu gratis E-Mail-Diensten platziert oder wie auch in
Dating-Plattformen integriert, sei es auf fachlich einschlägigen, leicht zugänglichen Informationsseiten oder auch als interaktives Forum mit Beratungsanteilen gestaltet. Doch diese Präsenz – oft
ganz nah an den frequentierten virtuellen Orten und eingeflochten in das Geschehen, in dem Sex
gesucht und gefunden wird – wird von den Befragten offenbar nicht wahrgenommen. Als
„sichtbar“ gilt die Prävention ihnen scheinbar dann, wenn sie im öffentlichen Raum angetroffen
wird. Prävention gilt als präsent, wenn sie HIV in Kanälen traditioneller Massenkommunikation
weithin sichtbar und an alle adressiert zu einem „öffentlichen Thema“ macht, was dem Problem
einen zusätzlichen Anstrich des Wichtigen und Dringlichen verleiht. Insofern weisen die
Einschätzungen der hier Befragten auf die Bedeutung der öffentlich wahrnehmbaren, machmal
auch umstrittenen Love Life – Stop Aids Kampagne des Bundes hin.
In Bezug auf die Frage nach der Bewältigung der HIV-Diagnose von kürzlich infizierten Personen, konnte aufgezeigt werden, dass die Diagnose einer positiven HIV-Infektion für fast alle Betroffenen zunächst einmal ein schockhaftes Ereignis darstellt, dessen Folgen im Hinblick auf die
eigenen zur Bewältigung zur Verfügung stehenden Ressourcen bewertet werden müssen. Es
zeigt sich, dass es den meisten Betroffenen gelingt, angemessene Bewältigungsstrategien zu
entwickeln, die es den Betroffenen erlaubt, das Leben mit der HIV-Infektion als Teil ihres Lebens
zu integrieren, der nicht zum alleinig dominierenden Thema wird. Werden die bestehenden Studien zur Bewältigung vor der Einführung der HAART als Vergleich hinzugezogen, so kann festgestellt werden, dass die Bewältigung von HIV vor allem auf normalisierende, in den Alltag integrierende Strategien ausgerichtet sind, anstatt auf gegen die Krankheit bekämpfende bzw. später
im Hinblick auf die Todesfolge resignierende Strategien ausgerichtet sind.
Die in den Interviews identifizierten Bewältigungsstrategien können grob in drei Richtungen eingeteilt werden. Erstens konnten aktive, zweitens normalisierende und drittens rückzugsorientierte
Bewältigungsstrategien identifiziert werden. Zu den aktiven kann die Strategie der Informationsssuche, Offenlegung des positiven HIV-Status, Kontakt zu anderen HIV-positiven Personen, Prioritäten neu setzen, HIV-Infektion als Neuanfang bzw. Chance und das Betrachten der HIVInfektion als eine Auflösung von Unsicherheit gezählt werden. Zu den normalisierenden Bewältigungsstrategien gehören die Wiederaufnahme von alten Alltagsmustern, die bereits vor der Infektion bestanden haben sowie die Akzeptanz der HIV-Infektion. Zu den rückzugsorientierten Bewältigungsstrategien kann eine bewusst nicht erfolgte Offenlegung sowie Rückzug und Verdrängung
gerechnet werden. Vergleicht man diese mit jenen von Folkman et al. (1986) identifizierten acht
allgemeinen Bewältigungsstrategien, so lässt sich festhalten, dass sich im Kontext von HIV bei
den geführten Interviews mindesten drei dieser Strategien wiederfinden. Der Strategie „Distancing“ lassen sich die rückzugsorientierten Bewältigungsstrategien zuordnen. Der Strategie „Seeking social support" lassen sich im wesentlichen Strategien zuordnen, die aktiv sind, insbesondeInstitut Integration und Partizipation
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re die Suche nach Informationen, der Kontakt mit anderen HIV-positiven Personen sowie die Offenlegung der HIV-Infektion. Der Strategie „positive reappraisal“ können die ebenfalls aktiven
Bewältigungsstrategien Prioritäten neu setzen, die HIV-Infektion als Neuanfang bzw. Chance zu
sehen sowie die HIV-Infektion als Auflösung von Unsicherheit zugeordnet werden (vgl. Folkman,
et al., 1986).
Wie bereits in der Darstellung zum Stand der Bewältigungsforschung im Kontext von HIV dargestellt, bestehen verschiedene Studien, die vor allem quantitativ die Ways of Coping Check List
anwenden. Die Ergebnisse der in der late HAART-Phase (Lohse, et al., 2007) durchgeführten
Studien zum Thema Bewältigung im Kontext von HIV werden im Folgenden jenen der CHATUntersuchung zugeordnet.
Von den von Pakenham und Rinaldis (2001) identifizierten Bewältigungsstrategien finden sich in
der CHAT Untersuchung insbesondere die Strategie des „social support“ wieder. Die von
Fleishman et al. (2003) identifizierten Bewältigungsstrategien „die Situation zu nutzen, um daran
zu wachsen“ kann mit den aktiven Bewältigungsstrategien die HIV-Infektion als Neuanfang bzw.
Chance zu nutzen und Prioritäten neu setzen verglichen werden, „sich nicht von der Infektion beeinträchtigen zu lassen“ mit den normalisierenden und „nicht über die Infektion nachdenken“ mit
den rückzugsorientierten Bewältigungsstrategien. Die von Moskowitz und Wrubel (2005) identifizierten Strategien finden sich nur teilweise in den Ergebnissen der CHAT-Studie wieder, die Strategie „auf etwas anderes positives fokussieren“ kann mit der Strategie Prioritäten neu setzen in
Beziehung gesetzt werden.
Die vorliegende Untersuchung liefert auch Hinweise zur sexuellen Gesundheit und dem HIVSchutzverhalten von neu oder kürzlich diagnostizierten HIV-positiven Personen. Die Ergebnisse
zeigen, dass die HIV-Diagnose bei den Betroffenen häufig zu einem Einschnitt in ihrem
Sexualleben führt. Einige der Befragten geben an, dass sie seit der Diagnose überhaupt keinen
Sex mehr hatten. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sie überhaupt keine Lust mehr
verspüren. Zum anderen gründet dies auch in Angstgefühlen, sei es Angst, den Sexualpartner
mit HIV anstecken zu können, oder die Befürchtung, bei Offenlegung der HIV-Infektion vom Sexualpartner zurückgewiesen zu werden. Bei einigen Befragten, mit denen das Interview erst mit
einigem Abstand zur Diagnose geführt wurde, erwies sich die Zeit ohne Sex und ohne Lust auf
Erotik als eine Phase, die überwunden werden konnte. Andere Betroffene berichten von
Veränderungen hinsichtlich des Schutzverhaltens, der Anzahl Gelegenheitspartner und der
Häufigkeit sexueller Kontakte. Sie weisen darauf hin, dass sie seit der Diagnose auf eine
konsequente Benutzung von Kondomen bestünden, z.B. auch in sero-konkordanten
Paarbeziehungen, oder dass sie weniger Sexualpartner oder weniger häufig Sex hätten.
Letzteres ist teilweise auf durch die Medikamentation mit verursachten sexuellen
Funktionsstörungen zurückzuführen. Der konsequente Gebrauch von Kondomen wird dabei
unterschiedlich begründet. So wird erwähnt, dass dieser dem Schutz vor einer STI dienen soll
oder dadurch allfällige rechtliche Konsequenzen, die aus einer Übertragung der HIV-Infektion
folgen können, vermieden werden sollen.
Die erwähnten Veränderungen decken sich teilweise mit anderen Studien. So zeigte eine
Untersuchung an einer Stichprobe von 82 HIV-positiven MSM in der Schweiz, dass rund 83% ihr
Sexualverhalten nach der HIV-Diagnose in mindestens einer Art und Weise verändert hatten. Die
am häufigsten genannten Veränderungen waren der konsequente Kondomgebrauch (64.7%) und
die Vermeidung risikoreicher Praktiken (44.1%). Rund 7% verzichteten nach der HIV-Diagnose
eine zeitlang auf jegliche sexuellen Aktivitäten (Nideröst, et al., 2011).
In der vorliegenden Untersuchung wird in gewissem Kontrast zu bisherigen Untersuchungen
auch die Erfahrung gemacht, dass sich die sexuelle Gesundheit seit der HIV-Diagnose positiv
verändert hat. So erlebt ein Befragter, dass ihm die Offenlegung des HIV-Status im Schutz einer
anonymen Internetplattform nicht nur zu viel Kontakt und Aufmerksamkeit verhalf, sondern auch
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zu Angeboten für Sex oder eine Beziehung. Einem anderen Befragten haben die gemeinsam mit
seinem festen Partner nach der Diagnose entdeckten Sexualpraktiken eine neue sexuelle
Erfahrung verschafft.
Die Betroffenen beurteilen in der quantitativen Befragung ihre sexuelle Gesundheit aber nicht als
zufriedenstellend, wobei sich anhand der qualitativen Interviews ein differenziertes Bild dieser
Zufriedenheit zeichnen lässt. So fühlen sich die einen durch die Veränderungen im Sexualleben
kaum eingeschränkt oder können der HIV-Infektion sogar positive Seiten abgewinnen. Sie sehen
in den Veränderungen eine Chance, ihre Einstellung gegenüber Sexualität zu überdenken oder in
ihrer Beziehung neue Prioritäten zu setzen. Der HIV-positive Status wird auch als Erleichterung
empfungen, da ungeschützter Sex nun ohne ständige Angst vor einer Ansteckung praktiziert
werden kann.
Andere hingegen sind mit ihrem gegenwärtigen Sexualleben unzufrieden. Sie können sich beim
Sex mit ihren festen Partnern und/oder Gelegenheitspartnern nicht mehr voll gehen lassen, da
dabei stets die Angst mitschwingt, diese anstecken zu können oder die Frage der Offenlegung
sie beschäftigt. Bereits gemachte negative Erfahrung nach der Offenlegung des HIV-Status verstärken diese Schwierigkeiten. Sexuelle Unlust und der damit verbundene Rückgang der Häufigkeit der sexuellen Kontakte werden als Belastung für die Beziehung erlebt. In der oben erwähnten Studie gaben rund 21% der HIV-positiven MSM an, mit ihrem Sexualleben unzufrieden zu
sein. Dabei zeigte die Studie auf, dass sexuelle Unzufriedenheit in engem Zusammenhang mit
dem sexuellen Risikoverhalten von HIV-positiven MSM steht. Je unzufriedener die befragten
MSM mit ihrer sexuellen Gesundheit waren, desto häufiger praktizierten sie mit Gelegenheitspartnern ungeschützten Sex. Positiv wirkten sich jedoch die Veränderungen im Sexualverhalten
auf das HIV-Schutzverhalten der Betroffenen aus. So praktizierten die MSM häufiger Safer Sex,
mit ihren Gelegenheitspartnern, je stärker sie ihr bisheriges Verhalten nach der Diagnose geändert hatten (Nideröst, et al., 2011).
Am vorliegenden Sample konnte aufgezeigt werden, dass in der Mehrzahl der Fälle das Sexualleben nach der HIV-Diagnose an Qualität verliert. Dies ist weniger auf die mit der HIVSeropositivität einhergehenden Veränderung im Sexualverhalten, wie etwa dem konsequenten
Kondomgebrauch zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Ängste im Zusammenhang mit Offenlegung, Zurückweisung und Diskriminierung.
Die Leistung dieser Untersuchung einerseits besteht darin, den an den Umständen der HIVInfektionen interessierten Fachleuten Einsichten in mögliche Situationen, Konstellationen
und Dynamiken zu bieten und ihnen Kategorien an die Hand zu geben, die nahe am Material
generiert wurden. Damit erhalten die Fachleute die Möglichkeit, gut informiert und mit
realitätsgesättigten Kategorien über Prävention und Beratung nachzudenken.
Die hier generierten Erkenntnisse bieten auf Grund des gewählten Vorgehens, die Strategie, das
Verhalten und intervenierende Faktoren in den Blick zu fassen, auch den Vorteil, einige
allgegenwärtige Fallen zu umgehen. Die hier herausgearbeiteten Zusammenhänge verhindern
z.B. Wissen wider alle Evidenz als einziger handlungsleitender Fakor zu behandeln und die
Präventionsarbeit weiterhin wissenslastig bzw. als Wissensvermittlung auszugestalten. Die Untersuchung bietet also eine Grundlage, in der Präventionsarbeit Risikosituationen thematisieren zu
können oder auch Schutzillusionen und wenig angemessene Algorithmen der Verminderung des
Risikos einer HIV-Infektion aufzeigen zu können, wie dies teilweise bereits in der Love Life – Stop
Aids-Kampagne geschieht. Zudem bieten die präsentierten Erkenntnisse einen Ansatzpunkt
dazu, sich die Dynamiken vorstellen zu können, die den Phänomenen zu Grunde liegen, die von
der Epidemiologie und Beobachtung des Verhaltens ermittelt, aber nicht erklärt werden können.
In diesem Zusammenhang arbeiten die Ergebnisse dieser qualitativen Untersuchung in fruchtbarer Weise dem unbemerkt unterlaufenden Versehen entgegen, bei der Erklärung der Ergebnisse der Epidemiologie und Verhaltensbeobachtung auf etwas beliebige common sense Annahmen zurückgreifen zu müssen.
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Die Untersuchung konnte also erstmals auch Entwicklungen und Verläufe von HIVSchutzstrategien aufzeigen. Ebenso konnte rekonstruiert werden, wie es im Fall von flexiblen
Strategien zur Zusammenstellung der Schutzstrategien kommt und welche Momente dafür
ausschlaggebend sind, dass von einer zunächst vordergründigen Schutzstrategie abgewichen
und zu einer – gewissermassen als Auffanglinie postierte – andere Strategie zurückgegriffen
wird. Deutlich wird aber, dass der seit ein paar Jahren auch im Umfeld der HIV-Prävention
geführte Diskurs um Risikoreduktionsstrategien und Nicht-Infektiösität unter ART von den hier
untersuchten MSM rezipiert wurde und der Übernahme von Risikoreduktionsstrategien zumindest
nicht entgegengewirkt hat. Dies ist ein Indiz dafür dass die Schutzstrategien von den laufenden
Diskussionen über Risikoreduktionsstrategien und Aussagen über die Infektiosität von Menschen
in antiretroviraler Therapie beeinflusst werden. Gleichzeitig wird damit auch die Spannung
deutlich, die zwischen den Bemühungen der Verhaltensprävention und dem Anpreisen der
Therapie als Präventionsstrategie liegt.
Andererseits liefert die Untersuchung Erkenntnisse zur Bewältigung der HIV-Diagnose. Durch
das qualitativ angelegte Untersuchungsdesign konnte aufgezeigt werden, dass die jeweiligen
Bewältigungsstrategien nicht bei allen Personen gleich angemessen oder wirksam sind. Je nach
dem, was für ein Bild die Personen vor der Infektion von HIV hatten, oder was für ein Wissen der
Personen über HIV bestand, wurde der positive HIV-Status im Hinblick auf die Folgen gänzlich
anders bewertet und hatte entsprechend andere Auswirkungen im Hinblick darauf, was für Bewältigungsstrategien die Personen anwenden. Diese Unterschiede in den Bewältigungsstrategien
sollten in der Beratung von HIV-positiven Personen berücksichtigt werden.
Darüber hinaus gibt die Untersuchung erste Hinweise zu Veränderungen hinsichtlich Sexualität
und HIV-Schutzverhalten unmittelbar nach der HIV-Diagnose, die in der Beratung von neu
diagnostizierten HIV-positiven Personen genutzt werden können. So können die Berater und Beraterinnen die die Veränderungen im Sexualverhalten ansprechen, allfällige Ängste und Sorgen
der Betroffenen mindern und positive Verhaltensänderungen, wie etwa den konsequenteren
Kondomgebrauch unterstützen. Allerdings bleibt der Einwand, dass die Untersuchung sich auf
Personen bezieht, die noch nicht sehr lange mit der HIV-Infektion leben. So können hier keine
Aussagen zu Verlauf und Entwicklung der genannten Veränderungen im Sexualleben und der
Zufriedenheit mit der Sexualität gemacht werden.
Auch mit Blick auf Hinweise für die künftige Präventionsarbeit ergeben sich gewisse Limitationen.
Insbesondere ist im Auge zu behalten, dass die Untersuchung nur diejenigen Personen in den
Blick nimmt, die sich auf Grund eines ungeschützten Sexualkontaktes mit HIV infiziert haben.
Diejenigen Personen, welche sich konsequent mit Kondomen schützen und bei denen es zu
keiner Ansteckung mit HIV kommt, bleiben ausser Betracht. Die Studie kann somit keine
Information zu Ursachen für das Aufrechterhalten der Schutzmotivation oder des HIV-Schutzverhaltens geben. Sie liefert lediglich Hinweise zu möglichen Situationen, Konstellationen und
Dynamiken, die zur Ansteckung geführt haben.
Prävention, die erfolgreich sein will, geht von der sozialen Realität aus, die sie antrifft, und geht
auf diese ein – was nicht bedeutet, dass sie diese einfach bestätigt. Will Prävention diesem
Grundsatz treu bleiben, so muss sie auf neue Entwicklungen, wie sie in dieser Rekonstruktion
ersichtlich wurden, eingehen und die unterschiedlichen Verständnisse von HIV und des damit
verbundenen Risikos, die Überlegungen zum Schutz vor HIV, die Handlungsweisen und die
dahinterliegenden Rationalitäten von (in diesem Fall) sexuell aktiven Menschen in den Blick
fassen und zum Ausgangspunkt der Frage nach Weiterentwicklungen der Angabote der
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Prävention machen. Vor diesem Hintergrund und auf dieser Untersuchung basierend, können
folgende Punkte zum Ausgangspunkt für entsprechende Überlegungen gemacht werden:
– Die Umstände von HIV-Infektionen sind heute sehr divers. Es gibt nicht die Situation oder
das Setting, in der sich HIV-Infektionen ereignen. Die Präventionsarbeit sollte sich also
nicht erlauben, nur noch eine Situation, eine bestimmte Szene oder eine Gegend, wie z.B.
die grössten Ballungsräume in der Schweiz ins Auge zu fassen.18
– Für die heute erfolgenden Ansteckungen ist nicht ein einzelner Grund auszumachen. Es
ist von unterschiedlich ausgestalteten HIV-Schutzstrategien auszugehen, genauso wie
von der Tatsache, dass es sexuell aktive Personen gibt, die sich keine explizite HIV-Strategie zurecht legen. Die Ausgangslage für die Prävention ist dementsprechend komplex.
Sie muss sich deshalb immer wieder vergewissern, welche der beobachteten Strategien
sie adressieren will. Es ist davon auszugehen, dass es nicht möglich ist, mit einer Intervention alle Ausgestaltungen von Schutzstrategien anzusprechen (one doesn't fit all).
– Unter den heute verfolgten HIV-Schutzstrategien finden sich nach wie vor
Schutzillusionen, aber auch Risikoreduktionsstrategien jüngeren Datums. Die
Informationen über die Risiken, die sich mit inadäquaten HIV-Schutzstrategien
verbinden sind weiterhin zu verbreiten und Illusionen und damit verbundene Wünsche und
Hoffnungen zu thematisieren. Ausserdem sind Informationen zu den Unwägbarkeiten und
Risiken der Strategien der Risikoreduktion noch vermehrt hervorzuheben und ebenfalls
im Zusammenhang mit den sie motivierenden Wünschen und Hoffnungen zu thematisieren.
– Prävention wird insbesondere dann als präsent erachtet, wenn sie im öffentlichen Raum
erkennbar ist. Die Präventionsarbeit sollte deshalb im oben herausgearbeiteten Sinne
präsent bleiben, also weiterhin im öffentlichen Raum sichtbar sein.
Dabei ist zu beachten, dass die Präventionsarbeit sich heute weniger an sexuell aktive
Personen richtet, die vom Schutz vor HIV erst noch zu überzeugen sind. Sie muss daher
vermehrt über blosse Wissensvermittlung hinausgehen. Prozesse der Erosion sollten
avisiert werden. Es ist nach Wegen und Settings zu suchen, „Ausrutscher“ oder „Unfälle“
beim Safer Sex aufzugreifen bzw. die Spannungen zwischen der Selbstverpflichtung auf
Safer Sex und der Erfahrung, doch ungeschützten Sex zu haben, überhaupt zu
thematisieren und so gestaltend in den Prozessen präsent zu sein, die – wie hier
aufgezeigt – über mehrere Schritte hinweg zur Aufgabe von Safer Sex führen. Diese
Ansprache sollte in akzeptierender Art und Weise geschehen, ohne entsprechende
Schuldzuweisungen und Vorwürfe an die Adresse der Betroffenen.
– Die Aufnahme des Risikoreduktionsdiskurses durch MSM, dessen mögliche kreative Verarbeitung und Verquickung mit dem so genannten EKAF-Statement (Vernazza, et al.,
18
Insbesondere ist ein Kategorienfehler zu vermeiden. Städtische Ballungsräume, in denen sich Infektionen häufen,
sind nicht mit Bildern von gefährlichen „high-risk“ Gegenden aufzuladen (Daneel, et al., 2008, p. 458), sondern
sozialwissenschaftlich in aller Schlichtheit als Orte vielfacher sexueller Interaktion zu verstehen, an denen die hier
beobachteten Dynamiken öfter spielen als an Orten mit weniger sexuellen Interaktionen. Die Anzahl sexueller
Interaktionen ist in Ballungsräumen hoch, weil es es sich um Orte mit hoher Bevölkerungsdichte handelt, an
denen Infrastrukturen gegeben sind, die sexuelle Interaktionen erleichtern, und weil sie auf Grund ihrer Grösse,
der damit verbundenen Anonymität und ihrer Infrastruktur zu Zentren der sexbezogenen inländischen Migration
(z.B. bei MSM) werden. Die Orte an und für sich bergen kein Risiko einer HIV-Infektion. Das Risiko ergibt sich aus
dem Handeln der Personen an diesen Orten und – wie das überproportional grosse Sexgewerbe im Kanton
Solothurn anschaulich macht – kann sich auch auf dem platten Land häufen.
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2008) durch diese Zielgruppe der Prävention und deren Niederschlag in Schutzstrategien
ist sorgfältig zu beobachten.
– Die Rekonstruktion zeigte auf, dass Diskurse und mehr oder weniger gesichertes Wissen
aus der (medizinisch-klinischen) Forschung diffundieren, aufgegriffen und in die eigenen
Überlegungen und Handlungsplanung eingebaut und so handlungsorientierend werden
bzw. nachgelagert zur Rationalisierung von Entscheidungen und Handlungsweisen mit
Blick auf HIV eingesetzt werden. Insbesondere jene Diskurse, die aktiv und mit medialer
Unterstützung in die Öffentlichkeit getragen wurden, bieten sich sexuell aktiven Personen
hierzu an. Es zeigte sich dann auch, dass einige MSM aktiv auf solche Wissensbestände
bzw. Diskursformationen bei ihren Entscheidungen über HIV-Schutzstrategien
zurückgreifen. Wie an einem Beispiel auch deutlich wurde, verwenden sie diese Elemente,
wie z.B. das so genannte EKAF-Statement (Vernazza, et al., 2008), aber auch aktiv in
ihrer Kommunikation mit Sexualpartnern. Hieraus ergeben sich neue Aufgaben für die
Prävention: Sexuell aktive Menschen werden zunehmend erleben, dass sie potenzielle
oder aktuelle Sexualpartner in der Aushandlung des Vorgehens zur Vermeidung einer
HIV-Infektion mit vergleichsweise neuen Argumenten konfrontieren, die gleichzeitig wissenschaftliche Autorität für sich in Anspruch nehmen, wie z.B. mit dem EKAF-Statement.
Bleibt HIV-Prävention dem Ziel verpflichtet, Menschen zum Schutz vor HIV zu befähigen,
hat sie sexuell aktive Menschen auf diese Situation vorzubereiten und Grundlagen für die
Formulierung eines eigenen Standpunkts anzubieten.
Die skizzierte Ausgangslage und die ihr inhärenten Herausforderungen verstehen sich als Beitrag
zur Diskussion um die aktuelle HIV-Prävention in der Schweiz. Sie sollen der Reflexion des
bestehenden Angebots und den möglicherweise anschliessenden Arbeiten zu dessen
Weiterenentwicklung eine Grundlage bieten. Der Bericht macht aber keine konreten Vorschläge
für die Weiterentwicklung. Dies vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass effektive
Entwicklungsarbeiten in einer Kooperation mit der Praxis und im Sinne eines PraxisOptimierungs-Prozesses (Gredig, 2011) erfolgen sollten.
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Das Projekt ist von der zuständigen Ethikkommission des Kantons Aargau gutgeheissen worden.
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