Olaf A. Schmitt - Wer sind nun wir

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„Wer sind nun wir?“
von Olaf A. Schmitt
Unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn veröffentlichten die Heidelberger Romantiker
Clemens Brentano und Achim von Arnim von 1805 bis 1808 eine Sammlung von Volksliedern. Das Heimspiel-Projekt des Theaters und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg knüpfte daran an und sammelte aktuelle Texte und Lieder in der Stadtbevölkerung für
Das neue Wunderhorn. Über 400 Menschen machten bei den vier Aufführungen am Ende der
letzten Spielzeit mit. Die Heidelberger Bevölkerung tanzte, sang und spielte im ganzen Theater. Zusammen mit dem Orchester und dem Chor gelangten 25 Werke junger Komponisten
zur Uraufführung. Der Dramaturg Olaf A. Schmitt berichtet aus der Heidelberger HeimspielWerkstatt.
Der neunjährige Joshua steht im Büro des Generalmusikdirektors neben dem Steinway-Flügel
und kämpft sich durch den komplizierten Rhythmus eines neukomponierten Werkes für Sprecher und Orchester. Die Wörter erscheinen ihm wahllos aneinandergereiht, der Rhythmus
ergibt keinen Sinn: «du glaubst nur dir selbst Mensch eins daß nur du Wert besitzt». Generalmusikdirektor Cornelius Meister, der selten einen so jungen Solisten für eine Einzelprobe
trifft, nimmt die Sprechstimme schließlich für ihn auf CD auf. Mir kommen Zweifel, ob unser
Wunsch, Menschen aus der Stadt als Solisten bei zeitgenössischen Kompositionen für das
Philharmonische Orchester einzusetzen und somit völlig unterschiedliche Erfahrungshorizonte miteinander zu konfrontieren, aufgehen wird.
Eine gute Woche später steht der Junge auf der Großen Bühne des Staatstheaters Saarbrücken,
in einem weißen Kostüm, das Menschen aus Heidelberg mit Wörtern beschrieben haben. Er
steht neben dem Dirigenten und spricht wieder diesen Text, nun mit großer Sicherheit, aber
das Blatt noch in der Hand. Bei dieser Werkstattaufführung im Rahmen des Kongresses Kinder zum Olymp! drei Wochen vor der Premiere lösen sich viele Fragezeichen plötzlich in Luft
auf. In Heidelberg schließlich steht Joshua ganz vorne an der Rampe, spricht auswendig und
mit einer Leichtigkeit, als wären die Worte seine eigenen. Er hört das Orchester, das hinter
ihm auf der Bühne sitzt, und erklärt dem Publikum mit klarer Geste: «Wer sind nun wir?
Mensch vier?»
Die Breakdancer ernten bei ihrem Auftritt besonders viel Applaus. Sie bewegen sich zu einer
Musik, deren Sprache ihnen völlig fremd ist und der das wesentliche Element für Breakdance
fehlt: das durchgehende Metrum. In einem unserer Wunderhorn-Camps in der Heidelberger
Werkstattbühne zwinger I, wo einmal im Monat ein im besten Sinn neugieriges Publikum uns
bei unserer Probenarbeit über die Schulter blicken kann, probieren die vier Tänzer verschiedene Bewegungen zu dem kurzen Orchesterstück aus. Ein paar Tage vorher hatte der Kopf
der Breakdance-Gruppe zum ersten Mal im Leben in einer Orchesterprobe gesessen und sich
für die Antonitische Groteske entschieden, die mit dem Klarinettenmotiv aus Gustav Mahlers
Vertonung eines Wunderhorn-Liedes arbeitet. Bei der Camp-Veranstaltung bringe ich das
originale Mahler-Lied mit und erkläre den Tänzern und dem Publikum, wie darauf in der neuen Komposition Bezug genommen wird. Zwanzig Minuten lang entstehen kurze Bewegungen
aus dem Breakdance-Vokabular, doch noch funktioniert gar nichts, noch nicht einmal die alten Tricks. Die Breakdancer hören, sie probieren, sie sprechen, sie fluchen, sie raufen sich
zusammen. «Wir haben gesagt, dass wir dieses Stück machen, jetzt ziehen wir die Sache auch
durch!» nimmt der 23jährige André seine etwas ratlose Truppe schließlich in die Pflicht. Das
Publikum und wir alle finden den Prozess sehr aufregend, obwohl es kein wirkliches Probenergebnis gibt. In den nächsten Tagen hören sich die Breakdancer immer wieder die Aufnahme
der wenigen Minuten an und sie durchdringen deren Struktur. Sie suchen nach musikalischen
Anhaltspunkten, einem Pizzicato oder der Wiederholung eines Motivs, und erfinden eine
kleine Geschichte um Macht und Missgunst. Der Komponist kommt zu einer Probe dazu und
spricht mit ihnen über sein Werk. Zuerst schien ihm Breakdance zu seiner Musik ebenso absurd wie den Breakdancern, nun entdeckt er seine Musik durch deren ‹moves› neu.
Wir wollten es uns beim Neuen Wunderhorn nicht leicht machen und haben bewusst versucht,
Menschen im Theater zusammen zu bringen, die woanders nicht aufeinander getroffen wären:
kleine Kinder und Senioren, Rapper und Orchester, Rockbands und Blaskapelle. Das Thema
für dieses spartenübergreifende Projekt kommt direkt aus der Stadt. Vor gut zweihundert Jahren haben Clemens Brentano und Achim von Arnim in Heidelberg Lieder und Gedichte gesammelt und in der Anthologie Des Knaben Wunderhorn veröffentlicht. Sie wurde zu einer
der wichtigsten Sammlungen von Volksliedern und stiftete dadurch im kleinstaatlichen
Deutschland eine gemeinsame Identität. Ist so etwas heute auch möglich? Wir haben uns die
Methode von damals zu Eigen gemacht und eine Recherche mit Medien unserer Zeit gestartet:
persönliche Interviews vor laufender Kamera, Fragebogen im Internet und beschreibbare Plakate in der ganzen Stadt, vor Schulen, an Bushaltestellen, auf zentralen Plätzen. Die Plakate
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wurden von einem Recherche-Team aus Studenten abfotografiert und dokumentiert. Die Ergebnisse reichten vom extra zum Plakat getragenen und abgeschriebenen Gedicht bis zur wilden Kritzelei. Der erste Satz, der gar nicht für das Plakat gedacht war, sondern den Zweifel an
dieser Aktion ausdrücken wollte, wurde zu einem zentralen Satz des gesamten Projekts: «Man
kann die Sprache nicht festhalten.»
Die Sprache einer Stadt kann man heute nicht mehr so festhalten wie 1806. Schon bei unseren
ersten Recherchen im Februar 2006 im Stadtteil Emmertsgrund erzählte man uns von über
siebzig verschiedenen Nationalitäten, die dort leben. Das war auch uns neu. Diese Polyphonie
wollte unser Künstlerischer Leiter Jan Linders ins Theater bringen. So sollten alle Experten
und Potentiale des komplexen Theaterapparats für eine große Aufführung in möglichst vielen
Räumen des Hauses den Menschen der Stadt zur Verfügung gestellt werden. Das aufwändigste Ensemble eines Theaters, das Orchester, wurde ebenso eingeplant wie Chor, Schauspieler
und alle technischen Abteilungen. Wie die Aufführung konkret aussehen würde, wusste zum
Zeitpunkt der Planung keiner, schließlich begaben wir uns gerade erst auf die Suche nach dem
Material. Die Fragen vieler Mitarbeiter des Theaters nach Aufwand der Ausstattung und der
Kostüme, der benötigten Anzahl von Proben, der Anzahl der Mitwirkenden konnten teilweise
erst in den letzten Wochen vor der Aufführung beantwortet werden. Das war für das Theater
mit all seinen notwendigen Planungsstrukturen eine ziemliche Herausforderung!
Die erste hatten wir zu dem Zeitpunkt schon bewältigt: die Menschen in der Stadt aufzusuchen und zu begeistern. Der wichtigste Partner wurde schnell das Haus der Jugend. Dort wurden die Tanzpädagogin mit ihren über einhundert Tänzern als Choreographin und die Kunstpädagogin als Leiterin der Recherche und künstlerische Mitarbeiterin gewonnen. Junge Komponisten der Hochschule Mannheim und ihr Lehrer wurden mit Uraufführungen für Orchester
betraut. Über dreihundert Briefe wurden zum Auftakt in die Stadt geschickt, an Schulen,
Stadtteilvereine, Musikensembles, Chöre, Karnevalsvereine, Sportgruppen, Ausbildungsstätten … Als wirklich effektiv stellte sich aber nur die persönliche Ansprache heraus: Bei Aufführungen in der Stadt, bei Schul- und Stadtfesten, Empfängen und am Telefon warben wir
für unser Projekt und animierten Menschen zu Interviews und zum Mitmachen. In Briefen
und Anrufen boten die Bürger ihre Lieder und Texte an: selbstgeschriebene Gedichte, Volkslieder aus der fremden Heimat, wiedergefundene Texte eines verstorbenen Vorfahren,
Schnulzen aus Heidelberg. Eine Dame sang ein Lied vor, das ihr seit Jahrzehnten im Kopf
herumspukt, weil sie es von einem unbekannten Menschen kurz nach dem Krieg gehört hatte.
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Monatlich erprobten wir im CampWunderhorn neue Formate und luden die Stadt zum Mitdenken, Auswählen, Erzählen ein. Im Camp erfuhren Kinder und Jugendliche von zwei Experten zum ersten Mal von Des Knaben Wunderhorn, improvisierten zwei Musiker des Orchesters mit Rappern, woraus zwei Rap-Songs mit dem ganzen Orchester entstanden, und
beschrifteten die Bürger weiße Kostüme und den weißen Bühnenboden mit Wörtern, die in
der Recherche gesammelt wurden. Im Camp erkundeten die Menschen das verwinkelte Theater, das sie sich in den folgenden Wochen zu Eigen machten: Bei den Aufführungen führten
insgesamt 25 Bürger das Publikum in fünf Routen durch die geheimnisvollen Räume des
Theaters, wo das gesammelte Material in künstlerischen Installationen präsentiert wurde. Jeder von ihnen erzählte dabei eine persönliche Geschichte. Eine Dame zum Beispiel zeigte
ihrer Gruppe einen alten Koffer, den sie nach dem Tod des ihr unbekannten Vaters geerbt
hatte. Die Fotos und Texte darin veränderten ihr idealisiertes Bild von ihm.
An den Aufführungstagen wurde das Stadttheater in einem emphatischen Sinn zum StadtTheater. Das Theater mit seinem Theaterplatz, auf dem Bands spielten und Migranten ihre
Speisen feilboten, wurde zum Ort, wo die Hauptrollen aus der Stadt selbst besetzt wurden, mit
den Geschichten und persönlichen Erlebnissen ihrer Bewohner. Ein Ort, an dem sich die Stadt
im künstlerischen Prozess erneuern kann. Dass diese Erneuerung weiter stattfindet, zeigen die
spontanen Verknüpfungen, die sich gebildet haben: die Breakdancer mit einer Schülerband,
ein Orchestermitglied und ein Komponist, die Rapper und ein traditionelles Heidelberg-Lied.
Die wichtigste Verknüpfung aber scheint mir die zu sein: das Theater und seine Stadt. Mit
dem Neuen Wunderhorn endete die Spielzeit 2006/07. Mit dem Neuen Wunderhorn haben wir
die neue Spielzeit 2007/08 wieder eröffnet.
www.dasneuewunderhorn.de
Olaf A. Schmitt ist Dramaturg am Theater und Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg. Der von Generalmusikdirektor Cornelius Meister und ihm erarbeitete Konzertspielplan wurde 2006/07 vom Deutschen Musikverlegerverband als bester in Deutschland ausgezeichnet. Schmitt war Stipendiat der Akademie Musiktheater heute der Deutschen Bank Stiftung und ist zusammen mit Patrick Primavesi Herausgeber von AufBrüche.Theaterarbeit zwischen Text und Situation (Berlin 2004).
Dieser Artikel erschien im Magazin Nr. 10 der Kulturstiftung des Bundes. Sie können das
Magazin kostenlos beziehen über: www.kulturstiftung-bund.de
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