kommentar - Deutsches Ärzteblatt

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aerzteblatt.de/dossiers
Die Zeitschrift der Ärzteschaft
|
Gegründet 1872
www.aerzteblatt.de/dossiers/embryonenforschung
2010
INHALT
EMBRYONENFORSCHUNG
Der Beginn
des Lebens
Die Debatte über Präimplantationsdiagnostik
und die Forschung an und mit Embryonen
Seit der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PID)“ im Jahr 2000
hat sich das Deutsche Ärzteblatt intensiv an der Debatte über
PID, die Forschung an und mit Embryonen sowie die Gewinnung
von Stammzellen beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen
zu Wort kommen lassen. In diesem Dossier spiegeln die Beiträge
der DÄ-Redakteurinnen und -Redakteure, aber auch Aufsätze
und Kommentare von Ärzten, Politikern, Juristen sowie Theologen
▄
die Meinungsvielfalt zu dieser Thematik wider.
BEITRÄGE AUS DEM JAHR 2010
2
Regenerative Medizin: Ein Fachgebiet auf Hochtouren
35
4
8
10
Präimplantationsdiagnostik: Eile ist kein guter Berater
Eva Richter-Kuhlmann
Eva Richter-Kuhlmann
Pränatale Diagnostik und Schwangerschaftsabbruch:
Kooperation zwischen Ärzten, Beratungsstellen und Verbänden
36
Christiane Woopen, Anne Rummer
38
Präimplantationsdiagnostik: Gespaltene Gesellschaft
Norbert Jachertz, Eva Richter-Kuhlmann
Gendiagnostik: Neues Gesetz, neue Pflichten
Übersichtsarbeit: Pränataldiagnostik genetischer
Erkrankungen
Eva Richter-Kuhlmann
Peter Wieacker, Johannes Steinhard
Präimplantationsdiagnostik: Ein Fall für die Gerichte
Gisela Klinkhammer
12
Interview mit Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
15
Embryonenforschung: Über den Umgang mit menschlichem Leben
49
XCell-Center: Das Dilemma der Übergangsfrist
Vera Zylka-Menhorn
Sibylle Rolf
19
Bundesgerichtshof zur Präimplantationsdiagnostik:
Druck auf die Politik
IMPRESSUM
Gisela Klinkhammer
20
Übersichtsarbeit: Perinatale Probleme von Mehrlingen
Joachim W. Dudenhausen, Rolf F. Maier
27
Nobelpreis für Medizin: „Vater“ von vier Millionen Babys
Vera Zylka-Menhorn, Nicola Siegmund-Schultze, Renate Leinmüller
29
Präimplantationsdiagnostik: Vom Kinderwunsch zum
Wunschkind
Norbert Jachertz
34
Präimplantationsdiagnostik: Das Parlament ist gefragt
Eva Richter-Kuhlmann
1
Deutsches
..
Arzteblatt
DOSSIER EMBRYONENFORSCHUNG
Chefredakteur: Heinz Stüwe, Köln
(verantwortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der
gesetzlichen Bestimmungen)
Chefs vom Dienst: Gisela Klinkhammer, Herbert Moll
Redaktion: Gisela Klinkhammer, Michael Schmedt (Internet)
Technische Redaktion: Michael Peters
Schlussredaktion: Inge Rizk, Christine Menz-Hackenberg
Verlag: Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln
aerzteblatt.de
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 1–2, 7. Januar 2010
REGENERATIVE MEDIZIN
Ein Fachgebiet auf Hochtouren
Das große Potenzial von Stammzellen für die Medizin ist unbestritten.
Wie breitgefächert die Forschungsansätze jedoch sind und derzeit auch noch
sein müssen, zeigte sich bei der Weltkonferenz für regenerative Medizin.
D
ie Fachrichtung boomt. Nahezu im Wochentakt wird
von neuen Entwicklungen auf dem
Gebiet der Stammzellforschung
und der regenerativen Medizin berichtet. Einen Besucherrekord von
1 100 Wissenschaftlern aus 37 Ländern erlebte in diesem Jahr auch
die Weltkonferenz für regenerative
den Wissenschaftlern, Unternehmen
und regulatorischen Behörden, um
dieses neue Wissen sicher und zuverlässig zum Patienten zu bringen“, berichtete Kongresspräsident Prof. Dr.
med. Frank Emmrich dem Deutschen Ärzteblatt.
In der Tat befinden sich viele Gebiete im Stadium der Grundlagen-
Medizin in Leipzig. Unter dem
Motto „Das Potenzial von Stammzellen“ widmete sie sich Themen
wie Pluripotenz und Reprogrammierung von Stammzellen, Stammzelltherapie und Organersatz durch
Gewebezüchtung sowie der Übertragung therapeutischer Ansätze in
die klinische Praxis. Veranstaltet
wurde die Konferenz vom Leipziger Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie und Translationszentrum für Regenerative
Medizin Leipzig.
„Das Feld der regenerativen Medizin hat in den vergangenen Jahren
große Fortschritte gemacht. Dessen
ungeachtet liegt noch viel Arbeit vor
forschung. Obwohl das Potenzial der
Stammzellen in der Medizin als unbestritten gilt, vermag noch niemand
zu sagen, wann wirksame und sichere Therapien in großem Stil verfügbar sein werden. Die derzeit größten
Hoffnungen werden auf die aus Körperzellen abgeleiteten humanen induzierten pluripotenten Stammzellen
(iPS-Zellen) gesetzt.
Foto: AOK-Bilderdienst
Embryonale
Stammzellen im
Blastozystenstadium: Da alternative,
ethisch unbedenkliche Verfahren entwickelt worden
sind, können die
Forscher zunehmend
auf embryonale
Stammzellen verzichten.
Gewebespezifische Zellen zur
Organregeneration
Wie bei humanen embryonalen
Stammzellen (hES-Zellen) können
aus iPS-Zellen über entsprechende
In-vitro-Differenzierungsprotokolle
gewebespezifische Zellen gewon-
nen werden. Mit ihrer Hilfe könnten insbesondere Organe regeneriert werden, in denen ansonsten die
Kapazität zur Selbsterneuerung
durch somatische Stammzellen
schwach ausgebildet ist, wie zum
Beispiel im Nervensystem, im Pankreas oder im Herzen.
Eine weitere Option ist die Möglichkeit, pharmakologische potenzielle Wirkstoffe direkt an Zellen
des individuellen Patienten zu testen. Auch Ian Wilmut von der Universität Edinburg, Großbritannien,
geistiger „Vater“ des Klonschafs
Dolly, hob das Potenzial der induzierten pluripotenten Stammzellen
hervor. Durch sie könnten sowohl
die Ursachen von Krankheiten besser verstanden und gleichzeitig die
Sicherheit von neuen Medikamenten untersucht werden. „Menschliche iPS-Zellen bieten die Möglichkeit, unerwünschte Nebenwirkungen in einem früheren Stadium des
Prozesses zu identifizieren und zu
eliminieren“, sagte Wilmut. Sowohl
Teragonität als auch Toxizität ließen sich an ihnen besser als im
Tiermodell testen.
Grundvoraussetzung für eine
Nutzung pluripotenter Stammzellen
in der Wirkstoffentwicklung seien
jedoch stabile Verfahren zur reproduzierbaren Gewinnung gewebespezifischer Zellen, betonte Prof.
Dr. med. Oliver Brüstle vom Institut für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn. Sein
Team konnte kürzlich zeigen, dass
sich aus humanen embryonalen
Stammzellen stabile neurale Stammzellen (long-term self-renewing
hES cell-derived neural stem cells,
lt-hESNSC) herstellen lassen. Ihr
entscheidender Vorteil: Selbst über
lange Zeiträume hinweg können
aus ihnen verschiedene neurale
Subtypen – wie Neurone, Astrozy-
2
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
ten und Oligodentrozyten – ausreifen. Unter geeigneten Differenzierungsbedingungen können aus ihnen zudem Transmittersysteme gewonnen werden, die bei vielen
pharmakologischen Fragen relevant
sind, wie beispielsweise GABAerge, glutaminerge, dopaminerge und
serotoninerge Neurone.
„Die direkte Gewinnung von
Neuronen und Gliazellen über diese
stabile neurale Stammzellpopulation bedingt nicht nur eine enorme
Zeitersparnis und Standardisierung.
Sie eröffnet auch die Möglichkeit,
genetische Modifikationen direkt
an den aus ihnen gewonnenen somatischen Stammzellen durchzuführen“, erklärte Brüstle. Auf diese Weise könnte in schneller Folge eine Vielzahl krankheitsrelevanter Mutationen in humanen
Neuronen und Gliazellen untersucht werden.
Eine Alternative beim Einsatz
von Stammzellen könnten auch humane spermatogonale Stammzellen
sein, die ohne gentechnische Reprogrammierung entwicklungsfähig erscheinen. Forschungen an
Keimzellen von Mäusen hatten zunächst gezeigt, dass es möglich ist,
die Stammzellen, aus denen sich
Spermien bilden – sogenannte spermatogonale Stammzellen (SSCs) –
in vitro in ein pluripotentes Stadium
zu reprogrammieren.
Spermatogonale Stammzellen
werden isoliert und kultiviert
Prof. Dr. med. Thomas Skutella
vom Anatomischen Institut der Universität Tübingen konnte diese Untersuchungen erstmals auf den
Menschen übertragen und Kulturen
von humanen adulten, pluripotenten, aus der Keimbahn abgeleiteten
Stammzellen (human germline-derived stem cells, haGSCs) gewinnen. Sowohl in vitro als auch in
vivo hat sein Team über lange Zeiträume hinweg aufgereinigte, proliferative haGSC-Kulturen von spermatogonalen Stammzellen aus adulten humanen Hoden isoliert und
gezüchtet. Dabei zeigten die Zellkulturen Expressionsprofile, die denen von pluripotenten humanen embryonalen Stammzellen vergleichbar sind. Gleichzeitig konnten sie
alle Grundgewebe des menschlichen Körpers bilden.
Skutella schließt daraus, dass diese Zellen ein adultes Gegenstück zu
den humanen ES-Zellen und eine
weitere Alternative zu humanen induzierten pluripotenten Stammzelllinien sind. Ihr Vorteil sei insbesondere, dass sie als adulte Zellen im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen ethisch unbedenklich eingesetzt
werden könnten. Optimal könnten
Skutella zufolge diese Zellen auch
für die Behandlung erblich bedingter
Erkrankungen sein, da die Möglichkeit bestehe, pluripotente haGSC-Linien der entsprechenden Pathologien
herzustellen. So könnten beispielsweise Hodenbiopsien bei Parkinsonpatienten durchgeführt und die isolierten spermatogonalen Stammzellen über die Transformation in
haGSCs in Vorläuferzelllinien des
Nervensystems differenziert werden.
Hieraus könnten dann dopaminerge
Neurone für pharmakologische Assays induziert werden.
Aufgabe der Forscher ist es
jetzt, aus der Vielfalt der Möglichkeiten die Methode zu identifizieren, die am zuverlässigsten normale Zellen produziert, und die induzierten pluripotenten Zellen untereinander und mit den ES und
▄
haGSCs zu vergleichen.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
GESETZLICHE HÜRDEN
Die Translation von Ergebnissen der
Stammzellforschung in die klinische Anwendung bereitet aus verschiedenen
Gründen Probleme. „Die Anstrengungen
zu den notwendigen klinischen Studien
zum Nachweis der Wirksamkeit von
Stammzellen müssen deutschlandweit
gebündelt werden“, fordert deshalb Priv.Doz. Dr. med. Philip Kasten, Carl-GustavCarus-Universität Dresden. Für Einzelpersonen oder Einzelinstitutionen sei der
derzeit notwendige organisatorische Aufwand kaum zu bewältigen. Deshalb sollten sich Zentren, die regenerative Therapien durchführen wollen, zusammenschließen sowie Studieninitiativen koordinieren.
Dies sei auch der Konsens von Expertenworkshops gewesen, die 2009
im Rahmen der Jahreskongresse der
Deutschen Gesellschaft für Chirurgie
und der Deutschen Gesellschaft für Or-
3
thopädie und Unfallchirurgie in Abstimmung mit dem Center for Regenerative
Therapies Dresden, dem Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Therapies und dem Muskuloskelettalen
Zentrum Würzburg stattfanden.
„Der Einsatz von mesenchymalen
Stammzellen ist auch für den operativ
orthopädisch/unfallchirurgisch tätigen
Chirurgen interessant“, sagt Kasten.
Leider herrsche jedoch eine große Diskrepanz zwischen den Daten aus tierexperimentellen Studien und tatsächlichen klinischen Untersuchungen. Dies
sei vor allem auf die in den letzten Jahren geänderten gesetzlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen, erläutert
der Chirurg.
Entsprechend der 14. Novelle des
Arzneimittelgesetzes (vom 29. August
2005) müssen nämlich klinische Studien, die die Wirksamkeit und/oder Sicher-
heit von Stammzellpräparaten untersuchen, nicht nur beim Paul-Ehrlich-Institut
angezeigt, sondern von diesem auch
genehmigt werden. Dazu muss eine
Herstellungserlaubnis des zuständigen
Regierungspräsidiums einschließlich einer pharmakologischen/toxikologischen
Prüfung vorliegen, die die Qualität des
Arzneimittels nach dem Good-medicalpractice-Standard voraussetzt. „Dies erfordert jedoch eine finanziell und experimentell aufwendige präklinische In-vivoAnalyse zur chromosomalen Instabilität
und Sicherheit“, erklärt Kasten. „Selbst
universitäre Forschungseinrichtungen
stoßen dabei an ihre Grenzen.“ Mit der
15. Novelle des Arzneimittelgesetzes, die
im September 2009 in Kraft getreten sei,
seien zudem noch verschiedene Ausnahmegenehmigungen aufgehoben worden, die die klinische Anwendung von
Stammzellen erschweren könnten.
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 3, 22. Januar 2010
PRÄNATALE DIAGNOSTIK UND SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH
Kooperation zwischen Ärzten,
Beratungsstellen und Verbänden
Die Umsetzung der neuen gesetzlichen Vorgaben wird wissenschaftlich
begleitet. Ziel ist es, schwangere Frauen besser aufzuklären und zu beraten.
Christiane Woopen, Anne Rummer
ach den Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahrzehnte (5, 8) kommen seit dem Jahreswechsel auf die Ärzte, die im
Kontext von pränataler Diagnostik
(PND) und medizinisch-sozialer Indikationsstellung tätig sind, neue
gesetzlich verankerte Anforderungen zu: Am 1. Januar 2010 ist das
Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG)
in Kraft getreten (dazu 4). Ziel der
Gesetzesänderung ist es, die Aufklärung und Beratung von schwangeren Frauen (und ihren Partnern)
zu verbessern, denen ein auffälliger
fetaler Befund mitgeteilt werden
muss und/oder die eine medizinischsoziale Indikation zum Schwangerschaftsabbruch erhalten. Daneben treten am 1. Februar 2010 ebenfalls einschlägige Regelungen des Gendiagnostikgesetzes (GenDG) in Kraft.
N
Pflichten der Ärzte
nach SchKG
Seit dem 1. Januar hat der Arzt, der
der schwangeren Frau einen auffälligen pränatalen Befund mitteilt,
gemäß § 2 a Abs. 1 SchKG folgende Pflichten: Er hat die schwangere
Frau bei Mitteilung eines auffälligen fetalen pränataldiagnostischen
Befunds in verständlicher Form und
ergebnisoffen über medizinische
und psychosoziale Aspekte und
Möglichkeiten der Unterstützung
zu beraten. Im Rahmen dieser Beratung hat er ihr Informationsmaterial
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, 2) auszuhändigen. Zur ärztlichen Beratung
sollen Kollegen hinzugezogen werden, die mit der diagnostizierten
Gesundheitsschädigung bei gebore-
nen Kindern Erfahrung haben oder
die auf die Betreuung der kindlichen Gesundheitsschädigung spezialisiert sind (zum Beispiel Pädiater oder Humangenetiker). Die
schwangere Frau ist über ihren Anspruch auf psychosoziale Beratung
nach § 2 SchKG hinzuweisen und
ihr sind mit ihrem Einverständnis
eine solche Beratung sowie Kontakt
zu Selbsthilfegruppen oder Behindertenverbänden zu vermitteln.
Den Arzt, der die schriftliche Feststellung über das Vorliegen der Voraussetzungen eines medizinisch-sozial indizierten Schwangerschaftsabbruchs zu treffen hat, hat nach
§ 2 a Abs. 2 SchKG auch unabhängig vom Vorliegen eines pränataldiagnostischen Befunds folgende
Pflichten: Er muss die schwangere
Frau über medizinische und psychische Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs beraten. Er hat sie
über ihren Anspruch auf psychosoziale Beratung zu informieren und
gegebenenfalls eine Beratung zu vermitteln. Frühestens nach Ablauf einer
dreitägigen Bedenkzeit nach Mitteilung der Diagnose oder – ohne vorangegangene PND – nach Beratung
zum Schwangerschaftsabbruch kann
der Arzt eine schriftliche Bestätigung
der Schwangeren einholen: entweder
über die ärztliche Beratung und Vermittlung weiterer Kontakte oder über
ihren Verzicht darauf (3). Danach
erst kann er bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 218 a Abs. 2 StGB
die Indikation zum Schwangerschaftsabbruch schriftlich feststellen.
Pflichten der Ärzte
nach GenDG
Das Gendiagnostikgesetz enthält
zusätzlich eigene spezielle Regelungen, die sich auf vorgeburtliche
genetische Untersuchungen, einschließlich vorgeburtlicher Risikoabklärung, beziehen. Für Ärzte bedeutet dies, dass beide Regelwerke
parallel zu beachten sind. § 15
Abs. 3 GenDG schreibt eine ärztliche Beratungspflicht vor einer vorgeburtlichen genetischen Untersu-
4
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
chung und nach Vorliegen des Ergebnisses durch eine entsprechend
qualifizierte Person vor (s. u.).
Die genetische Beratung gilt
nach dem Willen des Gesetzgebers
als eigene ärztliche Leistung. Sie ist
daher von der ärztlichen Aufklärung über die genetische Untersuchung zu trennen, die der genetischen Beratung vorgeschaltet ist und
die als Grundlage für die Ausübung
des Selbstbestimmungsrechts und
einer wirksamen Einwilligung in
die Untersuchung verstanden wird.
Im Unterschied zur ärztlichen Aufklärung geht die genetische Beratung über die Vermittlung von Informationen hinaus. Sie hat explizit
in allgemeinverständlicher Form
und ergebnisoffen zu erfolgen. In
die Beratung einzubeziehen sind
„insbesondere mögliche psychische
und soziale Fragen im Zusammenhang mit einer Vornahme oder
Nichtvornahme der genetischen
Untersuchung und ihren vorliegenden oder möglichen Untersuchungsergebnissen“ (§ 10 Abs. 3
GenDG). Möglichkeiten zur Unterstützung bei physischen und psychischen Belastungen der betroffenen Person durch die pränatale Untersuchung und ihr Ergebnis sind
ebenfalls zu berücksichtigen. Ferner bietet das GenDG die Möglichkeit, eine weitere sachverständige
Person zur Beratung hinzuzuziehen.
Für die genetische Beratung gilt
ebenso wie für die genetische Untersuchung ein Arztvorbehalt. Entsprechend der Begründung des Gesetzgebers darf jeder Arzt im jeweiligen
Fachgebiet beraten, zu dessen Ausbildungsinhalten nach der jeweiligen für ihn geltenden Weiterbildungsordnung Kenntnisse über erbliche Krankheiten gehören; bei Pränataldiagnostik ist das zum Beispiel
für Gynäkologen von Bedeutung.
Für die schwangere Frau ist die Inanspruchnahme nicht verpflichtend;
entscheidend ist, dass der Arzt ihr
ein entsprechendes Angebot macht.
Wenn der Pränataldiagnostiker,
der im Sinne des GenDG untersucht,
und der Arzt, der den Befund mitteilt,
dieselbe Person sind, müssen sowohl
die Anforderungen nach GenDG als
auch – bei Vorliegen eines pathologischen Befunds nach PND – die Vor-
5
schriften des § 2 a SchKG eingehalten werden. Wenn Untersuchung
und Befundmitteilung jedoch durch
unterschiedliche Personen durchgeführt werden, muss der untersuchende Arzt das GenDG, der mitteilende Arzt das SchKG befolgen.
Qualifizierungsanforderungen
an die Ärzte
Bereits seit dem 1. Januar stellt das
SchKG explizite Anforderungen an
den Arzt, der den pränatalen Befund mitteilt. In der Regel wird das
der Pränataldiagnostiker oder der
niedergelassene Gynäkologe sein.
Die Beratung soll ergebnisoffen,
verständlich und umfassend sein
und Probleme einbeziehen, die sich
aus dem medizinischen fetalen Befund oder aus psychischen beziehungsweise psychiatrischen Aspekten im Zusammenhang mit der pränataldiagnostischen Untersuchung
ergeben. Zu einem psychischen
Konflikt kann ein schwer belastendes Lebensereignis wie beispielsweise der Verlust der Partnerschaft
führen. Einen psychiatrischen Aspekt, der im Rahmen des Beratungsgesprächs durch den die
Diagnose mitteilenden Arzt zu berücksichtigen ist, kann eine im
Zusammenhang mit dem pränataldiagnostischen Befund entstehende
Depression darstellen. Zusätzlich
WISSENSCHAFTLICHE BEGLEITUNG
Seit dem 1. Dezember 2008 fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend das Projekt „Interdisziplinäre und
multiprofessionelle Beratung bei Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch“ an der
Forschungsstelle Ethik der Universität zu Köln.
Bundesweit wird eine zweistufige Fragebogenerhebung über die Erfahrungen mit den im
SchKG und im GenDG vorgeschriebenen Neuerungen über Aufklärung und Beratung sowie zu
den Kooperationsstrukturen seitens der Ärzte,
psychosozialen Beratungsstellen, Verbände und
Organisationen durchgeführt. Daneben wird an
ausgewählten repräsentativen Einzelstandorten
eine differenziertere und tiefergehende Erfassung der Erfahrungen von einzelnen Ärzten verschiedener Disziplinen, psychosozialen Beratungsstellen und Selbsthilfeverbänden sowie
Behindertenorganisationen mittels Interviews
stattfinden. In einem Projektbeirat werden die
durch die Neuregelungen betroffenen Gruppen
der einzelnen Akteure zusammengeführt. Der
Projektbeirat wird in die Planungsphase sowie
in die Begleitung während der Projektarbeit
einbezogen.
Zur Erreichung eines der wichtigsten Ziele
des Projekts – die Etablierung jeweils geeigneter
Kooperationsstrukturen und die Entwicklung
abgestimmter Beratungskonzepte zur interdisziplinären und multiprofessionellen Beratung bei
Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch – ist die Mitwirkung aller betroffenen Ärzte, Verbände und Gruppen außerordentlich wichtig. Auf die erste geplante Erhebungsrunde im
Frühjahr 2010 wird daher bereits jetzt hingewiesen und um tatkräftige Unterstützung gebeten.
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
ist über psychosoziale Unterstützungsangebote zu informieren.
Der Gesetzgeber sieht aufgrund
dieser neuen Anforderungen einen
Bedarf an geeigneten Fortbildungsund Qualifizierungsmaßnahmen der
Ärzteschaft, und „ergänzend sollte
die Qualität der ärztlichen Aufklärung und Beratung durch entsprechende Änderungen in den für die
Ärzteschaft geltenden Richtlinien
gesichert werden“ (Bundestagsdrucksache 16/12970, Seite 24).
Bezüglich der besonderen Qualifizierung für eine genetische Beratung nach dem GenDG (§ 7 Abs. 3
GenDG) sowie der Inhalte der
Beratung bleiben Vorgaben der
Gendiagnostik-Kommission am
Robert-Koch-Institut abzuwarten.
§ 2 a SchKG fordert eine interdisziplinäre Beratung: Zur Beratung
der schwangeren Frau sind Ärzte
hinzuzuziehen, die mit der diagnostizierten Gesundheitsschädigung bei
geborenen Kindern Erfahrung haben. Um dies gewährleisten zu können, muss die Möglichkeit einer
zeitnahen Einbeziehung von Kollegen in den konkreten Einzelfall
sichergestellt sein. Dazu wird es
zweckmäßig sein, Kooperationen
einzurichten, die die unterschiedlichen medizinischen Disziplinen abdecken und die organisatorisch so
flexibel ausgestaltet sind, dass die
Beratung zeitnah durchgeführt werden kann. In unterschiedlichen Versorgungskontexten (Krankenhaus,
Praxis, Schwerpunktpraxis) wird
dies unterschiedliche Formen annehmen, die es zum großen Teil erst
noch zu entwickeln gilt.
Multiprofessionelle
Kooperationen
Neben der Interdisziplinarität fordert § 2 a SchKG eine multiprofessionelle Beratung, die neben der
ärztlichen Beratung eine solche
durch eine psychosoziale Beratungsstelle im Sinne des § 3 SchKG sowie Kontakte zu Selbsthilfegruppen
und Behindertenverbänden umfasst.
Ziel der neuen Regelung ist es vor
allem, dass sich die psychosoziale
Beratung als selbstverständlicher Be-
Fotos: ddp
Interdisziplinäre
Kooperationen
standteil der Betreuung von schwangeren Frauen bei pränataler Diagnostik etabliert (Bundestagsdrucksache
16/12970, Seite 24). Um dieses Konzept nicht leerlaufen zu lassen, genügt es nicht, lediglich Informationsmaterial mit Kontaktadressen zu
übergeben. Dies ist nach dem Willen
des Gesetzgebers nur im Ausnahmefall zulässig (Bundestagsdrucksache
16/12970, Seite 24). Vermittlung bedeutet vielmehr zumindest die Benennung konkreter Kontaktadressen.
Idealerweise wird auch die unmittelbare Vermittlung eines Termins
durch den Arzt erfolgen, um zu ermöglichen, dass die Frau noch in
der akuten Schocksituation eine erste psychosoziale Beratung, meist im
Sinne einer Krisenintervention, in
Anspruch nehmen kann. In Modellprojekten wurde von betroffenen
Frauen eine solche – idealerweise
auch räumlich – enge Zusammenarbeit von Ärzten und psychosozialen
Beratungsstellen als besonders hilf-
reich erlebt (6). Eine wichtige Aufgabe wird es daher sein, standardmäßig Kooperationen zwischen Ärzten
und psychosozialen Beratungsstellen
einzurichten. Solche Kooperationen
setzen Kenntnis und Akzeptanz der
unterschiedlichen Beratungs- und
Arbeitsweisen von Ärzten und Beraterinnen, eine etablierte Vermittlungspraxis bei ausreichender Flexibilität der Terminvereinbarung sowie einen regelmäßigen Austausch
voraus (7), was auf der Grundlage
einer förmlichen Kooperationsvereinbarung erfolgen kann und transparente Qualifizierungsvoraussetzungen aller Beteiligten erfordert.
Die Zusammenarbeit von Ärzten
und psychosozialen Beratungsstellen wird auch der Entlastung der
betroffenen Ärzte dienen, die auf
die psychosoziale Beratung aufbauen können. Diese umfasst bestimmungsgemäß (§ 2 Abs. 2 Nrn. 5 und
7 SchKG) insbesondere Informationen über die Hilfsmöglichkeiten für
Menschen mit Behinderung und ihre Familien sowie Lösungsmöglichkeiten für psychosoziale Konflikte im Zusammenhang mit einer
Schwangerschaft (13, 14). Vor allem aber haben betroffene Frauen
bei einer psychosozialen Beratungsstelle einen unabhängigen
Raum, Ängste zu formulieren, mit
Hilfe der Beraterinnen einen Weg
zum Umgang mit der neuen Situation zu finden und sich über die eigene Position im Klaren zu werden.
Es gibt durch die vielfältigen Bemühungen in den letzten zehn Jahren (1, 6) an einigen Orten bereits
Strukturen qualifizierter psychosozialer Beratung bei Pränataldiagnostik. Ein flächendeckendes Netz
an ausreichender Qualifikation und
Kapazität existiert jedoch nicht.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2010; 107(3): A 68–70
Anschrift der Verfasserinnen
Prof. Dr. med. Christiane Woopen
Dr. iur. Anne Rummer
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Forschungsstelle Ethik
Universität zu Köln
Herderstraße 54
50931 Köln
@
Literaturverzeichnis im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0310
6
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 3, 22. Januar 2010
LITERATURVERZEICHNIS HEFT 3/2010, ZU:
PRÄNATALE DIAGNOSTIK UND SCHWANGERSCHAFTSABBRUCH
Kooperation zwischen Ärzten und
psychosozialen Beratungsstellen
Die Umsetzung der neuen gesetzlichen Vorgaben wird wissenschaftlich begleitet.
Ziel ist es, schwangere Frauen besser aufzuklären und zu beraten.
Christiane Woopen, Anne Rummer
LITERATUR
1. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Interprofessionelle Qualitätszirkel in
der Pränataldiagnostik. http://www.bzga.
de/bigpix.php?id=99b3a79c6cd327137
f318a6df18a0018&w=527&h=700.
[Stand: 02.12.2009].
2. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Informationsmaterial für Schwangere
nach einem auffälligen Befund in der Pränataldiagnostik. http://www.bzga.de/
?uid=758e89ecac60ff99bd9aa4cfde7bc7
3b&id=medien&sid=193
3. .Kentenich H, Vetter K, Diedrich K: Schwangerschaftskonfliktgesetz: Was ändert sich
für Frauen, Frauenärztinnen und Frauenärzte beim Abbruch aus medizinischer Indikation? Frauenarzt 2009: 936–44.
4. Klinkhammer G: Reform des Schwangerschaftskonfliktgesetzes: Mehr Beratung.
Deutsches Ärzteblatt 2009: A 2352–3.
7
5. Hübner M: Gesetzentwürfe und Anträge zur
Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes. Medizinrecht 2009: 390–6.
6. Rohde A, Woopen C: Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik.
Evaluation der Modellprojekte in Bonn, Düsseldorf und Essen. Deutscher Ärzteverlag,
Köln 2007.
7. Wassermann K, Rohde A: Pränataldiagnostik und psychosoziale Beratung. Aus der
Praxis für die Praxis. Schattauer, Stuttgart
20
8. Woopen C, Rummer A: Beratung im Kontext
von Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch. Pflichten der Ärzte und Ansprüche der schwangeren Frauen. Medizinrecht 2009: 130–8.
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 4, 29. Januar 2010
GENDIAGNOSTIK
Neues Gesetz, neue Pflichten
Durch das zum 1. Februar in Kraft tretende Gendiagnostikgesetz
ändern sich die Anforderungen bei genetischen Untersuchungen.
„Aufgepasst“ heißt es jetzt besonders für niedergelassene Ärztinnen
und Ärzte, die Gentests ins Labor schicken.
ach einem siebenjährigen
Dauerstreit tritt es zum 1.
Februar in Kraft: das Gesetz über
genetische Untersuchungen bei
Menschen (Gendiagnostikgesetz).
Doch die im vergangenen Frühjahr
mühsam verabschiedeten Regelungen sorgen bereits wieder für Diskussionen.
„Einige Definitionen im Gesetzestext sind unglücklich gewählt
und könnten zu vermehrter Unsicherheit unter Ärztinnen und Ärzten führen“, erklärt Prof. Dr. med.
Peter Propping, Humangenetiker an
der Universität Bonn, dem Deutschen Ärzteblatt. „Untersuchungen
auf der Ebene der Genprodukte
werden vom Gesetz als genetische
Untersuchungen definiert, weil sie
genetische Eigenschaften erfassen.
Hier gibt es Klarstellungsbedarf.“
Nicht nur Humangenetiker sind
von dem neuen Gesetz und damit
den neuen Pflichten betroffen. Besonders gut sollten sich auch niedergelassene Pädiater, Gynäkologen, Internisten und Neurologen
mit ihm vertraut machen. Denn ab
Februar gilt: Ärztinnen und Ärzte,
die eine genetische Untersuchung
veranlassen (und nicht diejenigen,
die sie im Auftrag durchführen),
sind verpflichtet, ihre Patienten aufzuklären und eine schriftliche Einverständniserklärung zur Untersuchung einzuholen.
N
Aufklärungspflicht obliegt
dem verantwortlichen Arzt
Verantwortlich für eine genetische
Untersuchung ist dem neuen Gesetz
zufolge eindeutig der Arzt, der die
Indikation stellt und die genetische
Analyse an ein Labor delegiert. Er
ist auch verpflichtet, den Patienten
über Zweck, Art, Umfang, Aussagekraft und Konsequenzen der Un-
tersuchung – auch bezüglich einer
möglichen psychischen Belastung
durch die Befunde – sowie Risiken
aus der Probengewinnung aufzuklären. Gleichzeitig muss er ihn
über das Recht auf Widerruf der
Einwilligung sowie über das Recht
auf Nichtwissen und das Angebot
einer genetischen Beratung nach
Vorliegen des Ergebnisses in
Kenntnis setzen. Zudem darf er
nicht vergessen, den Inhalt der Aufklärung zu dokumentieren. „Eine
schriftliche Einwilligung zur genetischen Untersuchung durch die
untersuchte Person ist immer erforderlich“, erklärt Prof. Dr. med.
Manfred Stuhrmann-Spangenberg,
Humangenetiker an der Medizinischen Hochschule Hannover. Diese Einwilligung müsse auch gegenüber dem beauftragten Labor nachgewiesen werden. Zudem müssten
auch die Einwilligungen zur Probenaufbewahrung sowie zur Weitergabe der Untersuchungsergebnisse an Dritte (beispielsweise an
den Hausarzt) schriftlich durch den
Patienten erfolgen. „Wir hoffen
nicht, dass Ärzte eine eigentlich
indizierte genetische Untersuchung nicht veranlassen, nur weil
sie den Aufwand als verantwortlicher Arzt scheuen“, sagt Stuhrmann-Spangenberg.
Ferner darf dem Gesetz zufolge
das beauftragte Labor das Ergebnis
einer genetischen Untersuchung
ausschließlich dem verantwortlichen Arzt mitteilen. Dieser wiederum darf es künftig auch nur an die
betroffene Person weitergeben. Zudem muss er es mindestens zehn
Jahre lang aufbewahren oder auf
Verlangen des Patienten vernichten.
Generell beschränkt das Gendiagnostikgesetz vorgeburtliche genetische Untersuchungen auf medizi-
nische Zwecke. Eine Schwangere
kann keinen Gentest in Auftrag geben, um lediglich das Geschlecht
ihres Kindes bestimmen zu lassen.
Stellt der Arzt bei einem aus medizinischen Gründen vorgenommenen Test allerdings das Geschlecht
fest, kann er es auf Wunsch nach
Ablauf der zwölften Schwangerschaftswoche mitteilen.
Neu: Genetische Beratung
erfordert formale Qualifikation
Zu beachten ist ferner: Bei jeder
prädiktiven Untersuchung ist jetzt
eine genetische Beratung vor und
nach der Untersuchung gesetzlich
vorgeschrieben, die zudem schriftlich dokumentiert werden muss.
Diese Verpflichtung wirft aber ein
neues Problem auf: „Jede vorgeburtliche genetische Untersuchung
löst damit die Pflicht zu einer vorhergehenden genetischen Beratung
aus. Deren Durchführung setzt eine
Qualifikation voraus, deren Umfang und Inhalt von der beim
Robert-Koch-Institut angesiedelten
Gendiagnostikkommission erst noch
definiert werden muss“, erläutert
Propping, ein von der Bundesärztekammer gesandter ständiger
Gast bei der Kommission. Allerdings werde diese Aufgabe nicht so
leicht zu lösen sein, da dazu die
Weiterbildungsordnung geändert
werden müsse, gibt der Humangenetiker zu bedenken. Nach seiner Ansicht könnte eine Zusatzweiterbildung angeboten werden,
die die Ärztinnen und Ärzte autorisiert, genetische Beratungen in ihrem jeweiligen Fachgebiet vorzunehmen. Für diese Umstrukturierung bleiben der Kommission und
der Bundesärztekammer gerade
einmal zwei Jahre Zeit, denn dem
Gesetz zufolge muss die formale
Qualifikation ab 1. Februar 2012
vorliegen.
Stuhrmann-Spangenberg und
Propping sehen aber auch noch
weiteren Diskussionsbedarf. So
muss nach dem Gesetz das
Untersuchungsmaterial nach Abschluss der Untersuchung vernichtet werden, sofern der Patient nicht
bestimmt hat, dass das Material
aufbewahrt werden soll. „Eine Aufbewahrung ist aber aus vielen
8
Foto: vario images
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
GENETISCHE UNTERSUCHUNGEN
Gründen sinnvoll“, meint Stuhrmann-Spangenberg. Sie könne beispielsweise den Patienten später die
Möglichkeit eröffnen, dem Verdacht einer Fehldiagnose nachzugehen. „In vielen Fällen lassen sich sichere Aussagen über Erkrankungsrisiken von Nachkommen oder anderen Familienmitgliedern nur treffen, wenn Untersuchungsmaterial
der Indexpatienten zur Verfügung
steht“, erläutert der Humangenetiker. Sei der Indexpatient aber verstorben und das Untersuchungsmaterial dieses Patienten verworfen,
könne den Nachkommen oder Familienmitgliedern eventuell keine
sichere Aussage über deren Erkrankungswahrscheinlichkeit gemacht
werden. „Dieses Problem muss den
Patienten in der Aufklärung erläutert werden. Den meisten aufklärenden Ärzten dürfte diese humangenetische Sichtweise allerdings weniger vertraut sein.“
Arztvorbehalt: gut gemeint,
aber auch problematisch
In der täglichen Praxis problematisch könnte sich künftig auch der
im Gesetz festgeschriebene Arztvorbehalt gestalten. Auf den Vorschlag des Bundesrats, diesen einzuschränken, war die Regierung im
Gesetzgebungsprozess vor einem
Jahr nicht eingegangen. Nun sind
sowohl genetische Reihenuntersuchungen, die auf einen gesundheitlichen Nutzen für die Patienten
9
Diagnostisch:
● genetische Untersuchung mit dem Ziel der Ab-
Prädiktiv:
● genetische Untersuchung mit dem Ziel
klärung einer bereits bestehenden Erkrankung
● Abklärung von genetischen Suszeptibilitäts●
●
●
faktoren bei multifaktoriellen Erkrankungen
(auch wenn eine solche noch nicht besteht)
pharmakogenetische Untersuchung
Untersuchung auf genetisch bedingte Krankheitsresistenz
Arztvorbehalt
abzielen, als auch beispielsweise
das Neugeborenenscreening ausschließlich Ärztinnen und Ärzten
vorbehalten. „Prinzipiell ist der
Arztvorbehalt begrüßenswert“, betont Stuhrmann-Spangenberg. Durch
ihn könne möglicher Wildwuchs
gendiagnostischer Maßnahmen, zum
Beispiel durch Angebote im Internet, in Apotheken oder im Supermarkt eingedämmt werden. Für
problematisch hält ihn der Humangenetiker jedoch im Bereich des
Neugeborenenscreenings, da dort
die Aufklärung und Blutentnahme
häufig durch Hebammen durchgeführt wird. „Auch wenn hier eine Vorverlagerung der ärztlichen
Aufklärung zum Frauenarzt eine
denkbare Alternative darstellt, ist
es durchaus möglich, dass die
Teilnahmerate am Neugeborenenscreening sinkt“, befürchtet er.
Dies könne keinesfalls im Sinne
des Gesetzes sein.
Künftig verboten sind durch das
Gesetz auch vorgeburtliche Unter-
●
●
der Abklärung einer erst künftigen
Erkrankung
genetische Untersuchung mit dem Ziel der
Abklärung der Anlageträgerschaft für Erkrankungen bei Nachkommen
Facharztvorbehalt (Qualifikation auf der Basis
der Weiterbildungsordnung für Ärzte)
suchungen auf Erkrankungen, die
erst im Erwachsenenalter auftreten
können. Ferner sind Untersuchungen, die zwar keine Gentests sind,
jedoch ebenfalls Rückschlüsse auf
genetische Erkrankungen zulassen,
den Gentests gleichgestellt. Erlauben sie eine Voraussage über die
Gesundheit des ungeborenen Kindes, ist ebenfalls eine Beratung vorgeschrieben. Gleichfalls verbietet
das Gesetz ab sofort heimliche Vaterschaftstests: Männer, die ihre
Vaterschaft überprüfen, oder Mütter, die sich wegen verschiedener
Sexualpartner Klarheit über den
Vater ihres Kindes verschaffen wollen, müssen vor dem Test die Zustimmung des jeweils anderen potenziellen Elternteils einholen. Zuwiderhandlungen werden mit bis zu
5 000 Euro bestraft. Ein vorgeburtlicher Vaterschaftstest kommt nur
bei einer Schwangerschaft nach sexuellem Missbrauch oder einer Ver▄
gewaltigung infrage.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 5, 5. Februar 2010
PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
Ein Fall für die Gerichte
Foto: Medical Picture
Vor zehn Jahren löste ein Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer die Debatte über die Einführung des genetischen
Untersuchungsverfahrens aus. Demnächst beschäftigt sich der
Bundesgerichtshof mit der Thematik.
er Bundesgerichtshof (BGH)
wird auf die Selbstanzeige
eines Arztes hin überprüfen, ob die
genetische Untersuchung und Aussonderung „schadhafter“ Embryonen bei einer künstlichen Befruchtung strafbar sind. Das teilte die
Bundesanwaltschaft Mitte Dezember 2009 in Karlsruhe mit. Demnach müsse der in Leipzig ansässige 5. Strafsenat des BGH grundsätzlich entscheiden, ob die Präimplantationsdiagnostik (PID) eine
„strafbare Selektion menschlichen
Lebens“ sei, sagte der für das Verfahren zuständige Bundesanwalt
Gerhard Altvater. Die Vorinstanzen
sind bisher genauso gespalten wie
Ärzteschaft und Politik.
Der Angeklagte, der als Frauenarzt eine „Kinderwunschpraxis“ in
Berlin betreibt, behandelte von De-
D
zember 2005 bis Mai 2006 drei Patientinnen, bei denen er jeweils acht
extrakorporal befruchtete Eizellen
im Blastozystenstadium präimplantationsdiagnostisch untersuchte. An
vier Eizellen stellte er gravierende
genetische Defekte fest. „Nachdem
er seine Patientinnen über das Untersuchungsergebnis informiert hatte, lehnten diese die Überführung
der genetisch auffälligen Embryonen in die Gebärmutter ab. Diese
seien daraufhin nicht weiter bebrütet worden, abgestorben und letztlich verworfen worden,“ schrieb
das Landgericht Berlin.
Ein Strafsenat des Berliner Kammergerichts bejahte am 9. Oktober
2008 den Tatverdacht gegen den
Arzt. Nach dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) sei das Verwenden
eines Embryos verboten, und dazu
gehöre auch seine Vernichtung:
„Verwenden im Sinne der Vorschrift
(§ 2 Abs. 1 ESchG) bedeutet weiter
nichts, als mit dem Embryo etwas in
einer Absicht tun, die nicht seiner
Erhaltung dient. Demgemäß fällt unter anderem das zur Tötung des Embryos führende Wegschütten darunter“, heißt es in der Begründung.
Eine große Strafkammer des
Landgerichts Berlin entschied dagegen, dass der Arzt nicht gegen die
Normen des Embryonenschutzgesetzes verstoßen habe: „Weder verbiete der Wortlaut des Gesetzes die
Präimplantationsdiagnostik noch ergebe sich ein Verbot der Handlungen des Arztes aus dessen Auslegung. Aus den Gesetzesmaterialien
gehe vielmehr klar hervor, dass der
Gesetzgeber im Jahre 1991 ein Verbot der Zucht von Embryonen zu
reinen Forschungszwecken beabsichtigte, nicht aber eine ,Selektion
wegen erheblicher schwerster Schäden‘.“ Die Berliner Staatsanwaltschaft legte dagegen Revision beim
BGH ein. Der Rechtsstreit zeigt,
dass auch nach zehnjähriger Diskussion über diese Thematik ein Ende
der Debatte nicht abzusehen ist.
Zur Vorgeschichte: In Heft
9/2000 des Deutschen Ärzteblattes
hatte die Bundesärztekammer
(BÄK) einen „Diskussionsentwurf
zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorgelegt. Damit
beabsichtigte die BÄK, „einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen
Diskussion auf diesem so schwierigen und sensiblen Gebiet der
Fortpflanzungsmedizin zu leisten“.
Nach dem Richtlinienentwurf sollte
die PID restriktiv eingesetzt werden
– nur bei wenigen Paaren mit hohem genetischem Risikofaktor nach
einem komplizierten Genehmigungsverfahren. Der damalige Chefredakteur des Deutschen Ärzteblattes, Norbert Jachertz, nahm bereits
im selben Heft Stellung zu dieser
Thematik: „Wenn mit PID die
Grenze zur Selektion ungeborenen
Lebens überschritten wird – und
das wird sie, man mag noch so verhüllende Bezeichnungen wählen –,
dann wird die Entwicklung von den
wohlwollenden, wohlmeinenden Wissenschaftlern und Ärzten nicht
mehr zu steuern sein.“
10
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Die Politik beschäftigte sich inzwischen ebenfalls mit der Frage,
ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar sei und falls
nicht, ob man sie dann in engen
Grenzen zulassen solle. Die mehrheitliche Meinung war, dass in
Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes die PID unzulässig sei. Dennoch forderte die damalige Bundesgesundheitsministerin,
Andrea Fischer, dass die PID in einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz explizit verboten werden
sollte. Eine andere Auffassung vertrat Ministerialrat a. D. Dr. jur. Rudolf Neidert (Heft 51–52/2000). Er
bedauerte, dass die intensive Kontroverse, „die sich vor allem im
Deutschen Ärzteblatt niedergeschlagen hat, leider noch das Trennende stärker als das Verbindende
zeigt“. Das Embryonenschutzgesetz
gelte nur für die wenigsten Embryonen, die in vitro gezeugten nämlich
– und für diese nur von der Befruchtung bis zur Nidation. „In derselben
Entwicklungsphase genießen die
natürlich gezeugten Embryonen
keinerlei Lebensschutz, weshalb nidationshemmende Mittel straflos
vertrieben und angewendet werden
dürfen“, schrieb Neidert. Er hielt es
deshalb für richtig, dass eine rechtliche Regelung dieser Diagnostik
von einer engen genetischen Indikation ausgehen solle, so wie es der
Wissenschaftliche Beirat der Bun-
EMBRYONENSCHUTZGESETZ
§ 1 Missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle überträgt, 2. es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als
eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der
die Eizelle stammt, (. . .)
§ 2 Missbräuchliche Verwendung menschlicher
Embryonen
(1) Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor
Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem
nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt, erwirbt
oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
oder mit Geldstrafe bestraft (. . .)
11
desärztekammer vorgeschlagen habe. Im Jahr 2002 legte die Enquetekommission des Bundestages
„Recht und Ethik der modernen
Medizin“ Empfehlungen vor, in
denen sich eine Mehrheit der
Kommissionsmitglieder dafür aussprach, „die PID in Deutschland
nicht zuzulassen und das im ESchG
enthaltene Verbot der In-vitro-Fertilisation zu diagnostischen Zwecken
ausdrücklich im Hinblick auf die
PID zu präzisieren“. Der Nationale
Ethikrat plädierte ein Jahr später
dagegen mehrheitlich für eine „eng
begrenzte Zulassung der PID“.
Gewebespender für
ein Geschwisterkind
Inzwischen geht es bei der PID
nicht mehr nur darum, genetische
Schäden festzustellen, sondern es
gibt international auch mehrere Fälle, wo ein Kind nur deshalb in vitro
gezeugt wurde, um als Gewebespender für ein Geschwisterkind zu
dienen. Im März 2003 ist nach Angaben des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften in Großbritannien das erste Rettergeschwisterkind geboren
worden. Es sollte seinem kranken
Bruder das Leben retten, der dringend Blutstammzellen benötigte.
Die Eltern hatten die PID damals
noch in den USA vornehmen lassen, um rechtliche Probleme in ihrem Heimatland zu umzugehen. Inzwischen hat Großbritannien die
Bestimmungen diesbezüglich gelockert. Auch in anderen Ländern ist
die PID zur Auswahl von Rettergeschwistern zulässig.
Im Dezember 2008 ist in Großbritannien nach Angaben des University College London erstmals
ein Säugling zur Welt gekommen,
der bereits kurz nach der Befruchtung auf ein krank machendes
Brustkrebsgen untersucht wurde.
Die Eltern hatten sich für eine
künstliche Befruchtung und eine
anschließende PID entschieden,
nachdem in der Familie des Vaters
in den vorherigen drei Generationen Brustkrebs aufgetreten war. Die
Ärzte hatten elf Embryonen im
Reagenzglas erzeugt. Drei Tage
nach der Befruchtung untersuchten
sie diese auf das Risikogen
BRCA1. Sechs der Embryonen trugen das krank machende Brustkrebsgen und wurden „aussortiert“,
zwei ohne das gefährliche Gen wurden in die Gebärmutter verpflanzt,
von denen sich jedoch nur ein Embryo einnistete.
Nicht nur in Spanien und Großbritannien, sondern auch in zahlreichen weiteren Ländern ist die
Präimplantationsdiagnostik inzwischen weitgehend zulässig, was zu
einem zunehmenden PID-Tourismus führte. Jährlich wählen mehrere Hundert europäische Paare mit
Kinderwunsch für eine Präimplantationsdiagnostik den Weg in benachbarte Länder. Die Zielländer
für ausländische Wunscheltern, die
eine PID durchführen lassen möchten, sind vor allem Spanien (zehn
Zentren) und Belgien (sechs Zentren), wie aus einer vor kurzem vorgelegten Expertise von Pro-Familia
hervorgeht.
Mögliche Änderung des
Embryonenschutzgesetzes
Reproduktionsmediziner halten dies
für einen unhaltbaren Zustand ebenso wie die Tatsache, dass zurzeit
Gerichte darüber entscheiden, in
welchem Maß genetische Untersuchungen von Embryonen erlaubt
sind: „Die Deutsche Gesellschaft
für gynäkologische Endokrinologie
und Fortpflanzungsmedizin begrüßt
die Klarstellung der Rechtsverhältnisse. Gleichzeitig ist zu kritisieren,
dass es dem Gesetzgeber bis zum
heutigen Zeitpunkt nicht gelungen
ist, in einem umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetz die vielen
offenen Fragen auf dem Gebiet der
Fortpflanzungsmedizin zu regeln, so
dass es jetzt Gerichtsverfahren und
Selbstanzeigen obliegt, diesbezügliche Klarheit zu schaffen.“ Sollte
sich das Berliner Landgerichtsurteil
vor dem BGH durchsetzen, wird
sich auch die Politik wieder mit
dieser Thematik auseinandersetzen
müssen. Und damit würde eine Änderung des bisher geltenden Embryonenschutzgesetzes vermutlich
▄
unausweichlich werden.
Gisela Klinkhammer
@
Ein Kommentar zu dieser Thematik
unter www.aerzteblatt.de/blogs/
gratwanderung
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 8, 26. Februar 2010
INTERVIEW
mit Hubert Hüppe, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
Berührungspunkte statt Berührungsangst
Seit dem 1. Januar 2010 ist Hubert Hüppe der neue Bundesbehindertenbeauftragte.
Was er sich für seine Amtszeit vorgenommen hat, erzählt er hier.
Herr Hüppe, die letzten 18 Jahre waren
Sie Bundestagsabgeordneter, davon
acht Jahre Behindertenbeauftragter
der CDU/CSU-Fraktion. In dieser Legislaturperiode gehören Sie zwar nicht
mehr dem Bundestag an, sind jedoch
zum Bundesbehindertenbeauftragten
ernannt worden. Was bedeutet das Amt
für Sie?
Hüppe: Natürlich habe ich mich
sehr über die Ernennung gefreut,
denn sie gibt mir die Möglichkeit
fortzusetzen, was ich in den Jahren
als Behindertenbeauftragter der
Fraktion begonnen habe. Dabei geht
es nicht darum, dass Menschen mit
Hubert Hüppe, CDU, ist verheiratet
und hat drei Kinder, von denen
der jüngste Sohn mit Spina bifida
geboren wurde.
Behinderungen jemanden benötigten, der für sie spricht. Sie sind gut
organisiert und kennen ihre eigenen
Belange selbst am besten. Durch
die Anbindung an Regierung und
Parlament sehe ich das Amt aber als
Möglichkeit, den berechtigten Interessen politische und öffentliche
Aufmerksamkeit zu geben. Ich mache mir natürlich Gedanken, ob ich
der Verantwortung und den Erwartungen gerecht werden kann, die an
meine Person geknüpft sind. Viele
Behindertenverbände und Einzelpersonen haben es sehr unterstützt,
dass ich diese Position erhalten
konnte. Wie ich immer sage:
Ich kann nicht über das Wasser
gehen, aber ich werde mein Möglichstes tun.
Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Hüppe: Ich will mehr gemeinsame
Lebensräume für Menschen mit
und ohne Behinderung schaffen: in
der Schule, im Kindergarten, in der
Arbeitswelt – also das, was der Begriff „Inklusion“ meint. Leider ist
mein Einfluss auf landespolitische
Zuständigkeiten wie beim Thema
Schule gering. Aber seit in
Deutschland die UN-Konvention
für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen gilt, haben wir anerkannt, dass Teilhabe ein Menschenrecht ist. Dies werde ich anmahnen und auch von den Ländern
einfordern. Meine Mitwirkung bei
der Umsetzung der Konvention
wird meine wichtigste Aufgabe
sein. Dazu werde ich die Aufgabe
des „Koordinierungsmechanismus“
übernehmen. Das bedeutet, dass ich
bei der Umsetzung vor allem die
Betroffenen beteilige, weil sie ihre
Probleme am besten kennen und oft
auch die Lösungen wissen. Gleichzeitig will ich auch andere gesellschaftliche Gruppen und die Länderbeauftragten einbeziehen. Die
Bundesregierung wird für den Bund
einen Aktionsplan erstellen.
Wann ist mit dem Plan zu rechnen?
Hüppe: Mit den Vorbereitungen wurde schon begonnen. Ich rechne damit,
dass er Ende des Jahres erstellt ist.
Ihre Vorgängerin im Amt, Karin EversMeyer, SPD, hatte ähnliche Arbeitsschwerpunkte. Werden Sie auch noch
andere Prioritäten setzen?
12
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Hüppe: Anders als meine Vorgänger
halte ich die bioethische Diskussion
für sehr wichtig. Ich glaube, dass es
gut ist, auch in diesem Amt darauf zu
achten. Ein weiterer Schwerpunkt
für mich ist der Bereich Gesundheit
und Rehabilitation. Ich will versuchen, die Leistungen für Menschen
mit Behinderung auf ihre Zuständigkeit hin zu durchforsten. Denn es
gibt eine ganze Menge Ansprüche,
die Menschen mit Behinderung laut
Gesetz haben, die diese aber nicht
erhalten, weil Kranken-, Pflege-,
Rentenkassen und andere Träger die
Verantwortung den jeweils anderen
zuschieben.
sogar wenn sie außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wären.
Für behinderte Kinder gibt es ja das
Recht, die Regelschule zu besuchen.
Hat sich das in Deutschland bereits
durchgesetzt? Oder ist es für behinderte Schüler und deren Eltern immer
noch sehr schwer, auf eine Regelschule
zu gelangen?
nen, wissen nicht, was sie machen
sollen. Und weil sie das nicht wissen, gehen sie den Situationen –
und damit den Menschen – oft aus
dem Wege. Dabei verpassen wir alle etwas.
Sie haben selbst einen behinderten
Sohn. Haben Sie auch diese Probleme?
Glauben Sie, dass die pränatale Diagnostik einen Einfluss auf das Bild der
Behinderten in unserer Gesellschaft
hat?
Könnte es nach Ihrer Ansicht auch
sein, dass das Embryonenschutzgesetz
noch einmal auf den Prüfstand kommt,
wenn es um das Thema Präimplantationsdiagnostik geht?
Hüppe: Ja, aber ich will das
nicht heraufbeschwören. Die CDU
hat sich beim Bundesparteitagsbeschluss fast einmütig gegen die PID
ausgesprochen, und ich hoffe, dass
nicht ausgerechnet unter einer
christlich-demokratisch geführten
Regierung das Embryonenschutzgesetz angefasst wird. Das würde
niemand verstehen.
Thema Spätabtreibungen: Die Bedenkzeit wurde eingeführt. Können Sie sich
damit zufriedengeben?
Hüppe: Natürlich freue ich mich,
dass jetzt mehr beraten wird. Man
muss aber darauf achten, dass Behinderten- und Angehörigenverbände an der unabhängigen Beratung
teilnehmen. Denn es ist für unsichere Eltern wichtig zu wissen, wie
man mit einem behinderten Kind
lebt. Enttäuscht war ich, dass die
Statistikpflicht im Parlament abgelehnt wurde. Zufrieden kann ich
nicht sein, solange in Deutschland
ungeborene Kinder immer noch bis
zur Geburt getötet werden dürfen,
13
„Ich
will mehr gemeinsame Lebensräume für Menschen
mit und ohne Behinderung schaffen –
in der Schule, im Kindergarten, in der Arbeitswelt.
“
Hüppe: Das Problem in Deutschland ist, dass Menschen mit Behinderungen, solange sie den für sie
vorgesehenen Sonderweg gehen,
kein Stein in den Weg gelegt wird.
Falls sie aber Teilhabe wollen, wird
es schwierig. Ich nenne ein Beispiel
aus Westfalen: Wenn Sie dort Ihr
behindertes Kind in einen heilpädagogischen Kindergarten geben,
dann wird es zu Hause abgeholt und
wieder heimgebracht, und Sie zahlen keinen Beitrag. Wenn dasselbe
Kind aber in den integrierten Kindergarten geht, dann zahlen Sie den
Kindergartenbeitrag, obwohl die
erste Variante viel teurer ist. Das ist
völlig gegen das, was die UN-Konvention will. Nämlich, dass Kinder
mit und ohne Behinderungen von
klein auf den Umgang miteinander
lernen. Viele unbehinderte Menschen fühlen sich unsicher, wenn
sie behinderten Menschen begeg-
Hüppe: Wir waren die Ersten, die
in unserer Stadt an der Grundschule
eine Integrationsklasse mit gemeinsamem Unterricht durchgesetzt haben, und die Ersten, die ein behindertes Kind an der fortführenden
Hauptschule hatten.
Sie sagen „durchgesetzt“: Was war
denn nötig, um den gemeinsamen
Unterricht zu erreichen?
Hüppe: Zuerst mussten wir einmal
eine Schule finden, die bereit war,
ein behindertes Kind aufzunehmen.
Viele Schulen haben sich geweigert
und fadenscheinige Gründe vorgebracht, warum es nicht geht. Letztendlich war es die städtische Schule, die dann zugestimmt hat.
Welche Vorkehrungen sind nötig, um
solche Kämpfe künftig zu vermeiden?
Hüppe: Die Zahl behinderter Kinder im gemeinsamen Unterricht ist
Fotos: Georg J. Lopata
Hüppe: Ja, natürlich! Kinder mit
Behinderungen gelten als „vermeidbar“, wenn sie geboren werden
sogar juristisch als Schaden.
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Ich wünsche mir konkrete Zahlen und Termine. Jedes
Bundesland soll sagen: „Wir haben
jetzt zehn Prozent, aber wir wollen
20, 30 oder 40 Prozent der Kinder
inklusiv unterrichten.“ Das ist der
richtige Weg. Ein jetzt vorgelegtes
Gutachten gibt grundsätzlich jedem
Kind mit Behinderung einen Anspruch. Andere europäische Länder
liegen bei 80 Prozent.
die sich auf behinderte Personen
einstellen, deswegen bestraft werden. Hier sind die Kassenärztlichen
Vereinigungen gefordert, mit denen
ich noch vor der Sommerpause darüber reden möchte. Zudem werde
ich demnächst mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss über Heilund Hilfsmittel für Menschen mit
Behinderungen sprechen.
Seit Juli letzten Jahres gibt es das
Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit. Können dort nicht Lösungsansätze
gefunden werden?
Weiß man auch, wie viele der behinderten Kinder durchschnittlich bereits
jetzt auf Regelschulen gehen?
Hüppe: Man schätzt 14 Prozent.
Wir haben übrigens erstaunlicherweise zusätzlich eine Zunahme von
Kindern in Förderschulen. Es ist
auffällig, dass darunter immer mehr
Kinder mit Migrationshintergrund
sind. Da stellt sich die Frage, ob sie
wirklich behindert oder vielleicht
nur aus dem System rausgedrückt
worden sind. Man muss aufpassen,
dass man Kinder nicht als „behindert“ definiert, nur weil sie in der
Schule sozial auffällig werden. Wir
sollten in allen Bereichen, wie Berufsleben, Bildung, Kindergarten,
schauen, was die Menschen können
– und nicht nur danach, was sie
nicht können.
Wird es in der Situation der Wirtschaftskrise schwieriger, für behinderte Menschen einen Arbeitsplatz
zu finden?
Hüppe: Natürlich wird es dadurch
nicht einfacher. Es gibt für Menschen mit Behinderung ganz viele
verschiedene – zum Teil auch teure
– Maßnahmen, Programme und
Einrichtungen. So viele, dass auch
der Sachbearbeiter beim Jobcenter
kaum durchblickt. Auch hier wünsche ich mir einfachere Wege. Dazu
gehört ein Budget für Arbeit für
Menschen, für die heute ausschließlich eine Werkstatt für behinderte
Menschen infrage käme. Ich bin sicher, dass es uns damit gelingt,
mehr Menschen mit Behinderung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
zu vermitteln. Ich könnte mir auch
eine Art Kombilohn für schwerbehinderte Menschen vorstellen. Man
braucht manchmal nur mehr Fantasie. Vor allem gilt: Schaut, was die
„Die
Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention
wird im Mittelpunkt meines
neuen Amtes stehen.
“
Menschen können, und nicht, was
sie nicht können.
In der UN-Konvention heißt es, dass behinderte Menschen die medizinische
Versorgung erhalten sollten, die sie
aufgrund ihrer Behinderung benötigen.
Der letzte Deutsche Ärztetag hat festgestellt, dass das leider nicht immer
der Fall ist. Wie wollen Sie das ändern?
Hüppe: In Australien ist das DRGSystem entwickelt worden; dort hat
man aber Menschen mit besonderen
Bedürfnissen zu einem gewissen
Prozentsatz von der Berechnung
ausgenommen. Die Deutschen sind
hingegen immer besonders konsequent und meinen, mit Fallpauschalen alles abdecken zu müssen.
Wenn dann Menschen tatsächlich
besondere Bedürfnisse haben, die
einen entsprechenden Einsatz erfordern, sehen sich manche Krankenhäuser nicht in der Lage, das leisten
zu können. Deshalb müssen wir fragen: „Kann das DRG-System tatsächlich für alle gelten?“ Das zweite Problem ist der ambulante Bereich. Da hoffe ich auf die Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Denn bislang kann man
ja gar keinem niedergelassenen
Arzt guten Gewissens empfehlen,
mit Barrierefreiheit zu werben.
Denn dann riskiert er sein Budget.
Es darf nicht sein, dass diejenigen,
Hüppe: Wenn wir für alle gesellschaftliche Teilhabe wollen, ist Barrierefreiheit nicht nur im Gesundheitsbereich eine ganz wichtige
Voraussetzung. Beim Stichwort
„Barrierefreiheit“ denken die meisten Menschen nur an Rollstuhlfahrer. Aber es geht um viel mehr: beispielsweise die einfache Sprache
für sogenannte geistig behinderte
Menschen oder um blinde oder gehörlose Menschen, auch um kleinwüchsige Menschen. Barrierefreiheit, auch für ältere Menschen, wird
immer wichtiger. Das Kompetenzzentrum ist dabei ein wichtiger
Partner, vor allem weil dort die Betroffenen mitarbeiten.
Wo sind die Hauptprobleme für behinderte Menschen?
Hüppe: Neben den Barrieren –
auch denen im Kopf – die Arbeitslosigkeit, der Antrags- und Zuständigkeitswirrwarr und oft das Gefühl, als „Behinderter“ und nicht als
Mensch gesehen zu werden.
Wie wird das persönliche Budget in
Anspruch genommen?
Hüppe: Obwohl es seit zwei Jahren
darauf einen Rechtsanspruch gibt,
leider viel zu selten. Bei der Pflegeversicherung dagegen wird die
Geldleistung viel häufiger in Anspruch genommen als die Sachleistung. Bei der Hilfe für behinderte
Menschen ist es genau anders herum. Neben den Vorbehalten der Betroffenen und der Leistungsträger
und dem geringen Bekanntheitsgrad
scheint vor allem der Bürokratieaufwand abschreckend zu wirken. ▄
Das Interview führten Gisela Klinkhammer
und Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann.
14
Foto: epd
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 10, 12. März 2010
EMBRYONENFORSCHUNG
Über den Umgang mit menschlichem Leben
In Deutschland und Großbritannien wird die Zulassung der Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen unterschiedlich geregelt. Vor allem bezogen auf den Menschenwürde-Begriff ergeben
sich tiefgreifende Unterschiede.
Sibylle Rolf
ur Frage nach der ethischen
Zulässigkeit der Forschung an
Embryonen zum Zweck der Gewinnung von humanen embryonalen
Stammzellen (hES-Zellen) ist in
den vergangenen Jahren viel veröffentlicht worden (1–3). In Europa
wird diese Frage unterschiedlich
gehandhabt, was sich an der Gesetzgebung in Großbritannien und
Deutschland exemplarisch zeigen
lässt (4): Während auch nach der
Novellierung des Stammzellgesetzes (StZG) im Jahr 2008 die deutsche Gesetzgebung nur einen Import von hES-Zelllinien erlaubt,
die vor dem 1. Mai 2007 im Ausland erzeugt worden sind, gestattet
das britische Human Fertilisation
and Embryology Act (HFE Act
1990/2008) die Erzeugung von
menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken sowohl durch Invitro-Fertilisation (IVF) als auch
durch Zellkerntransfer, also durch
Klonierung und die Bildung von
zytoplasmischen Hybriden (5), wie
es im April 2008 von einer Forschergruppe in Newcastle erstmals
durchgeführt worden ist (6).
Bezogen auf den Begriff der
Menschenwürde ergeben sich bereits auf den ersten Blick tiefgreifende Unterschiede in britischer und
deutscher Gesetzgebung: Das deutsche Stammzellgesetz (StZG, 2002/
2008) verbietet unter ausdrücklicher Berufung auf den im Grundge-
Z
15
setz (GG) festgeschriebenen Menschenwürde-Begriff (Art. 1 Abs. 1
GG) eine Forschung an menschlichen Embryonen, während im britischen HFE Act der Menschenwürde-Begriff (human dignity) nicht
rezipiert wird. Dieser unterschiedlichen legislativen Entscheidung ist
ein Diskussionsprozess vorausgegangen, der durchaus vergleichbar
gewesen ist: Die Regierungen beider Länder waren der Forschung gegenüber aufgeschlossen, die sich
nach der weltweit ersten erfolgreichen IVF in England (1978) eröffnet
hatte. Parlamentarier in beiden Ländern waren demgegenüber tendenziell gegen eine Forschung an
menschlichen Embryonen. Dabei
ist während der ethischen Diskussionen im Vorfeld der Gesetzgebung
vor allem mit dem Argument operiert worden, eine Forschung an
menschlichen Wesen oder auch „ungeborenen Kindern“ (unborn children) sei moralisch nicht akzeptabel.
Beginn des Menschseins
Zumindest implizit, häufig aber
auch explizit ist damit auf den Menschenwürde-Begriff als eine normative Größe rekurriert worden, der
als solche eine Forschung an Menschen verbiete, weil diese gegen
den im Menschsein liegenden unbedingten Anspruch verstoße.
In der britischen Debatte hat sich
die Stimmung zugunsten der For-
schung vor allem aufgrund von
zwei Faktoren gewendet (8): zum
einen aufgrund der Hoffnung, die
Forschung an menschlichen Embryonen könne langfristig zur Entwicklung von Therapien gegen degenerative Erkrankungen führen
sowie dazu beitragen, Schwangerschaft und Geburt besser verstehen
und kontrollieren zu können. Zum
anderen hat sich die Debattenlage
durch den im Laufe der 1980er Jahre aufgekommenen Begriff „preembryo“ zugunsten der Forschung
an Embryonen gewendet. „Pre-embryo“ bezeichnete ein embryonales
Wesen, das sich vor dem 14. Tag
nach der Kernverschmelzung noch
in Zwillinge teilen kann und dessen
zentrales Nervensystem noch nicht
anfänglich ausgebildet ist. (9). Wegen der begrifflichen Abgrenzung
von „Prä-Embryonen“ und „Embryonen“ konnte sich in der britischen Gesetzgebung eine Erlaubnis
der Forschung an menschlichen
Embryonen unter Aufsicht und Regulierung und mit der Auflage
durchsetzen, dass Embryonen, an
denen geforscht worden ist, nicht
über den 14. Tag hinaus am Leben
erhalten und keinesfalls implantiert
werden sollten.
Die deutsche Gesetzgebung hat
demgegenüber mit dem Begriff
„Menschenwürde“ andere Akzente
gesetzt, auch wenn die Applikation
des Begriffs auf Embryonen in den
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
und dann erst die ethischen Konsequenzen aus diesem Verständnis,
die allgemein als Bestimmung des
„Status des Embryo“ verstanden
und zusammengefasst werden (10).
Leidvermeidung. Wenn das Grundsatzaxiom des Utilitarismus das
größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen ist,
so ist zur Erreichung dieses Ziels
eine relativ breite Auswahl von
Mitteln möglich. Die Forschung an,
wie zunächst auch in britischen
Empfehlungen vertreten, „überzähligen“ Embryonen nach IVF kann
in diesem Zusammenhang dabei
helfen, die Abläufe in der Schwangerschaft besser zu verstehen und
Risiken in Schwangerschaft und
embryonaler Entwicklung besser
einschätzen und therapieren zu
können. Die Erzeugung von hESZellen lässt langfristig auf eine
Therapie von degenerativen Krankheiten hoffen.
Klassischer Utilitarismus
Ein wesentlicher Grund für den
unterschiedlichen ethischen und
rechtlichen Umgang mit der Forschung an hES-Zellen in Großbritannien und Deutschland liegt in
der unterschiedlichen ideengeschichtlichen Prägung beider Länder: In Großbritannien sind in weit
stärkerem Maß der klassische Utilitarismus (11) und seine gegenwärtigen Ausprägungen (3, 12) ausschlaggebend als in der deutschen
Debatte, die sich als deutlich stärker von der Tradition der Aufklärung geprägt erweist. Mit dem klassischen Utilitarismus kompatibel ist
sowohl die Struktur des Abwägens
unterschiedlicher Güter mit dem
Ziel der Glücksmaximierung für eine möglichst große Anzahl von
Menschen als auch die grundsätzliche Orientierung medizinischer
Forschung am Ziel der Therapiegewinnung zur Leidminderung oder
Tradition der Aufklärung
Aus biologischer
Sicht ist der
menschliche Embryo, sobald mit der
Verschmelzung der
Vorkerne ein neues
Genom entstanden
ist, ein menschliches Wesen. In
ethischer Hinsicht
ist diese Tatsache
interpretationsbedürftig.
Foto: dpa
ersten Lebenstagen nicht unumstritten und schon gar nicht eindeutig
ist. Schon allein der Rekurs auf
„Menschenwürde“ im ersten Artikel des StZG auch nach seiner Novellierung verdeutlicht, dass eine
Applikation von „Menschenwürde“
auch auf frühe menschliche Embryonen als möglich erschien.
An dieser sprachlichen Differenzierung wird deutlich, wie in moralischer Hinsicht uneindeutige biologische Fakten in der ethischen Urteilsbildung unterschiedlich gedeutet werden. Aus biologischer Sicht
ist der menschliche Embryo, sobald
mit der Verschmelzung der Vorkerne ein neues Genom entstanden ist,
ein menschliches Wesen, das sich
kontinuierlich bis hin zur Geburt
und weiter entwickelt. Nun ist diese
Tatsache in ethischer Hinsicht interpretationsbedürftig, weil sie noch
keine normativen Aussagen zum
Umgang mit Embryonen macht.
Für solche Zusatzannahmen werden meist drei unterschiedliche Positionen differenziert (2): zum einen
die Position, menschliches Leben
sei wesentlich bewusstes und personales Leben und verdiene als solches auch rechtlichen Schutz –
wenn nämlich bestimmte Kriterien
wie Vernunftgebrauch und Bewusstsein erfüllt sind, die am Beginn (und
am Ende) des menschlichen Lebens
nicht erfüllt sein können. Eine entgegengesetzte Position geht davon
aus, dass menschliches Leben mit
der Entstehung eines neuen Genoms
beginnt, dass also die genetische
Identität eines menschlichen Embryos ausreicht, um dessen absolute
Schutzwürdigkeit zu begründen und
zu gewährleisten. Eine Position, die
in der Mitte steht, beurteilt die Entwicklung des menschlichen Lebens
als einen allmählichen, graduellen
Prozess, in dem es vor allem eine
qualitative statusverändernde Zäsur
gibt, die meist mit der Nidation bestimmt wird.
Die Frage, um die es in dieser
Debatte letzten Endes geht, ist darum die Frage nach dem Beginn und
dem Ende des Menschseins. Damit
steht nicht nur der Umgang mit
menschlichem Leben infrage, sondern das grundlegende Verständnis
menschlichen Lebens überhaupt –
Um der medizinisch hochrangigen
Ziele willen wird darum eine fremdnützige Forschung an Embryonen
als ethisch zulässig angesehen, auch
wenn diesen von Beginn der Debatte an ein „special status“ zugebilligt
worden ist (9). Weil darüber hinaus,
wie der Sprachgebrauch innerhalb
der Debatte gezeigt hat, Embryonen
in den ersten 14 Tagen als „Prä-Embryonen“ bezeichnet werden können,
spricht kein ernst zu nehmendes
ethisches Argument gegen ihre Verwendung in der medizinischen Forschung mit dem Therapiepotenzial
zugunsten vieler Patienten. Ein dem
Menschsein selbst inhärenter unbedingter Achtungsanspruch, der etwa
mit „Menschenwürde“ expliziert
wird, widerspricht dieser Argumentationsstruktur zwar nicht grundsätzlich, wird von ihr aber auch
nicht impliziert. „Menschenwürde“
als ein mit dem „Menschsein“ koextensiver Begriff hat sich in der
Debatte um das HFE Act nicht
durchgesetzt und wird gegenwärtig
anders als im deutschen Kontext
meist als empirische Kategorie im
Sinne einer aktiv gebrauchten Autonomie oder eines aktuell vorliegenden Gebrauchs von Vernunft verstanden (13) – oder als nichtsinnvoller Begriff gekennzeichnet (14).
In diesem Verständnis kann er auf
menschliche Embryonen in einem
frühen Stadium nicht angewandt
werden, was erklärt, dass der Be-
16
griff „dignity“ im Sinne eines „würdigen“ oder „würdevollen“ Verhaltens weitaus häufiger im Zusammenhang mit einem „Sterben in
Würde“ (dying with dignity) verwendet wird (15). Dabei bezeichnet
er aber keine menschliche Wesenseigenschaft, die absolut ist und unabwägbaren Schutz einfordert.
In der deutschen sind gegenüber
der englischen Ideengeschichte in
einem weit ausgeprägteren Maß Paradigmen der Aufklärungsphilosophie wirksam. Der Philosophie Immanuel Kants folgend kann von einer Würde auch von Ungeborenen
in einem frühen Stadium ausgegangen werden, weil auch diese an der
von Kant als transzendentale Idee
verstandenen „Menschheit“ partizipieren. Nach Kant ist die vernünftige Menschheit diejenige Instanz,
die moralisches Handeln ermöglicht, weil aufgrund der Vernunft
und der von der Vernunft ermöglichten Autonomie als der vernünftigen Selbstgesetzgebung moralisches, also ethisch vorzugswürdiges Handeln überhaupt entstehen
kann (16). Kant geht so weit, diese
Vernunftbegabung auf jeden Menschen zu applizieren (17). Er nimmt
damit anders als der klassische und
der gegenwärtige Utilitarismus die
Voraussetzung eines transzendenta-
Foto: Picture Alliance
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Der Philosophie
Kants folgend kann
von einer Würde
auch von Ungeborenen in einem frühen Stadium ausgegangen werden.
nicht gegen an sich wertvolle Ziele
wie hochrangige medizinische Forschung zur Entwicklung von Therapien gegen degenerative Erkrankungen abgewogen werden darf.
Wie „Menschenwürde“ inhaltlich zu bestimmen ist, ist von der
deutschen Gesetzgebung offengelassen worden. Das immer wieder
zitierte Diktum von Theodor Heuss,
Menschenwürde sei eine „nichtinterpretierte These“, würdigt diese
Offenheit und lässt eine Bandbreite
an Interpretationen zu. „Menschenwürde“ kann im kantischen oder
christlichen Sinn als „Mitgift“, im
empiristischen als „Leistung“ oder
systemtheoretisch als Ergebnis von
gelingender Kommunikation ver-
In der deutschen Gesetzgebung hat sich seit 1945 die Achtung
der Menschenwürde etabliert.
len, nichtempirischen Interpretationsrahmens an, nach dem nicht nur
aktuell vernünftige oder empfindsame menschliche Wesen als
menschliche Wesen zu verstehen
und zu würdigen sind, sondern jedes menschliche Wesen, weil es an
der vernunftbegabten und damit
moralfähigen menschlichen Vernunftnatur partizipiert.
In der deutschen Gesetzgebung
hat sich seit 1945 die Achtung der
Menschenwürde etabliert, die auch
die wesentliche Begründungsfigur
für das Verbot der Erzeugung von
hES-Zellen unter Verbrauch von
menschlichen Embryonen bildet.
Mit der Menschenwürde ist eine absolute Kategorie in die Gesetzgebung aufgenommen worden, die
17
standen werden (18). An der Bandbreite von Verständnismöglichkeiten wird deutlich, dass das Verständnis von Menschenwürde elementar damit zu tun hat, wie
Menschsein im Allgemeinen interpretiert wird, wenn „Menschenwürde“ den unbedingten Achtungsanspruch bezeichnet, der dem
Menschsein eignet.
Biologische Fakten sind ethisch
interpretationsbedürftig. Auch wenn
aus biologischer Sicht menschliches
Leben mit der Entstehung des Genoms beginnt und sich kontinuierlich entwickelt, hat eine ethische
Stellungnahme zum Umgang mit
menschlichem Leben durch Zusatzannahmen die moralischen Implikationen der naturwissenschaftlich
feststell- und erforschbaren Gegebenheiten zu klären (19). Diese Zusatzannahmen haben im Zusammenhang mit der fremdnützigen
Forschung an menschlichen Embryonen den Charakter von anthropologischen Positionen (20). Dabei
steht etwa infrage, ob Menschsein
eine Realität bezeichnet, die als solche zu würdigen, also festzustellen
ist, oder ob Menschsein eine Eigenschaft ist, die Menschen anderen
Menschen zuerkennen, die sich etwa in Beziehung und Kommunikation oder mit der Ausbildung neuronaler Strukturen entwickelt und
nicht „von Anfang an“ da ist beziehungsweise von Voraussetzungen
wie der Umgebung abhängt (21).
Für die britische Gesetzgebung
gibt es in der Entwicklung von
menschlichen Embryonen einen
Zeitraum, in dem diese noch nicht
menschlich sind. Auch wenn eine
ähnliche Position in der deutschen
Debatte immer wieder vertreten
wird, ist sie von der gegenwärtigen
Gesetzgebung im StZG nicht rezipiert worden. Hinter die grundlegende Differenz in dieser Debatte,
die sich letzten Endes als ein Streit
um Menschenbilder zeigt, kann
nicht zurückgegangen werden. Sie
kann aber so transparent wie möglich gemacht werden. Was menschliches Leben ist, ist eine vorausgesetzte und weltanschaulich geprägte
Aussage und Position, die jeder an
der Debatte Beteiligte für sich selbst
zu klären hat (22). Sprachliche
Transparenz und die differenzierte
Darstellung von anthropologischen
Implikationen einer Position sollten
selbstverständlich sein. Bis es dabei
zu einem tragfähigen gesellschaftlichen Kompromiss kommt, ist die
Haltung der Vorsicht, wie sie vor allem in tutioristischen Positionen gepflegt wird, angemessen (23).
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2010; 107(10): A 438–40
Anschrift der Verfasserin
PD Dr. theol. Sibylle Rolf
Universität Heidelberg
Wissenschaftlich-Theologisches Seminar
Systematische Theologie/Ethik
Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1010
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 10, 12. März 2010
LITERATURVERZEICHNIS HEFT 10/2010, ZU:
EMBRYONENFORSCHUNG
Über den Umgang mit menschlichem Leben
In Deutschland und Großbritannien wird die Zulassung der Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen unterschiedlich geregelt. Vor allem bezogen auf den Menschenwürdebegriff ergeben
sich tiefgreifende Unterschiede.
Sibylle Rolf
LITERATUR
1. Dabrock P, Klinnert L, Schardien S: Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004,
173–210.
2. Rolf S: Zwischen Forschungsfreiheit und
Menschenwürde. Unterschiede beim Umgang mit menschlichen Embryonen in
England und Deutschland, Frankfurt/Main:
Hansisches Drucks- und Verlagshaus
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3. Harris J: The Ethical Use of Human Embyonic Stem Cells in Research and Therapy, in: Burley J, Harris J (eds.), A Companion to Genethics, Oxford: Wiley Blackwell
2002, 158–74.
4. Schütze H: Embryonale Humanstammzellen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der deutschen, britischen, französischen und US-amerikanischen Rechtslage, Berlin, Heidelberg, New York: Springer
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5. Human Fertilisation and Embryology Act,
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8. Mulkay M: The embryo research debate.
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10. Maio G (ed.): Der Status des extrakorporalen Embryo. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart: frommannholzboog Verlag 2007.
11. Mill J S, Bentham J: Utilitarianism and other Essays, hg. von A. Ryan, Harmondsworth/Middlesex, Penguin Classics 1987.
12. Singer P: Rethinking Life and Death. The
Collapse of Our Traditional Ethics, Oxford:
St Martin’s Griffin 1995.
13. Deech R, Smajdor A: From IVF to immortality. Controversy in the era of reproductive technology, Oxford: Oxford University
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14. Macklin R: Dignity is a useless concept,
British Medical Journal 2003, 327,
1419–20.
15. So auf verschiedenen Websites, die sich
für die Legalisierung von assistiertem Suizid aussprechen, etwa http://www.dignity
indying.org.uk/.
16. Kant I: Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten, hg. und kommentiert von C. Horn,
C. Mieth und N. Scarano, Frankfurt/Main:
Suhrkamp 2007.
17. Kant I: Metaphysik der Sitten, 1797,
Rechtslehre § 28, B 112f.
18. Rolf S: Menschenwürde – Grund oder
Spitze der Menschenrechte?, in: Brunn F
M, Dietz A, Polke C et alii (eds.), Menschenbild und Theologie. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Festgabe für
Wilfried Härle, MThS 100, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007, 141–60.
19. A theologian’s brief on the place of the
human embryo within the christian tradition, and the theological principles for evaluating its moral status: submitted to the
House of Lords select committee on stem
cell research by an ad hoc group of christian theologians from the anglican, catholic, orthodox and reformed traditions, in:
Waters B, Cole-Turner R (eds.): God and
the embryo. Religious voices on stem cells
and cloning, Washington DC: Georgetown
University Press 2003, 190–203.
20. Düwell M: Bioethik. Methoden, Theorien
und Bereiche, Stuttgart: J. B. Metzler
2008, 130–41.
21. Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte
um die Embryonenforschung, in: Anselm
R, Körtner U H J (eds.): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, 197–208.
22. Härle W: Die weltanschaulichen Voraussetzungen jeder normativen Ethik, in: Härle: Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik,
Leipzig 2007: Evangelische Verlagsanstalt, 210–37.
23. Damschen G, Schönecker D (eds.): Der
moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin/New York: de Gruyter 2003,
187–267.
18
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 28–29, 19. Juli 2010
BUNDESGERICHTSHOF ZUR PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
Druck auf die Politik
Gisela Klinkhammer
ei Paaren mit einer Veranlagung zu schweren
Erbschäden dürfen Ärzte künftig im Reagenzglas befruchtete Eizellen auf Genschäden untersuchen
und nur die gesunden Zellen für eine künstliche Befruchtung auswählen. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) erlaubte damit die Präimplantationsdiagnostik (PID) an pluripotenten Zellen. Er begründete seine Entscheidung damit, dass sie die Zahl der
Schwangerschaftsabbrüche schwerst behinderter Kinder vermindern könnte. Das ist nachvollziehbar, denn
wenn eine Behinderung festgestellt wird, sind Abtreibungen auch noch nach der zwölften Schwangerschaftswoche möglich.
Der Angeklagte, ein Berliner Frauenarzt, war vom
Vorwurf einer dreifachen strafbaren Verletzung des
Embryonenschutzgesetzes freigesprochen worden. Der
Arzt hatte bei drei Patientinnen jeweils acht extrakorporal befruchtete Eizellen im Blastozystenstadium untersucht. An vier Eizellen hatte er gravierende genetische Defekte festgestellt, weshalb diese „nicht weiter
bebrütet, abgestorben und letztlich verworfen wurden“,
wie es das Landgericht Berlin formulierte. Ein Strafsenat des Berliner Kammergerichts hatte einen Verstoß
gegen das Embryonenschutzgesetz bei dem Arzt, der
sich selbst angezeigt hatte, zunächst bejaht. Eine große
Strafkammer des Berliner Landgerichts hatte dann entschieden, dass er nicht gegen die Normen des Embryonenschutzgesetzes verstoßen habe. Die Berliner Staatsanwaltschaft hatte dagegen Revision beim BGH eingelegt, der das Urteil jetzt aber bestätigte.
Der Gynäkologe hat somit die rechtliche Klärung eines Themas erzwungen, das seit Jahren kontrovers diskutiert wird. Wiederholt beschäftigte sich, ausgehend
vom „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer (DÄ,
Heft 9/2000), vor allem auch das Deutsche Ärzteblatt
mit dieser Thematik. Dabei ging es vorwiegend um die
Frage, ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz
vereinbar sei und falls nicht, ob man sie in engen Grenzen zulassen sollte. Zahlreiche Politiker hielten die PID
B
19
für unvereinbar mit dem Embryonenschutzgesetz. Und
das aus guten Gründen. Denn nach dem Embryonenschutzgesetz ist das Verwenden eines Embryos verboten. Und darunter fällt dann ja wohl ebenfalls die Selektion und anschließende Tötung des Embryos durch
Wegschütten. So sah es jedenfalls das Berliner Kammergericht. Außerdem ist davon auszugehen, dass mit
dem Urteil der Rechtfertigungsdruck auf Menschen mit
Behinderung und deren Eltern weiter wachsen könnte.
Doch der BGH kam offenbar zu einer anderen Einschätzung und veranlasst damit jetzt auch die Politik,
sich wieder mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.
Kritiker der Methode befürchten allerdings, dass die
PID irgendwann nicht mehr nur bei Paaren mit genetischen Defekten angewendet wird. Tatsächlich gibt es
international bereits einige Fälle, wo ein Kind nur deshalb in vitro gezeugt wurde, um als Gewebespender für
ein Geschwisterkind zu dienen. Solchen Praktiken erteilte der BGH glücklicherweise eine eindeutige Absage. Er betonte, dass Gegenstand seiner Entscheidung
lediglich die Untersuchung von Zellen auf schwerwiegende genetische Defekte sei. „Einer unbegrenzten Selektion von Embryonen anhand genetischer Merkmale
wäre damit nicht der Weg geöffnet.“ Letztendlich ist eine Klarstellung durch den Gesetzgeber zu wünschen.
Gisela Klinkhammer
Chefin vom Dienst (Text)
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 38, 24. September 2010
ÜBERSICHTSARBEIT
Perinatale Probleme von Mehrlingen
Joachim W. Dudenhausen, Rolf F. Maier
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Das veränderte Gebäralter und die Erfolge
der Reproduktionsmedizin haben zu einem Anstieg der
Mehrlingsrate in der industrialisierten Welt geführt.
Methoden: selektive Literaturrecherche
Ergebnisse: Die Risiken der Frühgeburtlichkeit, der intrauterinen Wachstumsrestriktion und des vorgeburtlichen
Todes erhöhen sich bei diesen Schwangerschaften; mütterliche Risiken wie Präeklampsie, Gestationsdiabetes und
Blutungen sind deutlicher. Von den Überwachungsverfahren in der Schwangerschaft ist die pränatale inklusive der
genetischen Diagnostik wichtig, vor allem die Ultraschalldiagnostik zur Erkennung des fetofetalen Transfusionssyndroms und der Zygotie.
Schlussfolgerungen: Bei der Betreuung der Mehrlingsschwangeren ist die Zusammenarbeit von Pränatalmediziner, Geburtsmediziner und Neonatologen gefordert. Dabei ist die Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Patientenversorgung besondere Aufmerksamkeit
zu widmen.
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(38): 663–8
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0663
Klinik für Geburtsmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin:
Prof. Dr. med. Dudenhausen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinik Magdeburg:
Prof. Dr. med. Maier
ie Zahl der Mehrlingsschwangerschaften ist
durch Fortschritte in der Reproduktionsmedizin stetig größer geworden. Dies hat zur Folge, dass
die geburtshilfliche Betreuung der Mehrlingsschwangeren sowie die neonatale Versorgung der Mehrlinge
besonders intensiv und anspruchsvoll sind. Gefordert
sind Pränatalmediziner, Geburtsmediziner und Neonatologen sowohl in der Klinik als auch in der niedergelassenen Praxis.
Für die kompetente Zusammenarbeit an diesen
Schnittstellen werden aufgrund der wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse sowie einer selektiven Literaturrecherche unter Berücksichtigung älterer nationaler (1) und internationaler (2) Leitlinien
Kernaussagen zusammengestellt.
D
Häufigkeit
Die Häufigkeit von Mehrlingen unterliegt großen
Schwankungen auf der Welt. Die bereits im Jahr 1895
von Hellin aufgestellte Regel hat im Wesentlichen auch
heute noch Gültigkeit, um die Häufigkeit von Mehrlingen abschätzen zu können: Beträgt die Häufigkeit von
Zwillingen 1 : 85, so ist sie für Drillinge 1 : 85 × 85
und für Vierlinge 1 : 85 × 85 × 85. In der Frühschwangerschaft ist die Zahl wesentlich höher, Boklage beobachtete den Verlauf von 325 Zwillingsschwangerschaften, 19 % dieser Schwangerschaften endeten am Termin als Zwillinge, 39 % als Einlinge, 43 % ohne ein lebendes Kind. Er errechnete als wahrscheinliche Konzeptionsrate an Zwillingen 1 : 8 (3).
In den meisten europäischen Ländern ist die Zwillingsrate in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts
von etwa 12 auf etwa 9,5 pro 1 000 Schwangerschaften gesunken, um ab den frühen 80er-Jahren wieder
anzusteigen auf etwa 12 und um etwa 1990 auf 13 bis
14 pro 1 000 Schwangerschaften. Während der Verlauf in den 60er- und 70er-Jahren im Wesentlichen
durch die Veränderung der Altersstruktur der
Schwangeren verursacht wurde (zuerst eine Zunahme der jüngeren Schwangeren, später eine Zunahme
der über 35-jährigen Schwangeren), wird der Anstieg
ab 1990 als Folge reproduktionsmedizinischer Bemühungen gesehen (4). Ovulationsinduktion und
IVF (In-vitro-Fertilisation) werden hauptsächlich als
Ursache dieser Steigerung angesprochen.
Für die Häufigkeit von dizygoten Zwillingen ist
das Vorkommen von Mehrlingen in der Familie der
Mutter wesentlich wichtiger als das in der Familie
des Vaters. Frauen, die selbst als dizygote Zwillinge
auf die Welt kamen, entbanden etwa in 2 Prozent der
20
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Grundlagen der Zygotiebestimmung
TABELLE
Durchschnittliche Schwangerschaftsdauer
bei Mehrlingen
Art der Schwangerschaft
Wochen
Einlinge
39
Zwillinge
36
Drillinge
32
Viellinge
30
Fälle auch Zwillinge. Dagegen lag die Häufigkeit
von Zwillingen bei Frauen, deren Ehemänner dizygote Zwillinge waren, etwa nur bei 1 Prozent (e1).
Schwangerschaftsdauer
Die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer ist bei
Mehrlingsschwangerschaften deutlich kürzer (Tabelle) (e2). Im Jahre 1987 lag die Frühgeburtenrate bei
Zwillingen (< 37+0 SSW) in den USA bei 44,5 Prozent gegenüber 9,4 Prozent bei Einlingen (5). Als Ursachen der verminderten Schwangerschaftsdauer
wurden die mechanische Belastung der Zervix, die
relativ zum Gewicht von Fet und Plazenta verminderte Uterusdurchblutung und die relativ verminderte
Plazentafunktion gesehen. Außerdem scheinen die
Ausreifung der „Gap-Junctions“ aufgrund der hohen
Östrogenaktivität und Prostaglandinsynthese sowie
die relative Abnahme der Progesteronaktivität bei der
Mehrlingsschwangerschaft bedeutungsvoll für die
verkürzte Schwangerschaftsdauer zu sein.
Ultraschalldiagnostik
Die perinatale Mortalität ist durch die gestiegene Entdeckungsrate der Mehrlinge in der Schwangerschaft
abgefallen. Die nach den Mutterschaftsrichtlinien
durchgeführten Ultraschalluntersuchungen bei allen
Schwangeren haben in der Bundesrepublik Deutschland zu einer nahezu vollständigen pränatalen Diagnostik von Mehrlingen geführt. Die frühzeitige Diagnostik in der Schwangerschaft ist sowohl für das
Management der Schwangerschaft, für die Überwachung von Mutter und Kindern sowie das intrapartale
Vorgehen und die Vorbereitung der Eltern wichtig.
Die Diagnose der Mehrlingsschwangerschaft, die
Festlegung des Schwangerschaftsalters und die
Überwachung des fetalen Wachstums sind entsprechend den Normkurven möglich. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich die fetalen Wachstumskurven von Kopfdurchmesser und Femurlänge bei
Einlingen und Zwillingen statistisch nicht unterscheiden (e3, e4). Eine differenzierte Fehlbildungsuntersuchung ist indiziert.
Darüber hinaus sind als mehrlingsspezifische Untersuchungen die Bestimmung der Zygotie und der
Plazentation wichtig.
21
Monozygote Zwillinge
Monozygote Zwillinge entstehen aus der Teilung eines
Embryos. Man rechnet mit etwa vier monozygoten
Zwillingen auf 1 000 Geburten. Die embryofetale
Mortalität ist bei monozygoten Zwillingen höher als
bei dizygoten Zwillingen und Einlingen. Die Rate
größerer Fehlbildungen wird bei monozygoten Zwillingen mit 2,3 % gegenüber 1 % bei Einlingen und
die von kleineren Fehlbildungen mit 4,1 % gegenüber 2,5 % angegeben. Die statistisch schlechteren
Ergebnisse verzeichnen die monochorionischen, monoamnioten Zwillinge, wobei die Fälle mit zwei
Mädchen hierbei die weniger schlechten Ergebnisse
aufweisen (e5). Bei einer Teilung des Embryos bis
zum fünften Tag nach Fertilisation entstehen dichorionisch-diamniote Zwillinge (etwa 30 %). Bei einer
Teilung im Zeitraum zwischen dem fünften und siebten Tag nach Fertilisation bilden sich monochorionisch-diamniotische Zwillinge (etwa 70 %). Bei einer Teilung nach Tag 8 entstehen monochorionischmonoamniotische Zwillinge (etwa 1 %). Verbundene
Zwillinge entstehen durch eine inkomplette Teilung
am Tag 15 bis 17 nach Befruchtung. Ihre Häufigkeit
ist in Europa etwa 1 auf 33 000 Geburten (e6).
Dizygote Zwillinge
Durch die Befruchtung von zwei verschiedenen Eizellen aus zwei verschiedenen Follikeln entstehen
dizygote Zwillinge. Das Wachstum der Follikel wird
durch die Gonadotropine reguliert. Es ist behauptet
worden, dass höhere FSH-Spiegel zu einer höheren
Zahl an dizygoten Zwillingen führen würden. Die
FSH-Produktion wird von Licht- und Dunkelperioden beeinflusst. So soll es in Skandinavien eine
größere Zahl an dizygoten Zwillings-Konzeptionen
im Juli geben gegenüber einer geringeren Zahl im
Januar. Die Wahrscheinlichkeit, dizygote Zwillinge
zu haben, steigt mit dem mütterlichen Alter bis etwa
39 Jahre, danach sinkt sie wieder. Sie sinkt auch in
Zeitperioden der Mangelernährung (e7).
Höhergradige Mehrlinge
Höhergradige Mehrlinge können aus der Befruchtung einer, zweier oder mehr Eizellen oder durch
Teilung einer oder mehrerer befruchteter Eizellen
entstehen, so dass eine gleichzeitige di- und monozygote Mehrlingsschwangerschaft entsteht.
Die Kenntnis der Zygotie ist eine wichtige Voraussetzung, um Risikofaktoren in der Schwangerschaft richtig bewerten zu können. Beispielsweise
kann es zu einer Wachstumsdifferenz bei der intrauterinen Mangelentwicklung eines Zwillings oder
aber auch bei dem feto-fetalen Transfusionssyndrom
kommen; das Letztere trifft allerdings nur bei monozygoten Zwillingen auf.
Für die Klärung der Zygotie ist die Ultraschalldiagnostik heute unentbehrlich. Mit 10 bis 15 Schwangerschaftswochen ist bei dichorionischen Schwangerschaften eine lambdaförmige Strukturierung der
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Eihäute beim Übergang zur Plazenta darzustellen
(Abbildung 1). Separate Plazenten oder eine (fusionierte) Plazenta und die Membrandicke (monozygote
Zwillinge haben eine dünne, dizygote Zwillinge eine
dicke Trennwand) sind wichtige Befunde.
Das physiologische Verschwinden eines Embryos
oder frühen Feten aus einer Mehrlingsschwangerschaft („vanishing twin“) führt zur Resorption, einem leeren Fruchtsack oder einem fetus papyraceus.
Klinisch fällt dieser Prozess in der Regel einzig
durch eine Blutung ex utero auf.
Abbildung 1
Dichorionische
Zwillingsschwangerschaft bei 15+3
Schwangerschaftswochen mit diskordantem Wachstum;
Pfeil = Lambda-Zeichen
Pränatale genetische Diagnostik
Seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wird
Frauen eine genetische Diagnostik angeboten, die
gilt selbstverständlich auch bei Mehrlingen.
Prinzipiell sind die Amniozentese im zweiten Trimester oder die Chorionzottenbiopsie einsetzbar. Die
Komplikationsrate der Amniozentese bei Mehrlingen
wird als fünffach (etwa 5 %) erhöht gegenüber der
bei Einlingsschwangerschaften (0,6 bis 1 %) angegeben (e8).
Abbildung 2
Monochorionische
Zwillingsschwangerschaft bei 20+2
Schwangerschaftswochen und mildem
feto-fetalen Transfusionssyndrom;
Pfeil, Amnionhaut;
Stern, Fruchtwasserhöhle des
Donators
Selektiver Fetozid
Die häufigsten und wichtigsten Gefahren für die
Mehrlingsschwangerschaft sind die verkürzte
Schwangerschaftsdauer und die erhöhten Gefahren
für die Mutter: bei Drillingen: 20 Prozent Präeklampsie, 30 Prozent Anämie, 35 Prozent postpartale
Blutungen; bei Vierlingen: 32 Prozent Präeklampsie,
25 Prozent Anämie, 21 Prozent postpartale Blutungen (6, e9, e10).
Die selektive Reduktion von höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften zu Zwillingsschwangerschaften erfolgt, um die dargestellten Gefährdungen für das
Leben der Mutter oder der Föten zu vermindern. Sie
wird ausgehend von den Erfahrungen mit dem indizierten Fetozid bei Fehlbildungen eines Mehrlings
(7), mit verschiedenen Methoden durchgeführt wie
Hysterotomie, Herzpunktion, Luftinjektion oder
Injektion kardiotoxischer Substanzen.
Arbeitsgruppen, die mit der Problematik des selektiven Fetozid häufig konfrontiert sind, halten die
transabdominale intrathorakale Kaliumchlorid-Injektion bei einem Alter des Embryos von elf bis zwölf
Wochen für die wirksamste Methode (8). Der Gewinn
für die überlebenden Mehrlinge rechtfertigt nach
Meinung vieler Autoren das Vorgehen (9, e11). Dabei
ist vor der Injektion bei monozygoten Zwillingen zu
berücksichtigen, dass durch die Injektion in den betreffenden Zwilling ein Überfließen der kardiotoxischen Substanzen auf den anderen Zwilling und damit eine erhebliche Gefährdung möglich ist. Bei
10 Prozent der Schwangeren ist der vollständige
Schwangerschaftsverlust nach dem selektiven Fetozid zu erwarten.
Der selektive Fetozid ist ethisch höchst problematisch und sollte durch die Anwendungen geeigneter
reproduktionsmedizinischer Maßnahmen vermieden
werden.
Feto-fetales Transfusionssyndrom (FFTS)
Monozygote, monochorionische Zwillingsschwangerschaften weisen interfetale Gefäßverbindungen
auf plazentarer Ebene auf, sowohl arterio-arterielle
und veno-venöse Anastomosen auf der Chorionplatte
als auch arterio-venöse Shunts in den Kotyledonen
(e12). Sie sind die Basis für eine Blutumverteilung,
deren Ursache letztlich nicht geklärt ist. Möglicherweise besteht in dem Plazentarkreislauf des Donators
infolge einer Plazentainsuffizienz ein erhöhter Gefäßwiderstand, der die Blutumverteilung verursacht. Es
kommt zugunsten eines Zwillings, der dadurch größer
(9, e13), polyglobul und/oder hypervolämisch wird
(Akzeptor) und ein Polyhydramnion entwickelt, zum
Zurückbleiben des Wachstums des Donators, der anämisch und hypovolämisch wird und ein Oligohydramnion entwickelt. Diagnostisch leitend ist die Assoziation von intrauterinen Gewichtsdifferenzen
(über 20 %) und der ultrasonographisch festzustellenden Fruchtwasservolumendifferenz (Polyhydramnion
beim Empfänger, Oligohydramnion bei Donator). Das
Fruchtwasservolumen kann so abnehmen, dass der
Donator als kleiner Zwilling an die Eihaut gedrückt
wird (stuck twin) (Abbildung 2).
22
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Abbildung 3:
Nabelschnurproblematik bei monoamniotischer Zwillingsschwangerschaft;
antepartale ultrasonographische
Nabelschnurdiagnostik und intraoperative Situation
* Dank gilt Prof.
Karim Kalache,
Klinik für Geburtsmedizin Campus
Charite Mitte, für
die Überlassung der
Abbildungen.
Die Mortalitätsraten sind beim FFTS insgesamt
sehr hoch (56 bis 100 %). In 3 bis 5 Prozent der Fälle
kommt es bereits intrauterin zum Fruchttod (10).
Nach dem Tod eines Zwillings entsteht in bis zu
14 Prozent der Fälle ein sogenanntes „twin embolization“-Syndrom (e14). Dabei kommt es zur arteriellen
Hypotonie und zur Einschwemmung von thromboplastischem Material vom toten zum überlebenden
Feten. Folgen sind eine disseminierte intravasale Gerinnung und/oder Infarkte mit unter anderem schweren neurologischen Schädigungen (11), so dass unbedingt vor dem intrauterinen Tod eines Feten eingegriffen werden sollte.
Zur Therapie des FFTS werden heute angewandt:
● die wiederholte Amniozentese und Fruchtwasserentlastung; der pathogenetische Mechanismus dieser Behandlung ist unklar, jedoch ist
häufig die wiederholte Amniozentese eine wirksame Methode (e15, e16).
● die elektive Koagulation der Gefäßverbindungen stellt die logische und konsequenteste Form
der Behandlung dar (e15, 12, 13).
Intrauteriner Tod
Der antepartale Tod eines oder mehrerer Mehrlinge
ist häufig (etwa 1 bis 5 Prozent aller Mehrlingsschwangerschaften) (e17). Neben der emotional-psychologischen Belastung für die Eltern ist besonderes
Augenmerk auf den Zustand des oder der überlebenden Mehrlinge zu richten (e18).
Bei monochorionischen Mehrlingen mit einem gestorbenen Mehrling ist bei überlebenden Mehrlingen
mit einer hohen Rate an neurologischen Schäden zu
rechnen. Diese werden auf die Embolisation thrombogenen Materials von dem toten Mehrling in den lebenden zurückgeführt.
23
Verminderung des Frühgeburt-Risikos
Die Tatsache, dass Mehrlinge in der perinatalen Periode
stärker gefährdet sind als Kinder aus Einlingsschwangerschaften, ist aus der hohen Frühgeburtenrate und aus
der höheren Frequenz der intrauterin mangelentwickelten Kinder zu erklären. Die Komplikationsrate infolge
Unreife und Mangelgewicht liegt bei Zwillingen bei etwa 40 %. Die Frühgeburtenhäufigkeit wird für Zwillingsschwangerschaften mit 30 % angegeben und liegt
damit um das Drei- bis Fünffache über vergleichbaren
Kollektiven von Einlingsschwangerschaften. Neben
der frühen Diagnose der Mehrlingsschwangerschaft
sind die frühzeitige Arbeitsunfähigkeitserklärung (etwa
20 SSW) und die körperliche Schonung als präventive
Maßnahme anerkannt (e19, e20); die stationäre Behandlung ohne weiteres Risiko, die präventive Cerclage (e21) und die prophylaktische Tokolyse (e22) werden heute nicht mehr empfohlen.
Intrauterine Mangelentwicklung
Verschiedene Faktoren tragen bei der Mehrlingsschwangerschaft zur intrauterinen Mangelentwicklung
bei, deren Häufigkeit bei Mehrlingen mit etwa 60 %
angegeben wird (e23): der Ernährungszustand der Mutter, der reduzierte uterine Blutfluss, Anomalien der Nabelschnur, Transportkapazität der Plazenta, Plazentasitz, ungleiche Anteile der Gesamtplazentamasse der
Mehrlinge sowie das FFTS.
Schwangerschaftsbeendigung
Zur Vermeidung intrauterinen Fruchttodes in Terminnähe wird heute häufig die Empfehlung zur Schwangerschaftsbeendigung nach 38 abgeschlossenen
Schwangerschaftswochen gegeben. Bei beabsichtigter
vaginaler Geburtsleitung wird meist eine Prostaglandin-Reifung der Zervix begonnen. Bei folgenden Indi-
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
kationen wird bei diesem Schwangerschaftsalter heute
meist die primär indizierte Schnittentbindung vorgenommen:
● Drillinge oder höhergradige Mehrlinge
● vorangehender Mehrling in Beckenend- (BEL)
oder Querlage (QL)
● Ultraschall-Schätzgewicht des zweiten Zwillings
mehr als 500 g über dem des ersten Zwillings
● Zwillinge mit einem Ultraschall-Schätzgewicht
unter 1 800 g
● monoamniotische Zwillinge (Sektio bei 34+0
Schwangerschaftswochen) (Abbildung 3).
Neonatale Mortalität und Morbidität
Zu der Frage, ob und in wie weit eine Mehrlingsschwangerschaft per se die neonatale Mortalität und
Morbidität erhöht, finden sich teilweise widersprüchliche Daten in der Literatur. Das liegt unter anderem an
unterschiedlichen Studienpopulationen, an unterschiedlichem Studiendesign (prospektive oder retrospektive Erhebung) und an unterschiedlichen Zeiträumen (vor oder nach Einführung von Surfactant und von
intrauteriner Lasertherapie). Zwar steigen mit der Zahl
der Kinder in einer Schwangerschaft die neonatale
Mortalität und Morbidität, es verringert sich aber auch
die Schwangerschaftsdauer, so dass zunehmend die
Probleme, die mit einer Frühgeburt zusammenhängen,
zum Tragen kommen. Bei Vergleichen zwischen Einlingen und Mehrlingen müssen also stets das Gestationsalter, das Geburtsgewicht und auch das Geschlecht
berücksichtigt werden (14, e24).
Neonatale Mortalität
Bei Zwillingen entwickelt sich ab etwa 32 Schwangerschaftswochen und bei Drillingen ab etwa 29 Schwangerschaftswochen ein im Vergleich zu Einlingen verzögertes intrauterines Wachstum (15). Bei Mehrlingen
mit einem Geburtsgewicht unter der 10. Perzentile ist
die neonatale Mortalität erhöht. Adjustiert man aber für
das Gestationsalter, das Ausmaß der Wachstumsretardierung und das Geschlecht, so findet sich bei Zwillingen mit fetaler Wachstumsretardierung eine ähnliche
neonatale Mortalität wie bei Einlingen (e25, 15, 16). In
diesem Zusammenhang scheint eine Gewichtsdiskordanz zwischen Zwillingen eine wichtige Rolle zu spielen: Eine erhöhte neonatale Mortalität wurde beschrieben bei einer Gewichtsdiskordanz von mehr als 25 %.
Betroffen ist vor allem der kleinere Zwilling, insbesondere, wenn er ein Geburtsgewicht unter der 10. Perzentile hat (17–19). Bei großer Gewichtsdiskordanz
scheint aber auch der größere Zwilling ein erhöhtes
Mortalitätsrisiko zu haben (e26, 20).
Eine erhöhte neonatale Mortalität wurde bei monochorionischen im Vergleich zu dichorionischen Zwillingen beobachtet, insbesondere, wenn ein Zwilling intrauterin verstorben ist (21, 22).
Zu der Frage, ob die Reihenfolge der Geburt einen
Einfluss auf die Prognose hat, gibt es unterschiedliche
Daten: So wurde bei sehr kleinen Zwillingen (Geburtsgewicht unter 1 500 g) ein erhöhtes Mortalitätsrisiko
für den 2. Zwilling unabhängig vom Geburtsmodus beschrieben (e27). Andere Autoren fanden solche Unterschiede nicht (15).
Neonatale Morbidität
Atemnotsyndrom
Die Inzidenz des Atemnotsyndroms (RDS) steigt mit
der Zahl der Mehrlinge (etwa 23 % bei Drillingen,
65 % bei Vierlingen, 75 % bei Fünflingen), allerdings
bei gleichzeitig sinkendem Gestationsalter (e27, e24).
Das Risiko für respiratorische Probleme ist erhöht bei
Knaben und beim 2. Zwilling (23, e28). Ein kompletter
Zyklus von pränatal gegebenen Steroiden reduziert die
Inzidenz des RDS auch bei Mehrlingsschwangerschaften (e27). Allerdings wurde ein abnehmender Effekt
der pränatalen Lungereifeinduktion mit zunehmender
Pluralität beschrieben (24).
Zerebrale Schädigung
Die Häufigkeit von zerebralen Schädigungen wird
wie bei Einlingen auch bei Mehrlingen sehr stark vom
Gestationsalter und vom Geburtsgewicht beeinflusst.
Aber auch die Chorionizität und der intrauterine
Fruchttod eines Mehrlings spielen eine große Rolle.
In einer Metaanalyse von 28 Studien war das Risiko
für neurologische Störungen beim überlebenden
Zwilling vierfach höher bei monochorionischen als
bei dichorionischen Zwillingen (22).
Nekrotisierende Enterokolitis
Für das Auftreten einer nekrotisierenden Enterokolitis
(NEC) wurde bei monochorionischen Zwillingen nach
Adjustierung für Gestationsalter und Geburtsgewicht
ein um den Faktor 4 erhöhtes Risiko (3,8 % gegen
0,9 %) gefunden (21).
Langzeitergebnisse
Kinder nach Mehrlingsschwangerschaft haben ein erhöhtes Risiko für neurologische Auffälligkeiten. Eltern
sollten über dieses Risiko aufgeklärt und ein geeignetes
Nachuntersuchungsangebot organisiert werden (25).
KERNAUSSAGEN
● Die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften steigt.
● Risiken für das Kind wie Frühgeburtlichkeit, Wachstumsrestriktion und intrauteriner Tod sind höher, ebenso Risiken für die Mutter wie Präeklampsie, Gestationsdiabetes und Blutungen.
● Die Ultraschalldiagnostik ist wichtig zur Überwachung der Schwangerschaft,
Erkennung von Wachstumsdiskrepanz, Zygotie, und feto-fetalem Transfusionssyndrom.
● Die neonatale Morbidität von Mehrlingen ist durch das Atemnotsyndrom,
nekrotisierende Enterokolitis sowie zerebrale Schädigungen gekennzeichnet.
● Die Betreuung von Mehrlingsschwangeren ist eine Herausforderung für
Pränatalmediziner, Geburtsmediziner und Neonatologen.
24
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 12. 5. 2009, revidierte Fassung angenommen: 29. 10. 2009
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Joachim W. Dudenhausen
Weill Cornell Medical College
Dept. OB/GYN
525 E 68th Street M-701
New York NY 10065
E-Mail: [email protected]
SUMMARY
Perinatal Problems in Multiple Births
Background: Multiple pregnancies have become more common in the
industrialized world because of rising maternal ages and advances in
reproductive medicine.
Methods: Selective literature review.
Results: Multiple pregnancy carries a higher risk of prematurity, intrauterine growth restriction, and prenatal death, as well as elevated risks
to the mother including preeclampsia, diabetes, and hemorrhage during
delivery. Genetic tests and ultrasonography are the most important tests
for monitoring during pregnancy. Ultrasound aids in the detection of the
feto-fetal transfusion syndrome and in the determination of zygosity.
Conclusions: The care of women with multiple pregnancies requires the
collaboration of specialists in prenatal medicine, obstetrics, and neonatology as well as a properly functioning integration of outpatient and inpatient care.
Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(38): 663–8
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0663
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit3810
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 38, 24. September 2010
LITERATURVERZEICHNIS HEFT 38/2010, ZU:
ÜBERSICHTSARBEIT
Perinatale Probleme von Mehrlingen
Joachim W. Dudenhausen, Rolf F. Maier
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26
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 40, 8. Oktober 2010
NOBELPREIS FÜR MEDIZIN
„Vater“ von vier Millionen Babys
Der Physiologe Robert G. Edwards hatte in den 1970er Jahren gemeinsam mit dem
britischen Gynäkologen Patrick Steptoe die In-vitro-Fertilisation entwickelt.
s war kurz vor 24 Uhr am 25.
Juli 1978, als in Manchester
(Großbritannien) Louise Brown auf
die Welt kam: Der 2 600 Gramm
schwere Säugling zog die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich,
denn mit Louise war das erste „Retortenbaby“ geboren, auf Basis einer
neuen Technik: der künstlichen Befruchtung der Frau. Heute leben
weltweit circa vier Millionen Kinder
dank dieser Pioniertat und der Weiterentwicklungen der in-vitro-Fertilisation (IVF).
Mit der erfolgreichen Befruchtung im Reagenzglas läuteten der
Physiologe Robert G. Edwards und
E
der inzwischen verstorbene Gynäkologe Patrick Steptoe ein neues
Zeitalter in der Behandlung unerwünschter Kinderlosigkeit ein. Am
Montag wurde dem heute 85-jährigen Edwards der Nobelpreis für
Medizin zugesprochen.
IVF heute in vielen Variationen
Bereits 1960 erwog der Physiologe
die Zeugung eines Embryos in
einem Reagenzglas: Edwards versuchte zunächst, Eizellen mit eigenem Sperma zu befruchten und zu
kultivieren. Ab 1968 arbeitete er
mit Steptoe zusammen. Um an Material zu gelangen, baten sie Frauen
GRAFIK 1
Quelle: The Nobel Commitee for Physiology or Medicine; Illustration: Mattias Karlén
Natürliche Befruchtung
27
vor einer Hysterektomie um Geschlechtsverkehr. So hofften sie,
Spermien zu erhalten, die in den
weiblichen Reproduktionstrakt gelangt waren. Ethisch gesehen war
das Vorgehen der beiden Mediziner
diskussionswürdig. Edwards verteidigte sich aber damit, er respektiere
das Recht seiner Patienten, eine eigene Familie gründen zu können.
In den Jahren 1972 bis 1974 wurden erstmals Embryonen in Frauen
transferiert, aber Schwangerschaften blieben aus. 1976 erreichten Edwards und Steptoe das erste Mal
eine Eileiterschwangerschaft. 1977
gelang dann die erste künstliche
Befruchtung einer Frau: der Mutter
von Louise Joy Brown. Edwards
versuchte auch als erster Forscher,
überzählige Embryonen zu kryokonservieren.
Zu den Therapieformen der assistierten Reproduktion gehören
heute neben der IVF die intrazytoplasmatische Spermieninjektion
(ICSI) und die testikuläre Spermienextraktion (TESE). „Im Prinzip
wird überall auf der Welt dieselbe
Methode der In-vitro-Fertilisation
angewendet“, erläuterte Edwards
anlässlich seines Besuchs der
EXPO 2000 in Deutschland. „Die
ICSI zum Beispiel ist eine sehr
nützliche Variante. Und es gab
damals wie heute sehr wenig Fehlgeburten nach IVF.“
Die Verleihung des MedizinNobelpreises an Robert G. Edwards
wird von Reproduktionsmedizinern
als ein Meilenstein in der Behandlungsform ungewollt kinderloser
Paare gesehen. „Gerade für Deutschland, wo die IVF lange ein Schattendasein geführt hat, ist dies von ganz
besonderer Bedeutung“, sagte Dr.
med. Georg Döhmen (Mönchengladbach), stellvertretender Vorsitzender
der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin zum Deutschen
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Dr. rer. nat. Renate Leinmüller
Foto: picture-alliance
GRAFIK 2
Prozentsatz der Geburten nach assoziierter Reproduktion (2007)
6
Den höchsten
Prozentsatz an IVFKindern bei der
höchsten Verfügbarkeit an Methoden
gibt es in Dänemark.
Schweden hat durch
den gesetzlich
verankerten „SingleEmbryo-Transfer“
die Zwillingsrate
massiv gesenkt.
5,5
5
4,5
Quelle: Anders Nyboe Andersen, bei ESHRE Workshop 10 Jahre EIM, 11. 9. 2010 München
Auch James Watson, der 1962 den
Nobelpreis für seine Entdeckung der
Doppelhelixstruktur der DNA erhielt, gehört zu den Kritikern. Er
warf Edwards 1970 vor, er müsse für
seine Forschungen die Kindstötung
akzeptieren. Anders sieht es das Nobelkomitee, das zur ethischen Debatte keine Aussagen treffen wollte:
„Edwards musste auch starken Widerstand des Establishments überwinden“, sagte Christer Höög vom
Nobelkomitee des Karolinska-Instituts. Die Akademie verweist vielmehr
darauf, dass mehr als zehn Prozent
aller Paare weltweit von Unfruchtbarkeit betroffen sind.
In Deutschland kam das erste
Retortenbaby im April 1982 in Erlangen auf die Welt. Bis in die 90er
Jahre fanden die meisten In-vitroFertilisationen an Universitätskliniken statt. Inzwischen gibt es rund
120 Kliniken und Fachzentren, die
In-vitro-Fertilisationen anbieten. Sie
führen jährlich etwa 70 000 Behandlungen durch, 2007 wurden
11 500 Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren. Ärzte und Paare
wünschen sich, es wären mehr. Derzeit liegt die „Baby-take-home-Rate
nach IVF bei 20 bis 22 Prozent, die
Schwangerschaftsrate über alle Altersgruppen hinweg bei 28 Prozent,
bei den 25- bis 30-jährigen Frauen
allerdings bei 35 Prozent.
Die angeblich geringe Erfolgsrate ist immer schon eine Kritik an
der IVF gewesen. „Ich antworte
darauf: Die menschliche Reproduktion ist nicht sehr effektiv“, erklärt
Edwards: „Wenn sich junge Paare
ein Kind wünschen und häufig miteinander schlafen, beträgt die Konzeptionsrate pro Zyklus höchstens
20 Prozent. Es gibt also natürliche
Grenzen. Wir haben damals mit einer Geburtenrate von fünf Prozent
angefangen, und die hat sich inzwischen doch erhöht.“
Zu den in Deutschland intensiv
debattierten Möglichkeiten der IVF
gehört die Präimplatantationsdiagnostik (PID). Dabei wird ein Embryo
vor der Implantation auf seine genetischen Eigenschaften untersucht.
Bei Erbanlagen für Muskeldystrophie Duchenne, Mukoviszidose, Fragiles-X-Syndrom oder Trisomie 21
zum Beispiel lassen Ärzte in anderen
Ländern, in denen die PID erlaubt
ist, die entsprechenden Embryonen
gezielt im Labor absterben. Die PID
ist für viele Ärzte, auch für die Bundesärztekammer, unter bestimmten
Umständen akzeptabel, galt aber bislang nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz als verboten. Der
Bundesgerichtshof aber kam im Juli
dieses Jahres zu dem Schluss, das
Gesetz erlaube die PID an pluripotenten Zellen. „Für uns Ärzte wäre es
nun wichtig, dass hier Klarheit geschaffen wird, damit wir uns nicht in
einer juristischen Grauzone bewegen
müssen“, betont Döhmen.
Die IVF kann als eine Brückentechnologie gesehen werden. Es
waren viele Fragen zu klären: wie
die der Eizellreifung, ihrer Gewinnung und der notwendigen Kulturbedingungen. Die Reproduktionsmedizin ist heute ein komplexes
Fachgebiet, das weit in Bereiche
wie die Geburtshilfe, die Onkologie
und die Endokrinologie hinein▄
reicht.
4
3,5
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Ethische Bedenken
Robert G. Edwards studierte
Biologie an der Universität in
Wales und später im schottischen Edinburgh. Nach dem
Studium begann er seine
Forscherlaufbahn am Londoner National Institute for
Medical Research. Ab 1963
arbeitete er in Cambridge an
der Bourn Hall Clinic, dem
weltweit ersten IVF-Zentrum.
Heute ist der 85-Jährige
emeritierter Professor der
Cambridge-Universität.
Ts
Ärzteblatt. „Ich würde mir wünschen, dass dieser Nobelpreis die aktuellen Bemühungen in Deutschland
unterstützt, die Methoden der IVF
weiter optimieren zu können.“ Konkret meint Döhmen damit zum Beispiel die in Deutschland verbotene
Eizellspende für Frauen mit Kinderwunsch, bei denen die Verwendung
eigener Eizellen nach einer Krebsbehandlung zum Beispiel nicht möglich oder mit erhöhten Risiken assoziiert ist. Die Samenspende dagegen
ist erlaubt, was angesichts des
Gleichbehandlungsgrundsatzes kritisch diskutiert wird.
Auch werden im Allgemeinen
zwei bis drei Embryonen verpflanzt,
so dass es bei circa 20 Prozent der
Schwangerschaften Mehrlinge gibt.
Ist eine Mehrlingsschwangerschaft
mit hohem Risiko für die Mutter verboten, reduzieren die Ärzte die Feten
(selektiver Fetozid) – ein ethischmoralisches Problem, mit dem die
verschiedenen Länder unterschiedlich umgehen.
28
Heft 42, 22. Oktober 2010
Das Urteil des Bundesgerichtshofs
zur Präimplantationsdiagnostik
dürfte zur Aufschnürung des
Embryonenschutzgesetzes führen.
Mit weitreichenden Folgen
er Hamburger Strafrechtler
Prof. Dr. Reinhard Merkel
verteidigt die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs (BGH) zur Präimplantationsdiagnostik (PID) ziemlich witzig so: Die Auffassung des
BGH, die PID verstoße nicht gegen
das Embryonenschutzgesetz, sei
zwar formalrechtlich falsch, doch
liege das Gericht rechtsethisch
richtig. Denn das bewusste Gesetz
sei hinsichtlich der PID dringend
korrekturbedürftig. Es verbiete etwas, was an anderer Stelle erlaubt
sei. Merkel verweist in seinem Auf-
D
N
Vom Kinderwunsch
zum Wunschkind
29
satz in der „FAZ“ vom 3. August
auf den angeblichen Widerspruch
zu § 218 a Absatz 2 Strafgesetzbuch, der die sogenannten Spätabtreibungen straffrei lässt. Das störte
auch den BGH. „Und von hier aus“,
erkennt der Strafrechtler, „schlägt
sich wie von selbst ein Bogen zur
Rechtfertigung der PID.“ Merkel
zieht damit eine inzwischen vertraute Bahn. Auch der Präsident
der Bundesärztekammer, Prof. Dr.
med. Jörg-Dietrich Hoppe, zeigte
sich erfreut, dass nunmehr „die unlogische Diskrepanz“ endlich aufgehoben sei.
Damit fällt allerdings auch die
Argumentation der Kritiker der
Spätabtreibung – wenn schon PID
verboten sei, dürften Abtreibungen
nach der zwölften Schwangerschaftswoche erst recht nicht straffrei bleiben – in sich zusammen.
Nun ist beides erlaubt, Rechtsangleichung auf dem unteren Niveau.
Es sei denn, PID würde ausdrücklich gesetzlich untersagt. Nach dem
BGH-Urteil vom 6. Juli setzten sich
Kirchen wie Behindertenorganisationen, auch vereinzelte Politiker,
so etwa der Behindertenbeauftragte
der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), für ein Verbot ein.
Nationaler Ethikrat
für Zulassung der PID
Ob Verbot oder förmliche Zulassung, dazu müssten das Embryonenschutzgesetz aufgeschnürt und
einige Paragrafen explizit über PID
eingefügt werden. Ausgang offen.
Die Enquetekommission „Recht
und Ethik der modernen Medizin“
des 14. (vergangenen) Deutschen
Bundestages hat sich zwar 2002 mit
16 zu drei Stimmen dafür ausge-
Foto: Keystone
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
sprochen, PID in Deutschland nicht
zuzulassen. Doch in der laufenden
Legislaturperiode dürften die Karten anders gemischt sein. Ein Verbot forderte 2002 auch der 105.
Deutsche Ärztetag; ob der bei seiner Meinung bleibt, wird sich erst
nächstes Jahr zeigen können. Der
Nationale Ethikrat unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders plädierte 2003 mit 15 zu sieben für die
begrenzte Zulassung der PID. Zwei
weitere Mitglieder wollten PID der
Gewissensentscheidung des Einzelnen im Konfliktfall überantworten.
Der damalige Ethikrat sprach sich
zudem für ein Fortpflanzungsmedizingesetz aus, das die gesamte Reproduktionsmedizin regeln solle. In
diesem Sinn berät jetzt auch der
nunmehr gesetzlich fundierte Nationale Ethikrat. Bei dessen Sitzung
am 23. Juli ging es nur am Rande
um PID, sondern vorrangig um die
Reproduktionsmedizin insgesamt.
Der Mannheimer Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Jochen Taupitz
erklärte das Embryonenschutzgesetz für überholt und gab zu bedenken, es „durch ein breiter gespanntes Fortpflanzungsmedizingesetz
abzulösen“. Taupitz, der auch der
Zentralen Ethikkommission bei
der Bundesärztekammer angehört,
zählte schon im alten Ethikrat zu
den Vorkämpfern der PID. Die Bioethikerin Prof. Dr. Regine Kollek,
die bei der Juni-Sitzung des Rates
das Koreferat zu Taupitz hielt, vertrat hingegen die Meinung, nicht
einmal das Embryonenschutzgesetz
müsse zwingend geändert werden.
Doch wenn nicht alles täuscht, dann
läuft die Diskussion inzwischen in
Richtung Fortpflanzungsgesetz.
„Qualitativ hochwertige“
Embryonen
Das von einem Reproduktionsmediziner aus Berlin erzwungene Urteil
des BGH zu PID könnte somit zu einer weitergehenden Gesetzgebung
führen, bei der die bisher offene
Frage der Reproduktionsmedizin
rechtlich geklärt, Verbote aufgehoben oder bestätigt und PID beiläufig
mitbehandelt würde. Das wäre
durchaus im Sinne einiger Wortführer der Fortpflanzungsmedizin.
Auf deren Wunschliste stehen zum
Beispiel die Eizellenspende, die
Kultivierung von Embryonen zu allerlei Zwecken, etwa zur Erzeugung
von Rettungsgeschwistern oder für
das Elective-single-embryo-Verfahren (eSET). Damit ist die kurzzeitige
Erzeugung von Embryonen gemeint,
aus denen dann die morphologisch
besten ausgewählt werden. Zur Einstimmung hat vor zwei Jahren aus-
KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Reproduktionsmediziner
Durch die Präimplantationsdiagnostik (PID)
bietet sich eine Möglichkeit, bei Paaren mit
schweren genetisch determinierten Erkrankungen bereits vor Etablierung einer Schwangerschaft betroffene Embryonen zu diagnostizieren und vor eben dieser Schwangerschaft auszuschließen. Dadurch kann ein belastender
Schwangerschaftsabbruch verhindert werden.
Die Schwangerschaft auf Probe kann abgelöst
werden durch die Zeugung auf Probe. Nachdem viele Jahre sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Zulässigkeit der PID
aufeinanderprallten und Ärzte aus Angst vor
Strafverfolgung daher diese Methode nicht anwendeten, hat das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) jetzt für Rechtssicherheit für Ärzte
und Betroffene gesorgt. Die Präimplantations-
diagnostik ist in Deutschland möglich geworden! Obwohl weltweit pro Jahr mehr als
600 000 Zyklen zur In-vitro-Fertilisation durchgeführt werden, wurde im Jahr 2006 nur in
Pro Zulassung PID
1 876 Fällen eine Präimplantationsdiagnostik
durchgeführt. Dies zeigt, dass die Indikation
zur PID sehr streng gestellt wird. Die PID sollte
lediglich eingesetzt werden zum Ausschluss
einer nicht therapierbaren schweren Erbkrankheit. Auch die Polkörperdiagnostik ist hierfür
bei monogenetischen Erkrankungen geeignet.
Randomisierte prospektive Studien haben
gezeigt, dass das Aneuploidiescreening nicht
die erhofften Ergebnisse einer Verbesserung
der Schwangerschaftsrate und Reduzierung
der Abortrate bei älteren Patientinnen brachte.
Deshalb sollte dieses Aneuploidiescreening
heute am Embryo und auch an der Eizelle mit
Polkörperdiagnostik nicht mehr außerhalb von
Studien angeboten werden.
Zwar ist durch das Urteil des Bundesgerichtshofs die PID rechtlich in Deutschland
möglich geworden, jedoch ist es für die beteiligten Ärzte wichtig, dass dieses auch gesetzlich positiv geregelt wird. Sinnvoll wäre es, das
überalterte Embryonenschutzgesetz durch ein
neues Fortpflanzungsmedizingesetz unter Einbeziehung des elektiven Single-Embryo-Transfers und der Eizellspende zu diskutieren und zu
verabschieden.
30
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
gerechnet die SPD-nahe FriedrichEbert-Stiftung – solches Gedankengut vermutet man eher bei der FDP –
ein Gutachten vorgelegt. Hinter ihm
stecken so prominente Fortpflanzungsmediziner wie die Professoren
Klaus Diedrich (Lübeck), Hermann
Hepp (München) und Ricardo Felberbaum (Kempten), die sich auch
zugunsten der PID verwenden.
Durch das eSET-Verfahren verspricht man sich bessere Ergebnisse
bei IVF; „qualitativ hochwertige“
Embryonen könnten, so die Hoffnung, die sogenannte Baby-takehome-Rate, also die Zahl der tatsächlich nach IVF/ICSI geborenen
und überlebenden Kinder erhöhen.
Sie liegt heute bei 17,5 Prozent
(detaillierte Statistiken unter www.
deutsches-ivf-register.de). Das ist
relativ bescheiden im Vergleich zu
den belastenden Prozeduren, mit
denen IVF für die Paare verbunden
ist. Das eSET ist nach dem Embryonenschutzgesetz verboten, falls
man sich auf die Rechtslage noch
verlassen kann.
Belgien oder Spanien, die den Preis
eben zahlen. Der BGH erklärt zwar
zu seiner Entscheidung, „einer unbegrenzten Selektion von Embryonen anhand genetischer Merkmale,
etwa die Auswahl von Embryonen,
um die Geburt einer ,Wunschtochter‘ oder eines ,Wunschsohnes‘ herbeizuführen, wäre damit nicht der
Weg geöffnet.“ Und die Bundesärztekammer sekundiert, der BGH
Selbst wenn „nur“ PID gesetzlich
geregelt werden sollte – eine Talfahrt
steht bevor. Denn der Wunsch, ein
gesundes Kind zu bekommen, wird
rechtlich und ethisch teuer erkauft.
habe eindeutig klargestellt, dass die
PID keinesfalls als Methode zur Erzeugung sogenannter Designerbabys erlaubt sei. Strafrechtler Merkel
tut Schlagworte wie „Designerkinder“ oder „behindertenfreie Welt“
als „ideologische Geisterbeschwörungen“ ab. Doch solches Abwiegeln zeugt auch davon, dass den
Abwieglern nicht ganz wohl in ihrer Haut ist. Denn PID dient nun
mal der Selektion. Das Thema ist
hierzulande tabuisiert. Doch man
möge die Vergangenheit endlich
hinter sich lassen, äußerte dieser
Tage ein erfolgreicher Berliner Fertilisationsarzt. In der Tat, so systematisch wie vor drei Generationen
in Deutschland, aber auch anders-
Das Thema PID ist hierzulande
tabuisiert
Doch selbst wenn „nur“ PID gesetzlich geregelt werden sollte – eine Talfahrt steht bevor. Denn der so
verständliche Wunsch von Eltern
oder Paaren, nur ein gesundes Kind
zu bekommen, wird rechtlich und
ethisch teuer erkauft. Da hilft auch
kein Hinweis auf Großbritannien,
KOMMENTAR
Michael Wunder, Mitglied des Deutschen Ethikrates
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat ein Tor geöffnet,
an dem schon lange gerüttelt wird und das schwer
zu schließen sein wird. Das Embryonenschutzgesetz scheint mir immer noch völlig eindeutig: Eine
Kontra Zulassung PID
Eizelle darf nur zum Zweck der Herbeiführung einer
Schwangerschaft künstlich befruchtet werden. Das
lässt meiner Ansicht nach weder zu, Eizellen auf
Probe zu erzeugen, noch wie der BGH es tut, die
Präimplantationsdiagnostik als „unselbstständiges
31
Zwischenziel in einem Gesamtvorgang“ zu bewerten, wobei es auf den einzelnen aussortierten Embryo nicht ankommen soll. Jeder Embryo trägt von
Anfang an das ganze Potenzial eines individuellen
Menschen in sich, womit ihm Menschenwürde
zukommt. Überall in der Welt, wo die PID erlaubt
ist, weitet sich ihr Anwendungsbereich aus: von der
Wegwahl risikobehafteter oder unerwünschter zur
Auswahl erwünschter und für andere Zwecke
nützliche Embryonen. Dennoch brauchen wir jetzt
einen tragfähigen und Frieden herstellenden
Kompromiss. Wie der aussehen kann, ist allerdings
noch völlig offen.
wo, Eugenik getrieben wurde, kann
PID nicht getrieben werden. Doch
das Prinzip der gezielten Auswahl
der Gesunden und der Aussonderung der Behinderten kehrt mit ihr
in die Gesellschaft zurück. Auch
wenn Selektion als „Elektion“ oder
positiv gewendet als „Wunschkindmedizin“ daherkommt.
Der Wissenschaftliche Beirat
der Bundesärztekammer beteuerte
in seinem „Diskussionsentwurf“
2000, PID solle nur eng begrenzt
zugelassen werden. Die Grenze
wollte und konnte er freilich nicht
benennen. Schließlich ist die wissenschaftliche Entwicklung im
Fluss. Auch mag sich die Auffassung, was als behindert gilt, ändern.
Die Europäische Gesellschaft für
Reproduktionsmedizin und Embryologie listet derzeit 54 monogene Erbkrankheiten auf, die mittels
PID analysiert werden können. Und
man mache sich nichts vor: Wenn
die Analyse des Geschlechts möglich und heiß ersehnt ist, dann wird
sie vom Auftraggeber nachgefragt
und vom Auftragnehmer schließlich erfüllt. Wenn auch bis auf weiteres im nahen Ausland.
Nein, wer einmal auf der Rutschbahn sitzt, rutscht, bis er ganz unten
landet. Auch wir hier in Deutschland sitzen jetzt drauf. Die Rutschbahn wurde, um im Bild zu bleiben,
von den engagierten Wissenschaftlern aufgerichtet, die die IVF entwickelt haben. Aus den Anfängen ist
ein ansehnlicher medizinisch-technischer Komplex – 120 Zentren allein in Deutschland, fast 70 000 Behandlungen jährlich – entstanden,
der seine eigene Dynamik entwickelt. Da scheint es fast vermessen
zu fragen, ob jene Paare, die natürlicherweise kein Kind bekommen
können oder deren genetische Disposition ein behindertes Kind wahrscheinlich sein lässt, ihr Lebensglück nicht auch anders finden können – oder mit einem behinderten
Kind finden. Wäre das wirklich zu▄
viel verlangt?
Norbert Jachertz
@
Ein Pro und Kontra vom Medizinrechtler
Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz und dem
Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, im Internet:
www.aerzteblatt.de/102040
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 42, 22. Oktober 2010
KOMMENTAR
Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz, Medizinrechtler
Die verfassungsrechtliche Betrachtung der PID
muss neben dem Schutz des Embryos auch den
Schutz des betroffenen Elternpaares und insbesondere der Mutter einbeziehen. Der Schutz von
Pro Zulassung PID
Ehe und Familie nach Artikel 6 GG beinhaltet
auch das Recht einer Behandlung ungewollter
Kinderlosigkeit. Wenngleich der Kinderwunsch
hierbei keineswegs das Recht auf ein bestimmtes
Wunschkind begründet, sind doch die Interessen
und Konflikte der potenziellen Eltern jedenfalls
dann ernst zu nehmen, wenn sie wissen, dass sie
einem besonders hohen Risiko der Vererbung
einer schwerwiegenden genetisch bedingten
Krankheit ausgesetzt sind. In einer solchen Situation ist es kaum überzeugend, der potenziellen
Mutter bestimmte Informationsmöglichkeiten vor
der Einnistung der befruchteten Eizelle zu verweigern, die sie nach der Einnistung ohne weiteres
bekommen kann und zur Grundlage ihrer Abtreibungsentscheidung machen darf. Lehnt man die
PID in dieser Situation ab, lässt man die Abtreibung dagegen zu, mutet man der Frau eine
„Schwangerschaft auf Probe“ mit all den psychischen und physischen Belastungen einer späteren Abtreibung zu. Bezogen auf den Embryo
bedeutet dies, dass man den Embryo erst weiter
heranreifen lassen muß, um ihn dann wegen einer aus seiner genetischen Schädigung resultierenden Konfliktlage der Mutter doch abtreiben zu
dürfen. Dies ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn hierdurch die Chancen des Embryos
auf Leben erhöht würden. Das läßt sich jedoch
nicht sagen. Denn dass sich Frauen in der
Schwangerschaft eher zugunsten der Austragung
des Kindes entscheiden, einen Embryo in vitro
wegen eines gleichen pathologischen Befundes
dagegen eher (oder gar „leichten Herzens“)
ablehnen, ist empirisch nicht belegbar.
Allerdings sollte – soweit möglich – alles unternommen werden, um der Frau das Austragen
auch eines behinderten Kindes zu ermöglichen.
Zudem sollte der PID (wie der Abtreibung) eine
verantwortliche, auf das Leben gerichtete Beratung vorangehen. In dieser Weise sollte die Frau
bei ihrer Entscheidung für das Leben unterstützt
werden, muss ihr aber – wie das Bundesverfassungsgericht bezogen auf die Abtreibungssituation formuliert hat – die „Letztentverantwortung“
überlassen werden.
Die geltende Rechtslage ist unbefriedigend –
und zwar sowohl aus dem Blickwinkel derjenigen,
die die PID (in Grenzen) befürworten, als auch aus
Sicht derer, die sie völlig ablehnen. Denn das BGHUrteil lässt viele Fragen offen. Der BGH betont
zwar, dass nur eine PID zur Ermittlung schwerer
genetischer Schäden des Embryo nach geltendem
Recht straflos sei. Dabei hat das Gericht aber nicht
festlegt, wie schwer die (vermutete) Schädigung
des Embryos sein muss und von wem die Grenzen
festgelegt werden. Der vom BGH vergleichend
herangezogene § 3 S. 2 ESchG, der den zulässigen
Umfang einer Spermienselektion zur Vermeidung
einer schwerwiegenden geschlechtsgebundenen
Erbkrankheit regelt, macht dies von einer Festlegung der jeweiligen Landesbehörde abhängig. Eine
solche ist aber, soweit ersichtlich, bisher in keinem
Bundesland erfolgt. Damit sind auch die Grenzen
einer zulässigen PID unklar. Insofern bedarf es
dringend einer gesetzgeberischen Entscheidung.
Eine Regelung der PID kann man sich nicht nur im
Embryonenschutzgesetz, sondern eher noch im
Gendiagnostikgesetz vorstellen, das ja seit dem
1. Februar 2010 unter anderem die pränatale Diagnostik regelt. Dann könnte z.B. auch die vom BGH
offengelassene Frage beantwortet werden, ob das
Verbot einer pränatalen Diagnostik zur Ermittlung
spät manifestierender genetisch bedingter Krankheiten auch für die PID gelten soll. Langfristiges
Ziel muss allerdings die Erarbeitung eines umfassenderen Fortpflanzungsmedizingesetzes bleiben.
32
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 42, 22. Oktober 2010
KOMMENTAR
Hubert Hüppe, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung
PID heißt, Embryonen extrakorporal zu erzeugen, um sie nach genetischen Kriterien zu selektieren. Nur zur Ermöglichung der Selektion wird
IVF bei in der Regel fortpflanzungsfähigen Patienten eingesetzt.
PID zielt darauf ab, die Geburt von Menschen mit bestimmten Anlagen
zu verhindern, indem man unter einer Mehrzahl erzeugter IVF-Embryonen
solche mit unerwünschten Anlagen identifiziert und tötet bzw. sterben
lässt. Letzteres wurde gelegentlich schon feinsinnig als „beiseitelegen“
Kontra Zulassung PID
umschrieben – der Euphemismus enthüllt mehr, als er verschleiert.
Zunächst zeigen die seit Jahren von der European Society of Human
Reproduction and Embryology (ESHRE) dokumentierten Erfahrungen des
Auslands, dass der Anwendungsbereich einer einmal zulässigen PID immer weiter ausgedehnt wird, bis hin zur Geschlechtsselektion als „social
sexing“. In Deutschland scheuen sich die PID-Befürworter, einen Katalog
über lebenswertes und unwertes Leben zu erstellen. Doch genau diese
Entscheidung wird nach jeder PID getroffen.
Zudem erfüllen, wenn man die 2009 publizierten ESHRE-Daten liest,
IVF und PID nur einer Minderzahl Betroffener den Wunsch nach einem
„gesunden“ Kind. Nur jede fünfte Frau bekommt nach PID überhaupt ein
Kind. Auch nach PID finden Abtreibungen und Fetozide statt, und einige
Kinder kommen trotz aller Untersuchungen behindert zur Welt. Wie fühlt
sich eigentlich die ganz große Mehrheit der Paare, die leer ausgeht.
Würde bei diesen Menschen nicht noch viel mehr von dem Leid ge-
schaffen, von dem immer im Zusammenhang mit der PID-Diskussion
gesprochen wird?
Vor allem: PID diskriminiert Menschen, die mit Behinderungen,
Krankheiten oder Veranlagungen leben, die Grundlage und Selektionsmerkmal einer PID einschließlich „Verwerfen“ betroffener Embryonen
sind.
Kann es einen abschließenden Katalog „besonders schwerwiegender“
Veranlagungen oder Behinderungen geben, wo PID „eng begrenzt“ zulässig wäre? Eine rechtlich – und wenn auch nur konditioniert – zulässige
PID würde uns und diese Menschen jeden Tag damit konfrontieren, dass
nicht nur ihre Existenz heutzutage dank PID vermeidbar wäre, sondern
auch damit, dass die Vermeidung ihrer Existenz qua PID heute Konsens aller Demokraten wäre. Könnten die Betroffenen, könnten wir das aushalten,
könnten wir das ethisch vertreten? Widerspricht das nicht allem, was wir
zum Umgang mit Krankheit und Behinderung in den letzten Jahrzehnten
dazugelernt und für richtig gehalten haben? Wollen wir dennoch einen solchen Weg einschlagen, und wenn: warum?
Die Antwort auf dieses „warum“ ist schuldig, wer heute für die Zulässigkeit der PID eintritt.
Es gibt etliche tragbare Alternativen zu PID, darunter die in Deutschland gut etablierte Polkörperdiagnostik (das Ärzteblatt hatte berichtet),
und damit ethisch gangbarere Wege als PID.
Der Gesetzgeber muss ein gesetzliches Verbot der PID aussprechen.
Er hat zuletzt im Gendiagnostikgesetz geeignete Anknüpfungspunkte formuliert. Und er darf sich dabei nicht viel Zeit lassen, um Zweifeln an seinen Grundüberzeugungen keinen Raum zu geben.
Heft 42, 22. Oktober 2010
RECHTSREPORT
PID zur Entdeckung schwerer
genetischer Schäden rechtens
Der mit dem Embryonenschutzgesetz verfolgte Zweck des Schutzes von
Embryonen vor Missbräuchen steht der Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht entgegen. Das Embryonenschutzgesetz erlaubt die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ohne weitere Einschränkungen. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden. Damit ist der angeklagte Frauenarzt vom Vorwurf einer dreifachen strafbaren Verletzung des Embryonenschutzgesetzes freigesprochen worden. Er führte in den Jahren 2005 und 2006 bei
drei Paaren die Präimplantationsdiagnostik an pluripotenten, das heißt
nicht zu einem lebensfähigen Organismus entwicklungsfähigen Zellen
durch. Die Untersuchung diente dem Zweck, nur Embryonen ohne genetische Anomalien übertragen zu können. In allen drei Fällen lag nämlich
bei einem der Ehepartner der Paare eine genetisch bedingte Erkrankung
vor. Zum Teil hatten die Patientinnen bereits behinderte Kinder geboren.
Das Tun des angeklagten Frauenarztes war von dem Willen getragen,
bei den von ihm behandelten Frauen – von denen die entnommenen Ei-
33
zellen auch stammten – eine Schwangerschaft herbeizuführen. Die Untersuchung der Embryonen stellt nach Auffassung des Gerichts kein
durch § 2 Absatz 1 Embryonenschutzgesetz verbotenes „Verwenden“
oder eine missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken
nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Embryonenschutzgesetz dar. Der Gesetzgeber
wollte damals durch das Embryonenschutzgesetz die extrakorporale Befruchtung nur unter der Voraussetzung erlauben, dass sie auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft abzielt. Hiermit sollten zugleich vor
allem die verbrauchende Embryonenforschung und gespaltene Mutterschaften unter Strafandrohung verboten werden. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sowohl eine ausdrückliche Ablehnung
oder auch Billigung der PID weder im Wortlaut des Gesetzes, noch in
den Gesetzesmaterialien niederschlägt. Vielmehr würde mit dem Ausschluss der PID sehenden Auges das hohe Risiko eingegangen, dass ein
nicht lebensfähiges oder schwer krankes Kind geboren wird. Dies bedeutet nicht die unbegrenzte Selektion anhand genetischer Merkmale.
Gegenstand der Entscheidung ist nur die Untersuchung von Zellen auf
schwerwiegende genetische Schäden. (Bundesgerichtshof, Urteil vom 6.
Juli 2010, Az.: 5 StR 386/09)
RAin Barbara Berner
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 42, 22. Oktober 2010
PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
Das Parlament ist gefragt
Foto: Caro
In den Ländern, in denen die PID prinzipiell zugelassen ist, besteht oft
gleichzeitig ein hoher Druck, den Anwendungsbereich zu erweitern.
TABELLE
Rechtlicher
Status der PID
in Europa
Zulässig
Belgien
Dänemark
Großbritannien
Frankreich
Griechenland
Niederlande
Norwegen
Schweden
Spanien
Unklar
Finnland
Italien
Luxemburg
Portugal
Verboten
Deutschland
Österreich
Schweiz
Quelle: Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales
Strafrecht, Freiburg
ie Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Juli, die Präimplantationsdiagnostik
(PID) in Deutschland grundsätzlich
zuzulassen, lässt es innerhalb der
schwarz-gelben Koalition einmal
mehr knirschen und krachen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
sprach sich jetzt mit Nachdruck für
ein Verbot der PID aus. Ganz anderer Meinung ist der Koalitionspartner: „Wir wollen klarstellen, dass
die PID ohne jeden Zweifel möglich ist“, sagte bereits Anfang Oktober die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, Ulrike Flach. Sie
müsse jedoch „auf schwere genetische Krankheitsdispositionen“ beschränkt bleiben und dürfe nur von
geschultem Personal an lizenzierten
Zentren vorgenommen werden.
Doch genau bei diesem Punkt
haben Unionspolitiker Zweifel. Allerdings genügen Lippenbekenntnisse jetzt nicht mehr, denn aus der
Welt schaffen lässt sich das BGHUrteil nur mit einem neuen Verbotsgesetz. Für Dr. med. Peter Liese,
CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament, ist klar: „Der
Bundestag muss eine Entscheidung
für ein klares Verbot treffen. Die Er-
D
fahrungen im Ausland zeigen, dass
man die PID nicht begrenzen
kann.“
Tatsächlich werden zum Teil in
den Ländern, in denen die PID zugelassen ist (Tabelle), auch Erkrankungen diagnostiziert, die erst in
späteren Lebensjahren zu Symptomen führen. Der Pädiater verweist
dabei auf die polyzystische Nierenerkrankung, die Bestimmung des
BRCA-Gens als Marker für eine
erhöhte Wahrscheinlichkeit einer
künftigen
Brustkrebserkrankung
oder die Polyposis coli, bei der ein
sehr hohes Risiko besteht, an
Darmkrebs zu erkranken. „Eine
sehr intensive Vorsorge und gegebenenfalls die Entfernung des
Darmes können jedoch ein relativ
gesundes Leben bis ins hohe Alter
ermöglichen“, erläutert Liese. Gleichzeitig treibt den Mediziner noch
eine andere Sorge um: „In Großbritannien, Belgien und anderen Ländern ist es mittlerweile Praxis, dass
Embryonen nicht nur auf die Frage
hin selektiert werden, ob sie selbst
in ihrem späteren Leben erkranken
werden. Stattdessen werden gezielt
Designerbabys hergestellt, um ein
betroffenes Geschwisterkind zum
Beispiel durch eine Knochenmarkspende zu behandeln.“ Auch Geschlechtsbestimmungen eines Kindes durch PID seien an der Tagesordnung: Eltern in Großbritannien
haben vor Gericht angeführt, dass
dringend ein Mädchen geboren
werden müsse, da sie bereits drei
Jungen haben und ein Mädchen
durch einen Unfall ums Leben gekommen sei. Das „psychologische
Gleichgewicht“ der Familie könne
nur durch die Geburt eines Mädchen wiederhergestellt werden.
Um solche und ähnliche Selektionen zu vermeiden, verweisen
PID-Befürworter auf begrenzte
PID-Indikationen – so wie sie beispielsweise in Frankreich existieren. Es sei nahezu unmöglich, zwischen einer schwerwiegenden und
einer weniger schwerwiegenden genetischen Krankheit zu unterscheiden, sagte Merkel. In der Tat hängt
die phänotypische Ausprägung
nicht nur von der Genetik ab. Zudem werden Krankheiten subjektiv
unterschiedlich
wahrgenommen.
„Wir würden mit einer Liste ein Urteil darüber treffen, ob das Leben
mit der Erkrankung lebenswert ist
oder ein Kind abgetrieben werden
muss“, erläutert auch Liese dem
Deutschen Ärzteblatt. Gleichzeitig
verweist der Arzt auf das CDUGrundsatzprogramm, das beginnend mit der Verschmelzung von
Samen und Eizelle den besonderen
Schutz des ungeborenen Lebens
und den kritischen Umgang mit den
sich weiterentwickelnden Möglichkeiten der Pränataldiagnostik vorsieht. Explizit schließe es die PID
aus. „Ich gehe davon aus, dass sich
die meisten CDU-Abgeordneten
daran gebunden fühlen“, meint der
CDU-Politiker.
Zeigen wird sich dies auf dem
CDU-Bundesparteitag im November,
auf dem man sich mit dem PID-Verbot befassen will, wie die Kanzlerin
ankündigte. Eine weitere bioethische
Zerreißprobe steht mit der erneuten
Debatte um die PID dann auch dem
Parlament bevor. Parallel beschäftigt
sich ebenso der Deutsche Ethikrat
mit dem Thema. Voraussichtlich bis
zum Sommer 2011 will er eine Stel▄
lungnahme zur PID erarbeiten.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
34
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 44, 5. November 2010
PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
Eile ist kein guter Berater
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
ährend in den vergangenen Wochen und Monaten das Urteil des Bundesgerichtshofs zur Präimplantationsdiagnostik (PID) nur ein vergleichsweise
geringes gesellschaftliches, politisches und mediales
Echo gefunden hat, kann es nun der Regierungskoalition offensichtlich gar nicht schnell genug gehen, eine
Entscheidung über die umstrittene Methode herbeizuführen. Sowohl bei Union als auch bei den Liberalen
herrscht Eile in dieser Frage. Sogar von einer Abstimmung im Parlament noch vor Weihnachten war bereits
die Rede.
„Wir müssen nicht weiter diskutieren, sondern
brauchen eine schnelle Entscheidung“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, Ulrike Flach,
in einem Zeitungsinterview. Die PID sei eine Methode, die seit Jahren bereits im Ausland praktiziert werde. Neuigkeiten gebe es nicht, meinte die langjährige
Befürworterin der Methode, die gemeinsam mit Fraktionskollegen einen Antrag zur Zulassung der PID in
den Bundestag einbringen will.
Eilig haben es auch einige Unionspolitiker – jedoch
unter einem anderen Vorzeichen. Nachdem sich jüngst
Bundeskanzlerin Angela Merkel für ein Verbot der PID
ausgesprochen hat, drängen sie darauf, dies rasch gesetzlich festzuschreiben. „Der Bundestag muss möglichst
schnell entscheiden, ansonsten werden Fakten geschaffen, die nur schwer wieder rückgängig zu machen sind“,
sagte Dr. med. Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der Christdemokraten im Europäischen Parlament.
Dabei verwies er auf Reproduktionskliniken, die jetzt
schon neue Mitarbeiter suchten, um die PID anbieten zu
können. Eine Zulassung der PID in engen Grenzen hält
Liese nicht für praktikabel. Dies zeige die Erfahrung aus
dem Ausland. Gleichzeitig wies er auf die Alternative
der Polkörperdiagnostik hin. Sie sei in Deutschland legal, weil hier nicht der Embryo untersucht werde, sondern die Eizelle vor Abschluss der Befruchtung.
Gemeinsam mit Hubert Hüppe, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, und Prof. Dr. Patrick
W
35
Sensburg (beide CDU) setzt sich Liese deshalb für ein
eindeutiges Verbot der PID ein. Nach ihren Vorstellungen würde schon ein zusätzlicher Absatz in § 15 des
seit Februar 2010 gültigen Gendiagnostikgesetzes ausreichen, um die PID zu verbieten. Möglich ist Sensburg
zufolge eine Regelung, die besagt, dass vorgeburtliche
Untersuchungen an extrakorporalen Embryonen mit
der Zielsetzung, genetische und morphologische Eigenschaften oder das Geschlecht des Embryos festzustellen, nicht vorgenommen werden dürfen. Das Embryonenschutzgesetz müsste dazu nicht extra geändert
werden, meinte der Jurist, der einen entsprechenden
Gruppenantrag unterstützen will. Anfang nächsten Jahres soll der Bundestag abstimmen.
Damit bleibt dem Parlament nicht mehr viel Zeit.
Das ist ungewöhnlich. Bei bisherigen bioethischen Entscheidungen, bei denen der Fraktionszwang aufgehoben war, wurde dem Parlament für Gewissensentscheidungen mehr Einarbeitungs- und Bedenkzeit zugestanden. Diese benötigen einige Bundestagsabgeordnete
auch, um sich mit der Problematik vertraut zu machen,
beraten zu lassen und sich eine eigene Meinung zur
PID zu bilden. Etwas weniger Eile täte der Debatte auf
jeden Fall gut.
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Redakteurin für Gesundheits- und Sozialpolitik in Berlin
Heft 47, 26. November 2010
PRÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK
Gespaltene Gesellschaft
worter eines Verbots der PID und
ließ die Befürworter einer Zulassung „in engen Grenzen“ nicht unzufrieden zurück. Von der FDP kam
alsbald ein Signal in ihrem Sinne:
Sie sehe, so die stellvertretende Vorsitzende und gesundheitspolitische
Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Ulrike Flach, „für unsere
Position, eine eingeschränkte Zulassung der PID zu erreichen, jetzt
eine sehr gute Chance auf eine
Mehrheit im Parlament“. Ähnlich
Carola Reimann (SPD), die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses
des Bundestages: Sie gab sich „zuversichtlich, dass wir für unsere
Position einer eng begrenzten Zulassung der PID eine Mehrheit im
Bundestag bekommen“.
Die Kirchen suchen Lösungen
Auf die Kirchen können sich die
Christdemokraten in Sachen PID
kaum verlassen. Bekennende Protestanten wie Peter Hintze plädierten für die „engen Grenzen“, andere, so Thomas Rachel namens des
evangelischen Arbeitskreises der
CDU/CSU, für ein Verbot. Beim
ökumenischen Gottesdienst vor Beginn des Parteitags erinnerte der
Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert
Zollitzsch, an die unveränderte kaFoto: ddp
uf das christliche Menschenbild beriefen sich sowohl
Gegner als auch Befürworter der
Präimplantationsdiagnostik (PID)
beim CDU-Parteitag in Karlsruhe
am 16. November. Gemeinsam
suchten sie nach einer Lösung für
eine gesetzliche Regelung der PID.
Die CDU fand letztlich keine. Nach
einer dreieinhalbstündigen sachlichen
und doch hochemotionalen, von gegenseitigen Respektsbezeugungen
gekennzeichneten Debatte kam es
zwar zu dem Beschluss, PID zu verbieten, doch der fiel denkbar knapp
aus: 408 Delegierte forderten das
Verbot, 391 befürworteten eine Zulassung in engen Grenzen. Abgestimmt hatten 814 Delegierte, das
entspricht somit 51 beziehungsweise 49 Prozent der abgegebenen
Stimmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel
hatte sich in ihrer auf konservativ
und christlich eingestimmten Rede
auch zur PID geäußert und für ein
Verbot ausgesprochen, „weil ich
Sorge habe, dass wir die Grenzen
nicht definieren können“. Später
hatte sie mit einem rigorosen Eingriff in die Tagungsleitung dafür
gesorgt, dass das Thema ohne Begrenzungen von Redezeit und Rednerliste diskutiert werden konnte.
Das Ergebnis enttäuschte die Befür-
A
Foto: dpa [m]
Der CDU-Parteitag votierte nur knapp für ein Verbot der
PID. Auch die Kirchen und die Ärzteschaft sind uneins.
„Wenn das Leben
ein Geschenk
Gottes ist, dann ist
es nicht unter Bedingungen gegeben“,
meint Julia Klöckner.
Volker Kauder weist
auf die Entwicklung
der medizinischen
Indikation der Abtreibung hin und fürchtet bei der PID ähnliche Ausweitungen.
tholische Position: Das menschliche
Leben beginne mit der Verschmelzung von Eizelle und Samen. Die
Konsequenz: PID ist unzulässig,
weil sie dazu führt, menschliches
Leben zu „verwerfen“. Einen Monat zuvor hatte der neue Vorsitzende des Rates der Evangelischen
Kirchen in Deutschland, Nikolaus
Schneider, hingegen „seine Sympathie für das Bestreben, die PID unter eng gefassten Bedingungen zuzulassen“, kundgetan.
So auch die PID-Befürworter bei
der CDU. Allerdings konnten sie
auf dem Parteitag nicht darlegen,
wie und wo die „engen Grenzen“ zu
ziehen sind. Auch wichen sie der
Frage aus, ob nicht mit der Auswahl
nach gesund oder erblich belastet,
eine Bewertung von lebenswertem
oder nicht lebenswertem Leben getroffen wird. All jene, die PID zulassen wollen, haben vielmehr die
individuellen Schicksale betroffener Frauen und Paare im Blick. Und
sie haben Bilder von betroffenen
Frauen zur Hand, die sich sehnlich
ein gesundes Kind wünschen, aber
befürchten, eine genetische Belastung weiterzutragen. Bundesarbeitsministerin Dr. med. Ursula von der
36
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
37
ja, in welchem Umfang, die PID in
Deutschland anwendbar ist oder
nicht“, fordert Dr. med. Frank Ulrich Montgomery. Persönlich hält
der Vizepräsident der Bundesärztekammer (BÄK) die PID für ethisch
nicht vertretbar. „Als Bürger nehme
ich aber zur Kenntnis, dass sich
wahrscheinlich eine Mehrzahl der
Menschen die Möglichkeit der PID
für eng begrenzte Indikationen
wünscht. Wenn es also nicht zu einem Verbot kommt, sondern zu einer Zulassung der PID, müssen wir
Ärzte bereitstehen, einen ausufernden Missbrauch durch klare Regeln
der Anwendung zu verhindern.“
Umstritten: Indikationsliste
Vorschläge, wonach die BÄK einen
Katalog derjenigen Indikationen
ausarbeiten soll, bei denen eine Verwerfung des Embryos zulässig wäre, lehnt Montgomery jedoch als
nicht zielführend ab, da er die Träger dieser Erbmerkmale stigmatisieren würde. „Ich bevorzuge eine
Lösung wie bei der Lebendspende
im Transplantationsgesetz. Wir sollten Einzelfallentscheidungen durch
von der Ärztekammer eingesetzte
Kommissionen vorsehen“, erklärte
er gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Nach seiner Ansicht sollten
diese Kommissionen aus Ärzten,
Juristen, Psychologen und Religionswissenschaftlern bestehen und
sowohl die psychologische Situation des Paares betrachten als auch
die Möglichkeiten und Alternativen
zur PID ausloten.
Eine ähnliche Lösung präferiert
der Gynäkologe und langjährige
PID-Befürworter Prof. Dr. med.
Klaus Diedrich, Universität zu Lü-
„Keine PID ohne
In-vitro-Fertilisation“: Ursula von
der Leyen hält das
Verfahren für derart
belastend, dass es
den beschworenen
„Dammbruch“ geradezu verhindere.
Foto: action press
Leyen vermochte aus ihrer ärztlichen Erfahrung heraus mit bewegenden Schilderungen das Plenum
zu rühren. Den PID-Befürwortern
kommt zudem entgegen, dass über
den Beginn menschlichen Lebens
kein Einvernehmen herrscht. Familienministerin Kristina Schröder
zum Beispiel, die PID zulassen
möchte, setzte den Beginn mit der
Einnistung an. Der Embryo in der
Petrischale bereitet ihr deshalb keine ethischen Probleme.
Wiederholt wurde auf dem Parteitag der vermeintliche oder tatsächliche Widerspruch zwischen einer womöglich verbotenen PID und
der erlaubten Pränataldiagnostik
(PND) bemüht. Sei es nicht widersinnig, den Test des Embryos in der
Petrischale zu verbieten, PND im
Mutterleib mit der möglichen Folge
einer Spätabtreibung aber zu gestatten?, fragten die PID-Befürworter.
Die Antwort der Gegner: PID sei
ein nüchtern geplanter Vorgang,
während PND und Spätabtreibung
mit einem schweren Konflikt bei
der Mutter einhergingen. Das eine
könne mit dem anderen nicht verglichen werden.
Die Befürworter eines Verbots
der PID argumentierten nicht mit
dem Einzelfall, sondern grundsätzlich. Sie befürchten, die Grenzen
würden sich nicht festlegen lassen,
menschliches Leben werde qualifiziert, Behinderte diskriminiert. Sie
gehen davon aus, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung
beginne und unterschiedslos von
Anbeginn zu schützen sei.
Diese Haltung deckt sich mit der
geltenden Beschlusslage des Deutschen Ärztetages, dessen Delegierte
sich bereits im Jahr 2002 für ein
Verbot der PID ausgesprochen haben. Doch auch innerhalb der Ärzteschaft gehen – ähnlich wie innerhalb der politischen Parteien und
der Kirchen – die Ansichten, ob die
PID gesetzlich verboten werden
sollte, weit auseinander. Konsens
gibt es jedoch in einem Punkt: dem
Wunsch nach Rechtssicherheit für
die betroffenen Eltern und für die
verantwortlichen Ärztinnen und
Ärzte. „Am Ende dieser Debatte
müssen klare gesetzliche Regelungen stehen, ob überhaupt, und wenn
beck. „Die Paare sollten nach ausführlichen Informationsgesprächen
entscheiden können, ob sie eine
PID beantragen möchten. Die letztliche individuelle Entscheidung
darüber, ob diese vorgenommen
wird, sollte jedoch eine interdisziplinäre Kommission treffen, die bei
der Bundesärztekammer angesiedelt ist und ihrer strengen Kontrolle
unterliegt“, erläuterte er dem Deutschen Ärzteblatt. Es dürfe weder
eine Indikationsliste noch eine
„Ausweitung durch die Hintertür“,
beispielsweise auf sich spät manifestierende Erkrankungen, geben.
„Die PID kann in bestimmten Fällen
hilfreicher als die PND sein“, betonte Diedrich. „Von allen schwierigen und zum Teil schlechten Lösungen ist sie immer noch die beste.“
Das bewiesen auch die internationalen Zahlen zur Anwendung der
PID: „Es findet kein Dammbruch
statt“, sagte der Gynäkologe. Das
knappe Votum des CDU-Parteitages deutet er – obwohl es etwas
mehr zu einem Verbot tendierte –
als positives Signal: „Der Deutsche
Bundestag wird im nächsten Jahr
für eine begrenzte Zulassung der
PID plädieren“, hofft er.
Eine Freigabe der PID fordern
auch die Deutsche Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe und
der Berufsverband der Frauenärzte. „Ein Verbot der PID würde eine
Entmündigung der Frauen und der
Paare bedeuten, die eine erhebliche
genetische Belastung in ihre Elternschaft mitbringen und die häufig bereits behinderte Kinder zu
Hause betreuen“, schreiben sie in
einem offenen Brief an die BÄK.
Diese Frauen müssten eine neue
Schwangerschaft mit einer hohen
Wahrscheinlichkeit beginnen, dass
diese später durch einen Abbruch
beendet werde. Die Organisationen
setzen sich deshalb für eine Beratungsregelung und eine selbstverantwortliche Entscheidung der Eltern ein. Gleichzeitig schlagen sie
vor, eine PID-Indikationsliste und
gegebenenfalls Aktualisierungen
in die Hände einer bei der BÄK
angesiedelten Ethikkommission zu
▄
legen.
Norbert Jachertz
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 48, 3. Dezember 2010
ÜBERSICHTSARBEIT
Pränataldiagnostik
genetischer Erkrankungen
Peter Wieacker, Johannes Steinhard
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Die Pränataldiagnostik ist ein Teilbereich der
klinischen Genetik und Frauenheilkunde. Sie ist ein typisches Beispiel für die effektive Verbindung von theoretischer und klinischer Medizin. Meilensteine auf diesem
Weg waren einerseits die Entwicklung zytogenetischer,
molekulargenetischer und molekularzytogenetischer Methoden und andererseits der Fortschritt in der Sonographie. Dieses Verfahren ermöglicht es, das Risiko invasiver
Eingriffe zu senken und die Diagnostik von Fehlbildungen
zunehmend früher und zuverlässiger zu gestalten.
Methode: Es wird ein Überblick gegeben über selektiv recherchierte Literatur unter Berücksichtigung von Leitlinien
und Empfehlungen.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen: Der häufigste Anlass
für eine invasive Pränataldiagnostik ist der Wunsch nach
einer Beurteilung des embryonalen/fetalen Chromosomensatzes. Monogen bedingte Erkrankungen können zunehmend pränatal diagnostiziert werden, wobei man je nach
Fragestellung Gentests anwendet oder biochemisch untersucht. Polygen-multifaktorielle Erkrankungen können derzeit über genetische Tests nicht zuverlässig diagnostiziert,
aber im Falle von Fehlbildungen teilweise durch Ultraschall pränatal festgestellt werden. Möglichkeiten und
Grenzen invasiver und nichtinvasiver Verfahren der Pränataldiagnostik werden diskutiert.
►Zitierweise
Wieacker P, Steinhard J: The prenatal diagnosis of genetic diseases. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(48): 857–62.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0857
Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Münster:
Prof. Dr. med. Wieacker
Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Bereich Pränatale
Medizin, Universitätsklinikum Münster: Dr. med. Steinhard
er Begriff Pränataldiagnostik umfasst die Gesamtheit aller diagnostischen Bemühungen, Informationen über das Embryo oder den Feten zu erhalten. Im
engeren Sinne wird darunter die vorgeburtliche Diagnostik genetisch bedingter Erkrankungen oder deren Dispositionen verstanden. In Anbetracht der Fortschritte auf
diesem Gebiet wurden 1998 von der Bundesärztekammer Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen veröffentlicht (1).
Bei etwa 4 % aller Neugeborenen liegt eine erblich bedingte oder mitbedingte Erkrankung vor. Erblich mit determinierte Krankheiten kann man in drei Gruppen einteilen:
● Chromosomenaberrationen
● monogen bedingte Erkrankungen, die jeweils auf eine einzelne mutierte Erbanlage zurückzuführen sind
● polygen-multifaktorielle Krankheiten, die jeweils
durch mehrere Erbanlagen und exogene Faktoren
bedingt sind.
Im Folgenden werden die Möglichkeiten und Grenzen der Pränataldiagnostik chromosomaler Aberrationen und monogen erblicher Erkrankungen diskutiert.
Auf die Ultraschalldiagnostik zur vorgeburtlichen Diagnostik von Fehlbildungen – isoliert oder im Rahmen
übergeordneter Erkrankungen, die auch monogen vererbt werden können – wird in dieser Übersicht nicht
eingegangen.
D
Pränataldiagnostik von
Chromosomenstörungen
Typische Anlässe für eine vorgeburtliche Chromosomendiagnostik sind:
● Das mütterliche Alter: Mit steigendem Alter der
Mutter nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Chromosomenstörung beim Kind zu (Grafik). Bei etwa
der Hälfte der Chromosomenstörungen handelt es
sich um eine Trisomie 21 (Down-Syndrom) (2).
● Das Ergebnis eines nichtinvasiven Screening-Verfahrens.
● Ein sonographischer Befund, der den Verdacht
auf eine Chromosomenstörung nahelegt.
● Eine Chromosomenstörung wie Translokation,
Inversion oder Insertion bei einem Elternteil. In
diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer unbalancierten Chromosomenstörung beim Kind
über das mütterliche altersbedingte Risiko erhöht.
38
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Fruchtwasserzellen zur Ergänzung der konventionellen
zytogenetischen Diagnostik eingesetzt werden. Durch
FISH-Analyse
(Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung)
mit chromosomenspezifischen Sonden an Interphasekernen oder durch molekulargenetische Untersuchungen von hochpolymorphen Markern an einer DNAProbe, die aus nativen Amnionzellen isoliert wurde,
kann eine Aussage über numerische Störungen der
Chromosomen 13, 18, 21, X und Y getroffen werden
(Abbildung 2). Mit diesem Test kann man die häufigsten Chromosomenstörungen erfassen. Das Ergebnis der
Untersuchung liegt bereits nach ein bis drei Tagen vor.
Der Test ist vor allem dann bedeutsam, wenn im Ultraschall morphologische Auffälligkeiten festgestellt werden, die auf die genannten Aberrationen hinweisen, und
wenn bei fortgeschrittener Schwangerschaft kurzfristig
ein Ergebnis angestrebt wird. Ein pränataler Schnelltest
kann zwar bei unauffälligem Befund zur Beruhigung
der Schwangeren beitragen, aber er kann die Karyotypisierung nicht ersetzen (htpp://gfhev.de/de/Leitlinien/
index.htm).
GRAFIK 1
Chorionzottenbiopsie
Wahrscheinlichkeit einer Chromosomenstörung beim geborenen Kind in Abhängigkeit vom
mütterlichen Alter (nach Hooke, 1981) (2)
●
Eine vorhandene Chromosomenstörung bei einem
Kind des Paares: Zum Beispiel ist nach der Geburt eines Kindes mit einer freien Trisomie das
Risiko einer numerischen Chromosomenaberration bei jedem weiteren Kind um circa 1 % gegenüber gleichaltrigen Eltern erhöht (3).
Da für eine Chromosomenanalyse fetale Zellen erforderlich sind, ist ein entsprechender Eingriff notwendig. Hierfür stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, wobei die Wahl sich nach dem Schwangerschaftsalter, der Fragestellung und dem Eingriffsrisiko
richtet (Tabelle 1, eKasten 1).
Amniozentese
Die Amniozentese wird typischerweise zwischen der
15. und 17. Schwangerschaftswoche post menstruationem (p.m.) unter sonographischer Kontrolle durchgeführt. Das eingriffsbedingte Fehlgeburtsrisiko liegt bei
0,5–1 % (3). In der Regel werden circa 15 mL Fruchtwasser entnommen. Für die Chromosomenanalyse ist
zuvor eine Kultivierung der Amnionzellen erforderlich,
die durchschnittlich zwei Wochen dauert. Anschließend
werden Metaphasen numerisch und strukturell analysiert (Abbildung 1). Aus dem nativen Fruchtwasser bestimmt man das Alpha-Fetoprotein (AFP), dessen Konzentration bei offenen Neuralrohrdefekten, aber auch
bei einigen anderen Spaltbildungen wie Gastroschisis
erhöht ist. Bei erhöhtem AFP-Wert wird die Acetylcholinesterase als Marker für Neuralrohrdefekte bestimmt
(eKasten 2).
Im Rahmen einer Amniozentese kann zusätzlich ein
sogenannter pränataler Schnelltest an unkultivierten
39
Die Chorionzottenbiopsie (CVS, „chorionic villus sampling“) wird typischerweise in der 11./12. Schwangerschaftswoche p.m. durchgeführt. Eine CVS sollte nicht
vor der 11. Schwangerschaftswoche erfolgen, da das
Risiko für Extremitätenfehlbildungen sonst ansteigt.
Als Ursache hierfür wird eine plazentare Traumatisierung mit Gefäßinfarkten in einer kritischen Entwicklungsphase diskutiert. Die CVS kann je nach Lage des
Chorions transzervikal oder transabdominal vorgenommen werden. Die Chromosomenanalyse erfolgt sowohl
nach Direktpräparation oder Kurzzeitkultur (1 Tag) als
auch nach Langzeitkultur (7–10 Tage). Bei entsprechender Erfahrung dürfte das eingriffsbedingte Fehlgeburtsrisiko in der Größenordnung von bis zu 1 % liegen
(eKasten 3).
Plazentapunktion
Die Plazentapunktion entspricht im Prinzip einer transabdominalen Chorionzottenbiopsie zu einem späteren
Zeitpunkt („late CVS“). Sie kann angewendet werden,
wenn ein schnelles Ergebnis bei fortgeschrittener
Schwangerschaft gewünscht wird.
Kordozentese
Bei der technisch anspruchsvollen Kordozentese wird
die Nabelschnurvene präferentiell an der Plazentaansatzstelle punktiert. Häufigste Indikationen sind der
Verdacht einer fetalen Anämie bei Rhesusinkompabilität, eine Parvo-B19-Infektion oder ein Hydrops fetalis.
Die Kordozentese dient auch zur schnellen Karyotypisierung oder molekulargenetischen Diagnostik. Sie
kann in der Regel ab der 16. bis 20. Schwangerschaftswoche p.m. je nach Indikation durchgeführt werden.
Die Nabelschnurpunktion ist von Bedeutung, wenn bei
fortgeschrittener Schwangerschaft ein schnelles Ergebnis angezeigt ist, zum Beispiel beim sonographischen
Nachweis von Fehlbildungen oder schwerer Wachs-
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
tumsretardierung, die auf eine Chromosomenaberration
hinweisen können. Das Ergebnis einer Chromosomenanalyse an Lymphozyten des Nabelschnurblutes kann
nach drei bis fünf Tagen vorliegen.
Grenzen der zytogenetischen Diagnostik
Die pränatale Karyotypisierung ist ein zuverlässiges
Verfahren, dem jedoch – wie jeder Untersuchung –
Grenzen gesetzt sind. Diese können technischer oder
biologischer Natur sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass
keine fetalen Zellen gewonnen werden, liegt bei entsprechender Erfahrung unter 1 %. Selten kommt es zu
Kulturversagern.
Eine Limitation der zytogenetischen Diagnostik ist
gegeben durch die optische Auflösung der Chromosomen. Strukturelle Chromosomenaberrationen, deren
Größe unter dem erreichten optischen Auflösungsvermögen liegt, können nicht erkannt werden. Eine weitere Grenze betrifft die Detektion eines eventuellen chromosomalen Mosaiks, bei dem zwei oder mehr Zelllinien vorkommen. Ein Mosaik kann nur erkannt werden,
wenn chromosomal aberrante Zellen in der untersuchten Probe vorhanden sind.
Beim Nachweis bestimmter struktureller Aberrationen wie Translokation oder Inversion sind weiterführende Untersuchungen oft erforderlich (eKasten 4).
Nichtinvasive Verfahren
Die Indikationsstellung einer invasiven Pränataldiagnostik aufgrund des mütterlichen Alters wird zunehmend durch eine kombinierte Bewertung von Risikoparametern ersetzt, wobei das mütterliche Alter nur noch
einen unter mehreren Parametern darstellt. Vor allem
wegen des Abortsrisikos infolge der invasiven Methoden besteht ein Bedürfnis nach nichtinvasiven Verfahren als Alternativen zu den genannten Eingriffen. Neben dem mütterlichen Alter erlauben es spezielle biochemische Parameter aus dem mütterlichen Blut und
sonographische Parameter des Kindes im 1. Trimenon,
das Aneuploidierisiko individuell einzuschätzen. Bei
der Beratung sollte man auf jeden Fall darauf hinweisen, dass durch solche nichtinvasive Verfahren lediglich eine Modifikation des mütterlichen altersbedingten
Risikos für gewisse Chromosomenstörungen erreicht
wird, eine Chromosomenaberration jedoch nicht ausgeschlossen werden kann. Sie können aber eine Entscheidungshilfe für oder gegen eine invasive Methode bieten.
Nackentransparenzmessung
Eine gesteigerte Nackentransparenz beim ungeborenen Kind ist mit einem erhöhten Risiko für eine chromosomale Störung und andere Erkrankungen (4) verbunden. Mithilfe einer sonographischen Messung der
Nackentransparenz zwischen der 11+0 SSW und der
13+6 SSW lässt sich zusammen mit dem mütterlichen
Alter und gegebenenfalls biochemischen Zusatzuntersuchungen ein individualisiertes Risiko für Aneuploidien wie Trisomie 21, 13 und 18 kalkulieren. Bei einer
positiven Screeningrate von 5 % können so 80 % (nur
TABELLE 1
Invasive pränataldiagnostische Methoden
Technik
Zeitpunkt
Abortrisiko
Anwendungsbereiche
Chorionzottenbiopsie
11.–14. SSW
~1%
– Chromosomenanalyse
– Gendiagnostik
– biochemische Diagnostik
Amniozentese
15.–17. SSW
0,5 %–1 %
– Chromosomenanalyse
– Diagnostik offener Neuralrohrdefekte
– Gendiagnostik
– biochemische Diagnostik
Plazentapunktion
ab 15. SSW
~1%
– Chromosomenanalyse
– Gendiagnostik
– biochemische Diagnostik
Kordozentese
ab 16.–20.
SSW*1
~1%
– Chromosomenanalyse
– hämatologische und biochemische Diagnostik
Fetale Biopsie
ab 20. SSW
*2
– Diagnostik bestimmter
Genodermatosen
*1 je nach Indikation
*2 Das Fehlgeburtenrisiko sollte von der durchführenden Einrichtung genannt werden.
SSW, Schwangerschaftswoche
Nackentransparenzmessung) respektive 90 % (Nackentransparenzmessung und biochemische Parameter) der Trisomie-21-Fälle detektiert werden (Tabelle
2). Die Nackentransparenzmessung ist jedoch nicht einer gezielten Fehlbildungsdiagnostik gleichzusetzen,
die im Rahmen eines sogenannten erweiterten ErstTrimester-Screenings durch spezialisierte Ärzte
durchgeführt werden kann. Ziel einer solchen weiterführenden sonographischen Untersuchung im genannten Zeitraum ist die Suche nach fetalen Auffälligkeiten/Fehlbildungen, wobei die Messung der Nackentransparenz integrativer Bestandteil ist. Die Deutsche
Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM)
(5) empfiehlt jedem Frauenarzt, der ein Zertifikat zur
Nackentransparenzmessung erworben hat, aber keine
spezielle Qualifikation in der Fehlbildungsdiagnostik
besitzt, bei einem auffälligen Befund (erweiterte
Nackentransparenz über der 95. Perzentile des jeweiligen Gestationsalters) und bei Mehrlingsschwangerschaften in ein entsprechendes Zentrum zu überweisen
(DEGUM Stufe II oder III). Neben Chromosomenstörungen verbergen sich in diesem Risikokollektiv nämlich vermehrt weitere Erkrankungen wie zum Beispiel
Herzfehler (4).
Für eine aussagekräftige NT-Messung sind neben
der Qualifikation des Untersuchers und der Wahl der
angemessenen Untersuchungszeit auch gerätetechnische Voraussetzungen zu beachten. Unter Einbeziehung weiterer Ultraschallparameter – wie der Messung
des Nasenbeins, der Beurteilung des Doppler-Profils
der Trikuspidalklappe sowie des Ductus venosus und
des fazialen Winkels – kann das individuelle Risiko für
zum Beispiel Trisomie 21 mit Detektionsraten bis zu
95 % weiter präzisiert werden (Tabelle 2).
40
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Steiß-Länge ermittelt wird, erfolgt hier automatisch eine
Kontrolle des Gestationsalters. Beim Triple-Test ist dies
nicht der Fall. Die Labore berechnen die individuellen
Risiken für Trisomie 21, 13 und 18 und für Neuralrohrdefekte über die durch den Frauenarzt angegebene
Schwangerschaftswoche. Häufig wird dabei lediglich
der Tag der letzten Regel zugrunde gelegt, was zu einer
relativ hohen Fehleranfälligkeit führt. Nach eigener Erfahrung werden viele Paare durch einen falsch berechneten Triple-Test unbegründet verunsichert. Diese Tatsache
und die Möglichkeit präziserer und früherer Risikoeinschätzungen von Chromosomenstörungen im 1. Trimenon sprechen gegen den Triple-Test.
Pränataldiagnostik monogen bedingter
Erkrankungen
Abbildung 1: Karyogramm eines Feten mit Trisomie 18. Es sind drei Chromosomen 18 zu
erkennen. An einem Chromosom 11 ist ein Bruch zu erkennen (Pfeil), der einem Präparationsartefakt entspricht.
Abbildung 2: Nachweis eines Down-Syndroms (Trisomie 21) im
Rahmen eines pränatalen Schnelltests durch FISH-Analyse mit Sonden, die jeweils spezifisch für die Chromosomen 13 (grün) und 21
(rot) sind. Die drei roten Signale weisen auf eine Trisomie 21 hin.
Biochemische Parameter
In den letzten Jahren hat sich die Bestimmung von Choriongonadotropin (freies βhCG) und „pregnancy-associated plasma protein A“ (PAPP-A) im mütterlichen Serum zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche
in Kombination mit der Nackentransparenzmessung und
dem mütterlichen Alter zunehmend etabliert (kombinierter Erst-Trimester-Test) (5). Davor wurde häufig der Triple-Test (6) angeboten, bei dem α-Fetoprotein (AFP),
βhCG und freies Estriol (E3) zwischen der 15. und 20.
SSW bestimmt werden. Ergänzt man den Triple-Test um
einen weiteren biochemischen Parameter, Inhibin A, erhält man den sogenannten Quadruple-Test (7). Für die
Auswertung der biochemischen Parameter ist die verlässliche Bestimmung des Gestationsalters von großer
Bedeutung. Da bei der Bestimmung von PAPP-A und
βhCG in Kombination mit der NT-Messsung immer
auch die fetale Biometrie über zum Beispiel die Scheitel-
41
Man kennt derzeit etwa 5 000 erbliche Erkrankungen,
die monogen nach den Mendelschen Regeln vererbt
werden. Hier stehen autosomal-dominante, autosomalrezessive und X-chromosomale Vererbung im Vordergrund, bei denen deutlich höhere Erkrankungsrisiken
bestehen als bei der Altersindikation. Bei einer autosomal-dominant erblichen Erkrankung beträgt die Wiederholungswahrscheinlichkeit der Krankheit für ein Kind
eines betroffenen Elternteils a priori 50 %. Bei einer
autosomal-rezessiv erblichen Krankheit beträgt die Erkrankungswahrscheinlichkeit für gemeinsame Kinder
eines gesunden Überträgerpaares 25 %. Eine X-chromosomal-rezessiv erbliche Erkrankung birgt ein Erkrankungsrisiko für einen Sohn einer Überträgerin von 50 %.
Gegenwärtig ist für mehr als 1 000 dieser Erkrankungen ein Gentest möglich, wobei es sich größtenteils
nicht um eine Routinediagnostik handelt. Die pränatale
Gendiagnostik ist nicht wie die zytogenetische Pränataldiagnostik aufgrund des mütterlichen Alters ein
Screening-Verfahren. Wegen der Einzigartigkeit jedes
Falls ist eine entsprechende Planung im Vorfeld erforderlich. Dabei sind zwei Strategien zu unterscheiden:
der direkte und der indirekte Gentest.
Beim direkten Gentest wird (werden) die infrage
kommende(n) Mutation(en) nachgewiesen oder ausgeschlossen. Ein direkter Gentest zur Pränataldiagnostik
setzt die Kenntnis der vorhandenen Mutation(en) beim
Indexpatienten voraus.
Beim indirekten Gentest wird der sogenannte Risiko-Haplotyp beim Feten nachgewiesen oder ausgeschlossen. Der indirekte Gentest nutzt das Prinzip der
genetischen Kopplung. Ein indirekter Gentest setzt somit eine Familienuntersuchung voraus, bei der durch
Kopplungsanalyse mit polymorphen Markern festgestellt wird, welche Allele eng benachbarter Marker in
dieser Familie mit der Erkrankung einhergehen. Theoretisch reicht für einen indirekten Gentest in einer informativen Familie das Wissen um die Lokalisation des
in Frage kommenden Gens. Eine diagnostische Unsicherheit besteht, wenn eine Locus-Heterogenität vorliegt, das heißt wenn Mutationen in unterschiedlichen
Genen zur gleichen Erkrankung führen. Eine weitere,
allerdings quantifizierbare Unsicherheit ist gegeben
durch die Möglichkeit einer Rekombination zwischen
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Gen und einem gekoppelten Marker. Es versteht sich
von selbst, dass die zuverlässige Interpretation eines indirekten Gentests die Richtigkeit der angegebenen Abstammung voraussetzt.
Bei einem pränataldiagnostischen Gentest ist im
Hinblick auf die Konsequenzen eines positiven Befundes – insbesondere bei autosomal-dominant erblichen
Erkrankungen – die Möglichkeit einer variablen Expressivität und einer verminderten Penetranz zu berücksichtigen. Eine variable Expressivität einer Mutation liegt vor, wenn der resultierende Phänotyp interoder intrafamiliär unterschiedlich ausgeprägt sein kann.
Eine verminderte Penetranz besteht, wenn die
Durchschlagkraft einer Mutation nicht vollständig ist.
In diesem Fall kann trotz vorhandener Mutation der
Phänotyp unauffällig sein. Variable Expressivität und
verminderte Penetranz lassen sich durch die Wirkung
modifizierender Faktoren erklären, die derzeit größtenteils unbekannt sind. Es ist daher wichtig, im Rahmen
einer genetischen Beratung auf diese gegebenenfalls
vorliegende Problematik hinzuweisen.
Aus zeitlichen und technischen Gründen wird ein
Gentest meistens im Rahmen einer CVS durchgeführt,
wobei nach DNA-Isolierung aus Chorionzotten meistens eine Polymerasekettenreaktion (PCR) zur Amplifikation der DNA vor einer eventuellen DNA-Sequenzierung erforderlich ist (eKasten 5).
Erbliche Stoffwechselerkrankungen können teilweise biochemisch an Chorionzotten oder Amnionzellen
diagnostiziert werden (10). Voraussetzungen hierfür
sind, dass das entsprechende Gen in diesen Zellen exprimiert wird und der Stoffwechseldefekt an Fibroblasten (nach einer Hautbiopsie) eines Indexpatienten der
Familie zuvor nachgewiesen wurde. Nach einigen
Stoffwechselerkrankungen wird direkt im Fruchtwasserüberstand gefahndet (eKasten 6).
Genetische Beratung bei Pränataldiagnostik
Nach dem Gendiagnostikgesetz ist seit dem 1. 2. 2010
die Schwangere vor einer pränatalen Diagnostik und
nach Vorliegen des Untersuchungsergebnisses genetisch zu beraten (11). Dabei sollten unter anderem folgende Punkte thematisiert werden:
● Vermittlung des Basisrisikos für angeborene Erkrankungen und Fehlbildungen, das alle Elternpaare tragen, und der individuellen Risikoerhöhung (zum Beispiel altersbedingtes Risiko bei der
Mutter)
● Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Pränataldiagnostik
● infrage kommende(s) Krankheitsbild(er)
● Risiken der möglichen Untersuchungen
● Konfliktsituation im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik
● Alternativen.
Bereits die Möglichkeit einer Pränataldiagnostik
kann Paare in schwierige Konfliktsituationen stürzen.
In vielen Fällen trägt die Pränataldiagnostik zur Beruhigung der Eltern bei. Bei pathologischen Befunden kann
sie derzeit leider nur in sehr seltenen Fällen durch eine
TABELLE 2
Detektionsraten für Trisomie 21 in Abhängigkeit von den
angewandten Screening-Parametern bzw. Testverfahren
(modifiziert nach [8] und [9].
1. Trimester (11.–14. SSW)
maternales Alter
30–50 %
PAPP-A, HCG, MA
60–63 %
NT-Messung und MA
74–80 %
kombinierter Test (NT, PAPP-A, HCG, MA)
86–90 %
kombinierter Test und Nasenbein, Trikuspidalfluss, Ductus venosus, fazialer Winkel
95 %
2. Trimester (15.–19. SSW)
maternales Alter
30–50 %
2. Trimester Double-Test (AFP, HCG, MA)
60 %
Triple-Test (AFP, HCG, E3, MA)
68 %
Quadruple-Test (AFP, HCG, E3, Inhibin A, MA)
79 %
Ultraschall (16.–23. SSW) mit Screening nach
Defekten und Markern
75 %
Invasive Diagnostik
Chorionzottenbiopsie
Nahezu
100 %
Amniozentese
Nahezu
100 %
MA, maternales Alter; modifiziert nach Bethune 2007 (8) und Nicolaides 2008 (9)
*PAPP-A, pregnancy associated plasma protein A; HCG, humanes Chorion-Gonadotropin; NT, Nackentransparenz; AFP, Alpha-1-Fetoprotein; E3, Estriol
frühzeitige Behandlung des Feten oder Kindes die
Prognose verbessern. Der Nachweis einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung kann Anlass für
einen Schwangerschaftsabbruch sein. Nach § 218 a
Abs. 2 StGB ist der mit Einwilligung der Schwangeren
von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch dann nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch – Zitat: „... unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und
zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach
ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für
das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und
die Gefahr nicht auf eine andere, für sie zumutbare
Weise abgewendet werden kann“. In diesem Konflikt
zwischen dem Wunsch der Eltern nach einem gesunden
Kind und der grundsätzlichen Anerkennung des
Schutzbedürfnisses des Ungeborenen stellt der
Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Feststellung
einer Erkrankung oder Behinderung beim Kind „das
unvollkommene Bemühen dar, eine im Kern nicht auflösbare Konfliktsituation zu beenden“ (1).
Bei jeder genetischen Beratung, so auch bei einer Beratung vor und nach pränataler Diagnostik, gilt das Prinzip der Nicht-Direktivität. In diesem Zusammenhang
sollte deutlich gemacht werden, dass ein pathologischer
42
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Befund keinesfalls einen Schwangerschaftsabbruch präjudiziert. Als Ergänzung zur genetischen Beratung im
Rahmen einer Pränataldiagnostik kann als Zusatzangebot
eine „psycho-soziale Beratung“ erfolgen. Diese kann
aufgrund des oben genannten Konfliktpotenzials im Rahmen der vorgeburtlichen Diagnostik für die Ratsuchenden hilfreich sein und eine Auseinandersetzung mit den
möglichen Konsequenzen der Diagnostik anbieten und
bei einer drohenden Behinderung des Kindes Hilfe und
Begleitung leisten. Gerade im Zusammenhang mit auffälligen Befunden ist unserer Erfahrung nach eine solche
Beratung empfehlenswert. Nach dem neuen Schwangerschaftskonfliktgesetz, das zum 1. 1. 2010 in Kraft getreten ist, muss im Zusammenhang mit einer Abruptio medicinalis legalis über deren psycho-soziale Implikationen
aufgeklärt werden. Gleichzeitig muss die Frau über das
Recht zur psycho-sozialen Beratung durch eine geeignete Beratungsstelle und über die Option einer zusätzlichen
fachärztlichen Beratung durch zum Beispiel spezialisierte Kinderärzte aufgeklärt werden. Dem Arzt, der die Indikation stellt, obliegt die Vermittlung dieser Beratungen.
Zusätzlich ist nach Diagnosemitteilung eine dreitägige
Bedenkzeit Pflicht, bevor die formale Indikation zur Abruptio gestellt werden darf (eKasten 7).
Danksagung
Die Autoren danken Prof. P. Propping (Bonn) für die kritische Diskussion.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des
International Committee of Medical Journal Editors besteht.
LITERATUR
1. Bekanntgaben der Herausgeber: Bundesärztekammer: Richtlinien zur
pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen.
Dtsch Arztebl 1998; 95(50): A 3238–44.
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11. Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG). Bundesgesetzblatt 2009; Nr. 50.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Peter Wieacker
Institut für Humangenetik, Vesaliusweg 12–14, 48149 Münster
E-Mail: [email protected]
Manuskriptdaten
eingereicht: 17. 11. 2009, revidierte Fassung angenommen: 11. 2. 2010.
KERNAUSSAGEN
● Mit steigendem Alter der Mutter nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Chromosomenstörung beim Kind zu. In etwa der Hälfte der Fälle liegt eine Trisomie 21 vor.
● Für die invasive Diagnostik von Chromosomenstörungen stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung wie beispielsweise die Chorionzottenbiopsie oder
Amniozentese.
● Durch sonographische Messung der Nackentransparenz zwischen der 11+0
Schwangerschaftswoche (SSW) und der 13+6 SSW lässt sich zusammen mit
dem Alter der Mutter und gegebenenfalls biochemischen Untersuchungen ein
individualisiertes Risiko für gewisse Aneuploidien wie Trisomie 21, 13 und 18
kalkulieren.
● Bei einem auffälligen Ultraschallbefund im 1. Trimenon und einem beim Ersttrimester-Screening entdeckten erhöhten Risiko für eine Chromosomenstörung
sollte die Chorionzottenbiopsie als schnellstmögliche invasive Diagnostik angeboten werden.
SUMMARY
The Prenatal Diagnosis of Genetic Diseases
Background: Prenatal diagnosis is a subfield of clinical genetics and gynecology that exemplifies the effective integration of theoretical and clinical medicine. Milestones in its history include the development of cytogenetic, molecular genetic, and molecular cytogenetic methods as
well as advances in ultrasonography. The latter technique not only improves the safety of invasive procedures, but also enables earlier and
more reliable diagnosis of congenital malformations.
Methods: This article provides an overview of the subject in the light of
selectively reviewed literature, guidelines, and recommendations.
Results and conclusion: Invasive prenatal diagnosis is most commonly
performed to assess the embryonal/fetal chromosome set. An increasing number of monogenic diseases can be diagnosed prenatally by
either genetic or biochemical testing, depending on the particular
disease being sought. Polygenic and multifactorial diseases cannot be
reliably diagnosed by genetic testing at present, although a number of
malformations can be ascertained prenatally by ultrasonography. We
discuss the applications and limitations of invasive and noninvasive
techniques for prenatal diagnosis.
Zitierweise
Wieacker P, Steinhard J: The prenatal diagnosis of genetic diseases.
Dtsch Arztebl Int 2010; 107(48): 857–62. DOI: 10.3238/arztebl.2010.0857
● Monogen erbliche Erkrankungen lassen sich teilweise durch Gentests pränatal
diagnostizieren.
● Vor einer Pränataldiagnostik, die das Ziel verfolgt, genetische Erkrankungen zu
erkennen, ist nach dem Gendiagnostikgesetz ab 1. 2. 2010 eine genetische Beratung vorgeschrieben. Dabei gilt – wie prinzipiell bei jeder genetischen Beratung – das Prinzip der Nicht-Direktivität.
43
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit4810
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
eGrafik und eKästen unter:
www.aerzteblatt.de/10m0857
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 48, 3. Dezember 2010
LITERATURVERZEICHNIS HEFT 48/2010, ZU:
ÜBERSICHTSARBEIT
Pränataldiagnostik
genetischer Erkrankungen
Peter Wieacker, Johannes Steinhard
eLITERATUR
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DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 48, 3. Dezember 2010
EKÄSTEN HEFT 48/2010, ZU:
ÜBERSICHTSARBEIT
Pränataldiagnostik
genetischer Erkrankungen
Peter Wieacker, Johannes Steinhard
eKASTEN 1
Herkunft der Zellen für pränataldiagnostische Maßnahmen
Je nach Eingriff werden Zellen unterschiedlichen Ursprungs gewonnen. Das ist bei der Interpretation eines eventuellen Mosaiks von Bedeutung. Etwa drei Viertel der Zellen aus der Blastozyste entwickeln
sich zu Trophoblastzellen, die die äußere Schicht der Chorionzotten auskleiden. Etwa ein Viertel der
Blastozystenzellen werden zur inneren Zellmasse, die sich in Hypoblast und Epiblast differenziert. Aus
dem Hypoblast entwickeln sich Chorion- und Amnionmesoderm. Aus dem Epiblast gehen die drei Keimblätter (Ektoderm, Mesoderm und Endoderm) sowie das Amnionektoderm hervor (eGrafik).
eKASTEN 2
Zytogenetische Untersuchung von Amnionzellen
Für die zytogenetische Analyse werden die Amnionzellen, die im Sediment nach Zentrifugation angereichert wurden, in Kultur genommen. Die Amnionzellen stammen aus dem Ektoderm des Feten (vor allem
aus der Haut und den harnableitenden Wegen) sowie aus dem Amnionektoderm. Bei der Flaschenmethode werden mindestens zwei Kulturen angelegt, um das Risiko einer missglückten Anzucht zu minimieren und gegebenenfalls chromosomale Mosaike besser interpretieren zu können. Es werden mindestens 15 Metaphasen numerisch und davon mindestens 5 strukturell ausgewertet. Bei der In-situ-Methode werden mindestens 15 Metaphasen aus 6 Klonen analysiert. Bei der Chromosomenanalyse wird
eine Bandenauflösung von mindestens 400 Banden (bezogen auf den haploiden Chromosomensatz
nach ICSN) angestrebt (Leitlinie Zytogenetische Labordiagnostik: www.gfhev.de).
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DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
eKASTEN 3
Zytogenetische Untersuchung von Chorionzotten und Abortrisiko bei der Chorinzottenbiopsie
Die zytogenetische Analyse von Chorionzotten verlangt eine Untersuchung sowohl nach Direktpräparation oder Kurzzeitkultur (1 Tag) als auch nach
Langzeitkultur (7–10 Tage), weil dadurch Zellen unterschiedlichen embryonalen Ursprungs überprüft werden können. Als Mindestanforderung bei der
Chromosomenanalyse aus Chorionzotten wird eine Auflösung von 300 Banden (bezogen auf den haploiden Chromosomensatz) verlangt.
Die Angaben über das Fehlgeburtsrisiko nach Chorionzottenbiopsie (CVS) variieren je nach Studie. In einer großen randomisierten Untersuchung
(e1) bei 3 999 Schwangerschaften, fand man keinen Unterschied bezüglich der Abortrate im Vergleich zwischen transcervikaler und transabdominaler CVS. Eine kanadische Multicenterstudie (e2) mit 2 787 Frauen zeigte ebenso wie eine größere amerikanische Studie (e3) mit 2 959 Frauen keinen statistisch signifikanten Unterschied der Abortrisiken zwischen CVS und Amniozentese. Demgegenüber ergab eine europäische Multicenterstudie (e4) eine höhere Komplikationsrate der CVS gegenüber der Amniozentese. Eine kürzlich veröffentlichte Einzelcenterstudie (e5) verglich 5 243
CVS mit 4 917 Fällen ohne invasive Diagnostik und fand keinen Unterschied bezüglich des Abortrisikos. Insgesamt weisen die Daten darauf hin,
dass Erfahrung und Ausbildung des Operateurs mit der CVS-Technik entscheidend für das Komplikationsrisiko sind. Bei entsprechender Erfahrung
dürfte das Fehlgeburtsrisiko nach CVS in der Größenordnung von bis zu 1 % liegen.
Nach Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM) und der Fetal Medicine Foundation (FMF), London, ist bei
einem auffälligen Ultraschallbefund im 1. Trimenon und einem im Rahmen des Erst-Trimester-Screenings erhöhten Risiko für eine Chromosomenstörung die Chorionzottenbiopsie als schnellstmögliche invasive Diagnostik anzubieten (e6, e7). Es ist einer Frau, die sich bei erhöhtem Risiko für eine
Chromosomenstörung für eine Karyotypisierung entscheidet, nicht zumutbar, zum Beispiel Wochen bis zur Amniozentese warten zu müssen. Zumindest sollte sie über die mögliche Alternative einer frühen Karyotypsierung aufgeklärt werden.
eKASTEN 4
Diagnostische Probleme bei der zytogenetischen Pränataldiagnostik
Bei der konventionellen Chromosomenanalyse können strukturelle Veränderungen, deren Größen unter der erreichten optischen Auflösung liegen,
nicht festgestellt werden. In letzter Zeit wurde eine Methode, die Array-CGH (Comparative Genomic Hybridization) entwickelt, die diese Grenze überwindet. Dabei erfolgt eine kompetitive Hybridisierung von Referenz-DNA und Patienten-DNA, die mit jeweils unterschiedlichen Fluoreszenz-Farbstoffen (rot und grün) markiert sind, auf einem Microarray. Bei einem solchen genomischen Array sind rasterförmig definierte Fragmente des Genoms
zum Beispiel auf einem Glasobjektträger fixiert. Durch die Kohybridisierung von Referenz- und Test-DNA lassen sich unbalancierte Deletionen und
Gewinne wie Duplikationen aufgrund eines verschobenen Rot-Grün-Verhältnisses erkennen. Auf dieser Art kann mann Mikrodeletionen und Mikroduplikationen, die bei der konventionellen Chromosomenanalyse nicht erkennbar sind, feststellen. Solche krankheitsrelevanten Veränderungen müssen
allerdings von „copy number variants“ ohne klinische Bedeutung unterschieden werden. Es ist anzunehmen, dass diese Technologie in Zukunft für
die Pränataldiagnostik bedeutsam sein wird, wenn entsprechende Microarrays für diese Fragestellung zuvor wissenschaftlich validiert worden sind.
Die Beobachtung einzelner oder weniger Zellen mit einer Chromosomenaberration kann ein diagnostisches Problem darstellen. Man unterscheidet zwischen „echten Mosaiken“, bei denen die aberranten Zellen beim Feten oder nur in der Plazenta („confined placental mosaicism“) vorhanden
sind, und Pseudomosaike, bei denen die aberrante(n) Zelle(n) in der Kultur entstanden ist (sind) oder möglicherweise als Präparationsartefakt zu
werten (ist) sind. Für die Interpretation solcher Befunde hat sich eine international anerkannte Einteilung bewährt. Das weitere Vorgehen richtet sich
nach dieser Einteilung unter Berücksichtigung des involvierten Chromosoms (e8). Zum Beispiel kann eine Kordozentese in bestimmten Fällen zur
weiteren Abklärung unklarer Mosaikbefunde nach CVS oder Amniozentese eingesetzt werden.
Ein weiteres diagnostisches Problem kann sich stellen, wenn eine Translokation oder Inversion festgestellt wird. Man sollte dann zunächst ermitteln, ob die chromosomale Anomalie von einem Elternteil vererbt wurde oder neu entstanden ist. Im ersten Fall, das heißt bei Vererbung, dürfte in der
Regel nicht von einem erkennbar erhöhten Risiko für angeborene Erkrankungen auszugehen sein. Im zweiten Fall, das bedeutet einer de novo entstandenen reziproken Translokation oder Inversion, ist nicht auszuschließen, dass durch die Bruchereignisse ein Gen in Mitleidenschaft gezogen
wurde. Für die Abschätzung dieses Risikos stehen empirische Risikoziffern zur Verfügung. Die Wahrscheinlichkeit angeborener Erkrankungen oder
Fehlbildungen beträgt bei einer de novo reziproken Translokation circa 6 % und bei einer de novo Inversion circa 9,4 %. Ferner ist es möglich, dass
bei einer zytogenetischen Pränataldiagnostik ein Marker-Chromosom festgestellt wird. Ein Marker-Chromosom ist ein strukturell verändertes Chromosom, dessen Zusammensetzung mit konventionellen Bänderungsverfahren nicht bestimmt werden kann. Bei einem neu entstandenen MarkerChromosom beträgt die Wahrscheinlichkeit für angeborene Erkrankungen und Fehlbildungen durchschnittlich 15 % (e9). Durch spezielle Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) kann diese Wahrscheinlichkeit gegebenenfalls modifiziert werden. In jedem Fall sollte eine Ultraschallfeindiagnostik in einem ausgewiesenen Zentrum durchgeführt werden, um eventuelle Fehlbildungen festzustellen. Auf die Grenzen der Ultraschalldiagnostik ist
dabei hinzuweisen.
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DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
eKASTEN 5
Kontamination der Chorionzotten mit Zellen der Mutter als Fehlerquelle
bei der Pränataldiagnostik monogen erblicher Defekte
Im Falle einer Kontamination der Chorionzotten mit Zellen der Mutter ist das Risiko einer Fehldiagnose gegeben. Deshalb sollte bei einer solchen Diagnostik grundsätzlich eine Kontaminationskontrolle erfolgen. Dabei wird eine Alleltypisierung von „short
tandem repeats“ an der DNA der Mutter und der DNA des Chorionbiopsats durchgeführt. Wenn im Chorionbiopsat zwei mütterliche Allele für einen Locus vorliegen, muss von einer Kontamination mit Zellen der Mutter ausgegangen werden. In diesem
Fall ist ein erneuter Eingriff erforderlich.
eKASTEN 6
Präimplantationsdiagnostik
Im Gegensatz zur Pränataldiagnostik erfolgt die Präimplantationsdiagnostik (PID) an Embryonalzellen vor Eintritt einer
Schwangerschaft. Hierfür ist eine In-vitro-Fertilisation (IVF) oder eine intrazytoplasmatische Injektion (ICSI) erforderlich. Nach
Kultivierung des Embryos bis zum 8-Zellstadium wird typischerweise eine Zelle (Blastomere) entnommen, die man molekularzytogenetisch oder molekulargenetisch untersucht.
Anwendungsgebiete der PID sind:
● Nachweis oder Ausschluss einer spezifischen unbalancierten Chromosomentranslokation, wenn ein Elternteil Träger einer
Robertsonschen oder reziproken Translokation ist.
● Nachweis oder Ausschluss einer bestimmten Mutation bei einem erhöhten Risiko für eine monogen erbliche Erkrankung.
Da aufgrund des Embryonenschutzgesetzes eine PID in Deutschland nicht durchgeführt wird, gehen die Autoren in diesem Zusammenhang nicht auf die Grenzen und Risiken dieser Methode ein. Aufgrund eines kürzlich ergangenen Urteils wird die
rechtliche Bewertung der PID zurzeit erneut diskutiert.
Die Polkörperdiagnostik (PKD) ist eine präkonzeptionelle Untersuchung der Eizelle, die teilweise eine Alternative zur PID
darstellt. Sie setzt eine IVF oder ICSI voraus. Der erste Polkörper entsteht nach der 1. meiotischen Teilung und enthält ein haploides Genom aus normalerweise 23 Chromosomen, wobei jedes Chromosom aus zwei Chromatiden besteht. Der zweite
Polkörper entsteht nach der 2. meiotischen Teilung, wobei jedes Chromosom aus einer Chromatide besteht. Der erste Polkörper entwickelt sich kurz vor der Ovulation. Der zweite Polkörper ist 5 bis 6 Stunden nach Eindringen des Spermiums in die Eizelle, also zum Beispiel nach ICSI, verfügbar. Um dem Embryonenschutzgesetz zu genügen, muss die PKD spätestens 20
Stunden nach der ICSI beendet sein, da nach dieser Zeit männlicher und weiblicher Vorkern miteinander verschmolzen sind
und ein Embryo im Sinne des Embryoschutzgesetzes entstanden ist.
Eine PKD kann man anwenden, wenn die Ratsuchende eine balancierte Translokation trägt oder wenn sie Anlageträgerin
für eine monogen bedingte Erkrankung ist. Derzeit wird in Deutschland eine PKD in nur wenigen Zentren angeboten (e10).
Entsprechende Fälle müssen rechtzeitig angemeldet werden, um die Frage der Machbarkeit zu klären. In der Reproduktionsmedizin erhofft man sich von der PKD eine Steigerung der Erfolgsrate nach ICSI, da man durch PKD chromosomal aberrante
Eizellen vom Befruchtungsvorgang ausschließen könnte.
eKASTEN 7
Entscheidungsspektrum nach Pränataldiagnostik
Europäische Studien, in denen untersucht wurde, auf welcher Basis Paare bei einem pathologischen Befund nach Pränataldiagnostik einen Entschluss für das weitere Vorgehen fassen, zeigen, dass nicht nur die Art der Erkrankung, sondern auch regionale Unterschiede und Beratungskonzepte die Entscheidungsfindung beeinflussen. Nach der pränatalen Diagnose eines
Down-Syndroms entschieden sich zum Beispiel in der italienischen Region Catania circa 67 % und in den meisten anderen
europäischen Regionen circa 95 % für einen Schwangerschaftsabbruch (e11). Beim Klinefelter-Syndrom betrug die Rate an
Schwangerschaftsabbrüchen durchschnittlich 44 % (zwischen 0 und 76 % je nach Zentrum) (e12).
47
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 48, 3. Dezember 2010
EGRAFIK HEFT 48/2010, ZU:
ÜBERSICHTSARBEIT
Pränataldiagnostik
genetischer Erkrankungen
Peter Wieacker, Johannes Steinhard
eGRAFIK
Embryonalentwicklung der Gewebe, die sich zur Pränataldiagnostik eignen (modifiziert nach 10); Etwa ein Viertel der
Blastozystenzellen werden zur inneren Zellmasse. CVS, „chorionic villus sampling“
48
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
Heft 50, 17. Dezember 2010
XCELL-CENTER
Das Dilemma der Übergangsfrist
Seit 2007 führt das „XCell-Center – Institut für Regenerative Medizin“
bei unterschiedlichen Erkrankungen Stammzelltherapien durch,
die mangels klinischer Prüfungen zwar ethisch umstritten, nach der
Gesetzeslage aber noch möglich sind.
Herstellungserlaubnis der
Bezirksregierung reicht aus
Der Grund liegt in einer komplexen
und bislang lückenhaften Gesetzeslage. Noch bis Ende 2012 kann
jeder seine auf dem Markt befindlichen (vorschriftsmäßig hergestellten) Produkte ohne behördliche Genehmigung für alle Indikationen anbieten, für die er einen Bedarf sieht.
Nach dieser Übergangsfrist besteht
(mit wenigen spezifischen Ausnahmen) für alle Produkte entsprechend der 2008 in Kraft getretenen
europäischen Verordnung für „Arzneimittel für neuartige Therapien“
eine Zulassungspflicht bei der Europäischen Zulassungsbehörde EMA.
Auch eine deutsche Gesetzesnovelle, die mittlerweile eine Genehmigung auf Bundesebene verlangt,
greift nicht, da das XCell-Center die
49
als Arzneimittel eingestuften Zellen
nicht „in den Verkehr bringt“. Stattdessen reicht dem Privatinstitut eine
Herstellungserlaubnis der lokalen
Bezirksregierung Köln, Stammzellen aus dem Knochenmark der Patienten zu entnehmen und zur autologen Anwendung aufzubereiten.
Ein rechtlich möglicher ärztlicher
Heilversuch dürfte nach der Anzahl
behandelter Patienten offenbar auch
nicht mehr vorliegen. Denn das
XCell-Center hat nach eigenen
Angaben seit seiner Eröffnung
2007 mehr als 4 000 Patienten mit
Stammzellen behandelt – und dies
bei folgenden Erkrankungen: amyotrophische Lateralsklerose, Morbus
Alzheimer, Apoplexie, Arthrose,
Diabetes mellitus Typ 1 und 2, kardiovaskuläre Erkrankungen, Makuladegeneration, multiple Sklerose,
Morbus Parkinson, Verletzungen des
Rückenmarks und zerebrale Lähmung. „Neben der therapeutischen
Applikation als feste Größe legt das
XCell-Center großen Wert auf die
wissenschaftliche Erforschung der
Stammzelltherapie“, heißt es auf der
Webseite des Unternehmens.
Diese Aussage wird von vielen
Stammzellforschern und Fachgesellschaften bezweifelt. Bereits im
Juni 2009 warnten die Deutsche
Gesellschaft für Neurologie und
die Deutsche Parkinson-Gesellschaft
vor den Behandlungsmethoden des
XCell-Centers, nachdem von diesem Institut behandelte Patienten
bei Neurologen vorstellig geworden
waren. Fehlender Nutzen, keinerlei
wissenschaftliche Grundlagen – so
lautet auch das Urteil einer Stellungnahme des Kompetenznetzwerks
Stammzellforschung NRW vom 4.
Februar, die von 13 renommierten
Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Hans
Schöler (Münster), Prof. Dr. med.
Oliver Brüstle (Bonn) und Prof. Dr.
med. Jürgen Hescheler (Köln) unterzeichnet wurde.
Dort heißt es: „Das Spektrum der
Krankheiten, für die es bereits klinisch erprobte stammzellbasierte
Behandlungsmethoden gibt, ist
momentan noch gering. Andere
Stammzellbehandlungen sind zur
Zeit als experimentell einzustufen.“
Besondere Vorsicht sei geboten,
wenn mehrere Krankheiten mit
denselben Zellen behandelt würden.
Frühzeitige Warnungen
blieben ohne Konsequenzen
Im April 2010 wurde auch die Poltik aufmerksam: Der SPD-Bundestagsabgeordnete René Röspel richtete eine Anfrage an das Bundesgesundheitsministerium (BMG), ob
man angesichts der wiederholt formulierten Kritik an den im XCellCenter angebotenen Therapien
nicht eine Änderung der bestehenden Gesetze für notwendig halte.
Die Antwort des BMG durch den
parlamentarischen Staatssekretär
Daniel Bahr Anfang Mai lautete,
dass das rechtliche Instrumentarium
zum Verbraucher- und Patientenschutz bei Therapien mit Stammzellpräparaten ausreiche. Die Ärztekammer Nordrhein habe zwar vor kommerziellen Therapien mit Stammzellen gewarnt (24. August 2009 und
23. März 2010), aber keine Bedenklichkeit der Therapien oder verwendeten Präparate festgestellt.
Eine erneute Anfrage des Abgeordneten Röspel an das BMG, ob
man durch ein früheres Eingreifen
den Tod des kleinen Jungen nicht
hätte verhindern können, beantwortete die parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
wie folgt: Das rechtliche Instrumentarium zum Patientenschutz
Foto: picture-alliance/BSIP
itte Oktober enthüllte die
„Wirtschaftswoche“, dass
am 12. August ein kleiner Junge an
den Folgen einer Gehirnblutung gestorben ist (DÄ, Heft 44/2010),
nachdem ihm in einem privaten
Therapiezentrum adulte Stammzellen mittels Ventrikelpunktion intrazerebral transplantiert worden waren. Diese Therapieform war zuvor
nicht in klinischen Studien überprüft worden. Dennoch: Verboten
sind die Eingriffe, die am „XCellCenter – Institut für Regenerative
Medizin“ mit Sitz am Düsseldorfer
Dominikus-Krankenhaus und am
Eduardus-Krankenhaus in Köln
durchgeführt werden, vom Gesetzgeber bislang nicht.
Auf welcher Basis dürfen Ärzte
und Unternehmen derartige Stammzelltherapien in Deutschland anbieten und anwenden, während dies in
anderen Ländern – wie den Niederlanden – nicht gestattet ist?
M
DOSSIER: EMBRYONENFORSCHUNG
liege in der Verantwortung der Länder – in diesem Fall also bei Nordrhein-Westfalen. Im dortigen Heilberufegesetz ist vorgeschrieben,
dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
mitgeteilt werden müssen. Entsprechende Verstöße gegen die Berufsordnung können geahndet werden.
Gesetzliches Schlupfloch für
unseriöse Anwendungen
Doch den Versuch, die Verantwortung für die nach § 4 a Arzneimittelgesetz (AMG) zulässige Ausnahmeregelung zur Gewinnung von
Stammzellen den Ländern zuzuweisen, wirkt nach Angaben von Dr.
med. Robert Schäfer, Geschäftsführender Arzt der Ärztekammer Nordrhein, „unglaubwürdig. Warum stellt
denn das BMG die Bedenklichkeit
nicht fest? Wahrscheinlich, weil man
erkannt hat, dass das gesetzliche
Schlupfloch für unseriöse Anwendungen durch die Feststellung der
Bedenklichkeit nicht erreicht werden
kann“. Vielmehr müsste der Gesetzgeber dem Anwender die Feststellung
der Unbedenklichkeit auferlegen.
„Aber das will man wohl nicht“, sagt
Schäfer dem Deutschen Ärzteblatt.
Die Ärztekammer Nordrhein bewerte die im XCell-Center vorgenommenen, teuer verkauften Behandlungen als einen Missbrauch der
im Gesetz festgelegten Freiheit. Um
das Berufsrecht der dort tätigen Ärzte
einzuschränken oder zu unterbinden,
benötige man entweder eine Beschwerde seitens der Patienten oder
aber verwirklichte Tatbestände: „Das
Kind muss wohl erst in den Brunnen
gefallen sein, bevor wir etwas unternehmen können“, kritisiert Schäfer.
Erst am 14. Oktober stufte das
Paul-Ehrlich-Institut diese Form der
Stammzelltherapie als „bedenklich“
im Sinne von § 5 Absatz 2 AMG ein.
Danach ist es verboten, bedenkliche
Arzneimittel bei einem anderen
Menschen anzuwenden. Seither unterlässt das XCell-Center nach eigenen Angaben (Kasten) die umstrittene intrazerebrale Zellinjektion. Die
Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt derweil wegen des Verdachts
auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung – aber nicht
gegen das XCell Center, sondern gegen die behandelnde Ärztin. Dazu
liest man auf der Webseite des Unternehmens: „Nach dem ersten Fall
einer Komplikation hatte der durchführende Neurochirurg von unserer
Seite eine Abmahnung bekommen.
Nach dem zweiten Komplikationsfall wurde die Zusammenarbeit mit
ihr beendet. Die Komplikationen
geschahen bedingt durch den chirurgischen Eingriff vor der eigentlichen
Stammzellanwendung. Folglich stehen diese Ereignisse nicht in Bezug
zu den Stammzellen.“
Und weiter: „Leider kann XCellCenter keine Wunder anbieten, und
daher wird fälschlicherweise ein
Skandal länger aufrechterhalten,
während die tatsächliche Geschichte,
dass viele Patienten die Erfahrung
einer Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustands erfahren haben,
größtenteils unerwähnt bleibt.“
Injektionen von Stammzellen in
Blut und Liquor – Verfahren für die
ebenso der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit aussteht – werden daher weiter durchgeführt. Dafür neh-
men auch viele Patienten aus dem
Ausland Mühen und immense Kosten auf sich – zum Teil mehrfach,
weil das erhoffte Therapieziel primär nicht erreicht wurde.
„The family is hoping to go back
for more treatment, it’s just a matter
of money“, sagt eine kanadische
Mutter, deren Kleinkind wegen
spastischer Zerebralparese im
XCell-Center behandelt worden
war, nachdem die erforderliche
Geldsumme von 30 000 kanadischen Dollar (inklusive Reisekosten) mangels eigener Finanzkraft
über öffentliche Barbecues, Konzerte und Golfturniere gesammelt worden war (www.wellandtribune.ca/
ArticleDisplay.aspx?e=2870494).
Apropos Charity: Sogar die Ärztekammer Nordrhein ist angefragt
worden, ob man bereit sei, den großen Veranstaltungssaal des Ärztehauses für eine Benefizveranstaltung zur Verfügung zu stellen, um
damit die Therapiekosten für ein
Kind zu sammeln, dessen Behinderung mit einer Stammzelltherapie
▄
geheilt werden sollte.
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn
3 FRAGEN AN . . .
Dr. Cornelis H. Kleinbloesem, CEO-XCell-Center GmbH
Hat das XCell-Center klinische Studien zur Stammzelltherapie durchgeführt? Wenn
ja, in welchen Indikationen?
Kleinbloesem: Die XCell-Center GmbH führt derzeit klinische
Prüfungen zur Stammzelltherapie im Hinblick auf zwei Indikationen durch: kritische Extremitätenischämie und Verletzungen
des Rückenmarks. Die Anzahl
der Probanden beträgt Minimum 40 beziehungsweise 120.
Auch nach Angabe auf Ihrer
Webseite führt XCell-Center
derzeit präklinische und klinische Studien durch, die
den Anforderungen der europäischen und amerikanischen Arzneimittelbehörden
EMA und FDA entsprechen.
So sei weltweit die erste
doppelblinde placebokontrollierte Studie in der EU bei Patienten mit Querschnittslähmung initiiert worden. Können Sie dazu nähere Angaben machen – zum Beispiel
zum Studienprotokoll?
Kleinbloesem: Bezüglich der
anderen Indikationen liegen
uns aufgrund unserer mehrjährigen praktischen Tätigkeit
auf dem Gebiet der autologen
Stammzelltherapie einschlägige Erkenntnisse, insbesondere
die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels betreffend, vor.
Nach Ihrer Webseite hat das
XCell-Center die autologe
Stammzelltherapie (neuro-
chirurgische Eingriffe, Lumbalpunktionen) gestoppt. Für
immer oder für einen begrenzten Zeitraum?
Kleinbloesem: In Wahrnehmung unserer unternehmerischen Eigenverantwortung haben wir von der Herstellung
(einschließlich der Entnahme)
autologer Stammzellzubereitungen aus dem Knochenmark zur
intrazerebralen/intraventrikulären Anwendung und deren intrazerebrale/intraventrikuläre
Anwendung Abstand genommen. Wir werden in dieser
Richtung erst nach Erteilung einer nationalen Genehmigung
nach § 4 b AMG oder einer europäischen Genehmigung nach
Artikel 3 der Verordnung (EG)
Nr. 726/2004 tätig werden.
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