Buddenbrooks Schauspiel nach dem Roman von Thomas Mann Bühnenfassung von John von Düffel Spielzeit 2015/16 2 Julia Gebhardt (Tony) und Thomas Strecker (Thomas). BUDDENBROOKS auf der Bühne – Eine Einführung „Buddenbrooks“, das ist ohne Zweifel ein Roman der Superlative: Ein „Erstlings­ roman“, der seinen Autor berühmt machte; ein „Dekadenzroman“, in dem, wie es im Untertitel ausdrücklich heißt, über den „Verfall einer Familie“ erzählt wird; ein „Familienroman“ also auch, der vom Schicksal einer angesehenen Lübecker Kaufmannsfamilie handelt; ein „Gesellschaftsroman“ zudem, bei dem individuelle Befindlichkeit und soziale Stellung der Protagonisten untrennbar mit ökonomischen Umbrüchen und gesellschaft­lichem Wandel verknüpft sind; aber auch ein „Kaufmannsroman“, der das an Profit­maxi­mierung orientierte Denken problematisiert und schließlich die Umwertung der Werte hin zu einem „Künstlerroman“ andeutet; nicht zuletzt ein „Schlüsselroman“, bei dem sich Thomas Mann in seiner Figurengestaltung ungeniert an Mitgliedern der eigenen Familie wie auch ihm bekannten Personen aus Lübeck orientierte. Vor allem aber: „Buddenbrooks“ ist ein „Erfolgsroman“, für den Thomas Mann im Dezember 1929 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur entgegennehmen konnte und der zu den bekanntesten und meistgelesenen Romanen der deutschen Literatur zählt. Um die fünf Millionen Exemplare des Romans wurden bis heute verkauft. Hinzu kommen die Ausgaben, die mittlerweile in mehr als vierzig Sprachen vorliegen. „Buddenbrooks“, das ist ohne Zweifel ein mentalitätsgeschichtlicher „Jahrhundertroman“, der uns im Prisma einer norddeutschen Kaufmannsfamilie die großbürgerliche Lebenswelt des 19. Jahrhunderts nahe bringt und der durch seine subtile Figurengestaltung und ironische Erzählweise bis heute zu faszinieren vermag. Warum also sollte man diesen in vielerlei Hinsicht „großen“ Roman, der sein Lesepublikum unvermindert erfolgreich findet, für die Anforderungen der Bühne in Dialoge zerschlagen, auf eine überschaubare Zahl an Figuren reduzieren und auf einen dramaturgisch vertretbaren Zeitrahmen zusammenkürzen? Als bekannt wurde, dass John von Düffel – Dramaturg am Thalia Theater Hamburg [inzwischen Dramaturg am Deutschen Theater Berlin, A.R.] und zugleich selbst Autor von Familienromanen wie „Vom Wasser“ und „Houwelandt“ – eine Bühnen­fassung von Thomas Manns „Buddenbrooks“ geschrieben habe, wurden rasch Zweifel laut: Selbst die Tatsache, dass „Buddenbrooks“ bereits dreimal verfilmt und schon 3 zweimal in Dialogform gebracht wurde, konnte die Bedenken nicht ausräumen. Mit Skepsis und großen Erwartungen sah man der Uraufführung am 13. Dezember 2005 am Thalia Theater Hamburg entgegen. Thomas Manns vier Generationen umfassender Familienroman mit weitläufigem Personeninventar und detailgenauen Beschreibungen ist in John von Düffels Bühnen­fassung ein überschaubares, auf die Geschwister Thomas, Tony und Christian Buddenbrook konzentriertes Trauerspiel der (Groß)Bürgerlichkeit geworden. Die Reduktion auf das Spiel in einem von allen Requisiten der Bürgerlichkeit entkleide­ten Raum zeigt Figuren, die vom abfließenden Kapital gleich ihrem unabwend­­baren Schicksal mitgerissen werden. Die Inszenierung fokussiert, dass Beziehungen nur in Verbindung mit finanziellem Mehrwert als gewinnbringend gelten können. BUDDENBROOKS ist in John von Düffels Bühnenfassung ein bürgerliches Geschwisterdrama, bei dem die Familie persönliches Kapital und Bürde zugleich ist. Denn der Firmenimperativ, das Vermögen mehren zu müssen, liegt hier über Denken und Handeln der Geschwister wie ein Sisyphus-Fluch, dem sie nicht zu entrinnen vermögen. So sehr sie sich in 4 Julia Gebhardt (Tony) und Simone Mende (Konsulin). unterschiedlicher Weise auch mühen, dem Imperativ Folge zu leisten, sie verfehlen ihn immer wieder aufs Neue, bis ihnen das Wasser bis zum Halse steht. John von Düffel hält sich so eng an Thomas Manns Roman, dass wir jede einzelne Szene des Familienlebens wiedererkennen. Und doch wirken die auf das Spiel der Figuren reduzierten Szenen wie zur Kenntlichkeit entstellt: Der großbürgerliche rote Samtvorhang, der zur Selbstinszenierung dieser Familie bei Thomas Mann unabdingbar dazugehört, ist auf der Bühne gefallen. Die psycho-kapitalistische Anatomie der Figuren erscheint in grellem Licht. Die Verschlingungen von Kapital und Familie werden in einem zeitgenössischen Laborraum vor unseren Augen seziert. Unser Blick wird nicht von Details und Nebenhandlung abgelenkt, wir sehen der Vivisektion der Figuren gebannt zu. Die Bühnenfassung stützt sich unzweifelhaft in prokuristischer Manier auf die Bilanzen der Firmenbücher, die im Roman immer wieder angeführt werden – und leuchtet damit ein: Denn natürlich hat auch Thomas Mann davon erzählt, dass Geld zum Ersatz für libidinöse Objektbesetzungen, zum Fetisch der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist. Prof. Dr. Ortrud Gutjahr, Literaturwissenschaftlerin (2007) Thomas Strecker (Thomas), André Vetters (Konsul), Julia Gebhardt (Tony) und Marek Egert (Christian) 5 6 Marek Egert (Christian). „Das sind die Nerven.“ Die Buddenbrooks leiden an einer Familienkrankheit. Thomas und Christian, die Söhne des Konsuls, haben beide dieselbe Persönlichkeitsstörung geerbt, prägen sie aber unterschiedlich aus: Christian hat ihr nichts entgegenzusetzen, er wird zum Bajazzo, und am Ende wird seine aufgelöste Persönlichkeit in einer Irrenanstalt eingefriedet. In Thomas aber ist der „Wille zur Macht“ noch intakt, er setzt der Auflösung Festigkeit entgegen und bringt es zu Macht und Ansehen. Allerdings ist diese Festigkeit erzwungen, sie tut ihren Dienst nur auf Zeit – dann ist Thomas Buddenbrook aufgerieben und leer und stirbt an den Folgen eines morschen Zahns. Soweit der Roman als Krankengeschichte. Sie ist nicht erfunden. Sie ist in wesentlichen Zügen Thomas Manns eigene. Der Leser oder der Zuschauer hat viel davon, wenn er das weiß. Er vertraut dem Roman dann ganz anders, spürt ihn als psychologischen Seismographen, der nicht nur die individuellen, sondern auch die Bewegungen und Erschütterungen jener Epoche registriert. Die Krankheit der Wahl heißt in jenen Jahren Neurasthenie: „reizbare Nervenschwäche“. Das will sagen, der daran Erkrankte ist nicht nur in der Nervenkraft reduziert, sondern zugleich hochgradig sensibilisiert. Roman und Bühnenfassung von BUDDENBROOKS nennen die Krankheit nicht beim Namen. Dafür ist in beiden etwas ausgeprägt, was die Neurasthenie von sich aus mitbrachte: der Protest gegen den „entfesselten“ – das Wort ist schon von damals – Kapitalismus und gegen die erste Modernisierung der Moderne. Die industrielle Revolution hatte die Arbeit schneller und anstrengender gemacht, auch der Verkehr und die Kommunikation waren durch Eisenbahn, Telegrafen, Telefon enorm beschleunigt worden – Zeit wurde jetzt zu „Tempo“. So mancher konnte nicht mehr mithalten und protestierte mit diffusen „nervösen Störungen“. Das Theaterstück ist hier noch deutlicher als der Roman. Man erkennt: Die Lebenslinien sämtlicher Buddenbrooks laufen über das Hauptbuch der Firma. Auch die Befindlichkeit der Menschen drückt sich in Geld und geldabhängigem Ansehen aus. Ist „Buddenbrooks“ also ein antikapitalistischer Roman, eine Abrechnung mit der ersten Moderne? So war es ursprünglich durchaus nicht gemeint. Der junge Thomas Mann war später selber darüber verblüfft, vor allem, als er gewahr wurde, dass er den Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus, Jahre vor Max Webers berühmter Schrift hergestellt hatte. 7 Tatsächlich hat das Theaterstück BUDDENBROOKS eine erstaunliche Aktualität. Wir erleben gerade die zweite Modernisierung der Moderne, wie damals die Buddenbrooks die erste. Der Kapitalismus beschleunigt sich derzeit noch einmal. Da erinnern wir uns an ein Paradox, das im System selber steckt. Buddenbrooks haben es uns schon vorgeführt, es wiederholt sich heute: Für sein Heil trägt jeder selbst Verantwortung, auch wenn er keine Chance hat. „Arbeite!“, hält Thomas seinem Bruder Christian erbittert vor. „Arbeite“, empört sich Christian dagegen, „wenn ich aber nicht kann?“ „Arbeite!“, sagt heute der Liberalismus. „Wenn es dir schlecht geht, werde ich nicht eine Träne darüber vergießen, denn es ist deine Schuld, allein deine Schuld!“ Und die vielstimmige Antwort darauf lautet: „Arbeite? Wenn ich aber nicht kann?“ – Wie reagiert man auf solch modernen Widersinn? Womit protestiert man? Mit Depression. Tatsächlich scheint heute die allgemeine Gestimmtheit nicht Neurasthenie zu sein, sondern Depression. Das zeigt auch das Stück an. Prof. Dr. Manfred Dierks, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller 8 Julia Gebhardt (Tony) und Dennis Habermehl (Permaneder). „Wir sind nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangegangen sind und uns die Wege weisen. Dein Weg liegt klar und scharf abgegrenzt vor Dir, und Du müsstest nicht ein würdiges Glied unserer Familie sein, wenn Du ernstlich im Sinne hättest, mit Trotz und Flattersinn Deine eigenen, unordentlichen Pfade zu gehen.“ Konsul Buddenbrook an seine Tochter Thomas Strecker (Thomas) Michaela Allendorf (Gerda) und Moritz Nikolaus Koch (Leutnant) 9 10 Katharina Wilberg (Ida) mit Hanno-Puppe. Die Wonnen der Bürgerlichkeit? Zum Autor Thomas Mann Während in der Bühnenfassung allein das „Soll“ der Familien-Bilanzierung ausgestellt wird, hat Thomas Mann in die epische Breite seines Romans auch ein „Haben“ eingeschrieben, das uns verdeutlicht, weshalb eine Bürgerlichkeit à la Buddenbrook über Generationen hoch gehalten und von den Erben ganz ohne Murren übernommen wird. Thomas Manns Roman erzählt über das 19. Jahrhundert als den Verlust einer festgefügten Welt, ein Roman über eine Lebenswelt, die Thomas Mann mit dem Tod seines Vaters verloren hatte und die er als Epoche im Umbruch zur Moderne in seinem Roman erst er-schrieben hat. Thomas Mann war 22 Jahre alt, als er Ende Oktober 1897 mit der Niederschrift seines ersten Romans begann. Dabei griff er unwillkürlich auf die Geschichte seiner eigenen Familie zurück. Am 18. Juli 1900 beendete er den Roman, der Anfang Oktober 1901 mit einem Umfang von 1.100 Seiten in zwei Bänden zum Preis von zusammen 12 Mark erschien. Um sich überhaupt mit der Geschichte seiner Familie auseinandersetzen zu können, vertiefte sich Thomas Mann in „alle alten Familienpapiere, vergilbte Aufzeichnungen, Briefe, Festerinnerungen und Urkunden ... , die in Truhen und Laden zu finden waren“. Der Roman gewinnt dadurch selbst die Struktur einer Chronik, umfasst 42 Jahre vom Herbst 1835 bis Herbst 1877. In die Figur des Thomas Buddenbrook sind nicht nur deutliche Selbstanteile des Autors eingelagert, sondern auch biographische Reminiszenzen an seinen Vater Thomas Johann Heinrich Mann, der es durch eiserne Disziplin schon früh zu Ansehen und Ehren gebracht hatte: Mit 23 Jahren war er Chef der Handelsfirma und niederländischer Konsul in Lübeck geworden, und bereits mit 29 Jahren wurde er in Lübeck zum Senator gewählt. Thomas Mann hat mit seinem Roman einen Schlüssel gefunden, sich der Person und Lebenswelt seines Vaters anzunähern. Die künstlerische Blütezeit, die sich seit den 1880er Jahren in Deutschland ankündigte, basierte bekanntermaßen nicht unwesentlich auf den Möglichkeiten eines kapitalgesättigten Bürgertums, weshalb nicht umsonst die Generation der jungen Autoren – der Thomas Mann als einer ihrer bedeutendsten Vertreter angehörte – auch unter literaturgeschichtlicher Perspektive als „Söhnegeneration“ bezeichnet wurde. Nein, die Wonnen der Bürgerlichkeit, die Thomas Mann in seinem Roman mit großer Opulenz zelebriert und ironischer Schärfe seziert hat, sind nicht zu verachten. Prof. Dr. Ortrud Gutjahr, Literaturwissenschaftlerin 11 Buddenbrooks Schauspiel nach dem Roman von Thomas Mann Bühnenfassung von John von Düffel 26. September 2015 im Großen Haus, Hildesheim ca. 2 Stunden 35 Minuten, inklusive einer Pause Aufführungsrechte S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. Premiere Aufführungsdauer Bettina Rehm Swana Gutke Bühnenbild nach einem Entwurf von Grit Dora von Zeschau Musik-Arrangements Thomas Hertel unter Verwendung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach Puppenspiel-Training Christoph Buchfink Tango-Training Michael Post Dramaturgie Astrid Reibstein Inszenierung Ausstattung Die Hanno-Puppe wurde von Ulrike Langenbein gebaut und ist eine freundliche Leihgabe des Puppentheaters Halle. Bettina Rehm 12 Swana Gutke Thomas Hertel Konsul André Vetters Konsulin Simone Mende Thomas Thomas Strecker Christian Marek Egert Tony Julia Gebhardt Grünlich/Morten/Permaneder Dennis Habermehl Gerda/Anna Michaela Allendorf Bankier Kesselmeyer/Der Leutnant Moritz Nikolaus Koch Ida/Hanno-Puppe Katharina Wilberg Regieassistenz und Abendspielleitung Anne Beyer Ausstattungsassistenz Melanie Slabon Inspizienz Mick Lee Kuzia Soufflage Katharina Henker André Vetters Simone Mende Thomas Strecker Julia Gebhardt Marek Egert Dennis Habermehl 13 Technik/Werkstätten Technische Direktion Guido aus dem Siepen*, Ringo Günther Ausstattungsleitung Hannes Neumaier*, Melanie Slabon Technische Leitung Produktion Andrea Radisch* Bühnentechnik Eckart Büttner*, Oliver Perschke, Andreas Sander Beleuchtung Lothar Neumann*, Sven Feikes Ton Thomas Bohnsack-Pätsch*, Indra Bodnar, Dirk Kolbe Maske Carmen Bartsch-Klute, Birgit Bierschwale, Jennifer Mewes, Ilka Beyer-Wessel, Sabina Siemann Requisite Silvia Meier* Schneidereien Annette Reineking-Plaumann*, Egon Voppichler*, Wiebke Fichte, Anne Lehnberg Werkstättenleitung Werner Marschler* Tischlerei Johannes Niepel* Malsaal Thomas Mache* Schlosserei Joachim Stief* Dekoration Danja Eggers-Husarek, Anita Quade * Abteilungsleiter/-in Gefördert durch: Michaela Allendorf 14 Medienpartner: Moritz Nikolaus Koch Katharina Wilberg Impressum TfN ∙ Theater für Niedersachsen Theaterstraße 6 31141 Hildesheim www.tfn-online.de Spielzeit 2015/16 Intendant Jörg Gade Prokuristen Claudia Hampe, Werner Seitzer Probenfotos Falk von Traubenberg Porträtfotos T.Behind-Photographics, privat Texte S. 3-5: Ortrud Gutjahr: Die Wonnen der Bürgerlichkeit? In: Ortrud Gutjahr (Hg.): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Königshausen und Neumann, Würzburg 2007, S. 21-31. | S. 7-8: Manfred Dierks: „Das sind die Nerven“. Die Krankheit der Buddenbrooks. In: ebenda, S. 21-40. | S. 11: Ortrud Gutjahr: Die Wonnen der Bürgerlichkeit?, S. 36-43. Alle Texte stark gekürzt. Gestaltung ProSell! Werbeagentur GmbH, Hannover Layout Jolanta Bienia Druck Gerstenberg Druck & Direktwerbung GmbH Sponsoren/Partner: Freunde des Theater für Niedersachsen e. V. Besser Mit! Mein Theater. Mein Platz. Mein Abo! Gönnen Sie sich was! Das kleine Abo – 6 Vorstellungen ab 42,00 € in Hildesheim! www.tfn-online.de/abos/ 15 Dominus providebit Inschrift auf dem Rokoko-Giebel des Buddenbrook-Hauses in Lübeck („Gott wird vorsorgen.“)