Naturalismus in der Ethik

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Thomas Schmidt / Tatjana Tarkian (Hrsg.)
Naturalismus in der Ethik
Perspektiven und Grenzen
mentis
Paderborn
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Printed in Germany
Satz: Buch- und Notensatz Brütting-Keil, Detmold
Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de)
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN 978–3–89785–745–2
Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian
Einleitung
Anhänger des ethischen Naturalismus eint die Sichtweise, dass es keine
fundamentale Kluft zwischen dem Natürlichen und dem Moralischen gibt
– sei sie metaphysischer oder erkenntnistheoretischer Art. Daher meinen
sie, dass eine angemessene philosophische Theorie der Moral diese als
Teil der Natur thematisieren sollte. Die Frage nach dem angemessenen
Verständnis des Begriffs des Naturalismus ist selbst Gegenstand philosophischer Kontroversen, und es gibt deutliche Unterschiede, was die Ambitionen verschiedener philosophischer Naturalisten betrifft. Einig sind sie
einander aber in ihrer Ablehnung apriorischer Rechtfertigung von synthetischen Wissensansprüchen. Sie setzen bei der Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen, mit wenigen Ausnahmen jedenfalls, auf die
empirische Herangehensweise und weisen daher den Methoden und in
zunehmendem Maße auch den vorliegenden Ergebnissen der empirischen
Wissenschaften eine Schlüsselrolle zu. Entsprechend ist es das Ziel naturalistischer Ansätze in der Ethik, das Phänomen der Moral und die Ethik
unter Berücksichtigung empirischer Methoden und Resultate zu erklären.
Die Wahl einer naturalistischen Perspektive auf die Moral ist, historisch
gesehen, keine neue Erscheinung. Unter den Klassikern war es vor allem
David Hume, der die Frage, wie sich Moral und Ethik in ein naturalistisches
Weltbild integrieren lassen, zur Kernfrage seiner Moralphilosophie machte.
Diese Perspektive bestimmt auch die Auseinandersetzung gegenwärtiger
Autoren mit Grundlagenfragen der Ethik. Neben Hume ist für eine Reihe
von Naturalisten der Gegenwart auch Charles Darwins Werk ein wichtiger
Bezugspunkt. Seine naturalistische Erklärung der moralischen Fähigkeiten
des Menschen in The Descent of Man ist, wie manche meinen, jedenfalls im
Grundsatz nach wie vor ein plausibler theoretischer Ausgangspunkt.
Gelegentlich wird auch der an Überlegungen des Aristoteles anknüpfende Versuch, von Thesen über die menschliche Natur zu gehaltvollen normativen Aussagen zu gelangen, unter der Bezeichnung „ethischer Naturalismus“ gefasst. Diese als „(neo-)aristotelischer Naturalismus“ bezeichnete
Form des Naturalismus ist indes nicht der Gegenstand des vorliegenden
Bandes. In den hier versammelten Beiträgen geht es vielmehr um solche
naturalistische Entwürfe, die einen von normativen Gehalten freien Naturbegriff zugrunde legen und die in den empirischen Wissenschaften den
theoretischen Zugriff sehen, welcher der Erfassung moralischer Phänome-
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Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian
ne angemessen ist. Aus einer solchen Perspektive sind der aristotelische
Essentialismus und der aristotelische Funktionsbegriff kritikwürdig, da sie
mit einem modernen, durch den Darwinismus geprägten Verständnis von
biologischen Arten und Funktionen im Konflikt stehen.
Dank der Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten in vielen empirischen Disziplinen gemacht wurden – nicht nur in der Evolutionsbiologie,
sondern auch in der Verhaltensforschung, Kognitionspsychologie und in
den Neurowissenschaften –, steht Naturalisten gegenwärtig ein reichhaltiger Fundus an empirischen Resultaten zur Verfügung. Nun gibt es in der
aktuellen Debatte sicher viele, die der naturalistischen Herangehensweise
an Grundlagenfragen der Ethik keine Aussicht auf Erfolg bescheinigen,
und vielleicht auch viele, die ihr ohnehin eine besondere Anziehungskraft
absprechen würden. Auch wer dem Projekt einer Naturalisierung der Ethik
skeptisch gegenüber steht, wird die Relevanz der Ergebnisse empirischer
Forschung in einer Reihe von für die Ethik relevanten Feldern kaum bestreiten können.
Was kann die empirische Herangehensweise leisten, wenn es um die Frage nach dem Status und der Natur des Moralischen geht? Was können konkrete empirische Resultate zu grundlagentheoretischen Reflexionen über
die Moral beitragen? Inwiefern können empirische Überlegungen und Ergebnisse für normativ-ethische Fragen fruchtbar gemacht werden? Stellt
die Ethik nicht zu einem guten Teil eine eigenständige Domäne dar, die
gegenüber empirischen Disziplinen ihre methodische Autonomie behaupten darf? Diese Fragen stehen im Zentrum vieler Beiträge dieses Bandes,
deren gemeinsames Ziel es ist, Perspektiven und Grenzen des ethischen
Naturalismus auszuloten.
Die Beiträge dieses Bandes
In seinem Beitrag „Drei Herausforderungen für eine naturalistische Ethik“
argumentiert Philip Kitcher zugunsten einer Form des ethischen Naturalismus, die sich maßgeblich auf genealogische Überlegungen stützt. Auf der
Grundlage der Skizze einer evolutionären Erklärung von Moral entwickelt
Kitcher eine funktionalistische Konzeption von Moral, der zufolge moralische Normierungen über ihre Funktionen zu verstehen und im Rekurs
darauf zu rechtfertigen sind, inwieweit sie im Hinblick auf die ihnen zugedachten Funktionen erfolgreich sind. Er sucht dabei den Nachweis zu
erbringen, dass sich diese Moralkonzeption in eine metaethische Theorie
integrieren lässt, die dem Begriff moralischen Fortschritts Raum bietet, ohne hierfür einen unabhängigen Begriff moralischer Wahrheit in Anspruch
nehmen zu müssen. Der Versuch, auf dieser Grundlage auch Perspektiven
für die normative Ethik zu gewinnen, rundet Kitchers Darstellung seiner
naturalistischen Konzeption ab. In ausführlicher Form verteidigt er sie in
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seinem Buch The Ethical Project (Cambridge, Mass.: Harvard University
Press, 2011).
Alle Beiträge des Bandes nehmen auf Kitchers Position Bezug, wenn
auch in sehr unterschiedlichem Maße. In einigen Texten steht sie im Zentrum der Betrachtung, in anderen wird sie zum Vergleich herangezogen
oder es wird zur Illustration auf sie verwiesen, gelegentlich fungiert sie in
erster Linie als theoretische Kontrastfolie. Die detaillierte Auseinandersetzung mit Kitchers Entwurf spielt in den anschließenden drei Beiträgen eine
besonders große Rolle.
Tatjana Tarkian widmet sich in ihrem Beitrag „Naturalismus und moralischer Funktionalismus“ vier Aspekten, welche Kritiker als Schwachstellen
der funktionalistischen Position identifizieren könnten. Erstens ermöglicht
die funktionalistische Deutung moralischer Normen als solche keine Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Normen wie Rechtsnormen, Vorschriften der Etikette und partikularen Gruppencodes. Entsprechend bleibt
der von Kitcher zugrunde gelegte Begriff des Moralischen weit und unbestimmt. Zweitens stellt sich die notorische Frage, ob Kitchers Naturalismus
der normativen Dimension der Moral angemessen Rechnung tragen kann.
Das dritte Problem liegt darin, wie die Funktionen moralischer Normen
angemessen zu bestimmen sind. Viertens könnte befürchtet werden, der
revisionäre Charakter des Funktionalismus untergrabe die handlungsleitende Funktion unserer moralischen Orientierungen. Das dritte Problem
betrachtet Tarkian als das gravierendste. Dennoch dürfe Kitchers Naturalismus als ebenbürtiger Rivale für andere attraktive naturalistische Konzeptionen gelten.
Kitchers These, dass sich eine gehaltvolle und zugleich naturalistisch
ausweisbare Idee moralischen Fortschritts unter Rückgriff auf den Begriff
der Funktion(en) von Moral gewinnen lässt, wird von Kirsten Meyer in
ihrem Beitrag „Naturalismus und moralischer Fortschritt“ einer kritischen
Diskussion unterzogen. Meyer macht geltend, dass Kitcher sowohl in seiner
Beschreibung derjenigen Probleme, in deren Lösung er die Funktion von
Moral sieht, als auch in seiner Bevorzugung bestimmter solcher Lösungen
normative Vorentscheidungen ins Spiel bringt, die sich nicht ihrerseits aus
seiner genealogischen Beschreibung ergeben. Ungeachtet dessen seien, wie
Meyer argumentiert, genealogische Betrachtungen für normative Überlegungen nicht gänzlich irrelevant. Grundsätzlich hätten sie das Potential,
uns mit dem Hinweis auf die Umstände der Entstehung unserer Moralauffassungen sowohl für moralisch fragwürdige Entwicklungen als auch für
instruktive Beispiele moralischen Fortschritts die Augen zu öffnen.
In seinem Beitrag „Evolutionäre Erklärungen von Moral und die Autonomie der Ethik“ wendet sich Thomas Schmidt gegen zwei prominente
naturalistische Argumentationsmuster. Zum einen unterzieht er wesentliche Elemente der von Kitcher vertretenen Position einer Kritik, um damit
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die Auffassung zu stützen, dass sich aus einer evolutionären Genealogie
der Moral im Hinblick auf Anliegen der Ethik deutlich weniger konstruktives Potential gewinnen lässt, als dies nicht selten gemeint wird. Auf der
anderen Seite lassen sich, wie Schmidt am Beispiel einer Auseinandersetzung mit der von Richard Joyce vorgelegten Theorie zu zeigen unternimmt,
aus einer evolutionären Erklärung moralischer Phänomene keine die Möglichkeit ethischer Rechtfertigung betreffenden skeptischen Konsequenzen
gewinnen. Diese Überlegungen stützten die Vorstellung einer theoretischen
Autonomie der Ethik gegenüber naturalistischen Akkomodierungsversuchen.
Holmer Steinfath geht in seinem Beitrag „Moral als natürliche soziale Praxis“ von einem Moralbegriff aus, dem zufolge es Moral mit wechselseitigen
und allgemeinen Forderungen zu tun hat. Mit so verstandener Moral gehe eine Wir-Perspektive einher, aus der die Teilnehmer der moralischen
Praxis Handlungen im Lichte geteilter Gründe beurteilen. Hiermit ist nach
Steinfath insofern eine naturalistische Perspektive auf Moral skizziert, als
Moral als ein gewordenes, natürliches Phänomen aufgefasst wird, das funktional beschreibbar und dessen Entstehung im Hinblick auf evolutionäre
Vorteile erklärbar ist. Mit einer engen Vorstellung von Naturalismus ist
jedoch Steinfaths Überzeugung von der irreduziblen Normativität der Moral nicht vereinbar, deren Erfassung die Teilnehmerperspektive erfordert.
Steinfath zeigt abschließend, wie sich seine Version des ethischen Naturalismus normativ zu einer Moral der gleichmäßigen Berücksichtigung der
basalen Interessen aller ausbauen lässt.
Hintergrundfolie der von Mario Brandhorst in seinem Beitrag „Genealogie und Gemeinwohl“ unternommenen Auslotung des Potentials naturalistischer Moraltheorien ist eine an P. F. Strawson angelehnte Gegenüberstellung. Brandhorst beschreibt ethische Naturalisten als Optimisten, die eine
naturalistisch-evolutionäre Perspektive auf Moral für möglich und geboten
halten. Gegner des Naturalismus in der Ethik hingegen seien insofern Pessimisten, als sie fürchten, dass eine naturalistische Herangehensweise zentrale Facetten des Moralischen notwendig unberücksichtigt lassen würde.
Brandhorst verfolgt das Anliegen, zwischen diesen beiden Positionen, aber
letztlich zugunsten der naturalistischen Option, zu vermitteln. Pessimisten
der genannten Art sei insoweit Recht zu geben, als Naturalisten gelegentlich zu einer allzu verengten Vorstellung von Genealogie tendieren, die
alleine Erwägungen der Nützlichkeit von Moral in den Vordergrund stellt.
Ein angemessen weites Verständnis des Projekts einer naturalistischen Genealogie der Moral hingegen sei sehr wohl in der Lage, intrinsische Werte,
etwa den der Gerechtigkeit, zu integrieren.
Ausgangspunkt der von Gerhard Ernst in seinem Beitrag „Ein anderer
Naturalismus“ entwickelten Argumentation ist das, was Ernst den „gewöhnlichen ethischen Naturalismus“ nennt. Dessen Vertreter sehen Moral
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in weitgehender Kontinuität mit dem Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften, opferten jedoch die Normativität der Moral. Da Kitchers
Version des ethischen Naturalismus nicht derart weitgehende Parallelen
zwischen Moral und den Naturwissenschaften ziehe, vermag Kitcher zwar
der Normativität der Moral Rechnung zu tragen; er könne sich aber nicht
auf die Objektivität der Wissenschaft berufen. Ernst beansprucht mit der
von ihm im Anschluss vorgeschlagenen Variante des ethischen Naturalismus, die Vorteile beider Positionen vereinen zu können: Wissenschaftliche
Tatsachen seien, wie er im einzelnen argumentiert, ebenso wie moralische
Tatsachen intrinsisch normativ. Damit sei Moral in Sachen Objektivität und
Normativität von derselben Art wie Wissenschaft.
In seinem Beitrag „Verdient der ethische Nonnaturalismus erneutes Gehör?“ lotet Christoph Halbig die Frontstellung zwischen Naturalismus und
Nonnaturalismus in der Ethik im Hinblick auf das systematische Potential
des Nonnaturalismus aus. Halbig arbeitet heraus, dass hier der These von
der Kategorizität der Moral – d. h. die Auffassung, dass moralische Erwägungen Akteuren intrinsische Gründe geben –, ein besonderer Stellenwert
zukommt. Der Naturalismus ist, wie Halbig argumentiert, mit der Kategorizität der Moral unvereinbar, so dass Naturalisten die genannte These
entweder bestreiten oder aber eingestehen müssten, dass die Moral nicht
in allen ihren Facetten naturalisiert werden kann. Der Nonnaturalismus
hingegen drohe, insoweit er seine Kritik am Naturalismus auf die Kategorizität der Moral stützt, genau in der vom Naturalismus kritisierten Weise
dogmatisch zu werden. Abschließend untersucht Halbig Möglichkeiten
des Nonnaturalismus, sich gegen den Dogmatismus-Vorwurf zur Wehr zu
setzen.
Peter Schaber geht in seinem Beitrag „Was moralische von altruistischen
Motiven unterscheidet“ von der Auffassung aus, dass nicht allein die Handlungen, sondern in erster Linie die Motive einen Akteur zu einem moralischen Akteur machen. Er untersucht die Frage, welche Motive bei einem
moralischen Akteur vorliegen müssen. Zunächst argumentiert er, dass altruistische Motive als solche keine moralischen Motive sind. Ein moralischer Akteur sehe nicht in seinem Wunsch, etwas zugunsten anderer zu
tun, den Grund für sein Tun; vielmehr seien es die Anliegen anderer selbst,
die ihm Handlungsgründe geben und die ihn motivieren. Anders als etwa
Kitcher meint, sei die evolutionäre Pointe moralischer Orientierung nicht
etwa darin zu sehen, altruistische Neigungen zu stabilisieren und zu verstärken. Charakteristisch für den moralischen Akteur sei vielmehr, sich von
seinen Neigungen – auch den altruistischen – zu distanzieren und sie im
Lichte moralischer Erwägungen zu beurteilen und zu kontrollieren.
Unter dem Titel „Naturalismen in der Ethik“ untersucht und verwirft
Rüdiger Bittner im abschließenden Beitrag zunächst eine Reihe unterschiedlicher Arten, das Projekt einer naturalistischen Ethik aufzufassen. Dazu
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