Thomas Schmidt / Tatjana Tarkian (Hrsg.) Naturalismus in der Ethik Perspektiven und Grenzen mentis Paderborn Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung c istockphoto.com / Peter-John Freeman Einbandabbildung: Foto eines Schimpansen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 c 2011 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Str. 19, D–33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Satz: Buch- und Notensatz Brütting-Keil, Detmold Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978–3–89785–745–2 Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian Einleitung Anhänger des ethischen Naturalismus eint die Sichtweise, dass es keine fundamentale Kluft zwischen dem Natürlichen und dem Moralischen gibt – sei sie metaphysischer oder erkenntnistheoretischer Art. Daher meinen sie, dass eine angemessene philosophische Theorie der Moral diese als Teil der Natur thematisieren sollte. Die Frage nach dem angemessenen Verständnis des Begriffs des Naturalismus ist selbst Gegenstand philosophischer Kontroversen, und es gibt deutliche Unterschiede, was die Ambitionen verschiedener philosophischer Naturalisten betrifft. Einig sind sie einander aber in ihrer Ablehnung apriorischer Rechtfertigung von synthetischen Wissensansprüchen. Sie setzen bei der Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen, mit wenigen Ausnahmen jedenfalls, auf die empirische Herangehensweise und weisen daher den Methoden und in zunehmendem Maße auch den vorliegenden Ergebnissen der empirischen Wissenschaften eine Schlüsselrolle zu. Entsprechend ist es das Ziel naturalistischer Ansätze in der Ethik, das Phänomen der Moral und die Ethik unter Berücksichtigung empirischer Methoden und Resultate zu erklären. Die Wahl einer naturalistischen Perspektive auf die Moral ist, historisch gesehen, keine neue Erscheinung. Unter den Klassikern war es vor allem David Hume, der die Frage, wie sich Moral und Ethik in ein naturalistisches Weltbild integrieren lassen, zur Kernfrage seiner Moralphilosophie machte. Diese Perspektive bestimmt auch die Auseinandersetzung gegenwärtiger Autoren mit Grundlagenfragen der Ethik. Neben Hume ist für eine Reihe von Naturalisten der Gegenwart auch Charles Darwins Werk ein wichtiger Bezugspunkt. Seine naturalistische Erklärung der moralischen Fähigkeiten des Menschen in The Descent of Man ist, wie manche meinen, jedenfalls im Grundsatz nach wie vor ein plausibler theoretischer Ausgangspunkt. Gelegentlich wird auch der an Überlegungen des Aristoteles anknüpfende Versuch, von Thesen über die menschliche Natur zu gehaltvollen normativen Aussagen zu gelangen, unter der Bezeichnung „ethischer Naturalismus“ gefasst. Diese als „(neo-)aristotelischer Naturalismus“ bezeichnete Form des Naturalismus ist indes nicht der Gegenstand des vorliegenden Bandes. In den hier versammelten Beiträgen geht es vielmehr um solche naturalistische Entwürfe, die einen von normativen Gehalten freien Naturbegriff zugrunde legen und die in den empirischen Wissenschaften den theoretischen Zugriff sehen, welcher der Erfassung moralischer Phänome- 8 Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian ne angemessen ist. Aus einer solchen Perspektive sind der aristotelische Essentialismus und der aristotelische Funktionsbegriff kritikwürdig, da sie mit einem modernen, durch den Darwinismus geprägten Verständnis von biologischen Arten und Funktionen im Konflikt stehen. Dank der Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten in vielen empirischen Disziplinen gemacht wurden – nicht nur in der Evolutionsbiologie, sondern auch in der Verhaltensforschung, Kognitionspsychologie und in den Neurowissenschaften –, steht Naturalisten gegenwärtig ein reichhaltiger Fundus an empirischen Resultaten zur Verfügung. Nun gibt es in der aktuellen Debatte sicher viele, die der naturalistischen Herangehensweise an Grundlagenfragen der Ethik keine Aussicht auf Erfolg bescheinigen, und vielleicht auch viele, die ihr ohnehin eine besondere Anziehungskraft absprechen würden. Auch wer dem Projekt einer Naturalisierung der Ethik skeptisch gegenüber steht, wird die Relevanz der Ergebnisse empirischer Forschung in einer Reihe von für die Ethik relevanten Feldern kaum bestreiten können. Was kann die empirische Herangehensweise leisten, wenn es um die Frage nach dem Status und der Natur des Moralischen geht? Was können konkrete empirische Resultate zu grundlagentheoretischen Reflexionen über die Moral beitragen? Inwiefern können empirische Überlegungen und Ergebnisse für normativ-ethische Fragen fruchtbar gemacht werden? Stellt die Ethik nicht zu einem guten Teil eine eigenständige Domäne dar, die gegenüber empirischen Disziplinen ihre methodische Autonomie behaupten darf? Diese Fragen stehen im Zentrum vieler Beiträge dieses Bandes, deren gemeinsames Ziel es ist, Perspektiven und Grenzen des ethischen Naturalismus auszuloten. Die Beiträge dieses Bandes In seinem Beitrag „Drei Herausforderungen für eine naturalistische Ethik“ argumentiert Philip Kitcher zugunsten einer Form des ethischen Naturalismus, die sich maßgeblich auf genealogische Überlegungen stützt. Auf der Grundlage der Skizze einer evolutionären Erklärung von Moral entwickelt Kitcher eine funktionalistische Konzeption von Moral, der zufolge moralische Normierungen über ihre Funktionen zu verstehen und im Rekurs darauf zu rechtfertigen sind, inwieweit sie im Hinblick auf die ihnen zugedachten Funktionen erfolgreich sind. Er sucht dabei den Nachweis zu erbringen, dass sich diese Moralkonzeption in eine metaethische Theorie integrieren lässt, die dem Begriff moralischen Fortschritts Raum bietet, ohne hierfür einen unabhängigen Begriff moralischer Wahrheit in Anspruch nehmen zu müssen. Der Versuch, auf dieser Grundlage auch Perspektiven für die normative Ethik zu gewinnen, rundet Kitchers Darstellung seiner naturalistischen Konzeption ab. In ausführlicher Form verteidigt er sie in Einleitung 9 seinem Buch The Ethical Project (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2011). Alle Beiträge des Bandes nehmen auf Kitchers Position Bezug, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. In einigen Texten steht sie im Zentrum der Betrachtung, in anderen wird sie zum Vergleich herangezogen oder es wird zur Illustration auf sie verwiesen, gelegentlich fungiert sie in erster Linie als theoretische Kontrastfolie. Die detaillierte Auseinandersetzung mit Kitchers Entwurf spielt in den anschließenden drei Beiträgen eine besonders große Rolle. Tatjana Tarkian widmet sich in ihrem Beitrag „Naturalismus und moralischer Funktionalismus“ vier Aspekten, welche Kritiker als Schwachstellen der funktionalistischen Position identifizieren könnten. Erstens ermöglicht die funktionalistische Deutung moralischer Normen als solche keine Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Normen wie Rechtsnormen, Vorschriften der Etikette und partikularen Gruppencodes. Entsprechend bleibt der von Kitcher zugrunde gelegte Begriff des Moralischen weit und unbestimmt. Zweitens stellt sich die notorische Frage, ob Kitchers Naturalismus der normativen Dimension der Moral angemessen Rechnung tragen kann. Das dritte Problem liegt darin, wie die Funktionen moralischer Normen angemessen zu bestimmen sind. Viertens könnte befürchtet werden, der revisionäre Charakter des Funktionalismus untergrabe die handlungsleitende Funktion unserer moralischen Orientierungen. Das dritte Problem betrachtet Tarkian als das gravierendste. Dennoch dürfe Kitchers Naturalismus als ebenbürtiger Rivale für andere attraktive naturalistische Konzeptionen gelten. Kitchers These, dass sich eine gehaltvolle und zugleich naturalistisch ausweisbare Idee moralischen Fortschritts unter Rückgriff auf den Begriff der Funktion(en) von Moral gewinnen lässt, wird von Kirsten Meyer in ihrem Beitrag „Naturalismus und moralischer Fortschritt“ einer kritischen Diskussion unterzogen. Meyer macht geltend, dass Kitcher sowohl in seiner Beschreibung derjenigen Probleme, in deren Lösung er die Funktion von Moral sieht, als auch in seiner Bevorzugung bestimmter solcher Lösungen normative Vorentscheidungen ins Spiel bringt, die sich nicht ihrerseits aus seiner genealogischen Beschreibung ergeben. Ungeachtet dessen seien, wie Meyer argumentiert, genealogische Betrachtungen für normative Überlegungen nicht gänzlich irrelevant. Grundsätzlich hätten sie das Potential, uns mit dem Hinweis auf die Umstände der Entstehung unserer Moralauffassungen sowohl für moralisch fragwürdige Entwicklungen als auch für instruktive Beispiele moralischen Fortschritts die Augen zu öffnen. In seinem Beitrag „Evolutionäre Erklärungen von Moral und die Autonomie der Ethik“ wendet sich Thomas Schmidt gegen zwei prominente naturalistische Argumentationsmuster. Zum einen unterzieht er wesentliche Elemente der von Kitcher vertretenen Position einer Kritik, um damit 10 Thomas Schmidt und Tatjana Tarkian die Auffassung zu stützen, dass sich aus einer evolutionären Genealogie der Moral im Hinblick auf Anliegen der Ethik deutlich weniger konstruktives Potential gewinnen lässt, als dies nicht selten gemeint wird. Auf der anderen Seite lassen sich, wie Schmidt am Beispiel einer Auseinandersetzung mit der von Richard Joyce vorgelegten Theorie zu zeigen unternimmt, aus einer evolutionären Erklärung moralischer Phänomene keine die Möglichkeit ethischer Rechtfertigung betreffenden skeptischen Konsequenzen gewinnen. Diese Überlegungen stützten die Vorstellung einer theoretischen Autonomie der Ethik gegenüber naturalistischen Akkomodierungsversuchen. Holmer Steinfath geht in seinem Beitrag „Moral als natürliche soziale Praxis“ von einem Moralbegriff aus, dem zufolge es Moral mit wechselseitigen und allgemeinen Forderungen zu tun hat. Mit so verstandener Moral gehe eine Wir-Perspektive einher, aus der die Teilnehmer der moralischen Praxis Handlungen im Lichte geteilter Gründe beurteilen. Hiermit ist nach Steinfath insofern eine naturalistische Perspektive auf Moral skizziert, als Moral als ein gewordenes, natürliches Phänomen aufgefasst wird, das funktional beschreibbar und dessen Entstehung im Hinblick auf evolutionäre Vorteile erklärbar ist. Mit einer engen Vorstellung von Naturalismus ist jedoch Steinfaths Überzeugung von der irreduziblen Normativität der Moral nicht vereinbar, deren Erfassung die Teilnehmerperspektive erfordert. Steinfath zeigt abschließend, wie sich seine Version des ethischen Naturalismus normativ zu einer Moral der gleichmäßigen Berücksichtigung der basalen Interessen aller ausbauen lässt. Hintergrundfolie der von Mario Brandhorst in seinem Beitrag „Genealogie und Gemeinwohl“ unternommenen Auslotung des Potentials naturalistischer Moraltheorien ist eine an P. F. Strawson angelehnte Gegenüberstellung. Brandhorst beschreibt ethische Naturalisten als Optimisten, die eine naturalistisch-evolutionäre Perspektive auf Moral für möglich und geboten halten. Gegner des Naturalismus in der Ethik hingegen seien insofern Pessimisten, als sie fürchten, dass eine naturalistische Herangehensweise zentrale Facetten des Moralischen notwendig unberücksichtigt lassen würde. Brandhorst verfolgt das Anliegen, zwischen diesen beiden Positionen, aber letztlich zugunsten der naturalistischen Option, zu vermitteln. Pessimisten der genannten Art sei insoweit Recht zu geben, als Naturalisten gelegentlich zu einer allzu verengten Vorstellung von Genealogie tendieren, die alleine Erwägungen der Nützlichkeit von Moral in den Vordergrund stellt. Ein angemessen weites Verständnis des Projekts einer naturalistischen Genealogie der Moral hingegen sei sehr wohl in der Lage, intrinsische Werte, etwa den der Gerechtigkeit, zu integrieren. Ausgangspunkt der von Gerhard Ernst in seinem Beitrag „Ein anderer Naturalismus“ entwickelten Argumentation ist das, was Ernst den „gewöhnlichen ethischen Naturalismus“ nennt. Dessen Vertreter sehen Moral Einleitung 11 in weitgehender Kontinuität mit dem Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften, opferten jedoch die Normativität der Moral. Da Kitchers Version des ethischen Naturalismus nicht derart weitgehende Parallelen zwischen Moral und den Naturwissenschaften ziehe, vermag Kitcher zwar der Normativität der Moral Rechnung zu tragen; er könne sich aber nicht auf die Objektivität der Wissenschaft berufen. Ernst beansprucht mit der von ihm im Anschluss vorgeschlagenen Variante des ethischen Naturalismus, die Vorteile beider Positionen vereinen zu können: Wissenschaftliche Tatsachen seien, wie er im einzelnen argumentiert, ebenso wie moralische Tatsachen intrinsisch normativ. Damit sei Moral in Sachen Objektivität und Normativität von derselben Art wie Wissenschaft. In seinem Beitrag „Verdient der ethische Nonnaturalismus erneutes Gehör?“ lotet Christoph Halbig die Frontstellung zwischen Naturalismus und Nonnaturalismus in der Ethik im Hinblick auf das systematische Potential des Nonnaturalismus aus. Halbig arbeitet heraus, dass hier der These von der Kategorizität der Moral – d. h. die Auffassung, dass moralische Erwägungen Akteuren intrinsische Gründe geben –, ein besonderer Stellenwert zukommt. Der Naturalismus ist, wie Halbig argumentiert, mit der Kategorizität der Moral unvereinbar, so dass Naturalisten die genannte These entweder bestreiten oder aber eingestehen müssten, dass die Moral nicht in allen ihren Facetten naturalisiert werden kann. Der Nonnaturalismus hingegen drohe, insoweit er seine Kritik am Naturalismus auf die Kategorizität der Moral stützt, genau in der vom Naturalismus kritisierten Weise dogmatisch zu werden. Abschließend untersucht Halbig Möglichkeiten des Nonnaturalismus, sich gegen den Dogmatismus-Vorwurf zur Wehr zu setzen. Peter Schaber geht in seinem Beitrag „Was moralische von altruistischen Motiven unterscheidet“ von der Auffassung aus, dass nicht allein die Handlungen, sondern in erster Linie die Motive einen Akteur zu einem moralischen Akteur machen. Er untersucht die Frage, welche Motive bei einem moralischen Akteur vorliegen müssen. Zunächst argumentiert er, dass altruistische Motive als solche keine moralischen Motive sind. Ein moralischer Akteur sehe nicht in seinem Wunsch, etwas zugunsten anderer zu tun, den Grund für sein Tun; vielmehr seien es die Anliegen anderer selbst, die ihm Handlungsgründe geben und die ihn motivieren. Anders als etwa Kitcher meint, sei die evolutionäre Pointe moralischer Orientierung nicht etwa darin zu sehen, altruistische Neigungen zu stabilisieren und zu verstärken. Charakteristisch für den moralischen Akteur sei vielmehr, sich von seinen Neigungen – auch den altruistischen – zu distanzieren und sie im Lichte moralischer Erwägungen zu beurteilen und zu kontrollieren. Unter dem Titel „Naturalismen in der Ethik“ untersucht und verwirft Rüdiger Bittner im abschließenden Beitrag zunächst eine Reihe unterschiedlicher Arten, das Projekt einer naturalistischen Ethik aufzufassen. Dazu