Prof. Dr. Helmut Diederichs Thesenpapier zum Begriff „Medienpädagogik“ (auch "Kommunikation/Massenkommunikation", "Massenmedien") (Quelle: Hüther/Schorb/Brehm-Klotz (Hrsg.), Grundbegriffe Medienpädagogik, S. 200-209, 243-252) Begriffe 1. Kommunikation ist ein viel gebrauchter Begriff (Sender – Nachricht – Empfänger) - in den Sozialwissenschaften wird sie als "Form sozialen Handelns" verstanden. Kommunikationsforschung beschäftigt sich mit allen Prozessen zwischenmenschlicher Mitteilung. Kommunikation ist ein intentional gesteuerter Übertragungsvorgang zur regelgeleiteten Interaktion von Personen, Personengruppen und Institutionen. Daran sind als Faktoren beteiligt (Beispiel: gemorstes Gedicht): - der Sender: er verschlüsselt (encodiert) die Zeichen und eröffnet auf diese Weise den Kommunikations-Akt; - der Empfänger (Adressat/Rezipient): er decodiert die Zeichen – entziffert und verarbeitet die Bedeutung; - der Kontext: er umfasst die situationalen Bestimmungsmomente des K.ereignisses; - der CODE: er umfasst das gewählte Ausdrucksmedium, Sprache, Bild oder beides (audiovisueller CODE); - der Code: als Verfügung über eine Sprachschicht, Sprechweise (Dialekt, Jargon); - der Kanal: die Dimension der physikalischen Übertragungsweise (sprechen, schreiben, Lichtzeichen, trommeln, elektrische Wellen); - Inhalt: der Gegenstand, über den kommuniziert wird; - der Formcharakter: formale Gestaltung einer Aussage, ihre ästhetische Dimension. 2. Massenkommunikation ist vergesellschaftete Kommunikation, ist eine Spezialform von Kommunikation – mittels Massenmedien: Massenkommunikation bezeichnet einen aufgrund der Zwischenschaltung technisch intermediärer Verbreitungsmittel und Professionalisierung einseitigen, indirekten Prozess der Kommunikation die sich an ein in unterschiedliche Gesellschaften, soziale Gruppen und einzelne Personen gegliedertes "disperses" Publikum wendet. (S. 202) Durch Mk. soll Öffentlichkeit hergestellt, sollen die politischen Partizipations-Chancen der Bürger gewährleistet werden. Additive Beschreibung von Mk. durch die Lasswell-Formel: "Who Says What in Which Channel to Whom With What Effect? Kommunikator – Medium – Inhalt/Nachricht – Rezipient – Wirkung. 3. Massenmedien/Massenkommunikationsmittel sind technische Verbreitungsmittel, die den Prozess der Massen-Kommunikation ermöglichen (öffentliche Medien – Ggs.: private Medien). Es gibt Print-, auditive, visuelle, audiovisuelle Medien. Die Neuen Medien (Multimedia, Internet) lassen den traditionellen Begriff jedoch zunehmend zweifelhaft werden (Interaktivität, Netz-Kommunikation). 4. Medienpädagogik als Begriff taucht zu Beginn der 60er Jahre auf. Bis heute wird der Begriff eher uneinheitlich, vielschichtig gebraucht. Eine genauere Begriffsbestimmung bringt mit dem Zwang zur Verallgemeinerung erhebliche Verkürzungen, Vereinfachungen und Auslassungen mit sich. 5. Versuch einer Definition: – Medienpädagogik umfasst alle Fragen der pädagogischen Bedeutung von Medien in den Nutzungsbereichen Freizeit, Bildung und Beruf. – Dort wo Medien als Mittel der Information, Beeinflussung, Unterhaltung, Unterrichtung und Alltagsorganisation Relevanz für die Sozialisation des Menschen erlangen, werden sie zum Gegenstand der Medienpädagogik, wobei Sozialisation die Gesamtheit intendierter und nicht intendierter Einwirkungen meint, die den Menschen auf kognitiver und emotionaler Ebene sowie im Verhaltensbereich prägen. – Gegenstände medienpädagogischer Theorie und Praxis sind die Medien, ihre Produzenten und Nutzer im jeweiligen sozialen Kontext. – Medienpädagogik untersucht die Inhalte und Funktionen der Medien, ihre Nutzungsformen sowie ihre individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen. – Sie entwirft Modelle für die medienpädagogische Arbeit, mit der die Nutzer über die Kompetenzstufen Wissen und Analysefähigkeit in ihren spezifischen Lebenswelten zu medienbezogenem und medieneinbeziehendem Handeln geführt werden sollen. (S. 243) 2 Ansätze und Richtungen 6. Frühere medienpädagogische Beschäftigung blieb im vorwissenschaftlichen Raum, sah nur vermeintliche Gefahren: Filmerziehung. Film als Quelle der Jugendgefährdung wurde erst nach 1960 von Fernsehen abgelöst. Medienpädagogik als Disziplin ist in den unterschiedlichsten Hochschul-Fachbereichen angesiedelt, nicht nur in der Erziehungswissenschaft. 7. Phasen der Medienpädagogik: Präventivinstanz/Bewahrpädagogik, Hinführung zur kritischen Nutzung, Bildungstechnologie, emanzipatorische bzw. handlungs- und teilnehmerorientierte Medienpädagogik. Letztere will Kommunikationsstrukturen demokratisieren, die Medien zur Veränderung von Handeln und Verhalten einsetzen und die Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung durch aktiven eigenen Umgang mit Medien fördern. Aktuelle Neuakzentuierung: Medienpädagogische Fragestellung bestimmt sich nicht primär von den Medien her, sondern vom Nutzer, der mit Medien handelnd seinen individuellen Lebensalltag arrangiert. 8. Medienpädagogische Konzepte sind zeitbedingte Antwortversuche in engem Zusammenhang mit politischen, ökonomischen und medientechnologischen Entwicklungen. Der Ruf nach Medienpädagogik ertönt in Umbruchsituationen, in denen bisherige Orientierungs- und Handlungsmuster brüchig werden. Ja, selbst das Aufkommen des Begriffs und die Entstehung der Disziplin ist Indiz für deren enge Bindung an die gesellschaftliche Entwicklung: Stellenwert von Erziehung, technische Entwicklung. Medienpädagogik hat derzeit Hochkonjunktur (Multimedia), was aber nicht zur Steigerung zugewiesener Mittel führt. 9. Welche Position Medienpädagogik in diesem Umbruch bezieht hängt von ihrer theoretischen Fixierung bzw. ihrer Bindung an gesellschaftliche Vorgaben ab: ob sie sich der humanistischen gesellschaftlichen Fortentwicklung, der Konservierung überkommener Normen oder dem an ökonomischer Rationalität orientierten technischen Fortschritt verpflichtet. Zielkategorien von Medienpädagogik 10. Bewahren: War früher ein Hauptziel der M., kommt aber auch heute noch vor angesichts von Videogewalt sowie Brutalität und Sex in Fernsehen und Computerspielen. Der Schutz der Heranwachsenden vor schädlichen Medieneinflüssen und das Zurückdrängen medialer Freizeitaktivitäten werden dem Medienerzieher gerade von denjenigen abverlangt, die politisch für die als Liberalisierung verkaufte Kommerzialisierung des Medienmarktes und damit auch für den Anstieg der Mediengewalt verantwortlich sind. Die Hauptprobleme der Bewahrpädagogik sind das Operieren an Symptomen und die von realer Gewalt isolierte Betrachtung medialer Gewalt. Zudem macht eine Pädagogik der Verbote das Schädigende erst attraktiv. 11. Informieren: Die Vermittlung von Kenntnissen über Medien ist Grundlage jeder medienpädagogischen Arbeit. Jedoch: Informiertheit kann sich selbst genügen, sie kann aber auch als Voraussetzung für kritische Rezeption, Medienanalyse und Medienhandeln genutzt werden. (Medienkunde, Medienerziehung). 12. Sensibilisieren: Das wollen jene Konzepte, die den Mediennutzer durch Information und Aufklärung gegen Mediengefahren immunisieren wollen, indem sie Manipulationsmechanismen und gesellschaftliche Bedingtheit der Medien durchschaubar machen (rezeptive Medienarbeit). Diese medien- und gesellschaftskritische Pädagogik sieht die Medien als Herrschafts- und Machtinstrumente. Die Rezipienten sollen die in den Medien-Inhalten verborgenen manipulativen Interessen der Kommunikatoren entschlüsseln lernen. 13. Aktivieren: Zielkategorie der handlungsorientierten Ansätze in den Sozial- und Erziehungswissenschaften. Aus Medienkonsumenten sollten Medienproduzenten werden (Brechts Radiotheorie). Neue medientechnische Voraussetzungen (tragbare Videorecorder) führten zur Erprobung von Möglichkeiten, das Verhältnis von Produzent und Konsument prinzipiell als umkehrbar zu gestalten. Zunächst vielerorts von freien Gruppen betrieben, fand aktive Medienarbeit inzwischen Eingang in Schule und außerschulische Jugend- und in Erwachsenenbildung. 14. Emanzipieren: Geht insofern über das Aktivieren hinaus, als dem Einzelnen zur Fähigkeit verholfen werden soll, beim Gebrauch der Medien die Differenz zwischen medienvermittelter und authentischer Erfahrung zu erkennen, zu artikulieren und zu überwinden. Mit emanzipatorischer Zielsetzung will M. durch Vermittlung von Kommunikations- und Handlungskompetenz dazu führen, dass sich der ansonsten passive und stumme Rezipient aus seiner Sprachlosigkeit und aufgedrängten Konsumhaltung befreit. 3 15. Funktionalisieren: Medien werden systematisch und unter Kalkulation ihrer Wirkungen zum Erreichen vorgegebener Ziele eingesetzt, die im Bewusstsein oder Verhalten des Rezipienten eine Veränderung im Sinne des Kommunikators erreichen sollen (Werbung, politische Propaganda). Im Bereich der Medienpädagogik vertrat in den 60er Jahren die Bildungstechnologie eine solch einseitige funktionalistisch-technokratische Position. Und heute findet man im Rahmen der informationstechnischen Bildung ähnliche Rückfälle in instrumentell didaktisches Denken. Jedoch sind der Funktionalisierung der Medien für die Bildung und damit der Funktionalisierung des Lernenden durch Medien enge Grenzen gesetzt (Primat pädagogischer Erfordernisse). Bedeutungswandel der Medien und Aufgabenerweiterung der Medienpädagogik 16. Aus pädagogischer Sicht interessierten Medien bisher als Freizeitfaktor und Unterrichtsmittel. Das Medium Computer greift dagegen zentral in alle Lebensbereiche ein: Arbeitssektor – Herstellung von Ver- und Gebrauchsgegenständen, materialisiertem Geist in Form von Texten, Bildern, Tönen. Freizeitbereich – Konsum audiovisueller Medien; multimedialer Spielpartner. Pädagogik – virtuelles Klassenzimmer. 17. Multimediale Errungenschaften haben gravierende soziale Folgen: Struktur der Arbeit – Menschliches Wissen durch maschinelles ersetzt. Struktur von Herrschaft – Bürger potentiell totaler Transparenz preisgegeben. Struktur menschlichen Wissens – Eignen sich Speicherung und Bearbeitung menschlichen Wissens an. Struktur des Vergnügens – Nahezu jede Form von Amusement wird zur medialen Darbietung. 18. Medien beanspruchen und beeinflussen Handeln, Denken und Erleben des Menschen in ganzer Person. Medienpädagogik muss deshalb Zusammenhänge zwischen den technologischen, pädagogischen, politischen, ökonomischen und ökologischen Implikationen der Medien sehen und künftig interdisziplinär agieren. Der Funktionswandel der Medien ist von einer Individualisierung der Massenkommunikation geprägt. Ja, es stellt sich die Frage, ob man beim Umgang mit den neuen Medien überhaupt noch von Kommunikation im bisherigen Sinn sprechen kann (Computerspiele, Computerfilme). Medienalltag und Medienhandeln 19. Medien verdanken ihre Existenz immer bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen; Medienpädagogik leistet immer auch einen Beitrag zur politischen Sozialisation. Der Zusammenhang von Medien und Sozialisation ist jedoch verkürzt. Nicht nur nach der Bedeutung der Mediennutzung für die Sozialisation des Einzelnen ist zu fragen, sondern auch nach dem Einfluss individueller Sozialisationsverläufe auf den Umgang mit Medien. „Medienhandeln ist nicht nur eine Funktion der vorfindbaren Mediensituation, sondern ebenfalls ein Ergebnis der individuellen Lebensgeschichte. ... Der Medienalltag ist ein Segment des dem Willen handelnder Individuen unterworfenen Alltags.“ (S. 251) Was der Einzelne mit den Medien macht, wie er sie nutzt und zu welchen Zwecken, das ist sein Medienhandeln. 20. Medienpädagogik ist die Vermittlungsebene zwischen Medienalltag und Medienhandeln. Aus diesem Spannungsfeld zwischen vorgegebenem Medienalltag und der subjektiven Aufnahme und Ausprägung dieses Alltags, dem Medienhandeln der Subjekte, sind die Zielperspektiven zu entwickeln: - Aufklären des objektiven Medienalltags - Verstehen und Rekonstruktion des subjektiven Medienhandelns Medienpädagogische Forschung und Praxis sollte die Souveränität von Medienhandeln stärken und die Bedingungen offen legen, die den Subjekten eine weitgehende Mitgestaltung medialer Kommunikationsprozesse eröffnet.