Analyse? wozu? - zur Problematik der "musikalischen Analyse“ Einführung „Through cognition we bring meaning to sound.” [zitiert nach Prof. Wilfried Gruhn, Vortrag bei einer Fachberater-Tagung im Januar 2013] Das griechische Wort "analysis" bedeutet „Auflösung in Bestandteile" - Das wäre wohl das schlimmste, was man Musik antun könnte! Selbstverständlich kann es uns bei der musikalischen Analyse nicht darum gehen, ein Musikstück nur in Bestandteile aufzulösen. Trotzdem ist musikalische Analyse wichtig, denn sie soll zu einem tieferen Verständnis, zu einer höheren Wertschätzung und letztendlich zu einem intensiveren Hören führen. Was war und was ist Analyse? Musik bewegt, sie ist angenehm oder verstörend, von kolossaler Wucht oder still und intim, […]- muss dies analysiert werden? Nein. Aber es kann. Es kommt darauf an, was man durch eine Analyse erreichen will. Über Jahrhunderte hinweg war das Komponieren von Musik eher ein Handwerk, untersucht wurden dessen „Produkte" allenfalls von denen, die dieses „Tonsetzer"-Handwerk neu erlernen wollten, nicht aber von den Adressaten, den Zuhörern. Das änderte sich erst vor ca. 200 Jahren. Die Anfänge dessen, was man heute im Allgemeinen unter „musikalischer Analyse" versteht, liegen in dieser Zeit. Unter dem Einfluss der romantischen Kunstauffassung entstanden autonome Kunstwerke, den Gipfel der musikalischen Kunst sahen viele in der „reinen", von allen äußeren Zwecken freien Instrumentalmusik. Für sie wurde auch der Begriff „absolute Musik" geprägt […]. Sie galt als höchste Stufe der Kunst überhaupt und genoss z. T. eine fast religiöse Verehrung. Als Inbegriff solcher Musik erschienen die Sinfonien und Streichquartette BEETHOVENS. […] Schriftsteller schrieben - aus Begeisterung und um dem Hörer den inneren Reichtum und den „Sinn" nahe zu bringen - Interpretationen von Werken dieser Art. Dabei bedienten sie sich auch analytischer Mittel, den Schwerpunkt bildete aber ein literarischer und philosophisch Zugang […] Unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Denkens erhielt die Analyse von Musik dann allmählich - vor allem im 20. Jahrhundert einen größeren Eigenwert. Eine Analyse sollte verdeutlichen, was ein Werk „zusammen hält", was es ausmacht. Demgegenüber trat die eher philosophisch orientierte Interpretation in den Hintergrund - oder wurde gar vehement abgelehnt. Analysen konnten nun teilweise den Eindruck erwecken, sie seien nur „technisch". Bei aller Unterschiedlichkeit ist den neueren Ansätzen von Analyse eines gemeinsam: Sie wollen Musik - gemeint ist künstlerisch gestaltete, komponierte, „anspruchsvolle" Musik aus sich selbst heraus verstehen, weitgehend unabhängig davon, ob sie „gefällt" oder nicht. [Werkimmanente Analyse] […] Seit es Analyse von Musik gibt, ist nicht nur die Art und Weise, sondern zunehmend auch das Ziel von Analyse umstritten. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Sichtweisen und Methoden der neu entstandenen Disziplinen Musikpsychologie und Musiksoziologie an Bedeutung gewonnen und dazu beigetragen, dass nicht mehr (nur) der Wert, die handwerkliche Qualität oder die „Aussage" eines Werkes im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. So traten neben die werkimmanente Analyse die der Rezeption und der Funktion […]. Die Erkenntnisse, die man durch Analyse zu gewinnen hofft, können sich heute somit auf drei Bereiche beziehen: • auf ein konkretes Musikstück; • auf dessen Wirkung auf Einzelne oder Gruppen (dazu gehört auch dessen Bedeutung im biografischen und zeitgeschichtlichen Kontext des Komponisten); • auf dessen bewusste oder unbewusste Funktionalisierung für bestimmte Zwecke. […] Ziele der Analyse Analyse ist kein Selbstzweck, sondern auf ein Ziel hin gerichtet: auf eine genauere Wahrnehmung, auf intensiveres Hören von Musik, auf vertiefende Erkenntnisse, auch auf eine Epoche oder einen Komponisten bezogen - und damit auf Interpretation. […] Darüber hinaus kann sich der Analysierende selbst als Hörer reflektieren, der im Kontext seiner Zeit, seiner Biografie und seiner aktuellen Befindlichkeit steht, wenn er ein Musikstück hört. Dessen Analyse kann ihn ein Stück weiter bringen in der Erkenntnis dessen, was ihn selber ausmacht: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Wünsche. (nach Soundcheck SII, Braunschweig, Schroedel, 2008, Seite 50) Nicht immer »alles« Analyse heißt nicht: immer »alles«. Der Drang, »vollständig« sein zu wollen oder zu müssen, schadet der Sache eher: Ein enzyklopädischer Ehrgeiz (oder eine analytische Pedanterie), auch noch jede Kleinigkeit anzusprechen, würde das musikalische Geschehen verschütten unter einem Wust angehäufter Details. Nicht Lückenlosigkeit ist erstrebenswert, sondern gewichtende Beschränkung, um den abgestuften Rang von Ereignissen zu erkennen oder Musik womöglich auf den Punkt zu bringen. […] (aus: Clemens Kühn, Analyse lernen, Kassel: Bärenreiter 1993) Christoph Richter: Analyse von Musik als „sinnvolles Unternehmen“ Die Einsicht, dass das Analysieren von Musik nur dann ein sinnvolles Unternehmen genannt werden kann, wenn es von einer bestimmten Absicht motiviert und durch ein spezielles Interesse geleitet ist, kann heute nach langen Diskussionen über Sinn und Unsinn der musikalischen Analyse - als Gemeinplatz gelten. Auch über den speziellen Sinn der Analyse in der musikpädagogischen Arbeit ist schon viel nachgedacht worden (Dahlhaus 1970, Ehrenforth 1979, Forchert 1979, Richter 1978, 1979 a, 1979 b). Das Zergliedern von Musik mit verschiedenen handwerklichen Methoden und auf der Grundlage der von der Musiktheorie bereitgestellten Muster ist, wenn es um seiner selbst willen und als bloße Technik betrieben wird, allenfalls als propädeutische Übung zu akzeptieren. Aber auch das notwendige Lernen und Üben der Techniken und Kunstgriffe des Analysierens sollte nicht von der Überlegung getrennt werden, wozu sie im Einzelfall dienen. Beachtet man diese Dienststellung und die propädeutische Funktion des Analysierens nicht, so setzt sich unbemerkt ein vertrackter Prozess durch: Das Analysieren als eine selbstzweckliche, quasi-objektive Tätigkeit konstituiert und definiert unversehens die Musik, ihr Hören und ihr Verstehen. Die selbstzweckliche Analyse macht aus dem Werk eine bestimmte Hör-, Erlebens- und Struktur-Wirklichkeit, im schlimmsten Fall ein bloßes Exemplar eines Musters oder ein Übungsfeld für die Suche nach Motiven, Akkorden, Kompositionstechniken u. a. Sie tritt an die Stelle des Werksinns in allen seinen Dimensionen, des Verstehens und Erlebens. Um dem zu entgehen, seien für den folgenden Versuch einer Annäherung an die 4. Sinfonie von Johannes Brahms mit analytischen Mitteln sogleich Absicht und Interesse genannt: Meine Absicht ist es, einige Anregungen für das Hören zu geben; für ein Hören, welches nicht so sehr Formen, Inhalte oder Zusammenhänge nur registriert oder identifiziert, sondern das vielmehr einen individuellen Prozess in Gang setzt, in dem die (mitgebrachten) Kenntnisse, Hörgewohnheiten, -fähigkeiten und -interessen in eine Auseinandersetzung mit dem zu Hörenden geraten. […] (Christoph Richter, Johannes Brahms: IV. Sinfonie e-Moll (Hör-Anregungen) in: Werkanalyse in Beispielen, Hg. Siegmund Helms und Helmut Hopf, Regensburg: Bosse, 1986.) Carl Dahlhaus zur Analysetechnik: „Brahms und die Tradition der Kammermusik“ „Dass eine Analysetechnik, die von Erfahrungen mit der Musik Schönbergs und Weberns ausgeht, um in Werken von Beethoven und Brahms ein Geflecht von latenten oder halb verdeckten Motivbeziehungen zu entdecken, prinzipiell der Gefahr ausgesetzt ist, sich in Wahnsysteme zu verlieren, soll nicht geleugnet werden. Doch lässt es sich nicht als bloßer Zufall abtun, sondern muss als Zeichen eines kompositionsgeschichtlichen Traditionszusammenhangs aufgefasst werden, dass gerade bei Beethoven und Brahms, im Unterschied zu Schubert oder Bruckner, die Suche nach „Substanzverwandtschaft“ wie Hans Mersmann sie nannte - nicht selten zu plausiblen Resultaten führt.“ (Carl Dahlhaus (Hrsg.),Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Bd. 6, 2. Aufl., Laaber: Laaber-Verlag 1983, S. 215) (zusammengestellt von StD Thomas Kalmbach)