Arzneimitteltherapie im Alter, Polypragmasie? Fachkongress für Geriatrische Pharmazie und Pflege 14-15. März 2015 Congress, Saalfelden PD Dr. med. Thomas Münzer Chefarzt Geriatrische Klinik AG Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter St. Gallen [email protected] Inhalt • Definition der Polypragmasie • Die Herausforderung – Intrinsische und extrinsische Faktoren • • • • • Beispiele Lösungsansätze Zusammenfassung Schlussfolgerung Diskussion 1 Polypragmasie • Einsetzen mehrerer Medikamente im Sinne eines Ausprobierens • Sinn-und konzeptlose Diagnostik und Behandlung mit Arznei- und Heilmitteln Warum in der Geriatrie? • Geriatrische Patienten werden als Häufung von medizinischen Problemen gesehen – Viele Krankheiten, viele Pillen • Fehlender Überblick – Viele Spezialisten • Angst, Verantwortung zu übernehmen – Viel wird delegiert • Angst vor Lebensende? – «Nein» sagen müsste man können 2 Funktion Die Idealvorstellung Alle wollen «jung sterben» Aber so spät wie möglich † Zeit / Alter Funktion Die Realität Zeit / Alter 3 Veränderungen mit der Zeit Frail / gebrechlich Fit / robust Gute Funktion Funktionsverlust Pathologie Physiologie Zeit Intrinsische Faktoren Kognition Muskelgewebe Fettgewebe Knochen / Bindegewebe 4 Herausforderungen Erfolg Funktion verbessert Unabhängigkeit Misserfolg Funktionsverlust Abhängkigkeit Funktionelle Veränderung Für jede Phase die optimale Therapie Optimal ist nicht gleich maximal 5 Extrinsische Faktoren Medikament Patient Arzt Medikament Medikament Arzt Medikament Andere Allopathische Medikamente Homöopathische Medikamente Phytotherapeutika Hausmittel Pflegemittel Polymorbidität versus Multidimensionalität Person 1 Diabetes Hypertonie Arthrose Hörproblem Person 2 Dimension Gedächtnis Soziales Diabetes Finanzielles Hypertonie Arthrose Hörproblem 6 Hauptrisiken • Je mehr Medikamente, desto grösser das Risiko einer unerwünschten Wirkung • Ein zusätzliches Medikament erhöht das Risiko einer unerwünschten Wirkung um rund 10% • Je mehr verschreibende Ärzte oder Ärztinnen, desto grösser ist das Risiko einer unerwünschten Wirkung Gandhi TK et al. N Engl J Med 2003; 348: 1556-64 Umsetzungsprobleme? • Hypothetischer Fall: Frau, 79 Jahre – Diabetes, Osteoporose, COPD, Hypertonie, Arthrose • 7 nichtpharmakologische Empfehlungen an die Patientin – Bewegung, Gelenkschutz, Gewichtsmanagement, Alkohol, Fusspflege, Expositionsprophylaxe COPD, BZ Kontrolle • 6 Aufgaben an den Grundversorger – Kontrolle Blutdruck, Impfungen, Überweisung: Ophtalmologie, DEXA, Ergotherapie • Laborkontrollen – Albumin, Creatinin, Leberfunktion, HbA1C, Blutzucker JAMA, August 10, 2005—Vol 294, No. 6 7 Umsetzungsprobleme? 7 Uhr Inhalieren/ 1x 70 mg Alendronat 8 Uhr 500 mg Ca++ 200 U D 12.5 mg Hydrochlorothiazid 40 mg Lisinopril 10 mg Glyburid 80 mg Aspirin 850 mg Metformin 20 mg Omeprazol 10-11 Medikamente zu 4 Zeiten in 12 Stunden 250 mg Naproxen 13 Uhr Inhalieren 19 Uhr Inhalieren 500 mg Ca++ 200 U D 850 mg Metformin 40 mg Lovastatin JAMA, August 10, 2005—Vol 294, No. 6 Wer hat den Überblick? • Alle Nicht-Spezialisten • Alle, die sich Zeit nehmen • Alle, die die Polymedikation ihrer alten Patienten kritisch hinterfragen • Alle, die gute Medikamentenpläne abgeben 8 Medikamente und Geriatrie • Meist sehr alte Menschen mit kognitiven Problemen – Unterschiedliche Formen der Polymorbidität • Pseudostabilität • Viele Jahre die gleiche Medikation • Wenig longitudinales Wissen verfügbar – 30 Jahre Aspirin wie weiter? • Pharmakologie am Lebensende? Pharmakologische Besonderheiten ☺ ? Resorption meist gut Nebenwirkungen Resorption Verteilung ☺ ? Muskelmasse Wechselwirkungen ☺ ? Rezeptorendichte Wirkung Ausscheidung ☺ ? Nierenfunktion 9 Effekt des Medikamentes Klassische Fehler Zeit Häufige Probleme • Ungeduld im Krankenhaus – Zu hohe Startdosis – Zu kurzes Dosisintervall – Im Krankenhaus muss man schlafen wie zuhause • (Kritiklose) Anwendung aller Behandlungsrichtlinien • Mangelnde Kommunikation mit den Betroffenen oder zwischen den Akteuren • Fehlende Kenntnis der funktionellen Kapazität • Unzureichend Austrittsplanung • Kommerzielles Interesse 10 Typische Situationen • Transdermale Systeme – Lange wenig Wirkung, dann Delirium • Sedativa und Hypontika mit langer HWZ – Lange wenig Wirkung, dann Delirium • Unzureichende oder fehlende Information – «plötzliches» Entzugsdelirium • Alkohol, Benzodiazepine, Z-Substanzen • Kombination Analgetika und Sedativa – Im Krankenhaus provozierte Stürze Stürze und Frakturen nach Antidepressiva BMJ 2011;343:d4551 doi: 10.1136/bmj.d4551 11 Stürze mit relevanter Verletzung nach Zolpidem • Zum Teil „wirklich veraltete“ Substanzen – Reserpin, α Methyldopa, Guanethidin • In der Schweiz nicht zugelassene Medikamente • Es gibt keine CH Version J Am Geriatr Soc 59:1883–1890, 2011. Typische Situationen • Behandlungsrichtlinien Myokardinfarkt – Akute Magenblutung unter 3fach Aggregationshemmung • Therapie des Lymphoms nach Schema – Langdauerende, schwere Aplasie • Grosszügige Antibiotikatherapie – Delirien, C.difficile Kolitis • Orale Antikoagulation und Antibiotika – INR Entgleisung 12 Kernfragen • Was will die Patientin / der Patient? • Was ist das Behandlungsziel? – Primärprävention? – Sekundärprävention? – Kuration? – Stabilisation oder Palliation? • Löst die medikamentöse Therapie das Problem? – Wenn nein, was ist die Konsequenz? Was ist das Ziel? Die Frage nach einem Sturz in der Vorgeschichte gehört (theoretisch) vor jede Hypertoniebehandlung im Alter Tinetti, ME et al. JAMA 2014;174(4): 588-95 13 Merke • Das Hauptproblem ist, dass jemand zu viele Medikamente erhält • Dies ist nicht so selten begründet in der Anwendung aller Guidelines • Es kommt aber auch vor, dass jemand eine wichtige Therapie nicht erhält! Unterversorgung Problem Morphine Myokardinfarkt Herzinsuffizienz Vorhofflimmern Was fehlte Laxans Betablocker ACE Hemmer Marcoumar Häufigkeit % 62 60 47 42 Osteoporose Hypertonie Arteriosklerose Bisphosphonat Antihypertensiva Aggregationshemmer 29 23 21 NSAR Gabe PPI 21 14 Warum so wenig Daten? • Lange Zeit kaum gute Studienresultate zur Pharmakotherapie von Hochbetagten • «Typische Altersprobleme» werden zu selten untersucht – Depression – Agitation bei Demenz – Polyarthrose – Polymyalgia rheumatica Fazit in Kürze • Polypragmasie ist meist Ausdruck gut gemeinter Behandlung multidimensional erkrankter alter Menschen • Die Kenntnis «der Dimensionen» setzt geriatrisches Wissen voraus • Individualisierung auch im hohen Alter von grösster Bedeutung 15 Was kann man tun? • Bewährte Substanzen • Gute Verschreibungspraxis – Mit Einverständnis der Person – Auf Patientenbedürfnisse angepasst – Verzicht auf «Maximalversorgung» • Listen (ÖGG, Priscus, Beer) • Kommunikation optimieren – Bereitschaft dazu nicht immer vorhanden • Spezialisten für Altersmedizin beiziehen Kernfragen • Stimmen – Indikation? – Dosis? – Darreichungsform? – Dauer? – Nebenwirkungsprofil? – Kosten? • Gibt es klinisch relevante Interaktionen? • Wird die Substanz überhaupt genommen? 16 Fazit in Kürze • Therapie immer wieder hinterfragen, an definierten funktionellen Zielen ausrichten • Für alte Menschen sichere Substanzen verwenden • Gut dokumentierte Medikamente (und zurückhaltend!) verschreiben • Weniger ist oft mehr Das ideale Medikament • • • • • • • • Grosse therapeutische Breite Kurze Halbwertszeit Leicht eliminierbar Keine Nebenwirkungen Keine Interaktionen Alle galenische Formen Individuelle Dosierungen Billig 17 Der junge Arzt beginnt seine Karriere mit 20 verschiedenen Pillen für eine Krankheit, der Erfahrene braucht eine Pille für 20 Krankheiten. Sir William Osler 18