Sehnsucht nach dem Himmel Predigt in einem Tango

Werbung
Sehnsucht nach dem Himmel
Predigt in einem Tango-Gottesdienst
Dr. Frank Hiddemann
geb. 1960, Gemeindepfarrer
in Gera und Kulturbeauftragter der EKM.
»Die Sehnsucht danach, dass das, was ist,
nicht alles ist«, so der Prediger, macht das
Leben aus. Sein Thema in diesem Gottesdienst ist die »Sehnsucht nach dem Himmel«,
nicht als Ausdruck von Weltflucht, sondern
als Beweggrund für die Zuwendung zur
Schöpfung, damit sie nicht zum bloßen
»Material für unsere Zwecke« verkommt.
Theologisch vollzieht dieser Gottesdienst
die Verbindung der Verse 1–10 aus dem
2. Brief an die Korinther mit einer Sehnsuchtshymne des Dichters Novalis von 1798, in der
im Blick auf das Heilige Abendmahl vom
»Tisch der Sehnsucht« die Rede ist, »der nie
leer wird«.
Dass eine musikalische Korrespondenz
zwischen Chorälen und Tangomusik hergestellt wird, mag zunächst verwundern, erschließt sich aber, wenn die Predigt auf den
Ursprung dieser Musik verweist, als einen
Tanz, »der die doppelte Sehnsucht ausdrückt,
die nach Hause und die aus dem Elend heraus«.
Da ist das Schicksal der Einwanderer Ende
des 19. Jahrhunderts am Rio de la Plata
ebenso zur Musik ihrer Sehnsucht geworden
wie das der Christen, deren Herzen bange
sind und dennoch voller Sehnsucht, was ein
Choral wie »Jesu meine Freude« zum Ausdruck bringt.
Die Tangomusik wurde im Gottesdienst
live gespielt, vor dem Evangelium (Mt 25,31–
46), nach dem Credo, der Predigt, während
der Austeilung des Abendmahls, nach dem
Gebet und zum Ausgang. Der Gottesdienst
mit allen Texten und Hinweisen zur Musik ist
im Internet abrufbar. (B. M. G.)
Eine Sehnsucht, die man tanzen kann
Die meisten Religionen, die ich kenne,
suchen und versprechen Ruhe,
aber das Christentum stachelt die Gefühle
auf. Das Christentum ist eine dramatische
Religion. Es baut Spannung auf.
Denn Gott war da, und er kommt wieder.
Und er hat etwas anbrechen lassen, was seitdem wächst.
Er hat Dinge getan, die nachwirken, die uns
unter Druck setzen,
oder anders gesagt: unter eine Verheißung
stellen.
Er hat den Tod besiegt und er wird ihn für
alle aus der Welt schaffen.
Er hat angefangen zu leben wie ein Mensch,
hat geliebt, gelehrt, geheilt, wie wir es nicht
können,
aber wie es uns verheißen ist, es auch zu
können.
Er hat die Welt überwunden. Das heißt:
Er hat die Sehnsucht nach dem Himmel in die
Welt gebracht.
Die Sehnsucht danach, dass das, was ist,
nicht alles ist.
Und er hat den Geist gebracht, der uns diese
Zumutungen aushalten lässt
und der uns schenkt, darauf reagieren zu
können.
So entwirft es der Predigttext des heutigen
Gottesdienstes, der von der Sehnsucht spricht.
Ich lese aus dem 2. Brief an die Korinther
(2. Kor 5,1–10):
Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand
errichtetes ewiges Haus im Himmel. Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus
überkleidet zu werden. So bekleidet, werden
wir nicht nackt erscheinen. Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, seufzen wir unter
schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet,
sondern überkleidet werden möchten, damit
so das Sterbliche vom Leben verschlungen
werde. Gott aber, der uns gerade dazu fähig
gemacht hat, er hat uns auch als ersten Anteil den Geist gegeben. Wir sind also immer
zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass
wir fern vom Herrn in der Fremde leben, solange wir in diesem Leib zu Hause sind; denn
als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht
als Schauende.
ZGP 3/2011, 29. Jg. ISSN 0722-8856, Copyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Frank Hiddemann
56
ZGP-2011-3.indd 56
20.04.11 09:20
ZGP 3/2011, 29. Jg. ISSN 0722-8856, Copyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Unser Leib ist ein Zelt, eine provisorische
Wohnstätte.
Unser eigentliches Haus ist im Himmel.
Und dieses Haus kommt auf uns zu.
Aus unseren provisorischen Wohnstätten
sehnen wir uns hinaus.
Aber diese Sehnsucht aus dem Leib heraus
hat einen schlechten Ruf.
Wenn man vergisst, dass es eine Sehnsucht
nach mehr ist, dann bleibt leicht eine Leibfeindlichkeit zurück.
Als ob unser Leib etwas Schlechtes sei, nur
weil es Gründe gibt, sich aus dem sterblichen
und von Krankheiten behafteten,
zuletzt immer mühsamer beherrschbaren
Körper hinauszusehnen.
Überhaupt hat diese Sehnsucht nach dem
Himmel einen schlechten Ruf.
Und das nur, weil vergessen wird, dass es
eine Sehnsucht ist.
Dieses Seufzen und Sehnen, von dem in
unserem Text die Rede ist, wird zu leicht als
Verachtung des Bestehenden verstanden.
Die christliche Sehnsucht, über die Welt
hinauszukommen, wurde denunziert als
Flucht.
Statt die Verhältnisse zu verbessern, sehnt
sich der Christ nach dem Himmel.
Sie fragten sich, wie sie ihr Leben aushalten
sollten, und sehnten sich aus ihrem Elend
hinaus.
Nur schienen die Verhältnisse so fest und
zementiert, dass sie nur die Gedanken sehnsuchtsvoll fliegen lassen konnten.
Perspektive: Auswanderung
Eine andere Perspektive neben der religiösen
Perspektive (das Leben hier aushalten, um
dort selig zu werden) war neben dem sozialen Protest (die Weberaufstände): die Auswanderung.
Argentinien war damals ein Auswanderungsland. Dort wurde ein groß angelegtes Einwanderungsprogramm aufgelegt, und die
Menschen kamen aus aller Welt, aus Afrika
und Europa.
Natürlich verbesserte sich deren Situation
am Rio de la Plata, in den Städten Monevideo
und Buenos Aires nicht sofort.
Und die, die dort elend wohnten, hatten
nun neben der Sehnsucht nach Befreiung
aus ihrem Elend noch eine zweite Sehnsucht,
die nach Hause.
Und so entstand der Tango, der Tanz, der
die doppelte Sehnsucht ausdrückt, die nach
Hause und die aus dem Elend hinaus.
Sehnsucht nach Seligkeit
Machen wir es konkret historisch.
Ich lese gerade Gerhart Hauptmanns JesusRoman »Der Narr in Christo Emanuel Quint«.
Der Roman spielt Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Sehnsucht ist in dieser Zeit so groß,
wie die Lage der Textilarbeiter und Weber
schlecht ist.
Kleine Konventikel bilden sich in niederen
Hütten, und falsche Propheten bedienen sich
der apokalyptischen Bücher der Bibel.
In der Zeit, als die Weber zu Hause webten
und 16 Stunden lang den Webstuhl in Betrieb hielten, in der Zeit der schmutzigen
Industriearbeit, war kaum Familie und Leben
neben der Arbeit möglich.
Und der Zorn richtete sich nicht zuerst gegen
die Verursacher dieser Verhältnisse oder gegen
die, die davon profitierten, sondern der Zorn
äußerte sich als Sehnsucht, diesen Verhältnissen zu entfliehen, als religiöse Sehnsucht.
Diese armen Weber und Textilarbeiter haben
unseren Predigttext zu Recht anders gelesen.
Die Liebessehnsucht
Und die Sehnsucht, die die Körper empfinden, die Liebessehnsucht,
war das Medium, das Ausdrucksmittel für
diese Sehnsucht.
So ist es ja auch in den christlichen Chorälen.
»Ach wie lang, wie lange ist dem Herzen
bange und verlangt nach dir«, heißt es in
»Jesu meine Freude«, was wir heute noch
singen werden, und Jesus wird dort der
»Bräutigam« genannt.
Und wer sich da sehnt, ist unsere Seele, die
Braut.
Die Liebessehnsucht ist das Bild für die Sehnsucht nach Gott.
Und so ist auch die Sehnsucht des Tango:
»Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man
tanzen kann«, sagte der Tango-Konponist
Enrique Santos Discépolo über diese Musik.
Diese Musik trägt die Melancholie in sich,
mehr noch: drückt sie aus.
57
ZGP-2011-3.indd 57
20.04.11 09:20
Und von diesem Spiel mit der Sehnsucht
können wir Christen lernen, wie man sehnsuchtsvoll lebt in der Welt.
Musik – das unaussprechliche Seufzen
Der Tango und das Christentum haben gemein, dass sie sich mit der Welt, wie sie ist,
nicht abfinden.
Manche, auch Christen, sind der Meinung,
an Gott glauben heiße, sich mit allem abzufinden, was einem zustößt.
Die Welt, wie sie ist, als Zuweisung Gottes zu
verstehen, die man still vor sich hinknabbert,
bis man sie verdaut hat, gilt bei manchen als
fromm.
Das Gegenteil ist der Fall. An Gott glauben
heißt zu glauben, dass wir ein Gegenüber
haben, das die Welt verändern kann.
An Gott glauben heißt zu klagen, zu bitten,
nicht einfach abstrakt, sondern begründet zu
hoffen.
An Gott glauben heißt, wir haben ein Gegenüber für unsere Klage, für unseren Zorn und
manchmal auch für unsere Dankbarkeit.
Deswegen ist die Welt für uns nicht nur Material für Zwecke, Rohstoff für unsere Lebensplanung, sondern Gottes Schöpfung,
die er verändern und erneuern will.
Von dieser Erneuerung spricht unser Predigttext. Er nennt diesen Prozess »das Anziehen
des Himmels« und ermutigt uns zu warten,
allerdings aktiv zu warten.
Ich rufe uns die Sätze noch einmal ins Gedächtnis: Gott aber, der uns gerade dazu
fähig gemacht hat, er hat uns auch als ersten
Anteil den Geist gegeben.
Wir sind also immer zuversichtlich, auch
wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn
in der Fremde leben,
Der Geist Gottes hilft uns, Gottes Fernsein
auszuhalten. Er hilft uns, ihn sehnsuchtsvoll
zu erwarten. Er tritt für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern, wie es im Römerbrief
heißt.
Diese unaussprechlichen Seufzer können
auch komponierte Musik sein. Ja, manchmal
denke ich, die Musik ist dieses unaussprechliche Seufzen.
Der komplette Tango-Gottesdienst mit Predigt
steht im Internet unter www.gottesdienst-undpredigt.de unter Downloads zur Verfügung.
ZGP 3/2011, 29. Jg. ISSN 0722-8856, Copyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Sie hat nicht den Schwung des visionären
Aufbruchs, keinen Marschrhythmus, keine
Kampfstimmung wie die Choräle, die Brecht
und Weill geschaffen haben.
Der radikale Bruch mit dem Bestehenden lag
ja gerade hinter den Einwanderern.
Der Aufbruch lag hinter ihnen und hatte sie
in ein neues Elend geführt.
Und nun entstand in den beiden lateinamerikanischen Großstädten der Tango.
Alle Einwanderernationen trugen Ihres dazu
bei, afrikanische Rhythmen, die polnische
Mazurka, die deutsche Handharmonika, auch
Handorgel oder Quetschkommode genannt,
wurde in der Bauart des Bandoneums das
Instrument des Tango.
Der Tango Nuevo, den wir heute im Gottesdienst hören, trägt diese Tradition weiter,
er hat die Musik von Komponisten wie Strawinsky und Prokofieff aufgenommen und
auch den Jazz.
Der Tango Nuevo ist keine Tanzmusik mehr,
aber er spielt noch mit der Sehnsucht.
58
ZGP-2011-3.indd 58
20.04.11 09:20
Herunterladen