Gerhart Hauptmann Vor Sonnenuntergang

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Gerhart Hauptmann
Vor Sonnenuntergang
Es ist eine Herausforderung, meine Damen und Herren, Sie heute Abend in einer
guten halben Stunde einzuführen in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“. Gerade deswegen aber freue ich mich sehr, dies zu tun. Ich freue mich,
dass dieses äusserst vielschichtige Stück in unserem Stadttheater aufgeführt
wird, ich freue mich, dass damit all die literarischen, literaturhistorischen und
geschichtlichen Bezüge, von denen ich Ihnen sagen will, nach Langenthal kommen.
Die Bretter, die die Welt bedeuten, sind auch in Langenthal. Und es kommt heute
Abend ein Stück Welt auf diese Bretter, ganz unbestritten.
Ich sage, es sei eine Herausforderung, eine Einführung zu bieten in das Stück
„Vor Sonnenuntergang“. Wenn ich Ihnen gleich anschliessend eine Zusammenfassung des Inhalts geben werde, dann werden Sie auf den ersten Blick diese
Vielschichtigkeit nicht erkennen können. Auch wenn man das Stück zum ersten
Mal liest, ist dies nicht anders. Es hat eine durchaus spannende Handlung, dieses
Stück, es trifft einen, macht einen nachdenklich, man wird auf einem hohen Niveau unterhalten. Aber es braucht einiges Nachdenken und auch ein wenig Hilfe,
der Vielschichtigkeit dieses Stücks gewahr zu werden.
Ich sage Ihnen das zu Beginn, meine Damen und Herren: die Handlung ist durch
eine Bedeutung überhöht, die im Stück selber, in der Handlung, nicht sichtbar
wird. Es gibt einen doppelten Boden! Das ist das Geniale an Hauptmanns Stück:
Es ist da eine ganz einfache Handlung, die ich Ihnen sogleich erzählen werde,
aber diese Handlung hat tiefe Bezüge zur Literatur des Abendlandes, sie hat auch
erschreckende Bezüge zur Geschichte und zur Zeit seiner Entstehung. Aber „Vor
Sonnenuntergang“ ist ein Stück, das Sie ohne weiteres auch ohne meine Einführung geniessen könnten, ohne diese Bezüge zu kennen. Da Sie nun aber nun mal
hier sind, müssen Sie diese Bezüge kennen lernen, ich nehme Ihnen gleichsam
die Unschuld, welche die Damen und Herren, die erst gegen acht Uhr erscheinen,
noch haben. Für diese ist es eben ein spannendes Stück, ein gutes Theaterstück,
das unterhält und zum Denken anregt. Ich will niemandem zu nahe treten, denn
es ist durchaus legitim, eben erst gegen acht Uhr zu erscheinen. Man wird nicht
mit einem Gefühl des Mangels das Theater verlassen, vielleicht sogar weit befriedigter, weil ja die Initiation in die Hintergründe abendländischen Geistes in meinen Einführungen jeweilen auch belasten und verstören kann. Der Wissende ist
nicht immer der Glücklichere. Aber es bleibt trotzdem unbestritten: „Vor Sonnenaufgang“ ist ein grossartiges Stück, weil es diese Bezüge gibt. Man muss sie
nicht erkennen, aber sie sind trotzdem da. Es ist wie bei den Märchen, die wir
den Kindern erzählen. Es sind wunderbare Geschichten, tiefsten Sinnes. Kein
Kind wird die mythische Tiefe, einer Frau Holle etwa, ermessen oder auch nur
ermessen wollen. Aber wir erzählen diese mythische Tiefe immer mit, sie ist immer da, aufgenommen und aufgehoben in der Geschichte, auch wenn wir nichts
davon wissen. Wir spüren – die Kinder und wir – die Tiefe und das mythisch Geheimnisvolle der Märchen, weil sie in einer ganzen Welt der letzten Fragen aufgehoben sind.
„Vor Sonnenuntergang“ wurde im Februar 1932 im Deutschen Theater Berlin unter der Regie von Max Reinhard uraufgeführt. Es war die letzte in der glanzvollen
Reihe der Hauptmann–Premieren, die in Berlin 1889 mit der Uraufführung von
Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenuntergang
Hauptmanns erstem naturalistischen Drama „Vor Sonnenaufgang“ ihren Ausgang
genommen hatten. Sie sehen, bereits in den Titeln dieser beiden Dramen öffnet
sich eine Welt von Bezügen. Etwas scheint zu Ende zu gehen mit diesem Stück:
Mit dem Stück „Vor Sonnenaufgang“ beginnt etwas, welches ein halbes Jahrhundert später mit „Vor Sonnenuntergang“ schliesst. Es spannt sich ein Bogen vom
Aufgang der Sonne 1889 bis zu ihrem Untergang 1932. Welcher Bogen und welche Sonne, darauf müssen wir kommen. 1933 gehen in Deutschland die Lichter
aus, die Sonne geht wahrlich unter und die undurchdringliche Nacht der faschistischen Herrschaft nimmt ihren Anfang. Es ist schon ein deutlicher Hinweis, 1932
ein Stück „Vor Sonnenuntergang“ zu nennen.
Doch nun endlich zur Handlung:
Die Hauptfigur des Stücks ist der Geheimrat Matthias Clausen, 70 Jahre alt, ein
sehr erfolgreicher Verleger und Medienunternehmer, wie man heute sagen würde.
Ihm wird – so beginnt das Stück – an der Feier seines 70. Geburtstages die Ehrenbürgerschaft seiner Stadt verliehen. Als Zuschauer nehmen wir an dieser Feier teil. Wir erfahren, dass Clausen den Tod seiner über alles geliebten Ehefrau
weitgehend überwunden hat, vor allem durch die aufopfernde Weise, wie seine
sentimentale Tochter Bettina sich um ihn gekümmert hat. In der Exposition des
ersten Aktes werden Clausens Kinder und ihre Charaktere eingeführt: Der älteste
Sohn Wolfgang Clausen, ein steifer Professor der Philologie, in einer unglücklichen Ehe verheiratet mit Paula Clausen, geborene Rübsamen, einem zänkischen
Weib ohne Tiefgang. Dann Otillie, seine zweite Tochter, eine hübsche Person ohne Eigenart, die verheiratet ist mit Erich Klamroth, dem Nachfolger Clausens in
dessen Zeitungsimperium. Hauptmann nennt ihn vierschrötig, provinziell und
tüchtig. Auch Egmont Clausen lernen wir kennen, den jüngsten Sohn des Geheimrats. Er ist ein Liebhaber schneller Autos und schöner Frauen.
Sie sehen – meine Damen und Herren – es ist ein Familiendrama, dessen Stossrichtung schon an der Charakterisierung der Figuren nicht schwer zu erraten ist.
Da steht ein überaus erfolgreicher Verleger, Ehrenbürger, der alles erreicht hat,
was die Gesellschaft ihm bieten kann auf der einen Seite, seiner Familie gegenüber, die sich auszeichnet durch Mittelmass. So treten in den Gesprächen des
ersten Aktes auch sogleich die Differenzen zu Tage, die Clausen von seinem
Schwiegersohn trennen. Clausen verabscheut die Art und Weise, wie Klamroth
den Verlag führt. Er wirft ihm vor, dass er seine Zeitschriften „veramerikanisiere“, das Niveau sei erbärmlich geworden und nur noch auf den Profit werde geschaut, ohne Verantwortung den Lesern gegenüber.
Das ist die Ausgangslage. Dies wird alles offenbar an der Geburtstagsfeier, an
der dem Geheimrat ein Fackelzug geboten wird.
Matthias Clausen kündigt nun seinem alten Freund Geiger an, einem Professor
aus Oxford, der auch am Fest teilnimmt, dass er gewillt sei, mit der um fünfzig
Jahre jüngeren Inken Peters ein neues Leben in der Schweiz zu beginnen. Er
sagt: „Ich bin entschlossen, das Seil zu kappen, das mich an mein altes Schiff
bindet und an seinen alten Kurs gebunden hält. Ich kann nur so oder gar nicht
leben.“
Die Situation beginnt sich zu steigern. Die Familie versucht, über ihren juristischen Berater, den Justizrat Hanefeld, die Mutter von Inken Peters und damit
auch Inken, durch üble Bestechung aus dem Einflusskreis des Geheimrats zu
entfernen. Mutter und Tochter sollen zusammen mit dem Gärtner des Gutes, auf
dem Inken mit ihrer Mutter wohnt, nach Polen auf ein anderes versetzt werden.
Zudem beginnt die Familie anonyme Postkarten zu schreiben, mit dem Ziel, die
Unschuld Inkens zu verunglimpfen. Inkens Vater hatte sich – unschuldig in Un2
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tersuchungshaft – im Gefängnis das Leben genommen. Die Kinder Clausen wollen damit die Verderbtheit Inkens und ihrer Familie publik machen. Sie fürchten
natürlich um das väterliche Erbe, sehen in Inken eine Erbschleicherin und fürchten sich auch vor dem Klatsch, den die Beziehung eines bedeutenden Mannes mit
einer ganz jungen Frau zur Folge hat.
Der Geheimrat selbst sieht in einem grossen Gespräch mit Inken zuerst auch eine Trennung als die beste Lösung. Dann aber entschliesst er sich, zu seiner Liebe
zu stehen und schenkt Inken einen wertvollen Ring aus dem Familienschmuck
seiner verstorbenen Frau, als ein Zeichen der ewigen Verbundenheit.
Im dritten Akt eskaliert nun die Situation: Clausen lädt Inken ein zum gemeinsamen Familienfrühstück. Die Kinder Clausens verhindern aber die Teilnahme
Inkens. Nur Egmont steht zu seinem Vater. Da kündigt Clausen an, dass er sich
ganz aus den Geschäften zurückziehen werde, um mit Inken in die Schweiz zu
ziehen. Wolfgang und Klamroth sehen den Augenblick gekommen, zum offenen
Kampfe überzugehen. Sie stellen die Zurechnungsfähigkeit Clausens in Frage und
werfen ihm Vertrauensbruch vor. Clausen jagt daraufhin seine ganze Familie aus
dem Haus: „Ich lasse mir nicht das Lebenslicht ausblasen“.
Zwischen dem dritten und vierten Akt vergehen einige Monate. Geiger vernimmt
von Dr. Steynitz, dem ärztlichen Freund des Geheimrats, dass dieser mit seinen
Kindern gebrochen hat, Klamroth ist als Direktor entlassen worden. Inken hat er
in sein Haus aufgenommen. Auf Druck von Klamroth, Paula und Wolfgang haben
die Kinder – ausser Egmont – einen gerichtlichen Antrag zur Entmündigung ihres
Vaters gestellt, weil sie in der Absicht des Vaters, den Betrieb zu verkaufen und
das Erbe zu verschwenden, Schwachsinn sehen. Klamroth ist durch das Gericht
wieder eingesetzt worden als Direktor.
Clausen verleugnet seine Kinder, sieht in Wolfgang einen Mörder und zerstört die
Bilder der Kinder und auch das Bildnis seiner Frau. Dann erleidet er einen
Schwächeanfall. Das Stück endete hier bei der Uraufführung. Der Schwächeanfall
führt zu Clausens Tod. Eigentlich ist das Stück aber fünfaktig:
Am Abend flüchtet er sich bei Gewitter und Sturm auf das Gut, zu Frau Peter,
dort, wo er einst Inken kennen gelernt hatte. Er ist völlig verwirrt. Es besteht
Selbstmordgefahr. Der Justizrat Hanefeld, vom Gericht zu seinem Vormund bestellt, leitet eine Zwangseinweisung in die psychiatrische Klinik in die Wege. Inken versucht mit allen Mitteln, Clausen zu überreden, mit ihr in die Schweiz in ihr
neues Haus zu flüchten. Doch er hat die Kraft nicht mehr dazu. Auch kann er
keine Gefühle zu Inken mehr empfinden. Er nimmt Gift und stirbt. Er beendet
sein Leben in einem souveränen Akt der Freiheit. Geiger bemerkt sarkastisch,
dass die Familie nun ihre Ziele erreicht habe.
Welche Fassung heute Abend gespielt wird, ob die 4 oder 5 aktige, konnte ich
leider nicht eruieren. Sie haben beide einiges für sich. Der Tod durch den Schwächeanfall lässt das Gesellschaftskritische des Stücks deutlicher hervortreten.
Dem Goetheschen Hauptmann jedoch entspricht der Schluss durch Freitod eher,
weil darin die Autonomie auch in den letzten Dingen gestaltet ist.
Vielleicht verstehen Sie jetzt besser, was ich meine, wenn ich zu Beginn gesagt
habe, dass hier eine Überhöhung vorliege, eine Bedeutung, die in der Handlung,
im Sichtbaren, nicht eigentlich zu erfassen sei. Der Handlung selbst ist, bei aller
dramatischen Eignung, nichts anzumerken. In diesem Sinn ist Hauptmanns Drama klar ein Stück moderner Literatur, der Literatur einer Spätzeit. Ein Aspekt
moderner Literatur sind die Bezüge, die kulturelle Vergangenheit reflektieren. Die
Literaturwissenschaft nennt das Montagetechnik und es ist bestimmt nicht übertreiben, „Vor Sonnenuntergang“ ein Montagestück zu nennen.
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Sie werden sich langsam fragen, was denn das für Bezüge sind, von denen der
hier vorne dauernd spricht. Soll er sie doch endlich aufzeigen!
Es sind vor allem drei Bereiche, die montierend eingeflossen sind in das Stück.
Das ist zum ersten Shakespeares Drama „King Lear“, zweitens – wohl der wichtigste Bereich: Goethe in vielerlei Beziehung und drittens Gerhart Hauptmann
selbst in seiner Verbindung zu Shakespeare und Goethe. Aber auch zwischen
Shakespeare und Goethe besteht eine enge Beziehung, die von grosser Bedeutung ist. Diesen ganzen literaturgeschichtlichen Hintergrund bezieht Hauptmann
in sein Stück mit ein, er ist die Grundlage und auch letztlich der Sinn des Dramas. Bezogen wird der literaturgeschichtliche Hintergrund auch auf die Zeit der
Entstehung und Uraufführung auf die frühen Dreissiger-Jahre, es ist eine Zeit
„Vor Sonnenuntergang“, in der die Werte der abendländischen Kultur im Begriffe
sind unterzugehen.
Zuerst nun zum Shakespeare–Bezug. Es soll eine keltische Lebensweisheit geben, welche schon Shakespeare bekannt war und die das Thema von „König
Lear“ drastisch und treffend wiedergibt.
„Wer seinen Kindern alles gibt und nichts behält, ist wert, dass man ihn mit der
Keule erschlage!“
König Lear will sein Reich altershalber unter seine drei Töchter aufteilen. Zuerst
will er aber wissen, wer von den dreien ihn am meisten liebe, sie soll auch am
meisten bekommen. Seine beiden älteren Töchter Regan und Goneril nun übertreffen sich gegenseitig in elenden Heucheleien, was der Vater aber nicht merkt.
Die jüngste Tochter Cordelia sagt bescheiden, dass es die Pflicht eines Kindes
sei, den Vater zu lieben, ohne sich nach dem Mass dieser Liebe zu fragen. Der
dumme alte Mann und Vater erkennt die Aufrichtigkeit in diesen Worten nicht
und verstösst Cordelia. Die anderen beiden Töchter verheiratet er und gibt ihnen
sein Reich. Sobald dies geschehen ist, sind alle Liebesschwüre vergessen, die
beiden Töchter entmündigen ihren Vater, sie verstossen ihn vom Hof. Lear wird
wahnsinnig und nimmt ein trauriges Ende. Er ist allein mit seinem Hofnarren dem
Sturm und dem Wetter preisgegeben. Hauptmann nimmt dieses Moment des
Sturms und Wetters im fünften Akt auf. Auch Clausen flüchtet allein und zu Fuss
beim Sturm.
Shakespeare hat diesen Stoff aus älteren Vorlagen. Das Thema, dass Kinder den
Vater verstossen, ist ein archetypisches Geschehen, es ist die Gestaltung des
Generationenkonflikts, der die ganze Weltliteratur durchzieht; unzählige Märchen
gestalten die Liebe der Kinder zu ihren Eltern in tausend Formen. Shakespeare
hat in seinem Lear dem Generationenkonflikt die drastische, aber gleichsam endgültige Form gegeben. Hauptmann hat seit seinen Anfänge als Dramatiker geplant, ein Lear-Drama zu schreiben und auf die Bühne zu bringen. Der Stoff ist
omnipräsent. Auch Verdi hat Zeit seines Lebens daran gedacht, eine Lear-Oper
zu komponieren. Er hat es nicht getan. Hauptmann tut es und es ist bedeutend,
dass er es erst tut, in der Zeit des Untergangs der abendländischen Kultur. Der
Konflikt der Generationen ist nun nicht mehr ein Konflikt zwischen Eltern und
Kindern, sondern es ist zugleich ein Konflikt der Kulturen geworden. Oder vielmehr ein Konflikt zwischen der Kultur und der aufkommenden Unkultur.
Man kann den Lear nicht einfach „modernisieren“ und seine Handlung in Situationen des 20. Jahrhunderts einkleiden. Shakespeare bedarf der Modernisierung
nicht. Hauptmann hat erkannt, dass - wenn der Generationenkonflikt mehr sein
soll als der Konflikt zwischen Vater und Kindern, wenn er eine zeitgeschichtliche
Dimension erhalten soll auf der Bühne, dass er verbunden werden muss mit einer anderen Ebene. Es braucht eine Dimension mehr, wenn in diesem Stück der
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Sonnenuntergang vor der Machtergreifung der Nazis angedeutet werden soll.
Hauptmann findet diese Ebene in der Welt Goethes. Der Archetypus des Generationenkonflikts wird mit den Entwicklungen der damaligen Gegenwart verbunden
in der Figur oder dem Phänomen Goethe. Was hat nun aber Goethe zu tun mit
der letzten Phase der Weimarer Republik? Sehr viel, was aufzuzeigen sein wird.
Was hat aber zuerst das Stück mit Goethe zu tun?
Das aufzuzeigen ist einfach: Zuerst einmal tragen fast alle Personen der Familie
Clausen Goethe-Namen. Der Sohn heisst Wolfgang, die Töchter heissen Ottilie
und Bettina. Ottilie war die Schwiegertochter Goethes, Bettina Goethes Briefpartnerin im „Briefwechsel mit einem Kinde“. Der jüngste Sohn – der einzige, der
zum Vater hält – heisst Egmont. Die Reihe der augenfälligen Goethe-Bezüge
setzt sich fort in einer grossen Zahl von Goethe-Zitaten, die Hauptmann der Familie Clausen in den Mund legt. Vor allem Faust und der West-östliche Diwan
sind die Quellen. Im entscheidenden Liebesgespräch zwischen Clausen und Inken
beschreibt Clausen seinen inneren Zustand mit den Worten des Erzengels Gabriel
aus dem „Prolog im Himmel“: „Es wechselt Paradieseshelle mit tiefer, schauervoller Nacht.“ Dem Liebesgespräch geht eine Allusion an Goethes Werther voraus. Hauptmann zeigt Inken als Werthers Lotte, die den Kindern Brot schneidet.
Die wohl augenfälligste Parallele zwischen Goethe und dem Geheimrat Matthias
Clausen besteht jedoch in der Liebesbeziehung zu einer viel jüngeren Frau. Goethe hat als ein Achtzigjähriger im Kurort Marienbad eine Liebesbeziehung aufgenommen zur achtzehnjährigen Ulrike von Levetzow. Er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht, den seine Familie äusserst ungnädig aufgenommen hat. Sein Sohn
August hat eine Fortsetzung der Beziehung mit allen Mitteln verhindert. „Vom
Sohne her droht Übel“, schreibt Goethe. Ersetzt man August von Goethe durch
Erich Klamroth, dann haben wir ein zentrales Motiv des Dramas. Dass Goethe
selbst an dieser unerfüllten Liebe beinahe zugrunde gegangen wäre, zeigt die
„Marienbader Elegie“ mit den düsteren Worten: „Mir ist das All, ich bin mir selbst
verloren.“ Allerdings hat Ulrike, nicht wie Inken, die Liebe Goethes nicht erwidert. Und von der Entsagung und der Vergeistigung der Leidenschaft in der Marienbader Elegie ist in Hauptmanns Stück nichts zu spüren.
Die Parallelen sind so offensichtlich, wie vordergründig. Es sind Äusserlichkeiten,
die Hinweise geben mögen, anregen mögen und sollen, tiefer zu suchen. Hauptmann hat nun die Verbindung der Shakespeare-Ebene und der Goethe-Ebene
erst in der Schlussphase vorgenommen. Es gibt zwei fast vollständige Entwürfe
des Stückes, in denen die Goethe-Bezüge noch nicht vorkommen. Obwohl die
Welt Goethes in Hauptmanns Werk omnipräsent ist, wird die Verbindung mit
Goethe erst kurz vor der Vollendung des Dramas aufgenommen. Hauptmann
wird sich – wie gesagt - bewusst geworden sein, dass ein Drama, welches nur die
Kinderliebe und den Generationenkonflikt thematisiert, 1932 keine Berechtigung
mehr hat. Es muss ihm aufgegangen sein, dass es keinen Sinn mehr hat, den
Shakespeare-Archetypus zu gestalten, in einer Zeit, in der politisch und gesellschaftlich Entwicklungen im Gange waren, die dringender auf die Bühne gebracht
werden mussten.
Aber: Meine Damen und Herren, Sie fragen sich dies schon lange: Wie soll es–
um alles in der Welt – gehen, das Ende der Weimarer Republik und den aufkommenden Nationalsozialismus auf die Bühne zu bringen, wenn man Shakespeare
und Goethe spricht? Ist das nicht wieder die berühmte „Deutsche Innerlichkeit“ der Romantik, die vom Dichter fordert, er müsse unpolitisch sein, und damit
die ganze Französische Revolution in der Deutschen Literatur weitgehend ausklammert?
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Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenuntergang
Wir können diese berechtigte Frage nur beantworten, wenn wir uns klar machen,
was und wer Goethe für Hauptmann war. Und das hängt wieder zusammen mit
der Frage, wer Shakespeare für Goethe war.
Ich versuche, es auf eine einfache Formel zu bringen. Shakespeare war für Goethe der Dichter, der gleichsam aus den Urtiefen der Welt unmittelbar schöpfen
konnte. Shakespeare ist für Goethe der chthonische Dichter, der einen unmittelbaren Zugang hat zu dem, was die „Welt in Innersten zusammenhält“ und dieses
dichterisch zu gestalten vermag. Schiller nennt diese Art Dichtung „naiv“ – im
Gegensatz zu „sentimentalischer Dichtung“, die intellektuell plant und gestaltet
und nicht aus diesen Urtiefen schöpft. Shakespeare ist damit für Goethe – und
das ist für Hauptmann wichtig – auf der gleichen Stufe wie die Griechen. Auch
griechische Kunst ist für ihn aus der Tiefe der Welt geschöpft.
Was Shakespeare für Goethe, das ist nun Goethe für Hauptmann. Der mythischmagische Dichter, der in seinem Werk Zugang hat zu den chthonischen Tiefen
der Welt und der Kunst. Er ist ihm der Dichter schlechthin. Was Goethe dichtet,
ist für Hauptmann Wahrheit. In diesem Sinne ist Goethe ihm das grosse Vorbild.
Er sucht in seinem ganzen dichterischen Werk Goethe nachzuahmen. Nicht im
Sinne einer Kopie sondern als IMITATIO, als Nachempfindung, der Aufnahme und
des Aufhebens der goetheschen Welt und der goetheschen Gedanken. In einer
ganzen Reihe von Werken nimmt er Goethe auf. „Fuhrmann Henschel“ ist sein
„Götz von Berlichingen“, sein „Griechischer Frühling“ ist die „Italienische Reise“,
sein Versepos „Till Eulenspiegel“ ist Hauptmanns Faust. Man kann diese Imitation, die bei Hauptmann sehr weit ging, bis in das Auftreten und die Lebensweise
hinein, als lächerlich abtun, man kann sich fragen, ob der Dichter Gerhart
Hauptmann es nötig gehabt hat, einen Teil seiner Eigenständigkeit quasi preiszugeben. Man kann sich das fragen. Aber die Goethe-Verehrung und –Nachahmung
hatte nun einen politischen Hinter-grund, vor dem die Sache schon anders aussieht. Nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs suchte Deutschland nach einer
neuen Identität, es suchte nach einem Repräsentanten für die Weimarer Republik, so wie der deutsche König oder Kaiser der Repräsentant und der Brennpunkt
gewesen war über Jahrhunderte. Die Weimarer Republik hat – vor allem in der
Person des Staatspräsidenten Ebert – erkannt, dass Deutschland auf der Suche
nach einer neuen, nicht mehr monarchischen Identität diese am ehesten in der
geistigen Vergangenheit finden konnte. Und diese Vergangenheit der Weimarer
Republik ist die Weimarer Klassik. „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen
Zeitalters“, um Thomas Manns Formel zu gebrauchen. Gerhart Hauptmann ist
nun Goethes Nachfolger und Stellvertreter auf Erden. Thomas Mann hat ihn – für
einmal ohne Ironie – den „König der Republik“ genannt. Diese Rolle hat er sich
gegeben, sie wurde ihm aber auch von der Republik zugedacht. Er hat sie sehr
ernst genommen, nicht nur, weil sie ihm schmeichelte und lag. Es ist weit mehr
dahinter. Er hat sie ernst genommen und gespielt, weil er damit ein Weltbild und
eine Weltanschauung verkörpern konnte, die seinem eigenen Weltbild und Denken im tiefsten entsprach. Er vertrat in dieser Rolle gleichsam höchste Menschlichkeit, Harmonie und Gesittung, er war der König jener Republik, welche sich
die höchste Form des Idealismus auf die Fahne geschrieben hat. Inwiefern dies
ein politisches Kalkül war, ist schwer zu sagen. Tatsache ist, dass dies für
Hauptmann keine Rolle gespielt hat. Seine Goethe-Nachfolge war ihm eine Pflicht
und ein Bekenntnis zur Humanität vor der ganzen Republik. Darum war es ihm
zu tun. Hermann Hesse hat diese Haltung beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges
zum Ausdruck gebracht – in der NZZ im August 1914.
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Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenuntergang
„Krieg war immer, seit wir von Menschengeschicken wissen, und es waren keine
Gründe für den Glauben da, er sei nun abgeschafft. Krieg wird solange sein, als
die Mehrzahl der Menschen noch nicht in jenem Goetheschen Reich des Geistes
mitleben kann. Krieg wird noch lange sein. Dennoch ist die Überwindung des
Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel und die letzte Konsequenz abendländisch-christlicher Gesittung.“
Es ist die Überzeugung, die Hauptmann beseelte, dass der Mensch durch Bildung
in den Zustand der Gesittung gelangen kann, dass es eine Frage der Zeit ist, bis
die Bildung uns Menschen soweit gebracht hat, dass es keinen Krieg mehr gibt.
Es ist diese idealistische Überzeugung und Illusion, die Hauptmann als GoetheNachfolger und Repräsentant der Republik vertreten und gelebt hat. Eine Überzeugung, von der er wohl wusste, dass sie im aufkeimenden Nationalsozialismus
nicht überleben wird.
Max Frisch spricht in seiner Rede „Kultur als Alibi“ 1949 deutliche Worte:
Zu den entscheidenden Erfahrungen aber, die unsere Generation hat machen
müssen, gehört meines Erachtens die vielfach offenbarte Tatsache, dass, um es
mit einem namentlichen Beispiel anzudeuten, ein Mann wie Heydrich, der Mörder
von Böhmen, ein hervorragender und empfindsamer Musiker gewesen ist, der
sich mit Geist und echter Kennerschaft, sogar mit Liebe hat unterhalten können
über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner.
Und: „ Es ist eine Geistesart, die das Erhabenste denken und das Niederste nicht
verhindern kann, eine Kultur, die sich säuberlich über die Forderungen des Tages
erhebt.“
Und vor allem: „Wenn Menschen, die gleiche Worte sprechen wie ich und eine
gleiche Musik lieben wie ich, nicht davor sicher sind Unmenschen zu werden, woher beziehe ich fortan meine Zuversicht, dass ich davor sicher sei?“
Hauptmann hat gewusst, dass er als Repräsentant der Republik auf verlorenem
Posten steht. Darum hat er ihn wohl auch so ernst genommen. Er hat gewusst,
dass die Goethe-Welt, der er sich ein Leben lang verpflichtet gefühlt aus in seinem Dichtertum, zur Farce und zum Hohn werden wird. Als dann die Nacht auch
hereinbrach über Deutschland hat er in seinem Tagebuch notiert:
„Stimmung vor Sonnenuntergang. Das Stück ist inzwischen geschrieben. Der Zustand scheint sich erst jetzt zu vollenden. Die Vergangenheit kapselt sich ab. Das
Geistige steht nicht mehr im Vordergrund. Es ist in Gefahr zu verschwinden.“
Nach dem Brand des Reichstags: „Mit dem Brande des Reichstaggebäudes
schliesst das Deutschland ab, in dem ich seit 1862 gelebt habe.“
In der Nacht im Februar 1945, als Dresden von alliierten Bomben zerstört wurde,
war Hauptmann in dieser Stadt. Einige Stunden bevor die Bomber kamen, hat er
mit den folgenden, angesichts die Katastrophe kläglichen Versen Goethe und seiner Humanität ganz abgeschworen:
Entschuldige Goethe,
ich nenne nicht mehr deine Historie ein Wunder
sondern Plunder.
Die Welt ist zu blutig und zu dumm:
Wir kommen um diesen Punkt nicht herum.
Einzelheiten – o Gott – sie schreiten
Unerkannt in Qual und Blösse
Und damit in ihrer Grösse.
Ich halte dein Bändchen in der Hand,
o du ahnungsloser Spiesser:
was ist heut ein Weltgeniesser,
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Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenuntergang
wo der einzige Gedanke der Zeit
heisst: Vergessenheit.
Matthias Clausen vertritt diese Welt Goethes der Humanität und der Bildung, er
ist Goethe, nicht in einem platten Sinn. Er ist der Repräsentant der Goethe-Welt,
die im Generationenkonflikt mit dem aufkommenden Nationalsozialismus untergeht. Sein Schwiegersohn Klamroth sagt im Stück immer wieder, man könne die
„Zeiger der Uhr nicht zurückstellen.“ Genau das ist es, was Clausen versucht: Die
Zeiger der Uhr zurückzustellen, indem er mit einer ganz jungen Frau ein neues
Leben beginnen will, aber auch, weil er versucht, Werte hochzuhalten, die bei der
jüngeren Generation nichts mehr gelten.
„Mich dürstet nach Untergang“ ist Clausens Wort. Er weiss, dass er auch – wie
Hauptmann – auf verlorenem Posten steht. Er macht letztlich keinerlei Anstalten,
seine Liebe zu Inken zu leben, den Betrieb zu verkaufen, die Fehde mit seinen
Kindern anzunehmen und durchzustehen und zu gewinnen, was ja juristisch ohne
weiteres möglich wäre. Oder auch nur der Gesellschaft die Zunge herauszustrecken. Er wählt den Untergang, weil es nicht mehr um ihn als Person geht, sondern um den Untergang einer Epoche und eines Denkens.
Hauptmanns Stück enthält eine Botschaft, die 1932 nur von wenigen verstanden
wurde. 1932 war ein Goethejahr – man feierte seinen 100. Todestag. Es war
aber auch ein Hauptmann-Jahr: Gerhart Hauptmann wurde 70 Jahre alt. Er hat
Goethe gefeiert und man hat ihn gefeiert als dessen Nachfolger. In diesem Jahr
aber legt Hauptmann ein Stück vor, das vom Untergang jener Welt kündet, die
man im Begriffe war zu feiern.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen schönen Theaterabend.
2. März 2007
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