55 8. VORLESUNG / 17.3.2000 / Katschnig NACHTRÄGE ZUR LETZTEN VORLESUNG: zu Exploration: 12 Bereiche, die dabei nicht vergessen werden dürfen -> Checklist: 1. depressive Verstimmung 2. manische Verstimmung 3. Angstzustände / Zwangsphänomene 4. kognitive Störungen / Denkstörungen 5. Wahnideen 6. Halluzinationen 7. Suizidalität 8. Alkoholprobleme 9. Medikamenten- / Drogenprobleme 10. dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) 11. somatoforme Störungen 12. Eßstörungen Merke: Eselsbrücken dazu 1)-3): DEPMANG 4)-7): KOWAHASU 8)-12): ALMEDISOESS zu Ätiologie und Pathogenese: körperliche Ursachen psychischer Krankheiten (= organisch bedingte Krankheitsbilder): Ursache 1) Durchblutungsstörung 2) Degeneration 3) Intoxikation 4) Trauma 5) Entzündung 6) Tumor Beispiel vaskuläre Demenz Alzheimer anticholinerges Delir akuter exogener Reaktionstyp Enzephalitis frontaler Hirntumor Merke: Eselsbrücke dazu -> DU DEIN TRENTU 56 ad Erstgespräch: Wichtige Frage = Durch welche Symptome bekommt man starken Hinweis, daß es sich um organisch bedingte Störung handelt? 1) Verwirrtheit (= gestörte Orientierung; Orientierung: zeitliche / örtliche / situative / persönliche) AUßER: * Ganser’sches Syndrom: -> Patient simuliert (Man stellt ihm z.B. Frage: Wie viele Beine hat ein Pferd? Antwort: drei => völliger Unsinn!) Sinn: „Erschleichung“ einer Rente, Frühpension, etc. * Frage: Welcher Wochentag ist heute? Patient lenkt auf anderes Thema -> könnte ein Dissimilant sein! Wichtig bei Erstgespräch = Kommunikation (50% des ganzen Erstgespräches dient Aufbau der Kommunikation zum Patienten) 2) Bewußtseinstrübung nicht verwechseln: Sopor (-> Präkoma -> Koma) Stupor ( = Starre) ad Psychotherapiegesetz: Vor Psychotherapie muß medizinische Untersuchung stattfinden. Warum? * Bestehen höchster Gefahr * wenn man weiß, was es ist -> Therapie (z.B. mit Physiostigmin; Zeckenbiß -> Halsstarre -> Antibiotikum) ad Schizophrenie: 1) Ursachenvermutungen der Patienten : a) „over-concerned mother“ -> in Italien und Neuseeland 30% der Patienten in Österreich 27% d.h. Patienten beschuldigen ihre Mütter b) Bestrafung durch Gott -> in Italien und Neuseeland über 30% der Patienten c) Besessenheit durch Teufel -> in Italien und Neuseeland über 30% der Patienten 57 2) Ursachenvermutungen der Angehörigen (in Österreich und anderswo): a) Vererbung k) Vitaminmangel b) Mangel an Willenskraft l) mangelnde elterliche Liebe c) belastende Lebenssituation m) Drogen / Alkohol d) Infektionskrankheit des Gehirns n) Gesellschaft als Ganzes e) übertriebene Erwartungen der Eltern o) Umweltverschmutzung f) zu strenger Vater p) Schulstreß g) Gehirnverletzung q) Einsamkeit h) Strahlen r) Partnerprobleme i) schlechtes Horoskop s) zu großer Ehrgeiz j) biochemische Störung des Gehirns t) falsche Ernährung u) Allergie Alle Angaben über 10% -> spiegeln die Hilflosigkeit der Angehörigen! ad „epidemiologische Trias“: schädliches Agens Wirt Umwelt Wirt hat bestimmte 1) Vulnerabilität1 (= Verletzlichkeit, Veranlagung, Neigung zu) in sich für bestimmte Krankheit. Unter dem Einfluß eines 2) schädlichen Agens2 (= Stressor) und einer 3) bestimmten Umgebung3 (= sozialer Kontext4) => Ausbruch der Krankheit! Merke: EIN Element allein genügt meist nicht, damit eine Krankheit ausbricht! => Dieses Modell gilt auch für viele psychische Krankheiten: 1 z.B. genetischer Faktor, Virusinfektion, Einfluß der Mutter, usw. (vgl. diverse Theorien über Entstehung der Schizophrenie) 2 z.B. Life-event (bei Schizophrenie egal, ob positiv oder negativ!) 3 Familie, Betrieb, Kultur, Sprachkreis (vgl. die vielen Wörter, die Filippinos zur Bezeichnung von Angst haben) 4 Einteilung des sozialen Kontextes in: * mikrosozialer Bereich: Familie * mesosozialer Bereich: Schule, Betrieb, usw. (alles, was mit Organisationen zu tun hat) * makrosozialer Bereich: Gesellschaft, Sprache, Kultur, Subkultur, usw. 58 BEISPIELE: Schizophrenie: 1) Vulnerabilität: Grund = unklar 2) Stressor: Life-Event (LE) 3) Umgebung: Expressed Emotions (EE) [-> überfürsorgliche Eltern] Depression: 1) Disposition dafür (z.B. erlernte Hilflosigkeit [vgl. Seligman / Rattenversuche]) bewirkt durch Erlebnisse im früheren Leben 2) Verlustereignis 3) kein social support (= soziale Isolation) Merke: Man weiß nichts über die Ursache der Schizophrenie. Jeder hat seine eigene Theorie -> das beeinflußt SEHR die Therapie (z.B. ob man jemanden die Medikamente in den Kaffee schüttet...) * Ansetzen kann man bei körperlich begründeten Krankheiten -> Ursache = bekannt * Bei anderen Erkrankungen weiß man Bescheid über pathogene Teilstrecken -> dort kann angesetzt werden THERAPIE Theorie: Symptome -> Diagnose erstellen (hinter ihr wird angenommen: Krankheit mit bestimmten Ursachen [Ätiologie und Pathogenese] -> Therapie Wirklichkeit: Viele Therapien wirken nicht auf die Krankheit, sondern auf die Symptome BEISPIEL: Krankheit; Schizophrenie: Überaktivität des Dopaminsystems in manchen Teilen des Gehirns -> zuviel Dopamin -> zuviel Aktivität Medikamente gegen Schizophrenie = Neuroleptika (= Antipsychotika) Wirkung: blockieren die Rezeptoren an der postsynaptischen Membran Merke: Medikament heilt Schizophrenie nicht, wirkt nicht auf die ABER: beeinflußt zwei Symptome: * Halluzinationen * Wahnideen unspezifische Effekte: Neuroleptika wirken auch sedierend, nehmen Unruhe weg. 59 Man unterscheidet 3 große Gruppen von Therapien: 1) Pharmakotherapie 2) Psychotherapie 3) Soziotherapie Sind zurückzuführen auf 3 Gruppen von Ursachen: ad 1) biologische Phänomene: Hirnerkrankung. Ahnherr = KRAEPELIN => biologisch-individualistisch ad 2) seelische Phänomene: Seele ist gestört. Ahnherr = FREUD5 => psychologisch-individualistisch ad 3) soziale Phänomene: Umgebung ist gestört. Ahnherr = DÜRKHEIM6 => netzwerkorientiert-soziotherapeutisch Deshalb sind diese drei Therapiegruppen auch unterschiedlich gerichtet: ad 1) gerichtet auf Individuum ad 2) gerichtet auf Individuum ad 3) gerichtet auf soziales Netz (z.B. Arbeit mit Angehörigengruppen) _________________________________ Video über Medikamente und ihre Wirkungen: Bei Depression wichtige Neurotransmitter = Noradrenalin und Serotonin7. Medikamente blockieren meist den Re-uptake. Andere wichtige Neurotransmitter: * Acetylcholin -> Demenz * Dopamin -> Schizophrenie 5 FREUD war eigentlich Neurologe. Zu dieser Gruppe von Therapien gehören alle nicht-direktiven Therapien: z.B. * Psychoanalyse * Gesprächstherapie nach Carl ROGERS 6 Betrieb Studien über Dienstmädchen-Selbstmorde -> Werk: „Le suicid“ 7 Serotonin und Noradrenalin sind Monoamine: haben 1 Stickstoff und H2 (so etwas haben alle Überträgersubstanzen im Nervensystem) 60 a) Klassische Antidepressiva: -> Zunahme von Noradrenalin und Serotonin (Depressiver hat zuwenig, nächste Nervenzelle wird nicht erregt -> Antrieb gesenkt). Nach Ausschüttung des Neurotransmitters -> Serotonin-/Noradrenalin-Re-uptake: Antidepressiva blockieren dies; sind Noradrenalin-Serotonin-Uptake-Hemmer b) Trizyklische Antidepressiva: Inhibition von Serotonin- und Noradrenalin-Re-uptake; ABER: ohne unerwünschte Nebenwirkungen (z.B. Blutdrucksenkung, drowsiness, Mundtrockenheit, etc.). Wirken vor allem auf das Raphe-System (= Schlafzentrum) und das Limbische System => angstreduzierend! ___________________________________ GESCHICHTE DER PSYCHIATRIE / BIOLOGISCHE THERAPIEN: Anfang vor ca. 200 Jahren -> PINEL „Befreier des psychisch Kranken von ihren Ketten“ -> in kleine Krankenhäuser im Grünen, weit weg von der Stadt. Folge: Riesenboom, überall Bau von Anstalten => kleine Krankenhäuser werden zu psychiatrischen Großkrankenhäusern. Damals gab es für psychische Krankheiten (im Unterschied zur übrigen Medizin) noch keine Therapien, auch nicht zu Kraepelins Zeiten. WAGNER-JAUREGG: hat Malaria-Therapie am AKH eingeführt für Progressive Paralyse = Spätform der Syphilis. Bleibt Syphilis unbehandelt, befällt sie andere Organe, zuletzt auch das Gehirn. Verantwortlich dafür = Spirocheten. Folge = Gehirnerweichung; daneben Lähmungen und Demenz. Um 1870 entdeckten Robert KOCH und Louis PASTEUR die Bakterien -> Erkenntnis: Spirocheten verursachen die progressive Paralyse. Paul EHRLICH versuchte, die Spirocheten umzubringen, gelang mit Arsen (= Salvasan) => Arsen war das 1. Antibiotikum. Wagner-Jauregg beobachtete Patienten mit progressiver Paralyse. Stellte fest, daß wenn sie hochfiebrige Erkrankung bekamen, gesünder wurden. Malaria (verursacht durch Plasmodium virax) war bekannt dafür, daß man hohe Fieberschübe bekommt; sie konnte mit Chinin behandelt werden. Fazit: Wagner-Jauregg erzeugte bei Patienten mit progressiver Paralyse Malaria -> behandelte diese mit Chinin. Nebenwirkung: progressive Paralyse verschwand. 61 Insulin-Therapie bei Schizophrenie: Insulin -> mehr Zucker in die Zellen -> Zellen besser gepolstert, Nerven weniger nervös. Patient bekam zufällig zuviel Insulin -> Schock -> als er aufwachte, war Schizophrenie weg. SACKL entwickelte daraus die Insulin-Therapie für Schizophrenie; Einrichtung einer Insulinstation. 50er Jahre: Studie dazu; double-blind-Versuch (Patienten glauben nur, sie bekämen Insulin) -> hatte dieselbe Wirkung wie die Insulin-Therapie. Grund: Schizophrene waren zu einer Gruppe geworden, erhielten besondere Behandlung, besondere Zuwendung durch die Insulinschwestern. Fazit: Insulin-Therapie = nutzlos (außerdem sehr gefährlich, viele starben dabei) Schock-Therapie: * Spritzen mit Cardioskol * EKT: (= Elektro-Konvulsions-Therapie, d.h. E-Schock) Strom durchs Gehirn, wirkt auf Neurotransmitter; heute wenn überhaupt, dann nur in Vollnarkose. Folge = epileptischer Anfall (alle Zellen = gleichgeschaltet; beim epileptischen Anfall gleichzeitige Entladung; deshalb daneben Krämpfe) Lobotomie: Abtrennung von Hirnlappen Leukotomie: Abtrennung von einzelnen Fasern ABER: dabei geht z.B. der Sinn für richtig / unrichtig verloren Erste Medikamente für psychische Erkrankungen in den 30er Jahren: * Barbiturate gab es schon vor der Jahrhundertwende (= Schlafmittel; das erste war Veronal); ABER: unspezifische Wirkung, wirken einschläfernd; bei epileptischen Anfällen manchmal verwendet = gefährlich -> Selbstmordgefahr! * wurden abgelöst von den Tranquilizern; z.B. Opium (= Laudanum) bei Depressionen -> Patienten wurden NICHT süchtig. Durchbruch in den 50er Jahren: Französische Anästhesisten entdeckten Antihistamine. Eines davon = Chlorpromazin -> manche Patienten wurden darauf ruhig; an Schizophrenen ausprobiert -> Halluzinationen und Wahn verschwanden! Merke: 1. Neuroleptikum = Chlorpromazin. 62 Ab 1955 „neuroleptischer Pillenknick“: -> Reduktion der psychiatrischen Betten in den Kliniken (z.B. USA: um 1900 - 100.000 Betten; um 1950 - 600.000 Betten; um 2000 - 70.000 Betten) ABER: Wiederaufnahmen sind sehr gestiegen; Grund: Schizophrene essen Medikamente nicht, Einfluß von LEs und EEs. Psychopharmaka heute: Man unterscheidet 3 Gruppen 1. Neuroleptika (= Antipsychotika): a) alte Neuroleptika: 1. Neuroleptikum = Chlorpromazin; eingesetzt z.B. bei Schizophrenie. * blockieren Dopamin-Rezeptoren (Halluzinationen und Wahnideen verschwinden) * wirken auf extrapyramidales Nervensystem (= unwillkürliches Nervensystem) -> erzeugen Parkinson-Syndrom8. Folge: Schizophrene gehen wie Parkinson-Patienten. b) zweite Generation der Neuroleptika (= atypische Psychotika): Nebenwirkungen geringer (z.B. keine extrapyramidalen Wirkungen) -> Zunahme der Lebensqualität. Eingesetzt für 1) akute Behandlung schizophrener Episoden 2) zur Rückfallprophylaxe Manche in Spritzenform (werden 1X im Monat intramuskulär verabreicht) 2. Antidepressiva: a) alte Antidepressiva: In den 50er Jahren entdeckt; 1. Antidepressivum = Impramin; eingesetzt bei Depressionen, Angst, Eßstörungen, u.a. * vermehren Noradrenalin und Serotonin, indem Re-uptake in Präsynapse verhindert wird (d.h. Neurotransmitter bleibt länger in synaptischer Spalte -> wirkt länger) 8 * Parkinson: Abnahme der Nervenzellen, die Dopamin produzieren in den nigrostrialen Bahnen -> Zittern, starrer Gang) * Alzheimer: Abnahme des Acetylcholins -> Delir 63 * Nebenwirkung: 1) anticholinerge Nebenwirkung 2) antihistaminerge Nebenwirkung (z.B. Herzklopfen, unscharfes Sehen, Verstopfung, Übelkeit, usw.) b) zweite Generation der Antidepressiva: SSRI (= Selektive Serotonin Re-uptake Inhibitoren); betreffen NUR Serotonin, nicht Acetylcholin und Noradrenalin; ABER: Nebenwirkung = Übelkeit 3. Tranquilizer: * Hauptgruppe = Benzodiazepine (das wichtigste davon = Diazepam -> Handelsname Valium), wirken auf GABA (= Gamma-Amino-Buttersäure; universeller Neurotransmitter)Rezeptoren * 4 Wirkungen: 1) sedierend 2) anxiolytisch (= angstlösend) 3) antiepileptisch 4) muskelentspannend WICHTIG: * Neuroleptika und Antidepressiva: machen NICHT abhängig -> da volle Wirkung erst nach 2-3 Wochen * Tranquilizer: machen abhängig -> da unmittelbare Wirkung entfaltend PSYCHOTHERAPIEVERFAHREN: = Behandlung mit seelischen Mitteln in Vorlesung behandelt werden noch ausführlicher: * Psychoanalyse * Verhaltenstherapie werden eingeteilt a) nach Orientierung (auf Symptom oder Persönlichkeit wirkend) b) Akzentuierung (auf Aktuell-Präsentisches oder Biographisch-Historisches) c) ob Orientierung am Individuellen oder Sozialen d) ob Therapeut aktiv-direktiv oder passiv-nichtdirektiv e) ob Deutung erfolgt oder nicht (unbewußte Interaktionen / unbewußte Produktionen) 64 1. organismische oder physiotrope Verfahren: dazu gehören Autogenes Training und Hypnose. Ziel = Entspannung des Körpers (bei Hypnose zusätzlich Möglichkeit über Inhalte zu behandeln) Entspannung wird erzeugt durch Monotonie (fades Gerede / Kugelschreiber anglotzen) * Hypnose: Suggestion von außen durch Hypnotiseur * autogenes Training: Suggestion durch die Person selbst eingesetzt in Gynäkologie, bei Angstpatienten (NICHT bei PANIK!!!), bei psychosomatischen Erkrankungen, usw. 4. Kognitive Verhaltenstherapie: Schema entspricht organischen Methoden; Ziel = Verhalten. Diverse Techniken: * kognitive Therapie => Verlernen von negativen Gedanken * Expositionstherapie => Konfrontation (z.B. eine Methode dazu = Flooding) * Systematische Desensibilisierung nach WOLPE 6. Psychoanalyse: arbeitet mit Übertragung (von ehemaligen Situationen auf aktuelle; Therapeut = passiv -> Abstinenzregel!) -> Patient bekommt Übertragungsneurose (erlebt seine Neurose mit dem Therapeuten) - Therapeut -> Gegenübertragung. Methoden: * freies Assoziieren * Träume deuten => Deutung von unbewußten Interaktionen 5. nicht-direktive Psychotherapie: z.B. Gesprächstherapie von Carl ROGERS: * bedingungslose Wertschätzung des Patienten * emotionale Wärme des Therapeuten dem Patienten gegenüber * Empathie * Echtheit * Selbstexploration => Patient redet über sich selbst, reflektiert; je mehr desto besseres Ergebnis! aktuell-präsentische Orientierung (Historisches wird aber nicht ausgeklammert; wenn Patient es erzählen will, so darf er). Keine Deutungen.