Muss man alles machen, was man kann?

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T H E M E N
D E R
Z E I T
MEDIZINREPORT/KOMMENTAR
Unter Retraining versteht man
einen Prozess des Umlernens und
Umgewöhnens. Die Tinnitus-Retraining-Therapie wurde von Jastreboff
(USA), Hazle (England) sowie Hesse
und Biesinger (Deutschland) entwickelt. In Deutschland wurde das Retraining-Konzept 1998 von der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger
Audiologen und Neurologen als gültiges Therapieverfahren zur Behandlung des chronischen Tinnitus festgelegt (Dt Ärztebl 1999; 96: A-2817–
2825 [Heft 44]).
Ambulant angewandt wird die
TRT unter anderem im Tinnitus-Zentrum Hamburg. Ein Team aus HNOÄrzten, Diplompsychologen und Hörakustikern erstellt dort gemeinsam
für jeden Patienten ein bis zu 18
Monate dauerndes individuelles Trainingsprogramm. Es wird gegebenenfalls durch die Anpassung eines
Noisers (Geräuschinstrument) unterstützt, der ein leises breitbandiges
Rauschen abgibt, wodurch der Tinnitus subjektiv in den Hintergrund tritt.
Zur Tinnitus-Retraining-Therapie gehören eine psychologische Diagnostik
mit individueller Erarbeitung möglicher Bewältigungsstrategien, um mit
dem Ohrgeräusch und seinen häufigen Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen, Angstzuständen oder Depressionen besser umzugehen und sie
abzubauen.
Weiterhin umfasst das TRT das
Erlernen von Entspannungstechniken, die helfen, den Teufelskreis „Tinnitus-Stress“ schneller zu durchbrechen, sowie Seminare zur Stressbewältigung bei Tinnitus. Ziel der ambulanten Therapie ist es, das Ohrgeräusch
von den damit verbundenen negativen Gefühlen zu entkoppeln. Durch
die TRT soll eine kognitive Umstrukturierung und eine neue Organisation
der Hörverarbeitung trainiert werden. Der Patient lernt, seine Aufmerksamkeit auf andere akustische
Reize zu lenken und Hörwahrnehmungen wieder positiv zu erleben. So
wird das lästige Ohr- oder Kopfgeräusch kaum noch oder gar nicht mehr
wahrgenommen.
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44536 Lünen, Telefon: (0 23 06) 92 83 80.
D
ie Wissenschaft bewegt sich
mit gewaltigen Schritten voran, natürlich nur nach vorne . . .? Wer hätte vor einigen
Jahrzehnten von Gentherapie, Klonierung oder Präimplantationsdiagnostik (PGD = preimplantation genetic
diagnosis) zu träumen gewagt?
Doch, diese Träumer gab es. Es
lohnt einmal wieder, Aldous Huxleys
„Schöne Neue Welt“ aus dem Bücherschrank zu nehmen. Eine Gruselfiktion der Zwanzigerjahre, visionär
aus heutiger Sicht. Die Klonierung ist
dort Routine, als „Bokanowsky-Verfahren“ standardisiert und gesell-
dividualität, sondern ihre Konformität
mit gesellschaftlichen Normen soll mit
Technikeinsatz erzeugt werden.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“,
den der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) unlängst vorgelegt
hat. Nun wäre es sicher unfair, der
BÄK vorzuwerfen, sie fördere an dieser Stelle den Technikeinsatz in der
Medizin. Das tut sie nicht – sie reagiert lediglich auf wissenschaftliche
Entwicklungen und versucht sie in
ethische Dimensionen vor dem Hintergrund rasanter gesellschaftlicher
Schöne Neue Welt
Muss man alles
machen,
was man kann?
Fortschritt allein genügt nicht, es kommt
auch auf die Richtung an.
schaftlich (angeblich) akzeptiert. Einen Schönheitsfehler hat das Ganze
natürlich; anders als in der heutigen
Realität verliert der Organismus beim
Klonieren Kompetenz. Das Ideal also
ist der ungeklonte Mensch, der, der
nicht dem „Bokanowsky-Verfahren“
unterzogen wurde und seine Individualität erhalten durfte. Je mehr KlonKopien es gibt, desto niedriger die soziale und intellektuelle Intelligenz der
Individuen – so weit Huxley.
Dahinter steht eine intellektuelle
Attitüde, die der Individualität und
dem Unterschied Raum lässt. Nicht
die unterschiedslose Schönheit ist
wahrhaft schön, sondern Schönheit
kann man erst an der Bandbreite von
hässlich bis göttlich wirklich ermessen.
Von diesem Ideal entfernen wir uns
zusehends. Uniformität ist gefragt,
Krankheit anstößig und absondernd;
nicht die Bandbreite menschlicher In-
A-1198 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 18, 5. Mai 2000
Veränderungen zu stellen. Der Antrieb, der Impuls kommt von woanders – aus Forschertrieb, aus der Überlegung, kranken Menschen helfen zu
wollen, aus Zukunftsgläubigkeit und
auch aus materiellen Interessen.
Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Präimplantationsdiagnostik;
die Manipulation an totipotenten Zellen ist verboten. Zusätzlich ist es nicht
zulässig, erzeugte Embryonen nicht zu
übertragen, also zu verwerfen. Eine
groteske Ironie wäre es also, in der
PGD als „krank“ erkannte Embryonen gleichwohl übertragen zu müssen.
Bei wenigen erbgebundenen Krankheitsbildern könnte PGD helfen.
Notwendig wäre eine Änderung des
Embryonenschutzgesetzes. Der Diskussionsentwurf schlägt darüber hinaus „Ethikkommissionen“ der Selbstverwaltung vor, die Genehmigungen
zur PGD erteilen.
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T H E M E N
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KOMMENTAR
Forschertrieb und
Technikgläubigkeit
Seit einiger Zeit versucht die Wissenschaft, den Zeitraum der Totipotenz von Zellen für kürzer und kürzer zu erklären. Forschergruppen behaupten, schon ab dem 4-Zell-Stadium sei eine Totipotenz nicht mehr sicher. Zugleich gewinnt die moderne
Fortpflanzungsmedizin immer mehr
Spielräume zum erfolgreichen Übertragen von Embryonen, ein Fenster
tut sich auf, die Zellen sind (angeblich) nicht mehr totipotent, die Übertragung ist noch möglich.
Altruistische Ideale
Unter dem Eindruck der großen
Trauer von Familien, die das Risiko genetischer Fehler in sich tragen und oftmals schreckliche Leidensgeschichten
von kranken oder sterbenden Kindern,
späten Abtreibungen oder gar intrauterinen Fetoziden hinter sich haben,
wollen Ärzte helfen und diesen Familien das Idealbild „gesunde Kinder“ erfüllen. Es handelt sich dabei um nur
circa 100 Paare per annum bundesweit,
bei denen unter dieser Indikation eine
PGD infrage käme. Sie müssten, obwohl sie auf natürlichem Wege zeugungsfähig sind, eine im Reagenzglas
erzeugte Schwangerschaft – mit allen
Risiken – ertragen, nur um den Embryo einer PGD unterziehen zu können. Verkürzt gesagt: Die technischen
Risiken der In-vitro-Fertilisation (IVF)
und PGD stehen hier den menschlichen (und auch ethischen) Problemen
einer späten Abtreibung entgegen.
Wahrlich, eine Auswahl zwischen
Beelzebub und Teufel! Auf die einfache Idee, den Paaren von weiteren
Schwangerschaften abzuraten, kommt
man offensichtlich nicht. Kinderwunsch ist ein alle Mittel heiligendes
Ziel – auch das ist angesichts der Irrationalitäten unserer Welt eine groteske gesellschaftliche Entwicklung.
Finanzielle Auswirkungen
Und natürlich tut sich in der
PGD ein gewaltiges ökonomisches
Potenzial auf. IVF und PGD sind aufwendige und teure Verfahren; sie
werden in anderen Ländern, wo sie
zulässig sind, auch unter ökonomischen Aspekten sehr gewinnbringend
angeboten.
Ethischer Deichbruch!
Würde der Diskussionentwurf zu
einer Richtlinie zur PGD verabschiedet und Wirklichkeit, käme dies
in meinen Augen einem ethischen
Deichbruch gleich. Auch wenn ich sicher bin, dass die Autoren sich nur
von den edelsten Motiven haben leiten lassen, so halte ich es doch für
ausgeschlossen, die PGD auf die Paare begrenzen zu können, die erbgebundene Krankengeschichten vorweisen können. Vielmehr wird im
Rahmen aller IVF-Maßnahmen die
Frage gestellt werden müssen, inwieweit das Risiko der iatrogenen Übertragung „fehlerhafter“ Embryonen
überhaupt vertretbar ist. Über kurz
oder lang werden bei allen IVF-Maßnahmen PGDs nötig sein. Und: Wie
verweigert ein Arzt Paaren die PGD
im Rahmen einer IVF? Müssen diese
Paare erst selbst eine „genetische Leidensgeschichte“ vorweisen, um in den
„Genuss“ der gewünschten exakteren Diagnostik zu kommen? Wäre
es nicht – unter denselben pseudoaltruistischen Maximen – unmenschlich, ihnen diese Diagnostik vorzuenthalten?
Hier tut sich nicht nur ein gewaltiger Markt für Ärzte auf – hier entstehen auch gewaltige Risiken für unsere Gesetzliche Krankenversicherung
– es wird auf Dauer nicht möglich
sein, IVF zwar zu bezahlen, PGD aber
nicht.
Schließlich: Sie haben es alle gelesen, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms steht kurz vor ihrer
Vollendung. Damit aber liegt eine
mindestens abstrakte Genkarte vor, in
der Aberrationen, Variationen und
Strickmusteranomalien des Menschen
beschrieben sind. Wer glaubt, diese
Karte prognostiziere mit hundertprozentiger Sicherheit erbgebundene
Krankheiten, der irrt. Einige wenige
Krankheiten und ihre Ausprägung
sind heute schon erkennbar, ganz
überwiegend aber vermögen wir zwar
die „Strickmusterfehler“ der Natur zu
erkennen, ihre Relevanz für das le-
A-1200 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 18, 5. Mai 2000
bende Individuum aber nicht einzuordnen. Jeder von uns ist Träger solcher Anomalien – auch der Gesündeste! Der Grundgedanke der genetischen Selektion aber, dieses „Nichtsmehr-dem-Schicksal-überlassen-Wollen“, der dem gesamten Verfahren
nun einmal innewohnt, wird zu einer
natürlichen Ausmerzung aller Anomalien führen. Wir sind auf dem direkten Weg zum „qualitätsgesicherten
Kind“.
Welchem Arzt könnte man einen
Vorwurf machen, wenn er Eltern eher
zur Abtreibung (oder in unserem Fall
zur Nichtübertragung des Embryos)
raten wird, als sie zu bestärken, die
Risiken im Vertrauen auf eine starke Natur in Kauf zu nehmen? Der
Bundesgerichtshof hat uns in seiner
Rechtsprechung klargemacht, dass
fehlerhafte genetische Beratung schadensersatzpflichtig macht. Das kranke Kind wird zum „Schadensfall“ –
nicht der bedauernswerten Eltern,
sondern des Arztes!
Fortpflanzungsmedizingesetz
Der Diskussionentwurf der BÄK
geht deswegen einen falschen Weg; in
fehlgeleitetem Altruismus sprengt er
ethische Dämme. Eine Begrenzung
auf wenige Paare – wie vorgesehen –
wird sich nicht durchhalten lassen.
Ungewollt wird der genetischen Selektion die Tür geöffnet. Fortschrittsgläubigkeit macht blind vor den Risiken. Noch ist es an der Zeit gegenzusteuern. Deswegen hat der Vorstand
der BÄK auch lediglich einen „Diskussionsentwurf“ vorgelegt. Am Ende der Diskussion kann also durchaus
auch das Einstampfen des Papiers
stehen.
Die Bundesregierung plant, das
Embryonenschutzgesetz im Lichte
neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse
zu überarbeiten. In einem Fortpflanzungsmedizingesetz müssten dann
auch Fragen der IVF und der PGD geregelt werden.
Ich plädiere für ein Verbot der
Präimplantationsdiagnostik.
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery
Präsident der Ärztekammer Hamburg
Vorsitzender des Marburger Bundes
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