BH MUSIK, MUSIKWISSENSCHAFT Personale Informationsmittel

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MUSIK, MUSIKWISSENSCHAFT
Personale Informationsmittel
Johannes BRAHMS
HANDBUCH
10-1
Brahms-Handbuch / hrsg. von Wolfgang Sandberger. - Stuttgart ; Weimar : Metzler ; Kassel [u.a.] : Bärenreiter, 2009. XXX, 632 S. : Ill., Notenbeisp. ; 25 cm. - ISBN 978-3-47602233-2 (Metzler) - ISBN 978-3-7618-2036-0 (Bärenreiter) :
EUR 64.95
[#0787]
Widersprechen möchte ich eigentlich nur dem ersten Satz des Buches: „Die
Zeit der großen, klassischen Komponisten-Biographie, in der ‘Leben und
Werk’ meist emphatisch zum ‘Lebenswerk’ verschränkt wurden, ist vorbei.“
Allein Todds Mendelssohn-Biographie1 genügt als Widerlegung, und im übrigen ist die Musikgeschichte ja noch nicht zu Ende. Die Begründung für
den Vorzug der von verschiedenen Spezialisten erarbeiteten Handbücher
verfängt auch nur bedingt: Die Synthese, die der klassische Autor leistete,
wird eben auf den Leser verlegt, der im Normalfall ja der weniger Informierte
ist. Zum Glück ist das Handbuch nicht so disparat, daß diese Zusammenfassung letztlich problematisch wäre und in einem solchen Rahmen mag die
Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten auch wiederum manchmal helfen, einen Umweg zu ersparen. Soweit der Widerspruch, aber Fragen kann
man an das Buch natürlich viele stellen!
Das Handbuch ist Teil einer inzwischen bewährten Reihe in der Zusammenarbeit der beiden Verlage: Bach, Beethoven, Mahler, Mozart, Schubert,
Schumann, Verdi sind bereits bearbeitet worden.2 Man erhält in ihnen Informationen auf dem neusten Stand der Musikwissenschaft von verschiedenen Spezialisten erarbeitet, und die Scheu innerhalb des Ensembles vor
Gesamtdeutungen ist letztlich nicht so groß, wie sie oben angedeutet wurde.
Das Brahms-Handbuch enthält nebst einer Einleitung, die einige allgemeine Aspekte referiert, die im allgemeinen später nochmals in ihren Kontexten
behandelt werden, einen Teil über die Lebenswelt, einen zweiten über Äs1
Felix Mendelssohn Bartholdy : sein Leben, seine Musik / R. Larry Todd. Aus
dem Englischen übers. von Helga Beste unter Mitwirkung von Thomas SchmidtBeste. - Stuttgart : Carus-Verlag ; Reclam, 2008. - 798 S. : Ill., Kt., Notenbeisp. ;
24 cm. - Einheitssacht.: Mendelssohn <dt.>. - ISBN 978-3-89948-098-6 (Carus) ISBN 978-3-15-010677-8 (Reclam) : EUR 49.90 [#0169]. - Rez. in IFB:
http://ifb.bsz-bw.de/ifb2/bsz279464673rez-1.pdf
2
Bis auf das Mahler-Handbuch wurden alle in IFB besprochen. Eine Rezension
des Mahler-Handbuchs ist in IFB vorgesehen.
thetische Positionen, einen dritten über die Kompositorische Arbeit. Dann
folgt die Werkbeschreibung, eingeteilt in die Kapitel Vokalmusik, Klaviermusik (incl. Orgelmusik), Kammermusik, Orchestermusik und den Schlußteil
über Interpretation und Rezeption.
Ein eigentlich konsequent biographischer Teil fehlt in dem Buch, was angesichts der Vielfalt wichtiger persönlicher Beziehungen, die so besser lokalisierbar wären, nicht unbedingt vorteilhaft ist und auch zur Einordnung der
kompositorischen Entwicklung hilfreich wäre, wie etwa der entsprechende
Teil in MGG23 deutlich macht. Die herausragende Beziehung zu Robert
Schumann ist in einem eigenen Aufsatz behandelt, in dem natürlich auch
Clara vorkommt. Roberts berühmter Artikel über den jungen Brahms wird
dort und auch nochmals im Kapitel über die Brahms-Kritik des 19. Jahrhundert besprochen. Clara und Robert sind auch in dem Abschnitt Die engeren
Freunde des Lebenswelt-Kapitels behandelt. Aber natürlich kommen sie
auch im Werk-Teil häufig vor, wie das Register zeigt, aber auch in anderen
Zusammenhängen, was einen eher perspektivischen Zugriff ermöglicht.
Der Abschnitt Brahms – eine bürgerliche Biographie?“ mag ein Teilersatz für
die Biographie sein. Er nähert sich dem Biographischen gewissermaßen
„soziologisch“ mit Reflexionen über Bürgertum und Bürgerlichkeit, bürgerliche Musikkultur, Komponieren als bürgerliche Existenzform (mit Fragezeichen) etc. Man hat bei den Kategorien manchmal kein gutes Gefühl. Das
„Bürgerliche“ schwankt immer ein wenig zwischen einer allgemeinen geschichtlichen Kategorie, die die neue nachrevolutionäre tragende Gesellschaftsschicht benennt – und naturgemäß eine in den europäischen Staaten sehr unterschiedliche Entwicklung zusammenfaßt –, und einer einengenden Konnotation ins Philiströse. Cosima und Richard Wagners in die
letzte Richtung gehende Urteile (S. 40) sollte man daher nicht durch Brahms
als Kettenraucher und die 20 Flaschen von Hochprozentigem in einem erhaltenen Bestandszettel kontern (ebd.). Das Resümee S. 41 ist dann allerdings sicher zutreffend: „Es ist … nicht das Geglättete der Bürgerlichkeit,
das ihn auszeichnet.“ Die Weiterführung, daß Brahms nach seinem Tod
„immer widerstandsloser in eine bürgerliche Musikkultur integriert“ wurde, ist
allerdings m.E. eher belanglos: Wo sollte denn sonst sein Werk rezipiert
werden nach Auslaufen höfischer Kulturen? Und gilt nicht das Gleiche für
den Antipoden Wagner? Die Bemerkungen sollen nicht die vielen interessanten Aspekte der Darstellung zudecken,4 wohl aber scheinen mir die soziologischen Kategorien nicht ausreichend.5 Dies betrifft nicht nur diesen
Artikel: Warum der recht intensive Bücherkauf von Brahms als ‘bildungsbeflissener Impetus’ denunziert wird und die kleinbürgerliche Herkunft kompensieren soll (S. 143), ist mir angesichts dessen, daß die Bücher für
Brahms Gebrauchs- und nicht Repräsentationswert haben, etwas weit her3
Personenteil, Bd. 3 (2000), Sp. 626 - 716.
Nicht verstanden habe ich, wie Brahms gleichzeitig preußischer Patriot, Bismarck-Anhänger und „Großdeutscher“ [!] gewesen sein soll (S. 38).
5
Zur Vorsicht vor solchen Begrifflichkeiten sollte etwa der folgende Artikel anleiten: Bürger / Manfred Reidel. // In: Geschichtliche Grundbegriffe. - Stuttgart : Klett.
- Bd. 1 (1972), S. 672 - 725.
4
geholt. Das primäre Interesse ist doch eindeutig.
So lassen sich ganz sicher viele Fragen an die Artikel stellen. Aber auch
wenn man die Antworten anders geben oder nuancieren würde, bleibt der
Perspektivreichtum des Bandes beeindruckend. Selbstverständlich wird
man in die musikästhetischen Kontroversen des 19. Jahrhunderts (Wagnerianer und „Brahminen“, das Verhältnis zu Bruckner, Nietzsches Verdikt,
Hugo Wolfs Frechheiten etc.) eingeführt – und darf sich freuen, daß man
zwischen diesen Positionen nicht mehr wählen muß. Der „Handbuch“Aufbau hat den Vorteil, daß Aspekte wie Brahms als Interpret, als Lehrer,
Gutachter, Herausgeber, Bearbeiter etc. nicht in Exkursen verschwinden,
sondern in nötiger Gründlichkeit behandelt werden. Die Brahms-Kritik im 19.
Jahrhundert, oder der m.E. ausgezeichnet differenzierende Artikel über Religion und Kunst bei Brahms, die Darstellung des Verhältnisses zu den großen Musikwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts (die Tatsache selbst ist
schon eine Besonderheit), sein Verhältnis zu Schriftstellern und Bildenden
Künstlern sind allesamt höchst informativ.
Der Abschnitt über die kompositorische Arbeit wird von einem literarisch
blendenden und mit einer Fülle geistesgeschichtlichen Wissens glänzenden
Artikel eröffnet. Konkreter wird sodann der Prozeß Vom Einfall zum Werk
analysiert und schließlich Brahms und das Volkslied behandelt.
Letzteres hätte man ggf. auch im folgenden Kapitel über die Vokalmusik unterbringen können, mit dem die Werkdarstellung beginnt, die den Löwenanteil des Bandes einnimmt (die Bedeutung auch für andere Werke, insbesondere die Klavierwerke, war wohl der Grund dagegen). Sie zeigt u.a., wie
intensiv auch die „absolute Musik“ in allgemeine wie private Kontexte einbezogen ist und durchaus viele Konnotationen transportiert, die auch dem Hörer Verständnishilfen sind.
Am Randphänomen der Orgelmusik läßt sich das etwas zeigen. Sie entsteht
in bestimmten Lebenssituationen, zeigt zum einen, wie Brahms sich kompositorisch weiterbildet (Kontrapunktstudien in Absprache mit Joseph Joachim), wobei aber Werke entstehen, die Brahms (später) für veröffentlichungsreif hielt (as-Moll-Fuge); sie ist ein Reflex persönlicher Beziehungen
(„verdecktes Medium für Zuneigungsbekundungen an Clara Schumann“, S.
374), läßt Rückschlüsse für die Einordnung der Religiosität von Brahms zu
(die ersten Choralvorspiele und der Christus-Bezug, S. 132) u.a.m. Die
Werke – insbesondere die Choralvorspiele – werden subtil gedeutet. Ob
man freilich aufgrund der musikalischen Analyse den Schluß von op. 122,3
mit seinen Terzgängen gegen die eschatologische Erwartung und die „Tröstung“ ausspielen kann, scheint mir fraglich. Ebensowenig überzeugt beim
nächsten Choralvorspiel die Behauptung, die Komposition versuche am
Schluß, die „Idee des Textes … musikalisch zu relativieren“; dagegen steht
m.E. die Bearbeitung des letzten (Halb-)Verses. Eine ähnliche Deutung findet sich zu Nr. 9 entgegen der „Sextenseligkeit“ der ausklingenden Begleitfigur. Hier kommt eine hermeneutische Vormeinung ins Spiel, gegen die
sich aus den anderen Bearbeitungen noch genügend Gegen-Material anböte. Auch wenn man diese Hermeneutik nicht teilt, bleibt trotzdem eine ausführliche und kenntnisreiche Darstellung, die die Werke intensiver analysiert
als in manchem Handbuch zur Orgelliteratur. Das etwas ausführlichere Beispiel sollte zeigen, daß man von dem Handbuch lernen kann, auch wo man
nicht mit der Deutungsoptik übereinstimmt.6
Orgelmusik, insbesondere choralgebundene, hat zwar allemal eine semantische Konnotation, aber auch für andere Instrumentalwerke zeigt die Analyse, in welche inhaltlichen Kontexte sie verwoben sind.
Die Werkanalysen können hier nicht differenzierter dargestellt werden. Sie
sind unterschiedlich angelegt. Bei den Vokalkompositionen ist etwa – zu
Recht – eine sehr breite Einleitung vorangestellt, die die Gattungsgeschichte, aber auch sehr subtil Fragen wie die nach Sammlung oder Zyklus behandelt. Selbstverständlich zeigen sich auch Differenzen der Darstellungsart bei den Autoren – von der (teilweise) vorgestellten Hermeneutik der Choralvorspieldeutung bis zu strikt struktural-analytischen Vorgehensweisen,
von psychologischen Einordnungen (Männerchor und ‘Aufgehobensein in
einem wohlgesinnten Männerkreis’, S. 286) zu ‘ideologiekritischen‘ Interpretationen (S. 319 - 320). Die Einbeziehung von privaten (S. 284, Altrhapsodie), oder politischen Anlässen (S. 303) oder kompositorischen ‘Situationen‘
(S. 268, Ein deutsches Requiem) erweitern das Spektrum interpretatorischer Zugänge. Kompositorische Bezüge zu Werken anderer Komponisten
(S. 425) sind vielfach dem „Normalhörer“ sicher nicht geläufig.
Bei der Lektüre des Bandes wird die Bedeutung des immer noch nicht ganz
edierten Brahms-Briefwechsels deutlich.7 Andere Bezüge – etwa Widmungen – werden durch die Kenntnis der Entstehungszusammenhänge wichtiger und verständlicher. So wäre eine Fülle von Einsichten zu nennen, die
man diesem Handbuch entnehmen kann.
Akzentsetzungen in der Brahms-Forschung werden dem Nichtfachmann
eher indirekt deutlich bzw. direkt im Artikel über die musikwissenschaftliche
Rezeption von Brahms ausgesprochen, etwa gegenüber der Darstellung in
MGG2. Daß deren Brahms-Artikel in das ferne Jahr 22000 datiert wird (S.
551), ist wirklich ein schöner Druckfehler! Daß überhaupt die Musikwissenschafts-/Musikwissenschaftler-Perspektive in dem Buch stark präsent ist,
mag seinen berechtigten Anhaltspunkt in Brahms Beziehungen zur Gründergeneration der Musikwissenschaft haben, denen ja auch ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Dem entspricht dann im Teil über Interpretation und
Rezeption, daß den Artikeln über Brahms in Musikforschung und in der
überregionalen Fachpresse nur recht knappe und weitgehend auf die
Symphonik bezogene Ausführungen über die Brahms-Interpretation des 20.
Jahrhunderts gegenüberstehen.
6
Für den praktischen Musiker wäre hier wie an manch anderer Stelle auch ein
Hinweis auf Editionen sinnvoll. Der eigene Beitrag über Brahms-Edition beschränkt sich im wesentlichen auf die alte und neue Gesamtausgabe. Bei der Orgelmusik wäre konkret etwa die Henle-Edition der Orgelwerke zu nennen, die im
übrigen der Information zur schon genannten as-Moll-Fuge direkt widerspricht
(Fassungen 1864 und 1883 weitgehend identisch, entgegen hier S. 374).
7
Vgl. das Brahms-Briefverzeichnis : BBV http://www.brahms-institut.de/web/bihl_projekte/projekt_bbv.html - Datenbank unter http://www.brahms-institut.de/db_bbv/ [2010-06-10].
Das musikphilologische Interesse wird durch einen Artikel über die Neue
Ausgabe sämtlicher Werke (mit kurzem Vorspann über die alte Gesamtausgabe und deren „Ideologie“ [S. 573]) befriedigt. Ein Abschnitt über Filmmusik von/nach Brahms schließt den darstellenden Teil, dem die nötigen
Verzeichnisse (Werke, Abbildungen, Verfasser) und Register (Namen,
Werktitel) folgen. Wenn schon die Filmmusik genannt ist, wäre vielleicht eine Auswahl-Diskographie gleichfalls sinnvoll gewesen werden. Werkgruppen wie die hier mehrfach genannten, in der alten Gesamtausgabe aber
fehlenden Klavierarrangements von Brahms etwa sind – jedenfalls meinem
Kenntnisstand nach – derzeit ja nur über CDs greifbar. Dazu vermisse ich
Hinweise auf Internet-Seiten zu Brahms, jedenfalls wäre das umfangreiche
Angebot digitalisierter Partituren einen Hinweis wert. So ist in der Petrucci
Music Library8 ein umfassendes Angebot an Originalausgaben oder Bänden
der alten Gesamtausgabe zugänglich. Hier findet man immerhin auch originale Brahms’sche Klavierauszüge.
Das Brahms-Handbuch gehört auf alle Fälle in die Referenzbestände aller
halbwegs einschlägigen Bibliotheken.
Albert Raffelt
QUELLE
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und
Wissenschaft
http://ifb.bsz-bw.de/ifb2/
8
http://imslp.org/wiki/Category:Brahms,_Johannes [10-06-09].
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