MEHRHEITSWAHLRECHT Pro Kontra Verhältniswahlrecht: Gefahr der politischen Lähmung Einfacher – aber nicht gerechter! „Die derzeitige Lage zeigt, wohin uns das Verhältniswahlrecht führt. Deutschland scheint nahezu unregierbar.“ Mit diesen beiden, in der WELT-Ausgabe vom 28.09.2005 nachzulesenden Sätzen bringt der renommierte Staat-, Verfassungs- und Parteienrechtler Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim die Problematik auf den Punkt: Die nach der diesjährigen Bundestagswahl einsetzende politische Krise unseres Landes, die jenseits der kurzzeitig zwingend notwendigen, aber im Sinne demokratischer Kultur nicht ewig dauernden Großen Koalition keine praktikablen Regierungsalternativen kennt, ist primär eine Systemkrise. Das im Anschluss an den 18. September erfolgte, nahezu neunwöchige Berliner Polit-Theater mit all seinen „Schwampel“- und „Ampel“- Kuriositäten hat uns eindrücklich vor Augen geführt, wie sehr die Regierungsbildung durch das real existierende Wahlrecht erschwert bzw. behindert wird, sofern für die Bildung einer Koalition keine eindeutige, politisch sinnvolle Regierungsmehrheit des Mitte-Links- bzw. des Mitte-Rechts-Lagers zu Stande kommt. In einem durch die neu formierte Linke begründeten Fünf-Parteien-System ist es durchaus wahrscheinlich, dass dies auch zukünftig der Fall sein wird. Dass dies perspektivisch der politischen Stabilität unseres Landes jedoch eher abträglich sein würde, ist offensichtlich. Mit einiger Berechtigung beklagen die Bürger bereits heute die nach dem Wahlabend eingetretenen, höchst unsicheren politischen Verhältnisse, die uns sogar dem Spott der internationalen Presse preisgegeben haben Stell‘ dir vor, du lebst in einem Land mit einer Demokratie. Stell‘ dir vor, es handelt sich um ein Land mit einem Mehrheitswahlrecht. Stell‘ dir vor, es gibt nur zwei Parteien in deinem Land. Stell‘ dir vor, diese zwei Parteien ähneln sich so sehr, dass du ihre Programme kaum noch voneinander unterscheiden kannst. Welche Auswahl hast du? Wenn du nun auf „keine“ getippt hast, liegst du richtig. Nun musst du aber gar nicht so weit reisen um in so ein Land zu kommen. Hier in Europa findest du Länder mit einem Mehrheitswahlrecht. Großbritannien ist zum Beispiel eines dieser Länder. Der wichtigste Vertreter des Mehrheitswahlrechtes sind jedoch die USA. Aufgrund des dort herrschenden Mehrheitswahlrechtes konnte George W. Bush. Im Jahre 2000 die Präsidentschaftswahlen für sich gewinnen, obwohl dieser eine halbe Million weniger Stimmen als sein demokratischer Gegner Al Gore erhielt. Du verstehst als das Problem eines Mehrheitswahlrechts? Wenn wir also nun über ein Mehrheitswahlrecht für Deutschland diskutieren, sage ich ganz klar nein. Mit unserem personalisierten Verhältniswahlrecht komme ich eigentlich sehr gut klar. Denn dieses deutsche System stellt zudem eine Mischung von absolutem Verhältniswahlrecht und absolutem Mehrheitswahlrecht dar. Bei uns sind bei der Bundestagswahl zwei Stimmen abzugeben: die erste für den Direktkandidaten (der nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt wird) und die zweite für die zu wählende Partei (deren Sitze im Bundestag nach dem Verhältniswahlrecht verteilt werden). Ein sehr gerechtes System also. haben – völlig zu Recht wurden die Deutschen dort mit größtmöglichem Unverständnis bedacht. So titelte beispielsweise die linksliberale französische Zeitung „Libération“ Ende September: „Deutschland tritt nun dem Club der Länder bei, in denen die Protestler und Radikalen [Anm.: Anspielung auf die Linkspartei.PDS] solchen Schaden anrichten können, dass dies einen normalen politischen Wechsel blockiert und langfristige [Reform-] Politik lähmt.“ Mit einem leicht modifizierten (relativen) Mehrheitswahlrechtsmodus nach britischem Vorbild wäre uns diese unrühmliche Schlagzeile erspart geblieben. Denn: Das Mehrheitswahlrecht ebnet den Weg zu stabilen und – vor allem – eindeutigen politischen Verhältnissen im Rahmen eines Parteiensystems, das von einer Mitte-RechtsPartei getragen wird, und gleichzeitig kleiner links- wie rechtsextremen Parteien keinen Raum zur bedeutsamen politischen Entfaltung im Parlament lässt. Strömungen, die in der Bundesrepublik zum momentanen Zeitpunkt von Parteien wie den Grünen, der FDP oder der Linkspartei.PDS repräsentiert werden, würden von den beiden großen Parteien automatisch integriert. Sie gingen folglich auch dann nicht verloren, wenn Grüne, FDP und die Linke als kleinere Parteien im Zuge einer Änderung des Wahlrechts in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwänden, wobei die Grünen und die Linke ohnehin lediglich das Resultat zweier Protest- und Abspaltungsbewegungen im linken politischen Spektrum der Bundesrepublik sind, die in einem Mehrheitswahlsystem wieder in einem starken Mitte-Links-Lager vereint würden. Die durch das Verhältniswahlrecht trotz der Fünf-Prozent-Klausel begünstigte, völlig unnötige Parteienzersplitterung unseres politischen Systems, die uns im Gedenken an das historische Vermächtnis der Weimarer Republik ohnehin suspekt sein muss, würde durch ein reines Mehrheitswahlrecht reduziert bzw. verhindert. Ein striktes Mehrheitswahlrecht ist zudem aus folgenden Gründen abzulehnen: 1. Jede Stimme kann ihren Wert voll und ganz verlieren. Wer für die Partei, die den Wahlkreis nicht gewonnen hat, der hat seine Stimme verschenkt. Alle Stimmen, die nicht für die Sieger-Partei abgegeben wurden sind nutzlos, sie werden einfach gestrichen („Winner-takes-all-Prinzip“) 2. Kleine und neue Parteien haben kaum noch eine Chance Mandate im Parlament zu erringen. Gleichzeitig nehmen sie ihrem eigenen politischen Flügel sogar Stimmen weg und können den Sieg der in diesem Flügel dominierenden Partei verhindern. Darüber hinaus repräsentieren kleine Parteien meist Minderheiten in der Bevölkerung, was natürlich vollkommen gerechtfertigt ist. Jeder möchte sich schließlich im Parlament vertreten fühlen. Wenn nun aber diese kleinen Parteien gar keine Chance haben ins Parlament einzuziehen, können Minderheiten nicht vertreten werden. Durch ein Mehrheitswahlrecht würde ein großes Stück Gerechtigkeit verloren gehen. 3. Natürlich spiegelt ein Verhältniswahlrecht die Gesellschaft wesentlich besser als eine Mehrheitswahl. In einer Gesellschaft, in der Wertepluralismus groß geschrieben wird, können viele Parteien mit vielen Meinungen also nur etwas Gutes sein. 4. Bei einem Mehrheitswahlrecht kristallisieren sich im Laufe der Jahre fast immer zwei große Parteien heraus, die dann abwechselnd regieren. Damit diese Parteien jedoch gewählt werden, müssen sie eine relativ große Bevölkerungsschicht vertreten. Daraus resultiert jedoch, dass ihre Programme möglichst für alle annehmbar sein müssen, was sich schließlich in Bezug auf die Unterschiede zwischen den Parteien insofern negativ auswirken kann, als sich die Programme sehr ähneln. Darüber hinaus wären die beiden großen Parteienblöcke auf Grund des Wahlsystems gezwungen, ihr Handeln an der politischen Mitte auszurichten, da der gemäßigten, der Anzahl nach wahlentscheidenden Wählerschaft extreme Ansichten widerstreben. Politische Mäßigung wäre folglich ein weiterer, durchaus positiver Effekt des Mehrheitswahlrechts – ganz abgesehen davon, dass das Mehrheitswahlrecht essentielle Grundzüge unserer demokratischen Ordnung besser zur Geltung brächte als es das gegenwärtige Verhältniswahlrecht vermag: Zunächst verleiht es jeder einzelnen Wählerstimme stärkeres Gewicht, da bereits geringe Stimmendifferenzen zu signifikanten Verschiebungen bei der Verteilung von Parlamentsmandaten führen können. Dabei sind Verzerrungen des Wahlergebnisses in der Tat unvermeidbar, da beim Mehrheitswahlrecht – im Gegensatz zum Verhältniswahlrecht – die Verteilung der Mandate nicht in der genauen Relation zum prozentualen Stimmenanteil einer jeden Partei erfolgt. Allerdings wiegt das Argument der stabilen Regierungsbildung auf der Basis einer unzweifelhaften parlamentarischen Mehrheit weitaus schwerer. Das Koalitionsgeschacher und immerwährende parteipolitische Taktieren mehrerer Parteien haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nämlich satt. Das Mehrheitswahlrecht eröffnet die Perspektive der direkten Entscheidung über die Regierung sowie den Regierungschef durch den Wähler selbst, ohne dass erst langwierige, häufig an einen orientalischen Basar erinnernde Koalitionsverhandlungen abgewartet werden müssen, auf die der Wähler dann keinerlei Einfluss mehr ausüben kann. Zudem sind Koalitionsregierungen, in denen die beteiligten Parteien divergierende Interessen verfolgen, keineswegs der Inbegriff politischer Stabilität, wie wir spätestens seit RotGrün wissen. Ein weiteres Element demokratischen Geistes würde dadurch gefördert, dass der nicht selten äußerst dominante Einfluss der Parteiführung bei der Kandidatennominierung (Landeslisten etc.) zurückgeführt würde, wodurch zusätzlich jeder einzelne Wähler aufgewertet würde, da er es ist, der in einem auf dem Mehrheitswahlrecht fußenden System direkt kann, als sich die Programme sehr ähneln. 5. Wie schon zu Beginn erwähnt und in den USA so stattgefunden, kann ein Mehrheitswahlrecht zu sehr konfusen Ergebnissen führen. Trotz der Tatsache, dass Partei A im ganzen Land mehr Stimmen erhielt als Partei B, heißt das nicht automatisch, dass sie die Wahl gewonnen hat. Dies kann passieren, wenn Partei B in bevölkerungsreichen Wahlbezirken knappere Ergebnisse erzielt und daher die Summierung der abgegebenen Stimmen ein anderes Bild ergibt, als die Auszählung nach gewöhnlichem Wahlrecht. Nun ist es natürlich nicht so, als ob eine Mehrheitswahl gar keine Vorteile mit sich bringt. So mag es zum Beispiel richtig sein, dass stabilere Regierungen zustande kommen, dass Parteienzersplitterung schwerer fällt, dass ein Mehrheitswahlrecht einfacher zu handhaben und zu verstehen ist. Aber Gerechtigkeit erfordert ihren gewissen Preis. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass eine Entscheidung für ein Mehrheitswahlrecht und eine Abkehr von unserem personalisierten Verhältniswahlrecht einen Verlust darstellen würde, einen Verlust von gesundem und gutem Wertepluralismus, einen Verlust von Demokratie und einen großen Verlust an Gerechtigkeit. Jeder hat, schon im Sinne unseres europäischen Gerechtigkeitsgefühls, das Recht im Parlament vertreten zu sein. Wer nun ein Wahlrecht einführt, bei dem Stimmen einfach unter den Tisch fallen, der beschneiet unsere Demokratie und scheint unsere deutsche Auffassung dieser Demokratie nicht verstanden zu haben. Nicht umsonst haben sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes für die personalisierte Verhältniswahl entschieden. Sie stellt einen gelungenen Mittelweg zwischen zwei Extremen dar und sollte weiter hin bewahrt bleiben. Wer ein Mehrheitswahlrecht in Deutschland einführt, beschneidet ganz klar unsere Demokratie. Adrian Copitzky, 13d dass der nicht selten äußerst dominante Einfluss der Parteiführung bei der Kandidatennominierung (Landeslisten etc.) zurückgeführt würde, wodurch zusätzlich jeder einzelne Wähler aufgewertet würde, da er es ist, der in einem auf dem Mehrheitswahlrecht fußenden System direkt entscheidet, von welchem Wahlkreisabgeordneten er im Parlament repräsentiert werden möchte. In Folge dessen trägt das Mehrheitswahlrecht also auch zum engeren Kontakt zwischen dem einzelnen Abgeordneten und seinem Wahlkreis bei, d.h. Demokratie würde wieder bürgernäher und -freundlicher, zumal das Mehrheitswahlrecht bedeutend einfacher als das aufwändige Verhältniswahlrecht ist. Nebenbei würde jeder Abgeordnete selbst eine Aufwertung erfahren, da er sich der gegenwärtig vorherrschenden „Parteiendiktatur“ weitgehend entziehen und unabhängiger operieren und denken könnte. Wie oft haben wir schon beklagt, dass Art. 38,1, GG in der politischen Praxis von den Parteien gelegentlich bedenkenlos mit Missachtung gestraft wird: „[…] Sie [die Abgeordneten des Bundestages] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Das Mehrheitswahlrecht würde einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Verwirklichung dieses GG-Artikels leisten. Und noch einmal: Die Gewährleistung politischer Handlungsfähigkeit muss einen wesentlich höheren Stellenwert einnehmen als das vermeintliche „Gerechtigkeitsargument“ der Befürworter eines Verhältniswahlrechts in Deutschland, die den Wählerwillen „unverzerrt“ abgebildet sehen möchten, dabei jedoch solche Kuriositäten wie den komplizierten „Erst- und Zweitstimmenwirrwarr“ sowie die ggf. daraus resultierenden Überhangmandate billigend in Kauf nehmen – ist das etwas widerspruchsfrei? Wir müssen begreifen, dass der Erfolg von Demokratie primär keine Frage (mehr oder minder krampfhafter) Wahlgerechtigkeit ist, wie es die Verfechter des Verhältniswahlrechts suggerieren, sondern vielmehr davon abhängt, welches Vertrauen die Bürgerinnen und Bürger der Stärke und Stabilität der demokratischen Ordnung entgegenbringen. Diese beiden Komponente, Stärke und Stabilität, gründen im Verfechter des Verhältniswahlrechts suggerieren, sondern vielmehr davon abhängt, welches Vertrauen die Bürgerinnen und Bürger der Stärke und Stabilität der demokratischen Ordnung entgegenbringen. Diese beiden Komponente, Stärke und Stabilität, gründen im Wesentlichen auf der politischen Handlungsfähigkeit eines demokratischen Systems, dessen Erfolg natürlicherweise am Gebrauch seiner Gestaltungskraft gemessen wird. Haben die Menschen den Eindruck, dass diese Gestaltungskraft gelähmt ist und sich deshalb nichts „bewegt“, was bei einem Mehrheitswahlrecht unwahrscheinlich ist, schwindet mittelfristig folgerichtig das Vertrauen in das gesamte System – die Demokratie selbst sieht sich dann in Frage gestellt. Auf Grundlage dieser Erkenntnis hat bereits der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset (1883-1955) erkannt: „Das Heil der Demokratie […] hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht.“ So ist es. Patrick Todt, 13a