Positionen Mehrheitswahlrecht – ein Irrweg Von Dr. Michael Efler, Berlin Aus guten Gründen gilt in Deutschland nicht das Mehrheitswahlrecht. Trotzdem wird es in politisch schwierigen Zeiten immer wieder gefordert. Dabei ist klar: Das Mehrheitswahlrecht würde der deut­ schen Demokratie schaden. Denn es sorgt dafür, dass große Parteien mehr und kleine Parteien we­ niger Sitze im Bundestag bekommen – und verzerrt damit den Wählerwillen. Nach einer Modellrech­ nung von Wahlrecht.de hätte die CDU/CSU sechs Mal eine verfassungsändernde Mehrheit bei Bun­ destagswahlen bekommen, obwohl sie teilweise nur 45 Prozent der Erststimmen erhielt. Im „Superwahljahr 2009“ können die Bürgerinnen und Bürger in vielen Wahlen ihre Vertreter in den Gemeinden, Landtagen und im Bundestag wählen. Vereinzelt kann man nun wieder die For­derungen nach der Einführung des Mehrheitswahlrechts in Deutschland vernehmen. Dass diese For­derungen nicht neu sind, wird schnell klar. Schon in der Gro­ ßen Koalition (1966–1969) wurde das Mehrheits­ wahlrecht von der CDU/CSU ge­fordert, um den Einfluss der FDP als „Zünglein an der Waage“ zu brechen. Dieser Versuch scheiter­te an der SPD, die den Avancen der FDP erlag und mit ihr koalierte. Erinnern wir uns an die hessische Landtagswahl 2008 und die darauf folgenden Schwierigkeiten der Politiker, eine stabile Regierungsmehrheit zu bilden. Damals wurde ebenfalls gefordert, das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das Erstarken der Linkspartei zur fünften parlamentarischen Kraft in Deutschland löste diese Debatte maßgeblich mit aus. Mit dem Aufgreifen dieser Forderung durch den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gelangte das Thema in die breite öffentliche Diskus­ sion. In der sich anbahnenden wirtschaftlichen und so­ zialen Krise sorgen sich die Befürworter des Mehr­ heitswahlrechts um die Handlungsfähigkeit der Regierungen. Die zunehmende „Zersplitterung“ im Fünfparteiensystem und der damit verbundene „Zwang zur Koalition“ seien die Probleme, die mit dem Mehrheitswahlrecht am besten gelöst werden könnten. Weiter wird argumentiert, dass in einem ausdifferenzierten Fünf-Parteien-System klare und notwen­dige Richtungsentscheidungen nicht mehr möglich sind. Neben der Sinnhaftigkeit eines sol­ chen „Durchregierens“ sei ebenfalls dahingestellt, ob ein Mehrheitswahlrecht wirklich einen solchen Ef­fekt hätte oder ob es nicht ganz andere Bestand­ teile unseres politischen Systems sind (z.B. der Fö­deralismus), die das Treffen solcher Richtungs­ entscheidungen verhindern. Die Gründe, warum Mehr Demokratie ein Mehrheitswahlrecht ablehnt, 30 ergeben sich aber vor allem aus den konkreten Aus­ wirkungen auf unsere Demokratie. Ein Mehrheits­ wahlrecht führt zu einer gravierenden Verzerrung der tatsächlichen Wahlergebnisse und damit der gesellschaftlichen Kräfte­verhältnisse. Es würde de facto zu einem Zwei-Parteien-System führen; Grü­ ne, Linke und FDP würden nahezu vollständig von der politischen Bildfläche verschwinden. Neue po­ litische Parteien hätten von vornherein keine Chan­ ce. Die sich seit Jahren ausdifferenzierende Partei­ envielfalt in Deutschland wäre in Gefahr. In einem Zwei-Parteien-System würde der immer heteroge­ nere Wählerwille nicht mehr in den Parlamenten ab­ gebildet. So wird nicht der „Politikverdros­senheit“ entgegen gewirkt. Sie wird sogar noch gefördert. In vielen Fällen würde bei einem Mehrheitswahlrecht eine Partei, die nur eine Minderheit der Wählerstim­ men bekommen hat, eine Mehrheit der Mandate er­ langen. Ist es wirklich die Angst vor der „Unregierbarkeit“, die die Verfechter des Mehrheitswahlrechts an­ treibt? Drückt sich in ihrem Wunsch nicht vielleicht vielmehr der Unwillen gegenüber mühsamen politi­ schen Kompromissen aus? Oder geht es im Grunde eher um die Sicherung des machtpolitischen Einflus­ ses und die Ausschaltung politischer Konkurrenten? Mehr Demokratie wird sich jedenfalls Be­strebungen zur Einführung des Mehrheitswahlrechts energisch entgegenstellen. Auf der Mitgliederversammlung im Oktober 2008 wurde folgerichtig ein einstimmi­ ger Beschluss gegen die Einführung des Mehrheits­ wahlrechts – egal in welcher Form – gefasst. Dr. Michael Efler, Volkswirt und Sozialökonom, ist Mitglied des Bundesvorstandes und des Landesvorstandes Berlin/ Brandenburg von Mehr Demokratie. Stark vereinfacht bedeutet das Mehrheitswahl­ recht, dass nur der Abgeordnete, der entweder die ab­solute oder die relative Mehrheit der ab­ gegeben Wählerstimmen in dem Wahlkreis er­ hält, in das Parlament einzieht. Alle anderen Stimmen, die auf unterlegene Kandidaten ent­ fallen, werden bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt und spiegeln sich nicht in der Zu­ sammensetzung des Parlamentes wieder. Beim relativen Mehrheitswahlrecht genügt eine re­ lative Mehrheit der abgegebenen Stimmen, um den Wahlkreis zu gewinnen. Im Gegensatz dazu kommt es beim absoluten Mehrheitswahlrecht, wenn kein Kandidat mehr als die Hälfte der Stim­ men erhält, zu einer Stichwahl. Zeitschrift für Direkte Demokratie ● Nr.82 ● 2/09