912 © 2008 Schattauer GmbH Die Behandlung der Anorexia nervosa M. R. Pawelzik, D. Pawelzik, D. Lange EOS-Klinik für Psychotherapie, Münster (Direktor: Dr. M. R. Pawelzik) Schlüsselwörter Anorexia nervosa, Diagnostik, Psychotherapie, Pharmakotherapie, Ernährungsrehabilitation, „social brain“-Hypothese, „Refeeding Syndrom“ Zertifizierte Fortbildung für Ärzte aller Fachrichtungen Zusammenfassung Die Nervenheilkunde bietet Ihnen interdisziplinäre Fortbildung aus Neurologie und Psychiatrie. Regelmäßig erscheinen CMEBeiträge, zu denen jeweils 10 Multiple-ChoiceFragen gestellt und ausschließlich online unter cme.schattauer.de beantwortet werden können. Die Fortbildungstexte werden von erfahrenen Autoren verfasst und decken das gesamte Spektrum klinisch relevanter Fragestellungen ab. Alle CME-Artikel der Nervenheilkunde werden durch die Bayerische Landesärztekammer autorisiert und sind damit auch für andere Ärztekammern anerkennungsfähig. Die Zeitschrift ist offiziell zur Vergabe von Fortbildungspunkten im Rahmen der Fortbildungszertifikate berechtigt. Als Abonnent dieser Zeitschrift ist für Sie die Teilnahme an der CME-Fortbildung kostenlos. Nichtabonnenten benötigen für die Teilnahme CME-Credits. Weitere Informationen erhalten Sie unter cme.schattauer.de U Die Ich-Syntonizität des Zustands verhindert die Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlung. Nervenheilkunde 10/2008 Die Anorexia nervosa („Magersucht“) ist eine relativ seltene, jedoch durch hohe Komorbidität und Letalität sowie eine Tendenz zur Chronifizierung belastete psychische Störung. Ihre Behandlung sollte möglichst früh und konsequent erfolgen. Sie gestaltet sich aufgrund des weitgehend ich-syntonen Charakters der Störung typischerweise schwierig und wechselhaft, was hohe Anforderungen an die Moral und Kompetenz der Behandler stellt. Wesentlich für den Behandlungserfolg sind eine vollständige Ernährungsrehabilitation sowie eine langfristig angelegte, entwicklungsfördernde Psychotherapie. Begleitend sind oft Pharmakotherapie bzw. komplementäre Behandlungsangebote, wie etwa betreute Wohngruppen, erforderlich. Auch wenn die Evidenzbasierung des probaten therapeutischen Vorgehens bis heute als schwach angesehen werden muss, haben sich die wesentlichen therapeutischen Regeln und Maßnahmen in der Praxis bewährt. D Keywords Anorexia nervosa, diagnostic, psychotherapy, pharmacotherapy, rehabilitation of alimentation, social brain hypothesis, refeeding syndrome Summary Anorexia nervosa is a rare psychological disease, but it shows a high co-morbidity, lethality and tends to a chronicity. The treatment should start early and should be consequent. Treatment can be difficult, because of the individual character of the disease and can be a challenge for the therapist. A complete rehabilitation of alimentation and a long-term psychotherapy are necessary for success. Addon, there should be pharmacotherapy and additional methods, like flat-sharing communities. Even though evidencebased therapy is not highly recommended, basic therapeutic rules and measures are proven. Treatment of anorexia nervosa Nervenheilkunde 2008; 27: 912–926 ie Anorexia nervosa (AN) ist eine schwerwiegende, nicht selten tödlich verlaufende psychische Störung, deren oft langwierige und schwierige Behandlung eine große Herausforderung darstellen kann. Dieser CME-Artikel wird nach einer kurzen Beschreibung des Störungsbildes ausführlich auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer evidenzbasierten nervenärztlichen Behandlung eingehen. blem zu sehen. Im Gegenteil: Sie halten sich trotz offenkundigem Untergewicht für „zu dick“ und offenbaren so eine erhebliche Körperschemastörung. U Die Ich-Syntonizität des Zustands verhindert die Inanspruchnahme einer medizinischen Behandlung. Erst der Druck des sozialen Umfelds bzw. zunehmende Beschwerden veranlassen die Betroffenen, um Behandlung nachzusuchen. Was ist Magersucht? Diagnostische Kriterien Eine ausgeprägte Magersucht ist nicht zu übersehen. Es handelt sich typischerweise um ein Syndrom willkürlich eingeschränkter Nahrungsaufnahme, die zu erheblichem Untergewicht führen kann. Die Betroffenen sind mit den Themen „Körpergewicht“, „Figur“, „Nahrung“, „Kalorien“ präokkupiert, ohne in ihrem Ernährungszustand ein Pro- Laut ICD-10 ist die Anorexia nervosa durch folgende Merkmale definiert (49): ● Untergewicht (BMI < 17,5) ● Übermäßige Beschäftigung mit Gewicht, Figur, Körperschemastörung sowie Angst, zu dick zu sein ● Gewichtsverlust wird selbst herbeigeführt Eingegangen am: 9. April 2008; angenommen am: 5. Mai 2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 913 Die Behandlung der Anorexia nervosa ● Hormonelle Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (Amenorrhoe) Zwei Subtypen werden unterschieden: ● Restriktiver Typus: strenge Diät ohne Essanfälle ● Bulimischer Typus: Essanfälle und/ oder kompensatorische Verhaltensweisen (Sport, Erbrechen, Laxantienabusus, Diuretika-missbrauch) Diese offizielle operationale Definition ist in dreierlei Hinsicht kommentierungsbedürftig: Sie unterschlägt, dass die anorektische Symptomatik die Existenz der Betroffenen „positiv“ bestimmt. Die Patientinnen sind nicht nur von ihrem Ansinnen, möglichst dünn zu sein, überzeugt und unternehmen alles, um dies zu erreichen; die Anorexie erscheint ihnen darüber hinaus als wesentliches, die Lösung aller Probleme versprechendes Lebensideal, das sie deshalb hartnäckig zu verteidigen bereit sind. U U Die Anorexie, so könnte man sagen, hat für viele Betroffene geradezu identitätsstiftenden Charakter. DieAbgrenzung von den übrigen Essstörungen – Bulimia nervosa und nicht näher bezeichnete Essstörung – ist unscharf. Die definierenden Symptomcluster können zeitlich überlappen bzw. einander abwechseln. Das hat zur Folge, dass dieselbe Patientin über die Jahre mal als „anorektisch“, dann wieder als „bulimisch“ oder „nicht näher bezeichnet essgestört“ und schließlich wieder als „anorektisch“ diagnostiziert werden muss, was dem Wesen der Störung offenkundig nicht gerecht wird. Fairburn und seine Kollegen nehmen diesen sowie weitere Befunde zum Anlass, einen trans-diagnostischen, eine einheitliche Kernproblematik aller genannten Essstörungen annehmenden Ansatz zu fordern (8). Die Evidenz, die zu diesem Schritt zwingen könnte, ist bis dato allerdings nicht als ausreichend anzusehen (52). Das BMI-Kriterium < 17,5 wird sehr jungen, minderjährigen Patientinnen nicht gerecht, weil für diese andere BMI-Normen gelten. Die Deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrische Fachgesellschaft schlägt die 10. BMI-Altersperzentile als Alternative vor (14). Epidemiologie Bei den Essstörungen einschließlich der AN dürfte es sich um kulturgebundene psychische Störungen handeln, insofern sie überwiegend in den reichen westlichen Industrieländern festzustellen sind. Im Spannungsfeld zwischen Nahrungsüberfluss und Schlankheitsideal ist ein zunehmender Teil der Bevölkerung der wohlhabenden Industrieländer mit dem eigenen Körpergewicht, der Figur, Diäten und gewichtsreduzierenden Fitnessbemühungen präokkupiert. Dies scheint dafür verantwortlich zu sein, dass die Inzidenz der Essstörungen zwischen 1950 und 1980 erheblich zugenommen hat. Für den Zusammenhang von Schlankheitsideal und Essstörungen spricht zudem der Umstand, dass Gruppen, die einem erhöhten „Schlankheitsdruck“ ausgesetzt sind, Balletttänzer, Models, Athleten oder Flugbegleiter etwa, eine erhöhte Inzidenz aufweisen (16). Die häufig zu hörende Meinung, dass die Inzidenz der AN in den letzten beiden Dekaden zugenommen habe, ließ sich nicht bestätigen (6). Allerdings fanden sich Hinweise dafür, dass die AN bei Kindern und Jugendlichen zunimmt (5, 27). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung handelt es sich bei der AN um eine eher seltene, weit überwiegend Mädchen und Frauen (> 90%) betreffende Störung. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 14. und dem 18. Lebensjahr; Ersterkrankungen vor dem 10. und nach dem 25. Lebensjahr sind selten. Die Lebenszeitprävalenz bei Frauen liegt zwischen 0,3 und 3,7% je nach enger oder weiter Definition der Störung. Höhere soziale Schichten sind stärker betroffen. Stadt-Land-Unterschiede wurden nicht gefunden. Die Inzidenz von Neuerkrankungen pro Jahr liegt bei 19 von 100 000 Frauen (1). U Die AN gilt als die tödlichste psychische Störung. An AN zu erkranken geht mit einem gegenüber gleichaltrigen Kontrollen um das fast zwölffach erhöhte Risiko, vorzeitig zu versterben, einher. Bezogen auf das Risiko, durch Suizid zu versterben, ist das Risiko gegenüber Kontrollen um das U U Die Anorexie hat für viele Betroffene geradezu identitätsstiftenden Charakter. Die AN gilt als die tödlichste psychische Störung. U Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 914 Pawelzik et al. 57-fache erhöht (22). Die Gesamtletalität wird auf 5% pro Dekade geschätzt (3). Die Belastung der Familien durch einen an AN leidenden Angehörigen ist erheblich. Sie kann, laut einer Untersuchung, die Belastung durch schwere psychische Störungen wie Schizophrenie übersteigen (43). Komorbidität Die Komorbidität bei AN ist hoch. Patientinnen mit AN sind oft schon im ersten Kontakt deutlich psychopathologisch auffällig. Es verwundert somit nicht, dass systematische Erhebungen im Durchschnitt 2,3 weitere psychische Störungen neben der AN feststellen; im Falle des bulimischen Subtypus sind es sogar 3,8.Am häufigsten sind affektive Störungen, insbesondere Depressionen, Angststörungen, wie z. B. soziale Phobie und Zwangsstörung, Persönlichkeitsstörungen und Substanzmissbrauch. Beim bulimischen Subtyp ist die Achse-II-Komorbidität ausgeprägter als beim restriktiven (55). Handelt es sich um eine Störung des „sozialen Gehirns“? U Für Störungen des „sozialen Gehirns“ sprechen die prämorbid zu findenden Einschränkungen der interpersonellen Funktionsfähigkeit, der Einfluss auf das Behandlungsergebnis (12) und der negative Einfluss nachhaltig defizitärer, sich nicht angemessen entwickelnder interpersoneller Fertigkeiten auf die Gesamtprognose (23). Angesichts der hohen Komorbidität stellt sich die Frage, inwieweit nicht ein kausaler Zusammenhang (im Sinne eines gemeinsamen Endophänotyps) zwischen den phänomenologisch differenzierten einzelnen psychischen Störungen besteht. Als ein möglicher, aus klinischer Sicht höchst plausibler Kandidat wären Defizite im Bereich der sozialen kognitiven Fähigkeiten anzusehen (54). U Für Störungen des „sozialen Gehirns“ sprechen die regelhaft bereits prämorbid zu findenden Einschränkungen der interpersonellen Funktionsfähigkeit, der Einfluss derselben auf das Behandlungsergebnis (12) und der negative Einfluss nachhaltig defizitärer, sich nicht angemessen entwickelnder interpersoneller Fertigkeiten auf die Gesamtprognose (23). In detaillierten Anamnesen finden sich häufig frühe Trennungsängste, durchgängig nachweisbare soziale Unsicherheiten sowie das generelle Gefühl, nicht zu genügen, das die große Pionierin der Anorexieforschung, Hilde Bruch, bereits in den 1950er-Jahren als Wesenszug der AN herausgestellt hat (4). Im Zuge derAdoleszenz nehmenAngststörungen, insbesondere soziale Phobien, weniger häufig Zwangsstörungen bzw. zwanghafte Persönlichkeiten, und schließlich depressive Syndrome zu. Fokussiert man auf die damit einhergehenden interpersonellen Prozesse, so finden sich nahezu ubiquitär unsichere Bindungsstile (48) und Mentalisierungsdefizite (36). Es fällt den Betroffenen schwer, sich auf Beziehungen einzulassen bzw. sich von den Eltern zu lösen. Ihre Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu erkennen und zu nutzen, ist erheblich eingeschränkt. Da dies auch für das Erkennen („mentalisieren“) der Gedanken und Gefühle des Gegenübers gilt, wirken die Betroffenen im interpersonellen Kontakt unnahbar, künstlich und puppenhaft. Die bislang geringe Forschung der „Theory of mind“-Kapazitäten der AN-Patientinnen belegt Ähnlichkeiten mit dem Spektrum des hochfunktionalen Autismus (54). Insbesondere der restriktive Subtyp der AN mit seinen ausweichenden, konformistischen, zwanghaften, rigiden und perfektionistischen Verhaltenstendenzen hat offensichtliche Schwierigkeiten, soziale Situationen erfolgreich zu gestalten, weil er die eigenen wie die fremden affektiven Dispositionen nicht erkennen kann bzw. nicht versteht. Die Betroffenen können sich nicht auf interpersonelle Situationen „einfühlend“ einstellen, sondern greifen zu „systematischen“, auf Regeln und Modelle zurückgreifende Ersatzstrategien, was dazu führt, dass sie interpersonell steif, schematisch und unsicher imponieren. Diese Deutung wird durch verschiedene aktuelle Befunde bestätigt, die belegen, dass selbst remittierte Anorexiepatientinnen Schwierigkeiten haben, anhand der Konsequenzen ihres Verhaltens zu lernen (37) bzw. sich auf die „hedone Bewertung“ ihres Belohnungssystems zu verlassen (46). Sie verhalten sich stattdessen durchgängig „strategisch“ und entsprechen darin dem (in Baron-Cohens Modell (24) des „sozialen Gehirns“ definierten) Typus des „Systematizers“, der sich nicht wie der „Emphatizer“ dank seiner Fähigkeit zu Einfühlung mit sich selbst und Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 915 Die Behandlung der Anorexia nervosa anderen zurecht findet, sondern zu starren Regeln und Modellen greift, um sich zu orientieren (54). Problem dieses Interpretationsansatzes ist es bislang, die Kernsymptomatik der AN nicht erklären zu können. Warum richtet sich die Ängstlichkeit der Patientinnen wesentlich auf die Stimuli „Nahrungsaufnahme“ und „Figur“? Warum kommt der sich mit den Jahren zunehmend herausbildenden „anorektischen Identität“ eine alle Probleme (scheinbar) lösende Funktion zu? Modelle, die von einem überaktiven Angstnetzwerk ausgehen, das zu extremen, den Stimulus „Dicksein“ maximal fliehenden Vermeidungsverhalten zwingt (39), sind plausibel, entbehren bislang aber einer hinreichenden empirischen Bestätigung. Aus klinischer Sicht bleibt festzuhalten, dass die AN offensichtlich mit einer sehr starken innerpsychischen Funktionalität einhergeht. Sie schafft „Struktur“ und „Identität“, wo sonst keine ist (17). Somatische Diagnostik und organische Komplikationen Die AN ist auch in somatischer Hinsicht eine ernste, ja lebensbedrohliche Erkrankung. Aus diesem Grund ist eine sorgfältige Eingangs- bzw.Ausschlussdiagnostik sowie ein kontinuierliches Monitoring der körperlichen Situation zur Vermeidung von Komplikationen und zur Überwachung des Therapiefortschritts zu fordern. Typische Befunde Anamnese und körperliche Untersuchung ergeben ein typisches Bild: Die Patientinnen beklagen (trotz meist stark reduziertem Ernährungszustand) auffällig wenig subjektive Beschwerden. Zu diesen zählen am ehesten Müdigkeit, Kälteintoleranz, Schwindel, Synkopen, Blähungen, Obstipation, Amenorrhoe sowie psychische Beeinträchtigungen (Irritierbarkeit, Ängstlichkeit, Depressivität, kognitive Einschränkungen). Bei der körperlichen Untersuchung findet sich ein reduzierter Ernährungszustand, trockene, gelbliche Haut, Haarausfall, La- nugobehaarung, Bradykardie, orthostatische Hypotension, Hypothermie, Akrozyanose, Zeichen der Dehydration, gespanntes, eventuell geblähtes Abdomen, anomale Darmgeräusche, gegebenenfalls Diarrhoe (Laxantienabusus!), Muskelschwäche, eventuell Minderwuchs und Knochenschmerzen bei Belastung. Bei regelmäßigem Erbrechen sind Auffälligkeiten der Mundhöhle sowie eine begleitende beidseitige Parotisschwellung typisch. Die routinemäßigen Laboruntersuchungen weisen selten anomale Befunde auf. Typisch sind leichtere Anämien, geringgradige Leukopenie bei relativer Lymphozytose, Thrombozytopenie oder Thrombozytämie, geringe Elektrolytverschiebungen, Hypercholesterinämie und erniedrigte Schilddrüsenwerte bei normalem TSH („low T3 syndrome“); regelmäßiges Erbrechen geht mit einer erhöhten Speichelamylase einher. Spezielle Laboruntersuchungen können Hypomagnäsiämie, Hypophosphatämie, Hypercortisolismus, Vitaminmangelzustände, Gonadotropin- und Östrogenmangel ergeben. Im EKG finden sich häufiger Bradykardie, QT-Verlängerungen und Bradyarrhythmien. Weitere apparative Untersuchungen sind nur bei Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente indiziert (1) (Tab. 1). Ausschlussdiagnostik: Sekundäre Anorexieformen In seltenen Fällen können anorektische Syndrome Folge eines meist hypothalamischen Tumors sein. Sollte das anorektische Syndrom einer Patientin von Verdachtssymptomen einer zerebralen Raumforderung begleitet sein, ist deshalb dringend eine kernspintomografische Untersuchung angezeigt. Weitere, selten zu erwartende Ausschlussdiagnosen sind: extrazerebrale maligne Tumore, gastrointestinale Erkrankungen, insbesondere Malabsorptionssyndrome, chronische Infektionen und endokrine Erkrankungen (Diabetes mellitus, Hyperthyreose). Atypische schwere psychische Störungen, die selten für einen willentlichen Gewichtsverlust verantwortlich sein können, wie etwa Schizophrenie oder Depression, sollten für den Nervenarzt bei eingehender Untersuchung erkennbar sein (56). Tab. 1 Routinediagnostik bei AN (1, 30, 56) Körperliche Untersuchung Größe, Gewicht, Puls, Blutdruck, Palpation des Abdomens, neurologischer Status, Prüfung von Dehydrierungszeichen, eventuell gynäkologische Untersuchung Labor BSG, kleines und großes Blutbild, Elektrolyte, Serumphosphat, Leberenzyme, Amylase, Harnstoff, Kreatinin, Glukose, T3, T4, TSH, Urinstatus EKG Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 916 Pawelzik et al. Medizinische Komplikationen U Im Rahmen einer forcierten Ernährungsrehabilitation kann es in den ersten Tagen zu einem gefährlichen „Refeeding Syndrom“ mit Herzinsuffizienz, Herzversagen, Arrhythmie, respiratorischen Problemen, Rhabdomyolyse, Anfällen, Deliranz, Koma und plötzlichem Tod kommen. Die wichtigste, unmittelbar lebensgefährliche Komplikation besteht in hypokaliämiebedingten Herzrhythmusstörungen. Diese sind am ehesten bei stark untergewichtigen Patientinnen vom bulimischen Subtyp infolge reduzierter Flüssigkeitsaufnahme bei gleichzeitigem Erbrechen bzw. einem Laxantien- und /oder Diuretikaabusus zu erwarten. Hypokaliämisch bedingte Nephro- und Myopathien sind bei AN beschrieben, treten jedoch höchst selten auf. Bei kritischen Patientinnen kommt der kontinuierlichen Elektrolytüberwachung deshalb eine besondere Bedeutung zu. U Im Rahmen einer forcierten Ernährungsrehabilitation kann es in den ersten Tagen zu einem gefährlichen „Refeeding Syndrom“ mit Herzinsuffizienz, Herzversagen, Arrhythmie, respiratorischen Problemen, Rhabdomyolyse, Anfällen, Deliranz, Koma und plötzlichem Tod kommen. Als Ursache für das „Refeeding Syndrom“ wird eine Hypophosphatämie angenommen. Auf der Grundlage eines ernährungsbedingten intrazellulären Phosphatmangels – der mit normalen Serumphosphatspiegeln einhergehen kann – führt die realimentierungsbedingt gesteigerte Insulinsekretion zu einer verstärkten zellulären Phosphataufnahme bzw. erhöhtem Phosphatverbrauch im Rahmen der Glykolyse. Dies hat einen Adenosintriphosphatmangel zur Folge, der zur Hypoxie relevanter Gewebe führen kann (13). Daneben kann es im Rahmen einer zu schnellen Realimentierung zu einer kardialen Überlastung in der Form einer Herzinsuffizienz, zu einer insulin-induzierten Hypokaliämie und Hypomagnesiämie sowie zu einer Thiaminmangel-bedingten Wernicke-Enzephalopathie kommen. Entscheidende Folgerung aus der RefeedingProblematik ist die Forderung, bei extrem untergewichtigen bzw. in letzter Zeit extrem hungernden Patientinnen mit einer vorsichtigen Ernährungsrehabilitation zu beginnen, die anfänglich bei etwa 20 kcal/kg Körpergewicht liegen sollte. Daneben ist eine Multivitaminsubstitution während der Ernährungsrehabilitation angezeigt (11). Endokrine Anomalien im Rahmen der AN sind ubiquitär. Es kommt mangelernährungsbedingt zur Hypoaktivität der Hypo- thalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse mit Amenorrhoe (auch verzögerter Pubertät), zu einer Hyperaktivität der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinde-Achse mit Hypercortisolismus und reduzierter Schilddrüsenaktivität („low T3 syndrome“). Die seit einigen Jahren bekannte, regelmäßig nachweisbare Hypoleptinämie steht vermutlich in engem Zusammenhang mit dem Pathomechanismus der anorektischen Kernsymptomatik. Sie ist mit der Neigung zu körperlicher Hyperaktivität („Bewegungszwänge“) und einem Teil der Psychopathologie assoziiert (18, 19). Alle genannten endokrinen Anomalien sind meist unproblematisch und verschwinden im Rahmen der Gewichtsnormalisierung. Gleiches gilt für hämatologische Anomalien. Allein eine eisenmangelbedingte Anämie muss gelegentlich substituiert werden (34). Häufiger treten im Rahmen der Ernährungsrehabilitation periphere, von den Patientinnen oft stark beklagte Ödeme auf. Diese bei Ernährungsaufnahme nach längerem Fasten typischen Realimentierungs-Ödeme („refeeding edema“) sind auf die verstärkte insulinabhängige intrazelluläre Natriumaufnahme bzw. die konsekutiv verstärkte renale Natriumretention zurückzuführen, die über eine Veränderung der kapillären Hämodynamik zu einer Vermehrung der interstitiellen Flüssigkeitsmenge führt. Diese Ödeme sind harmlos und verschwinden früher oder später im Zuge der Konsolidierung der physiologischen Gesamtsituation. Wichtig ist, dass der Versuch mancher Patientinnen, die Ödeme mit Diuretika zu bekämpfen, einen schädlichen Teufelskreis in Gang setzt (34). Zu den häufigeren, harmlosen Komplikation während der Ernährungsrehabilitation gehören abdominelle Beschwerden und Obstipation. Diese sind auf eine oft lange bestehende Unterforderung des Verdauungssystems zurückzuführen und können durch Laxantienabusus verstärkt worden sein. Zur Förderung der Darmmotilität haben sich Magnesium sowie eine Steigerung der Trinkmenge bewährt; Magenentleerungsstörungen und verlangsamte Darmpassage können gut mit Metoclopramid behandelt werden. In Fällen eines extremen Laxantienabusus muss in kleinen Schritten ausgeschlichen werden. Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 917 Die Behandlung der Anorexia nervosa Störungen des Knochenstoffwechsels können zu erheblichen Problemen führen. Zu diesen zählen insbesondere die Verzögerung des Knochenwachstums (Minderwuchs), eine Verringerung der Knochendichte (Osteoporose) sowie pathologische Frakturen. In schweren Fällen empfiehlt es sich, die Problematik durch Konsiliarärzte behandeln zu lassen. Psychologische Diagnostik und Fallkonzeption Angesichts der Chronizität und der Gefährlichkeit der AN sollten Diagnostik, Fallkonzeption und Beratung entschlossen betrieben werden. Dies gilt bereits für das Erstgespräch, das gleichermaßen eine Einschätzung der Essstörung, der Komorbidität und der somatischen Risiken wie eine entsprechende Therapieempfehlung und Beratung leisten sollte. Die weiteren therapeutischen Kontakte werden durch Anamnese, Motivationsabklärung bzw. -förderung bestimmt. Ihr Ziel ist es, einen Behandlungsauftrag zu erhalten. UU Die individuelle Fallkonzeption So uniform das Störungsbild derAN auf den ersten Blick erschienen mag, so heterogen können sich dessen Bedingungen im Einzelfall erweisen. Welche Besonderheiten sind im vorliegenden Fall zu beachten? Welche Schwierigkeiten dürften sich im Laufe der Behandlung ergeben? Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, nach der Diagnose eine individuelle Fallkonzeption zu erarbeiten, auf deren Grundlage eine „maßgeschneiderte“ Therapie erfolgen kann. Einige einschlägige diagnostische Instrumente (Strukturiertes Inventar für Anorexia und Bulimia nervosa, SIAB, Deutsche Version des „Eating Disorder Inventory“, EDI, „Fragebogen zum Essverhalten“, FEV) sowie möglichst große klinische Erfahrung erlauben es, die relevanten Parameter in kurzer Zeit zu erheben (10, 33, 42). Aus Platzgründen können nur die wichtigsten bio-psycho-sozialen Parameter der Fallkonzeption berücksichtigt werden. Die Erhebung der Eigenanamnese bzw. die psychopathologische Untersuchung liefern die für die Gesamteinschätzung wichtigsten Daten: Wann begann, wie lange besteht das Störungsbild? Wie verlief die anamnestische Gewichtskurve über die Jahre? Ein früher prä-pubertärer Krankheitsbeginn ebenso wie ein chronischer, therapierefraktärer Verlauf belegen stärker als alles andere eine ungünstige Prognose. Krankheitsbedingter Minderwuchs, auffällige prodromale Psychopathologien, eine erhebliche psycho-soziale Entwicklungsretardierung und extrem rigides Krankheitsverhalten vervollständigen typischerweise diesen Eindruck. Wie viele und welche Behandlungsversuche sind bislang erfolgt? Wie war es um deren Erfolg bestellt? Wichtig sind Compliance, Therapieabbrüche, deren Gründe, BMI zum Entlassungszeitpunkt, Dauer der Rezidivfreiheit, zwischenzeitlich erreichtes Funktionsniveau, Gründe für Rückfälle in die Krankheit, Problembewusstsein der Zusammenhänge zwischen aversiven Erfahrungen und Rezidiven, Mentalisierungsfähigkeit und -bereitschaft, Beziehungen zu signifikanten anderen, Inangriffnahme der Entwicklungsaufgaben, Entwicklung der Situation in der Familie bzw. Partnerschaft, auffällige Persönlichkeitsdispositionen, Emotionsregulationsstil, vorhandenes soziales Netzwerk. Spätestens nach Klärung dieser Fragen dürfte auch der Subtyp der Erkrankung eindeutig feststehen. Bietet sich das Bild des typischen restriktiven Typus mit sozialer Zurückhaltung, Schüchternheit, sozialer Ängstlichkeit sowie Unsicherheit und zwanghaften, rigiden und stereotypen Verhaltensmustern? Oder handelt es sich um den bulimischen Typus mit Impulsivität, emotionaler Labilität und Phasen normalen Körpergewichts mit bulimischem Verhalten? Welchen Stellenwert haben weitere Achse-I- bzw. Achse-II-Diagnosen? Ist es im Verlauf der Erkrankung zu somatischen oder psychischen Komplikationen gekommen? Wurden, werden diese behandelt? Erfolgten psychopharmakologische Behandlungen? Wurden diese als hilfreich oder als belastend erlebt? Aus der Zusammenschau dieser Parameter ergibt sich auf dem Hintergrund klinischer Erfahrung eineVorstellung von den zu erwartenden Schwierigkeiten, U U Angesichts der Chronizität und der Gefährlichkeit der AN sollten Diagnostik, Fallkonzeption und Beratung entschlossen betrieben werden. Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 918 Pawelzik et al. Auseinandersetzungen und Risiken in den ersten Wochen der Behandlung. Problemanalyse Auf dem Hintergrund der Matrix psychiatrisch relevanter Parameter wird vor der eigentlichen psychotherapeutischen Behandlung eine biografisch, im Erleben und Verstehen der Betroffenen verankerte Problemanalyse erarbeitet. Diese umfasst aus verhaltenstherapeutischer Sicht insbesondere die auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen, die für das Problemverhalten verantwortlich sind. Aus tiefenpsychologischer Sicht geht es stärker um aktuelle Konflikte im sozialen Umfeld, insbesondere die konfliktäre Individuation der Betroffenen in verstrickten familiären Beziehungen (15). Den psychotherapeutischen Ansätzen gemeinsam ist dieVorstellung, dass die Kenntnis und Kontrolle dieser Bedingungen entscheidend für die Aufgabe des Problemverhaltens ist. Dabei wird nahezu regelhaft unterschätzt, dass die Entwicklungsdefizite der Betroffenen oft weit schwerer wiegen als ihre „neurotischen Dispositionen“. Behandlungsindikation und Therapiesetting Die beiden wichtigsten Fragen, die im Zuge der diagnostischen Einschätzung beantwortet werden müssen, betreffen die Dringlichkeit der Behandlungsindikation und die Wahl des Behandlungssettings: Liegt eine absolute, keinerlei Aufschub duldende Behandlungsindikation vor? Oder ist vorläufig eine relative, Verhandlungsspielräume beinhaltende Behandlungsindikation gegeben? Im erstgenannten Fall können extrem niedriger BMI, massives Purging, schwerwiegende somatische Komplikationen oder erhebliche psychische Beeinträchtigungen Anlass für eine sofortige Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung sein. Im letztgenannten Fall einer relativen Behandlungsindikation ist es wichtig, den Kontakt zur Patientin bzw. ihren Angehörigen aufrecht zu erhalten, um diesen zu einer motivationsfördernden Beratung zu nutzen. Ist im vorliegenden Fall einer relativen Behandlungsindikation ein ambulanter Behandlungsversuch gerechtfertigt? Oder erscheint eine stationäre Behandlung in einer geeigneten Klinik empfehlenswert? Die einschlägigen Richtlinien (1, 30) empfehlen dringend eine stationäre Behandlung, wenn folgende Bedingungen gegeben sind: ● dramatische Gewichtsabnahme in letzter Zeit, z. B. 30% des Ausgangsgewichts in drei Monaten ● unzureichende Besserung unter ambulanten Behandlungsbedingungen ● BMI < 15 ● ausgeprägte somatische Folgeprobleme, drohende Komplikationen und Risiken ● schwerwiegende, therapierefraktäre Psychopathologie Nach unseren Erfahrungen sind diese Bedingungen zu restriktiv. In vielen beobachteten Fällen gelingt die ambulante Ernährungsrehabilitation bereits bei einem BMI von ca. 16 nicht mehr. Wie lassen sich Patientinnen zur Behandlung motivieren? Wesentlich für das Gelingen der Behandlung sei die Etablierung einer vertrauensvollen therapeutischen Allianz, die durch empathische Unterstützung, Wertschätzung und Verständnis zu fördern sei, so heißt es unisono in den einschlägigen Richtlinien (1). Dies zu erreichen ist jedoch leichter gesagt als getan. Die therapeutische Zusammenarbeit kann sich derart schwierig bzw. unergiebig gestalten, dass selbst erfahrene Anorexiebehandler an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kommen. Ursächlich für diese Kooperationsprobleme sind die bereits beschriebenen interpersonellen bzw. emotionalen Schwierigkeiten der Patientinnen (44). Sie sind es auch, die für das deutlich erhöhte „Burnout“-Risiko der ANBehandler verantwortlich zu machen sind (29). Die Behandlung einer (weitgehend) ichsyntonen psychischen Störung führt (nahezu) zwangsläufig zum Konflikt: Die Anorexiepatientin soll essen und zunehmen; sie will dies aber nicht. Kelly Vitousek (45) un- Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 919 Die Behandlung der Anorexia nervosa terscheidet drei Strategien, um mit dieser Situation therapeutisch umzugehen: ● Man setzt sich über die Wünsche der Patientin hinweg, indem man es ihr unmöglich macht, das Symptomverhalten fortzusetzen. Zu diesen „überwältigenden“ Maßnahmen zählen operante Ernährungsrehabilitationsprogramme, paternale Kontrollansätze wie der „Maudsley Family Approach“ und die Pharmakotherapie. ● Man kann versuchen, die Abhängigkeit des Störungsverhaltens vom Störungsmechanismus abzuschwächen. Hierzu zählen problem- bzw. konfliktbearbeitende sowie Defizite im Bereich der Mentalisierungs-, Interaktions- und Selbstbestimmungsfähigkeit kompensierende Ansätze. ● Man kann die Überzeugungen, Vorstellungen und Wertorientierungen der Patientin systemimmanent in Richtung auf eine gedeihlichere Motivation zu ändern versuchen. Dies geschieht typischerweise mit den Methoden der kognitiven Therapie und des „Motivational Interviewing“ (28). Nach unserer Einschätzung versuchen die stationären Programme spezialisierter Kliniken alle drei Strategien zu verfolgen. Werfen wir einen kurzen Blick auf die letztgenannte Strategie der systemimmanenten Motivationsförderung: U U Selbst schwerkranke Patientinnen sind nicht ohne eigene, über die Anorexie hinausgehende Bedürfnisse, Ziele und Vorstellungen, an die sich im Dienste der Motivationsklärung bzw. -förderung anknüpfen lässt: Leiden an krankheitsbedingten Beeinträchtigungen und vertanen Lebenschancen, unbefriedigte Wünsche nach Anerkennung, sozialem Austausch und Partnerschaft sowie die eingeschränkte Perspektive fortgesetzten Krankseins. Dem entgegen stehen Unsicherheiten, Entwicklungsrückstände und Ängste, die bislang mit Hilfe der AN bewältigt wurden. Anstatt die Ambivalenz der Patientin einseitig auflösen zu wollen, erarbeitet man mit dieser eine Gegenüberstellung der „Fürs“ und „Widers“ der bisherigen anorektischen Lebensweise, um dadurch eine eigenständige Veränderungsmotivation anzuregen (Tab. 2). Die Vergegenwärtigung der eigenen Widersprüche und deren wohl dosierte Diskussion liefert Ansatzpunkte, um bewährte therapeutische Interventionen zum Einsatz zu bringen: Respekt, Akzeptanz und Verständnis gegenüber dem Standpunkt der Patientin; Informationsvermittlung bezüglich Ernährung, Hunger und Sättigung, dem genetischen „Setpoint“ des Körpergewichts, den psychischen Folgen der Semi-Starvation, gesundheitliche Risiken und Folgeschäden der AN; Exploration der funktionellen Zusammenhänge zwischen Störungsverhalten undAngstminderung, Emotions- und Handlungsvermeidung, Selbstunsicherheit, Einfluss in der Familie; Erarbeitung einer Selbstverpflichtung auf die eigenen Werte und Perspektiven; Disputation und Überprüfung empirisch zweifelhafter Annahmen, Denkfehler und Idiosynkrasien. Die Gegenüberstellung der „Fürs“ und „Widers“ wird die grundlegende Ambivalenz der Patientin nicht nachhaltig auflösen, sie konstituiert jedoch einen wichtigen Fokus auf die Motivationslage, der die Patientin anregt, sich mit ihrer Gesamtsituation kritisch auseinanderzusetzen, und dem Therapeuten hilft, die motivationale Situation kontinuierlich zu beobachten. Ohne Ernährungsrehabilitation geht es nicht Auch wenn das Untergewicht der Anorexiepatientinnen ein Symptom dysfunktionaler Bewältigungsversuche sein mag: Der Weg Tab. 2 Vorteile und Nachteile von Lisas Magersucht Selbst schwerkranke Patientinnen sind nicht ohne eigene, über die Anorexie hinausgehende Bedürfnisse, Ziele und Vorstellungen, an die sich im Dienste der Motivationsklärung bzw. -förderung anknüpfen lässt. U U Vorteile Nachteile Es ist für mich wichtig, gesund zu essen. Ich lehne Überfluss und Verschwendung ab. Ich habe ein System für alles. Ich bin gerne diszipliniert. Ich möchte halt so leben. Ich sehe besser aus, wenn ich dünn bin. Ich fühle mich so einfach besser. So ist es besser als alle Alternativen. Ich fühle mich besser, wenn ich abnehme. Ich bin die ganze Zeit müde und erschöpft. Ich habe meine Moral verloren. Es macht keinen Spaß mehr. Es ist fürchterlich, sich über jede Kleinigkeit Gedanken machen zu müssen. Meine Familie macht sich schreckliche Sorgen. Die kleinsten Herausforderungen überfordern mich. Ich will so mit 40 nicht mehr leben. Ich fühle mich einsam. Keiner versteht mich. Ohne Anorexie wäre ich in Schule und Beruf weiter gekommen. Ich weiß, dass meine Knochen dünner werden, etc. Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 920 Pawelzik et al. einer erfolgreichen Behandlung verläuft über eine möglichst vollständige Ernährungsrehabilitation. Therapieansätze, die gezielte psychologische Veränderungsschritte vor der Ernährungsrehabilitation fordern („Erst den Konflikt bearbeiten, dann an Gewicht zunehmen“), haben sich nicht bewährt. Ein Gleiches gilt für die Einschränkung oder Beendigung der Ernährungsrehabilitation vor dem Erreichen des Zielgewichts von einem BMI von 20 bzw. einer altersgemäßen Entsprechung bei Minderjährigen (20, 51). Deshalb ist sowohl unter stationären als auch unter ambulanten Behandlungsbedingungen eine gewichtskontrollierte Ernährungsrehabilitation unverzichtbar. Vermutlich sind es zwei wesentliche Faktoren, die den Behandlungserfolg von einer hinreichenden Ernährungsrehabilitation abhängig machen: ● Je ausgeprägter das Starvationssyndrom ist, desto rigider sind die anorektischen Denk- und Verhaltensmuster und die neuro-kognitiven Funktionseinschränkungen. Mit der Gewichtszunahme bessert sich zum einen das ausgeprägte „hirnorganische Psychosyndrom“; zum anderen werden die anorexie-typischen Rigorismen schwächer. ● Auch wenn die Ätiologie derAN bis heute ungeklärt ist: Vom klinisch-deskriptiven Standpunkt ist nicht zu übersehen, dass es um schmerzliche, massiv abgewehrte Affekte geht, deren Auftreten durch das anorektische Verhalten verhindert wird. Um diese, durch soziale Situationen, Selbstwertprobleme und Entwicklungsaufgaben aktivierten Affekte einer funktionaleren Regulation zuführen zu können, müssen sie erst einmal auftreten und erlebbar werden. Voraussetzung ist die Ernährungsrehabilitation, die ein Heraustreten aus der nicht selten jahrelang bewohnten „emotionalen Tiefkühltruhe“ ermöglicht. Die Notwendigkeit der Ernährungsrehabilitation – genauer: der programmierten, genau definierten wöchentlichen Gewichtszunahme – führt zum erwähnten, unausweichlichen Konflikt, der bestenfalls auf lange Sicht im Zuge der eigentlichen Genesung aufgelöst werden kann. Die bereits erwähnten kognitiven Interventionen sind nur sehr bedingt geeignet, die Patientin während des oft langen Wegs der Ernährungsrehabilitation im Boot zu halten. Als wesentlich wirksamer haben sich operante Programme erwiesen, die heute in allen Fachkliniken mehr oder weniger konsequent durchgeführt werden. Die Grundidee dieser Programme besteht darin, die Folgen des Nicht-Essens unangenehmer als die des Essens zu gestalten. Während man früher mit zum Teil extremer sensorischer und sozialer Deprivation in Phasen des Nicht-Essens, gefolgt von Stimulation, Zuwendung und Unterstützung während und nach dem Essen gearbeitet hat, erscheint dies heute nicht mehr nötig zu sein. Wir favorisieren ein transparentes, dem Bedürfnis der Patientinnen nach klaren Regeln und Modellen entgegenkommendes Gruppenprogramm der kontrollierten Gewichtsnormalisierung. Ziel des Programms ist es, bis zu einem BMI von 18 wöchentlich 1 200 Gramm, danach bis zum Erreichen des Zielgewichts 700 Gramm wöchentlich an Gewicht zuzunehmen. Dies geschieht in der Form der gemeinsamen, therapeutisch begleiteten Einnahme des Medikaments „Kalorien“, das individuell nach vorgegebenen Plänen dosiert wird. Niemand erwartet, dass es den Betroffenen gut dabei geht; das Aufessen der gestellten Mahlzeit wird vielmehr als unangenehme medizinische Maßnahme angesehen, die man stoisch erträgt (Konzept des „mechanical eating“). Ergibt das regelmäßige Wiegen eine unzureichende Gewichtszunahme, werden die Kalorien aufdosiert. Die damit einhergehenden Ängste und Vermeidungstendenzen werden durch eine intensive Betreuung nach dem Essen, durch eine durchgängige Tagesstruktur und therapeutische Zuwendung und Bearbeitung aufgefangen. Das ganze Programm wird durch zwei wöchentliche Einzelvisiten, gruppentherapeutische Angebote (Psychoedukation, Problemlösen, Körperbild, Kochen, sinnliches Erleben, soziale Kompetenz) und ein individuell ausgestaltetes Anreiz- und Belohnungssystem flankiert. Die Einzeltherapie umfasst bis zum Erreichen eines BMI von 18 zwei Stunden/ Woche und zielt auf die Förderung von Krankheitseinsicht und der Veränderungsmotivation. Nach dem Erreichen des Zwischenziels erhalten die Patientinnen intensi- Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 921 Die Behandlung der Anorexia nervosa ve, tägliche Einzeltherapie, die sie meist schon länger begierig erwarten und übernehmen immer mehr selbst die Verantwortung für ihre verbleibende Ernährungsrehabilitation. Das Programm arbeitet mit drei intendierten psychologischen Hebeln: Der operanten Verstärkung des gewünschten Verhaltens, dem Sicheinfinden in ein klar geregeltes, nach allen Seiten transparentes Regelsystem, das dem starken Bedürfnis der Patientinnen nach Sicherheit und Kontrolle entgegenkommt, und schlichtem Gruppendruck. Psychotherapie Fruchtbare, psychotherapeutisch angestoßene Entwicklungsschritte sind von entscheidender Bedeutung für den Behandlungserfolg. Es geht darum, Ängste und Unsicherheiten vor einem eigenständigen Leben zu überwinden und konstruktive, entwicklungsförderliche Schritte zu unternehmen. Medizinische Maßnahmen allein können diese Aufgabe nicht erfüllen. Dementsprechend stellen die einschlägigen Richtlinien fest, dass eine in erster Linie pharmakologische Behandlung der AN unzureichend ist (1). Die Psychotherapie der AN verfolgt die folgenden grundsätzlichen Ziele: ● Verstehen und Akzeptieren der Maßnahmen der Ernährungsrehabilitation, ● Verstehen und Verändern der Einstellungen undVerhaltensweisen, die derAN als einer dysfunktionalen Bewältigungsstrategie zu Grunde liegen, ● Verbesserung der emotionalen, interpersonellen und sozialen Kompetenzen ● sowie Verstehen und Bewältigen der begleitenden Psychopathologien (1). UU Während der akuten, durch starkes Untergewicht und mehr oder weniger ausgeprägte neuro-kognitive Defizite bestimmten Behandlungsphase sollte die psychotherapeutische Behandlung wesentlich supportiver Art sein. Empathisches Verstehen, Erklären und Begründen notwendiger Behandlungsmaßnahmen, Ermutigung und Verstärkung konstruktiver Schritte stehen im Vordergrund. Angesichts der oft durchgängig ne- gativistischen, obsessiven, gelegentlich gar feindseligen oder suizidalen Befindlichkeiten der Betroffenen, erweisen sich anspruchsvollere psychotherapeutische Interventionen meist als nicht durchführbar bzw. nicht hilfreich. In der stationären Ernährungsrehabilitation haben sich vielmehr transparente, von Verantwortung entlastende, dem Bedürfnis nach Regeln entgegenkommende, positives Verhalten verstärkende Gruppenprogramme sowie eine unterstützende medikamentöse Behandlung bewährt. Mit zunehmender Normalisierung des Körpergewichts, der Besserung neuro-kognitiver Defizite, aber auch neuen Herausforderungen durch figürliche Veränderungen, veränderte Selbstwahrnehmung, verstärkte emotionale Reagibilität und zunehmende lebenspraktische und soziale Herausforderungen bedürfen die genannten Therapieziele einer problemanalytischen Präzisierung: Es geht jetzt je nach Einzelfall unter anderem darum, der Patientin dazu zu verhelfen, sich selbst in der Krankheit in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht besser zu verstehen und die bisherige Selbstunsicherheit und die gewählten Bewältigungsstrategien zu erkennen und zu problematisieren. Hierzu zählt nicht zuletzt die Einsicht in die Rolle des eigenen interpersonellen (Bindungs-)Stils, früh erworbene maladaptive Schemata und die entsprechenden Deutungen, Interpretationen und Urteile (in ihren Beziehungen zum Problemverhalten) sowie die Bereitschaft, diese anzunehmen und bewältigen zu lernen. Wichtig ist, die große Bedeutung der Emotionen und ihrer angemessenen Regulation zu verstehen und neue Emotionsregulationskompetenzen für die Bewältigung kritischer Situationen zu erwerben. Dabei ist es hilfreich, in emotional aktivierenden Situationen die eigenen und fremden mentalen Zustände wahrzunehmen und deuten zu können bzw. diese „Mentalisierungsfähigkeit“ im Dienste gedeihlicher Interpersonalität zu fördern. Wesentlich ist weiterhin, konkrete Schritte in Richtung auf ein eigenständiges Leben zu planen, einzuleiten und zu erwartende kritische Situationen nach Therapieende im Dienste der Rückfallprophylaxe zu antizipieren. U U Fruchtbare, psychotherapeutisch angestoßene Entwicklungsschritte sind von entscheidender Bedeutung für den Behandlungserfolg. Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 922 Pawelzik et al. U Die nachweislich größten psychotherapeutischen Erfolge erzielte bislang das sogenannte Maudsley Familieninterventionsprogramm für adoleszente AN-Patientinnen. Tab. 3 ● ● ● ● ● ● ● ● xiepatientinnen zu behandeln aufgrund von Chronifizierung und Entwicklungsretardierung eine viel schwierigere sei, muss gleichwohl die nahe liegende Deutung des Familienansatzes nicht falsch sein: Wichtige psychische Funktionen entwickeln sich im Kontext dyadischer Beziehungserfahrungen bzw. werden durch diese geprägt. Entsprechende Defizite lassen sich im „Trockendock“ professioneller Psychotherapie weit weniger Erfolg versprechend ausgleichen, als wenn es gelingt, dies in der Interaktion mit den eigentlichen Bindungsfiguren – gewissermaßen „auf hoher See“ – anzuregen und zu fördern. Diese Beobachtungen sowie der Umstand, dass bisher keine gut wirksamen Programme für die typischerweise zur stationären Aufnahme in spezialisierte Kliniken kommenden Patientinnen existieren, legen es nahe, sich von doktrinären, schulengebundenen Haltungen zu verabschieden und innovationsoffene Wege einzuschlagen. Als Beispiel eines integrationsoffenen Ansatzes seien die psychotherapeutischen Schwerpunkte der Anorexiebehandlung der EOS-Klinik aufgelistet (Tab. 3). Ein kleiner, hochgradig chronifizierter Teil der Patientinnen kann sich auch nach wiederholter Ernährungsrehabilitation und Psychotherapie nicht nachhaltig stabilisie- Psychotherapie der AN: Behandlungsschwerpunkte der EOS-Klinik I. Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtsmanagement ● Mit welchen psychotherapeutischen Methoden lassen sich diese anspruchsvollen Ziele am ehesten erreichen? U Die nachweislich größten psychotherapeutischen Erfolge erzielte bislang das sogenannte Maudsley Familieninterventionsprogramm für adoleszente AN-Patientinnen (25, 26). Dieses Programm zielt gleichermaßen auf die Normalisierung des Körpergewichts wie auf die kooperations- und kommunikationsfördernde „Reintegration der Familie“. Der herausragende Erfolg dieses Programms unterstreicht die Annahme, dass der Förderung und Entwicklung interpersoneller und relationaler Prozesse große Bedeutung bei der Behandlung der AN zukommt. Für die eher auf intrapsychische Prozesse fokussierenden einzeltherapeutischen Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie und der tiefenpsychologischen Tradition sind therapeutische Effekte bei erwachsenen Patientinnen belegt; diese sind jedoch als moderat zu bezeichnen und bleiben deutlich hinter den Ergebnissen des Maudsley-Programms zurück (9). Wenn man gegen die Maudsley-Ergebnisse einwendet, dass es sich um junge (Durchschnittsalter 15,5 Jahre) und erst kurze Zeit erkrankte (durchschnittliche Krankheitsdauer ein Jahr) Patienten gehandelt hat und dass die Aufgabe, erwachsene Anore- II. Bearbeitung der zugrunde liegenden Problembereiche Verständnis der psycho-physiologischen Zusammenhänge (Folgen der Semi-Starvation) Aufbau und Förderung der Behandlungsmotivation Identifikation auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen des gestörten Essverhaltens Normalisierung des Essverhaltens Erkennen und Überwinden des Sicherheitsund Vermeidungsverhaltens Weiterer Gewichtsaufbau mithilfe von ContractMangement-Techniken Überwindung der Vermeidung bestimmter Speisen („Schwarze Liste“) Umgang mit Heißhungerattacken und Purging-Impulsen lernen Problemverhalten: Stimuluskontrolle und Reaktionsverhinderung ● ● ● ● ● ● ● ● Erkennen und Verstehen funktionaler Zusammenhänge (Selbstunsicherheit, Vermeidung von Entwicklungsaufgaben, Kompensationsfunktion der AN) Infragestellung und Überprüfung dysfunktionaler Annahmen und Gedanken Problematisierung des Denkstils (Rigorismus, Perfektionismus, Absolutismus) Metakognitive Achtsamkeit: Distanzierung vom Anorexiedenken und Überwindung der „anorektischen Identität“ Werterklärung und Selbstverpflichtung Verbesserung der Körperwahrnehmung und -akzeptanz Anregung, Aufbau und Entwicklung alternativer Bewältigungsstrategien Angehörigenberatung, Paargespräche, Familientherapie III. Verbesserung der emotionalen und interpersonellen Kompetenzen ● ● ● ● ● ● Psychoedukation zu Gefühlen und Unterdrückung von Gefühlen Aufbau emotionsregulativer Kompetenzen Förderung der Mentalisierungsfähigkeit Training sozialer, kommunikativer und problemlösender Kompetenzen Konfrontationstherapie situationsgebundener Ängste Achtsamkeitsmeditation Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. IV. Verstehen und Bewältigen der begleitenden Psychopathologien ● ● Psychiatrische Therapie Störungsspezifische Psychotherapie (z. B. KVT-Programme, DBT, CBASP) 923 Die Behandlung der Anorexia nervosa ren und rezidiviert fortgesetzt. In diesen Fällen sind stärker unterstützende, langfristig angelegte psycho-soziale Interventionsprogramme in der Form therapeutisch begleiteter Wohngruppen empfehlenswert. In den von uns betreuten Wohngruppen stellt ein therapeutisches Team ein normales Ernährungsverhalten sicher und unterstützt die Bewohnerinnen in lebenspraktischen Angelegenheiten sowie bei der Suche nach geeigneten Schul- und Berufsausbildungen. Darüber hinaus sind diese angehalten, sich außerhalb des Wohnumfelds um individuelle Psychotherapie und ein aktives Sozialleben zu kümmern. Bislang liegen keine Untersuchungen vor, die den Erfolg derartiger komplementärer Angebote untersuchen. Nicht vergessen werden soll, dass die Probleme der Betroffenen mit der Besserung der Zielparameter paradoxerweise zunehmen können. Bindungstraumatisierungen, Missbrauchserfahrungen, interpersonelle „Psychoallergizität“, eine zunehmende Borderline-Symptomatik und ähnliche Probleme, die unter Semi-Starvationsbedingungen nicht erkennbar waren, können hervortreten und neue Herausforderungen an die Behandler stellen. Es ist deshalb wichtig, diese Möglichkeiten zu antizipieren und anzunehmen, um mit den eigenen Gegenübertragungsgefühlen in der oft enttäuschenden Arbeit mit chronischen Patientinnen umgehen zu können. Ohne Verständnis für die gravierenden Defizite der Patientinnen und den oft Monate (im stationären Kontext) bis Jahre (ambulant) in Anspruch nehmenden Therapieprozess können Demoralisierung und der Wunsch, die Patientin los zu werden, die Folge sein. Pharmakotherapie Die Pharmakotherapie der AN orientiert sich an klinischen Erfordernissen und ist oft unverzichtbar. Einen Goldstandard der Pharmakotherapie, dessen günstige Wirkung auf die Kernsymptomatik als empirisch gesichert angesehen werden könnte, gibt es nicht. Im stationären Alltag überwiegt eine, aufgrund möglicher ernster Nebenwirkungen streng kontrollierte, pragmatische „Off-label use“-Polypharmazie. Antidepressiva Die Antidepressiva, insbesondere selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI), gehören zu den am häufigsten eingesetzten Psychopharmaka. Anhand der wenigen verfügbaren Untersuchungen lässt sich klar sagen, dass SSRI, z. B. Fluoxetin, in der Phase der Ernährungsrehabilitation keine signifikanten Wirkungen zeigen (2, 40). SSRI gelten am ehesten bei erfolgreich ernährungsrehabilitierten, durch Ängste, Zwänge oder depressive Beschwerden beeinträchtigten AN-Patientinnen als hilfreich. Dem entgegen konnte in einer größeren, kontrollierten Studie keine rezidivprophylaktische Wirkung von Fluoxetin bei vollständig ernährungsrehabilitierten ANPatientinnen nachgewiesen werden (47). Für das aufgrund seines Wirkungsprofils viel versprechende Mirtazapin liegen bislang nur Einzelfallberichte sowie eine fallkontrollierte Studie vor, die eine günstige Wirkung belegen (21). Bei stärker nebenwirkungsbelasteten Antidepressiva (Trizyklika, MAOI) ist generell Vorsicht geboten, da unterernährte Patientinnen empfindlicher reagieren. Insbesondere das Risiko von Krampfanfällen ist bei chronischenVerlaufsformen derAN nicht zu unterschätzen. Neuroleptika Atypische Neuroleptika, insbesondere Olanzapin, werden von Anorexieexperten gerne eingesetzt.Auch wenn bislang keine kontrollierten, randomisierten Studien über die Wirkung von Olanzapin bei AN vorliegen, ist dessen oft günstiger Effekt insbesondere auf Ruminationen und Bewegungszwänge kaum zu übersehen. Die bislang vorliegenden offenen Studien belegen deutliche Effekte für 2,5 bis 5 mg/die. Ähnliches gilt für Quetiapin und Risperidon (7). Angesichts des anfangs stark reduzierten Allgemeinzustands mancher Patientinnen ist ein verstärktes Monitoring möglicher kardialer, diabetogener und extrapyramidaler Nebenwirkungen geboten, zumal in Einzelfällen sehr hohe Dosierungen eingesetzt werden. Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 924 Pawelzik et al. Stimmungsstabilisatoren Bisher nicht beforscht wurde der Einsatz von Stimmungsstabilisatoren in der Behandlung. Aus der Perspektive der Einzelfallbeobachtung lassen sich zum Teil sehr gute Wirkungen, etwa von Pregabalin, vorsichtig bis 300 mg/die aufdosiert, berichten. Benzodiazepine In stationären Akut- bzw. Notfallsituationen werden Benzodiazepine häufig eingesetzt. Obwohl Benzodiazepine aus bekannten Gründen nicht als Dauermedikation empfohlen werden, ist deren mehrwöchiger Einsatz in Fällen sehr unruhiger, getriebener und verzweifelter AN-Patientinnen manchmal unvermeidbar. Der Stand der Behandlung U U Deshalb gilt die Regel: „Keine AN-Therapie ohne Ernährungsrehabilitation“. Den Forschungsstand zusammenfassend ist zu sagen: Es gibt zu wenig aussagekräftige Therapieforschung. In den letzten 20 Jahren wurden beispielsweise nur 15 vergleichende Psychotherapiestudien veröffentlicht (50). Die Therapieergebnisse, die diese Studien zeitigten, sind schwach. Bis heute lässt sich das probate therapeutischeVorgehen beiAN nicht solide empirisch begründen. All dies sollte Anlass genug sein, neue, innovative und zugleich evidenzbasierte Therapieansätze zu entwickeln. Denn zu einem generellen therapeutischen Pessimismus oder gar Nihilismus besteht kein Anlass: Auch chronifizierte, langjährige Anorexien zeigen eine Tendenz zur Besserung, wie sich den wenigen vorliegenden Langzeitstudien entnehmen lässt: Nur 20 bis 25% der (überlebenden) Betroffenen weisen auch nach Jahren das Vollbild der Erkrankung auf; die Mehrzahl zeigt hingegen eine symptomatische Besserung, auch wenn gut die Hälfte weiterhin symptomatisch bleibt (32, 38, 41). Dies spricht für ein „maturing out“, eine fortschreitende Erosion der „anorektischen Identität“, weil die immensen Kosten der Krankheit in einem zunehmend ungünstigeren Verhältnis zum subjektiven Nutzen stehen. Dass eine erfolgreiche Behandlung selbst in extremen Fällen möglich ist, belegt das dokumentierte Beispiel einer Patientin, die im 67. Lebensjahr remittierte, nachdem sie mehr als ihr halbes Leben extrem untergewichtig gewesen war (31). Auch ohne einen empirisch wohl begründeten Goldstandard orientieren sich die Experten an empirisch etablierten Regeln der Anorexiebehandlung, die die Aussichten einer erfolgreichen Behandlung verbessern. Expertise Wer AN-Patientinnen behandelt, sollte über ausreichendes Störungs- und Veränderungswissen und über möglichst große Erfahrung verfügen. Die Gründe für diese keineswegs selbstevidente Regel lauten: Man muss auf die Gefahren, spezifischen Defizite und Strategien der Betroffenen und die Hartnäckigkeit der Störung eingestellt sein. Überzeugende therapeutische Interventionen erfordern eine einzelfallspezifische Legierung probater Wissensvermittlung, Motivationsförderung, Problembearbeitung und systemimmanenter Wertschätzung. Fokus auf Essverhalten und Gewichtsentwicklung Therapieansätze, die eine effektive Ernährungsrehabilitation als sekundär ansehen oder kein Normalgewicht anstreben, sind durch frühe und häufige Rezidive belastet (20, 51). Dabei haben die Kritiker des „Auffütterns“ Recht: Es geht tatsächlich um tieferliegende psychologische Probleme. Nur lassen sich diese Probleme nicht lösen, wenn der Starvationszustand fortbesteht, wie Outcome-Untersuchungen zeigen (53). U U Deshalb gilt die Regel: „Keine ANTherapie ohne Ernährungsrehabilitation“. Diese Regel beinhaltet auch die Forderung, während lange dauernder ambulanter Psychotherapie Essverhalten und Gewichtsentwicklung zu überwachen. Motivationaler Fokus Die Ich-Syntonizität der Störung macht die Anorexietherapie zu einem schwierigen Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 925 Die Behandlung der Anorexia nervosa Geschäft. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, sehr genau auf die oft nur vordergründige oder ambivalente Therapiemotivation der Patientinnen zu achten und alle effektiven Möglichkeiten der Motivationsförderung zu nutzen. Der Respekt vor dem Standpunkt der Patientin ist dabei der unausweichliche Ausgangspunkt, den es sukzessive in Richtung auf den Wunsch, das eigene Leben anders als durch eine anorektische Identität und Lebensführung zu meistern, zu verschieben gilt. Einstellung der Behandler Aus den Schwierigkeiten der AN-Behandlung resultieren ungünstige, die Erfolgsaussichten stark belastende Einstellungen auf Behandlerseite. Diese äußern sich in ablehnenden, bevormundenden und strafenden Reaktionen, demVerkennen der psychologischen Dynamik der Störung, einem enttäuschten Verfallen in die Extreme „Passivität“ oder „Aggressivität“, dem Stereotypisieren der Anorexiepatientinnen, der Insensitivität gegenüber sozio-kulturellen und geschlechtsspezifischen Aspekten der Behandlung und die Ablehnung jedes Ansinnens, etwas an der eigenen Behandlungspraxis zu ändern (45). Nur wer mit Anorexiebehandlungen vertraut ist und den Fundamentalismus der Patientinnen zu verstehen vermag, wird die schwierigen Therapiebeziehungen ohne dysfunktionale Gegenübertragung meistern können. UU Umgang mit Komorbidität Die Komorbidität der AN ist so hoch, dass sie nicht als spezielles Problem begriffen werden sollte. Sie muss vielmehr gezielt, nach evidenzbasierten Grundsätzen behandelt werden, was die Therapeuten vor große Herausforderungen in Sachen Flexibilität und Ausgewogenheit stellt. Denn auf der einen Seite erfordert die Ernährungsrehabilitation ein operantes, strukturiertes, regelverbindliches Vorgehen, während die gegebene Komorbidität auf der anderen Seite ein flexibles, individualisiertes Vorgehen nahe legt. Beide Forderungen in einem Gleichgewicht zu halten, erfordert großes dialekti- sches Geschick. Zu begrüßen ist, dass sich verschiedene etablierte Therapieansätze, wie die dialektisch-behaviorale Therapie oder die mentalisierungsbasierte Psychotherapie, um eineAdaptation ihrer Programme an die Erfordernisse der Anorexiebehandlung bemühen (36). Fazit für die Praxis Die AN ist eine schwere, lebensgefährliche psychische Störung, deren Prognose wesentlich durch die Erkrankungsdauer, erfolglose Behandlungsversuche und die zurückgebliebene psychische und soziale Entwicklung der Betroffenen bestimmt wird. Aus diesem Grund ist es wichtig, Fälle von AN möglichst früh und konsequent nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin zu behandeln. Zu diesen Grundsätzen zählen aus heutiger Sicht eine konsequent bis zum Zielgewicht geführte Normalisierung des Körpergewichts (Ernährungsrehabilitation), eine unter Umständen langfristig angelegte, an den individuellen Defiziten, Bewältigungsstrategien und Konflikten ausgerichtete Psychotherapie sowie eine im Einzelfall praktisch bewährte Pharmakotherapie. Aufgrund der weitgehenden Ich-Syntonizität der AN ist es wichtig, die schwankende Motivationslage der Patientinnen und die Gefährdungen des Arbeitsbündnisses im Blick zu behalten. Bislang ist keine der erprobten psychotherapeutischen und pharmakotherapeutischen Behandlungsansätze nachweislich in der Lage, die Kernsymptomatik der AN effektiv und nachhaltig zu bessern. Wir plädieren deshalb für eine offene, innovative und empirisch kontrollierte Suche nach neuen Behandlungsansätzen und erwarten, dass diese eher in den Bereichen „soziale Kognitionen“, „Emotionsregulation“ und „Familienintervention“ fündig werden dürfte. Aus den Schwierigkeiten der AN-Behandlung resultieren ungünstige, die Erfolgsaussichten stark belastende Einstellungen auf Behandlerseite. UU Nervenheilkunde 10/2008 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 926 Pawelzik et al. Literatur 1. American Psychiatric Association (APA). Practice guidelines for the treatment of patients with eating disorders. 3rd edition 2006. www.psych.org. 2. Attia E et al. Does fluoxetine augment the inpatient treatment of anorexia nervosa? Am J Psych 1998; 155: 548–551. 3. Birmingham CL et al. The mortality rate from anorexia nervosa. Inter J Eating Disord 2005; 38: 143–146. 4. Bruch H. Eating disorders: Obesity, anorexia nervosa, and the person within. New York: Basic Books 1973. 5. Bulik CM et al. Prevalence, heritability, and prospective risk factors for anorexia nervosa. Arch Gen Psychiatry 2006; 63: 305–312. 6. 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