Dietrich Beyrau Krieg und Revolution Dietrich Beyrau Krieg und Revolution Russische Erfahrungen FERDINAND SCHÖNINGH Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus Mitteln des Sonderforschungsbereichs 437 »Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit«. Umschlagabbildung: Aleksandr A. Dejneka, Oborona Petrograda (Verteidigung Petrograds) 1928 Quelle: www.staratel.com/pictures/ruspaint/196.htm (Zugriff 10.02.2017) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978–3–506–78528–2 In Dankbarkeit gewidmet den russischen Freunden und Helfern, weiblichen und männlichen, lebenden und toten. INHALT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Das russische Imperium und seine Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Waffenungleichheit: Das Russische Reich und Polen 1863/64 . . . . 54 3. Alles für die Front: Russland im Krieg 1914–1922 . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Kriegsszenen von der russischen Westfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5. Projektionen, Imaginationen und Visionen: Frömmigkeit im Schützengraben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6. Die Soldaten der Sof’ja Fedorčenko: Wie sie über den Krieg reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 7. Vom Paria zum Teilhaber an der Macht: Die Juden in den russischen Streitkräften vor und nach der Revolution . . . . . . . . . . . 180 8. In der Falle der Gewalt: Vom Ersten Weltkrieg in den Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9. Helden und »Unpersonen« des Bürgerkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 10. Avantgarde in Uniform. Die Kommissare: Mythen und Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 11. Lehren aus Krieg und Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 12. Aussprache kyrillischer (transkribierter) und polnischer Buchstaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 13. Verzeichnis der Achive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 14. Verzeichnis der Karten und Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 15. Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Einleitung Einige Vorbemerkungen Die Aufsätze dieses Sammelbandes drehen sich um Kriege, Aufstände, Gewalt und Bürgerkriege im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge umspannen die Zeit vor und nach der Revolution von 1917. Sie bildet einen zentralen Bezugspunkt für die Aufsätze, weil im Vor- und Nachher Kontinuitäten und Brüche deutlich werden. Die Revolution gehört trotz des nun hundertjährigen Jubiläums nicht mehr zu den bevorzugten Themen der gegenwärtigen Geschichtsschreibung und des historischen Gedächtnisses. Dies ändert nichts an ihrer historischen Bedeutung, vergleichbar mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg. War die Revolution der welthistorische Bruch, den die Bolschewiki für sich in Anspruch nahmen,1 oder bildete sie nur eine Unterbrechung in der Kontinuität autoritärer Herrschaft in Russland? Wenn letzteres zutreffen sollte, welche Faktoren konnten es dann gewesen sein, die das Freiheitsversprechen der Februarrevolution und ebenso das Versprechen vom Ende von Ausbeutung und Unterdrückung desavouiert haben? Auf diese Fragen gibt es sicher viele Antworten. In den vorliegenden Aufsätzen geht es um die Kriegsspur, welche die hohen Ideale und die Hoffnungen, die mit den Revolutionen verbunden waren, zu Schanden werden ließ. Krieg und Gewalt waren und sind leider konstitutiv für die Geschichte der meisten Staaten und Gesellschaften. Russland bildet hier keine Ausnahme. Die Konzentration der Beiträge auf dieses Themenfeld soll nicht besagen, dass sich die jüngere russische und sowjetische Geschichte hierauf reduzieren ließe. Andererseits erlebte Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Abfolge so tief greifender Gewalteinbrüche von außen und von innen, dass sie zu ignorieren, fast schon einer Verfälschung der Geschichte gleichkommt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass wie im heutigen offiziellen Gedächtnisdiskurs der postsowjetischen russischen Eliten Russland als Recke figuriert, der sich unentwegt äußerer Feinde erwehrte. Dabei tendiert dieser Diskurs dazu, Krieg und Gewalt heroisch zu übermalen und als Befreiungsmission Russlands bzw. der Sowjetunion zu überhöhen.2 Die folgenden Beiträge fragen nach der Bedeutung von Krieg und Gewalt für einzelne Gruppen, für die Gesellschaft und den Staat – für sein Funktionieren vor und nach 1917 und seinen Neuaufbau nach 1918. 1 2 Zu den internationalen Aspekten vgl. Courtois, Stéphane u. a., Das Schwarzbuch des Kommunismus, München – Zürich: Piper 1998; Priestland, David, The Red Flag: How Communism Changed the World, London: Allen Lane 2009; Smith, Stephen A. (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Communism, Oxford: Oxford UP 2014. Naročnickaja, Natalja, Velikie vojny XX stoletija: Revizija i pravda istorii, Moskau: Veče 2010; Senjavskaja, E. S.; Senjavskij, A. S.; Sdvižkov, O. V., Osvoboditel’naja missija Krasnoj armii v 1944–1945 gg. Gumanitarnye i social no- psichologičeskie aspekty. Istoričeskie očerki i dokumenty, Moskau – SPb: Centr Gumanitarnych iniciativ 2016. 10 Einleitung Die Aufsätze bilden keine in sich geschlossene Erzählung, in der die Geschichte der Kriege, russischer Kriegführung, ihre Ursachen und Verläufe dargestellt werden. Es geht vielmehr um unterschiedliche Situationen von Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und den vielen Dimensionen von Kriegs- und Gewalterfahrungen. Die Größe des russischen bzw. sowjetischen Territoriums und die durch Kriege und revolutionäre Umbrüche verursachten Turbulenzen lassen eine Vielzahl von Erfahrungen, Perspektiven und Diskursen erkennen, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind und sich nicht immer in ein geschlossenes systematisch-historisches Narrativ einfügen wollen. Jede Form von »großer Erzählung« tendiert notwendigerweise dazu, Vielfalt und Kontingenzen, Zufälligkeiten und Ungerichtetheit menschlichen Handelns zu marginalisieren. Die hier gewählte Präsentation von Einzelstudien verzichtet daher gewollt auf eine Darstellung der russischen Geschichte dieser Jahrzehnte, welche ihre Gesamtheit in den Blick nimmt, Kausalitäten behauptet und die großen Thesen von Modernisierung, Rückständigkeit, verhinderter Nationsbildung und imperialen Defiziten oder – pathetisch von der Tragödie – mit historischem Material unterlegt. Dabei muss man sich gar nicht der Einsicht verschließen, dass Überblicksdarstellungen ohne solche Orientierung auf große Thesen kaum auskommen, wenn sie mehr als eine Abfolge von Ereignissen schildern wollen.3 Lässt man sich aber auf eine Geschichte von Individuen, Gruppen, Ereignissen und Diskursen ein, verlieren die großen Narrative an Gewicht. Die Fragen nach den methodischen Zugängen gewinnen stattdessen an Bedeutung. Wie erkläre ich das Verhalten nicht so sprachmächtiger Gruppen und die Narrative derjenigen, welche ihr Verhalten beobachten und interpretieren? Wie soll man mit der oft schon in den 1920er Jahren standardisierten Rhetorik des öffentlichen Redens umgehen, was verbirgt sich hinter ihren (Leer-)Formeln? Welche Einblicke liefern Heldennarrative und was verbergen sie? Dies nur Beispiele, um die Probleme aufzuzeigen. Während einige Beiträge den großen Strukturen, etwa dem Stellenwert des Militärs vor und nach 1917 oder seiner Organisation oder den Mobilisierungskapazitäten des Staates gewidmet sind, lassen sich andere Beiträge eher auf Kriegserfahrungen von Gruppen ein. Einige Aufsätze nehmen teils explizit, teils implizit sozialhistorische Fragestellungen auf, andere nutzen eher einen Zugang, der individuelle und kollektive Erfahrungen in den Blick nimmt. Erfahrung meint hier die Wiedergabe von Erlebnissen, Gefühlen, Wahrnehmungen und Deutungen, wie sie ihren Niederschlag in Zeugnissen und Dokumenten aller Art gefunden haben. Erfahrungen lassen sich über Zeugnisse von Akteuren und Beobachtern, am häufigsten über amtliche Berichte erschließen. Ego-Dokumente ebenso wie behördliches Material erweisen sich in der Regel stark von Konventionen und Regeln geprägt, die allerdings auch einem Wandel unterliegen können. In wechselnder Bandbreite bestimmen sie, was gesagt 3 Zuletzt vgl. Hildermeier, Manfred, Geschichte Russlands vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München: C. H. Beck 2013, bes. 1313–1346. Einleitung 11 werden kann und darf.4 Bei weniger sprachmächtigen und subalternen Gruppen ist das von außen beobachtete Verhalten wie die explizite, manchmal verschlüsselte Artikulation offen für unterschiedliche Interpretationen.5 Angesichts des hohen Anteils von Analphabeten oder nur partiell alphabetisierter Bevölkerungsgruppen im Russland des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist es für Historiker besonders aufwendig und schwierig, die Erfahrungen der sog. einfachen Leute, im vorliegenden Fall der Soldaten und Rotarmisten, zu erfassen und zu analysieren. Vergleichsweise wenige subjektive Zeugnisse und viele Berichte über ihr Verhalten und Handeln sind die wichtigsten Quellen, um sich ihren Erfahrungen anzunähern. Diese werden in Strukturen und Institutionen gesammelt und können diese auch verändern. Einige Aufsätze wechseln zwischen subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen und scheinbar fest gefügten Ordnungen. Sie ließen sich durch individuelles Verhalten oder Handeln nur wenig verändern, aber in der Zeit der Revolution erschienen sie auf einmal als schwach und veränderbar. Daher enthält Erfahrung immer auch eine politische Dimension. Sie betrifft die Mikrosphäre ebenso wie die »große Politik«. Diese wurde oft genug als Schicksal, mithin als nicht beeinflussbares Geschehen wahrgenommen oder sie erschien manchen Akteuren – wie in der Revolution – als eine Knetmasse, die sich beliebig formen ließ. Die Beiträge, die sich auf die Zeit des Imperiums beziehen, fragen nach Funktionen der Streitkräfte (Beitrag 1), nach dem Verhältnis zwischen Imperium und Nationalismus am Beispiel des polnischen Aufstandes von 1863/64 (Beitrag 2), nach Kapazitäten zur Mobilisierung der Bevölkerung, nach ihrem Verhalten und nach den systemischen Blockaden (Beitrag 3, z. T. 8). Die Beiträge 4 bis 6 drehen sich um Aspekte von Kriegserfahrungen und Verhaltensweisen von Soldaten der russischen Armee im Ersten Weltkrieg und in der Revolution. In den folgenden Beiträgen, dem 7. und 9., stehen Bürgerkriegsund Gewalterfahrungen bolschewistischer Gruppen und ihre Rechtfertigungen im Zentrum. Es geht um den Umgang mit dem »Imperialismus« (Beitrag 7), um revolutionäre Unerbittlichkeit und Missionseifer (Beitrag 9), die in Heldennarrativen mündeten (Beitrag 10). Ihr teils intendiertes, teils nicht intendiertes Ziel war es, die Kombination von Spontaneität der Massen und ihre Erziehung zu »Bewußtheit« durch die Partei als Aufgabe immer wieder in Erinnerung zu rufen. Die Chancen, welche das neue Regime Angehörigen bisher subalterner Bevölkerungsgruppen bot, ist Gegenstand des 8. Beitrags. Sozialer Aufstieg auf der einen Seite und die Freisetzung von professioneller Kreativität im revolutionären Russland stehen in einem eigenartigen Gegensatz zu der Abfolge von Katastrophen, die Russland seit dem Ersten Weltkrieg erlebte. Sie lassen sich in Wissenschaft und Kunst ebenso nachweisen wie in 4 5 Buschmann, Nikolaus; Carl, Horst (Hg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a.: F. Schöningh 2001. Scott, James, Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven/Conn.: Yale UP 1985; Prakash, Guyan, Subaltern Studies as Postcolonial Criticism, in: American Historical Review 99, 1994, 5, 1475–1490. 12 Einleitung dem hier vorgestellten Ausschnitt über Lehren aus den Kriegserfahrungen in den Stäben und Akademien der Roten Armee (Beitrag 11). Der historische Rahmen: Kriegerisches Russland? Die neuere Geschichte Russlands lässt sich wie die jedes anderen Landes oder Territoriums unter unendlich vielen Aspekten beleuchten. Wenn hier Kriege, die Folgen der Revolutionen, Gewalt und Repressalien aller Art im Vordergrund stehen, heißt dies nur, dass sie in der Geschichte Russlands in dem Zeitraum, der hier behandelt wird, wichtige Faktoren waren. Sie konnten als nicht endendes Elend oder als »heroische Periode« erfahren werden. Aber es versteht sich, dass sich die russische Geschichte selbst dieser Jahrzehnte nicht auf diese Aspekte verkürzen lässt. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg waren das Russische Reich bzw. die Sowjetunion an sieben zwischenstaatlichen Kriegen beteiligt, das andere Weltreich, das British Empire an acht Kriegen oder größeren Feldzügen. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass von den acht Kriegen des Empires nur drei in Europa ausgefochten wurden (der Krimkrieg, der Erste und Zweite Weltkrieg). Russlands Kriege wurden dagegen alle auf europäischem Territorium und sechs Kriege auf russischem bzw. sowjetischem Territorium oder in unmittelbarer Nähe ausgetragen. Mit Ausnahme des Krimkrieges, des Ersten und Zweiten Weltkrieges glichen Großbritanniens zwischenstaatliche Kriege oft eher Feldzügen oder Expeditionen mit relativ begrenzten Kontingenten. Russland hatte mit viel höherem Einsatz an Soldaten und materiellen Ressourcen zu kämpfen. Nur im Ersten Weltkrieg lag der Anteil der russischen Kriegstoten, umgerechnet auf 10.000 Einwohner, niedriger als in Großbritannien (105 auf 10.000 in Russland, 195 auf 10.000 in Großbritannien). Die größere Belastung der russischen Landmacht durch Kriege hing im 19. Jahrhundert auch mit den Kriegsschauplätzen in Russland selbst (1812 und im Krimkrieg), aber auch mit der Expansion in benachbarte Regionen und den damit zusammenhängenden Konflikten zusammen. An erster Stelle gilt dies für die Eroberung und militärische Sicherung des Nordkaukasus, die von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gefangennahme Şamils (1859) andauerten. Ähnlich belastend war die Herrschaft in Polen, die nur durch einen Krieg (1830/31) und die Niederschlagung des Aufstands (1863/64) gesichert werden konnte. Die sukzessive Eroberung Mittelasiens und des Amur-Ussuri-Gebiets (1854–1858) ähnelte hingegen eher kolonialen Feldzügen. Mit der Etablierung des Generalgouvernements Turkestan (1867) war dieser Prozess kolonialer Expansion im Wesentlichen abgeschlossen. England als Seemacht war kriegerisch vorwiegend mit weltweiten Expeditionen jenseits des eigenen Territoriums befasst und konnte in erheblichem Umfang auswärtige Ressourcen nutzen. Russland als Kontinentalmacht hatte Einleitung 13 es hingegen mit Grenzzonen zu tun und musste die eigenen Ressourcen in hohem Maße beanspruchen.6 Das strategische Dilemma Russlands vor dem Ersten Weltkrieg war teils selbst verschuldet, teils war es eine Folge der Bündnis-Konstellation. Es war insofern selbst verschuldet, als nach 1905 auch die russische Regierung dem Navalismus frönte und sehr viel Geld für den Aufbau der Marine verschwendete. Dies geschah, obwohl es seit 1907 mit England verbündet war und Russland sich voraussehbar vor allem auf dem Lande gegen die Mittelmächte würde behaupten müssen. Das bündnispolitische Dilemma bestand darin, dass Russland durch eine Offensive gegen Deutschland Frankreich entlasten sollte, obwohl das eigentliche russische Interesse wegen der Balkanfragen in einer nachhaltigen Schwächung oder Zerstörung Österreich-Ungarns lag. Die russische Kriegführung scheiterte an dieser doppelten Aufgabe: Man konnte zwar 1914/15 Galizien besetzen, aber die Habsburger Monarchie nicht so schwächen, dass sie aus dem Krieg ausschied. Und gegenüber der deutschen Kriegsmaschine erwies sich die russische Armee technisch und in der Führung als unterlegen.7 Revolution und Bürgerkrieg Die Kommunisten schufen »einen gewaltigen Mythos um die ›Große Oktoberrevolution‹, die sie als bedeutsamen Aufstand der Arbeiter und Bauern gegen ihre Unterdrücker beschrieben. Als ich jedoch die Geschichten derjenigen hörte, die diese Zeit miterlebt hatten, erschien es mir eher der Zusammenbruch der alten Ordnung als deren Umsturz zu sein«, schrieb in den 1990er Jahren ein Journalist.8 In der Tat lässt sich spätestens nach 1916 von einem Zusammenbruch des alten Regimes und einer Abfolge von Katastrophen sprechen. Sie begannen mit dem Weltkrieg, kurz unterbrochen durch die »Tage der Freiheit«, die Februarrevolution, um in das Chaos des Bürgerkriegs zu münden. Ihm entstieg der neue Staat als Leviathan, in Gestalt einer neuen Form des Machtstaats. Der Staatsstreich der Bolschewiki schien die Revolution mit ihren konfrontativen Elementen, gegen den alten Staat, gegen die Privilegien der Oberschichten und überhaupt gegen die »buržui« (Bourgeoisie), mit ihren Gleichheits- und Gerechtigkeitspostulaten zu vollenden. Aber der Avantgarde-Anspruch der Bolschewiki negierte diese Postulate zugleich. Die sowjetdemokratischen Elemente der Volksrevolution wurden teils manipuliert, teils 6 7 8 Small, Melville; Singer, J. David u. a. (Hg.), Resort to Arms. International and Civil Wars, 1816–1980, Beverly Hills u. a.: Sage Publ. 1981, 89; Pintner, W. M., The Burden of Defense in Imperial Russia, 1725–194, in: The Russian Review 43, 1984, 3, 232–259; Beyrau, Dietrich, Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln u. a.: Böhlau 1984. Im Überblick vgl. Geyer, Dietrich, Der russische Imperialismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, 189–220; Hildermeier, Geschichte Russlands, Kap. XXV; Leonhard, Jörn, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München: C. H. Beck 2014. Schmemann, Serge, Ein Dorf in Russland. Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte, Berlin: Berlin Verlag 1999, 239. 14 Einleitung außer Kraft gesetzt. Die Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft war ein Euphemismus, der die Diktatur einer Parteielite verschleierte. Diese konnte sich allerdings auf einen militanten Anhang stützen. Er verband eine hohe Gewaltbereitschaft gegen tatsächliche und imaginierte Feinde mit einem missionarischen Eifer, das Volk durch »Aufklärung« (prosveščenie) zu beglücken. Gewaltbereitschaft und Missionseifer der Bolschewiki sind nicht allein verantwortlich für den Bürgerkrieg, aber sie haben ihn maßgeblich dadurch bestimmt, dass die Verständigung mit anderen linken Parteien, hier insbesondere mit den Sozialrevolutionären sehr schnell aufgegeben wurde. Der russische Bürgerkrieg enthielt Elemente und Facetten, die dem klassischen Modell des Bürgerkrieges entsprechen, aber auch in Ansätzen solche, die den »neuen« Kriegen zugeschrieben werden. Zu ersterem gehören die politische Polarisierung der Gesellschaft und die militärische Organisation der feindlichen »Parteien« wie ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu systematischen Gewaltaktionen. Es geht um die Kontrolle von Territorien und ihrer Bevölkerung mit dem Ziel der Eroberung der Macht (oder der Teilhabe an ihr). Die Legitimation der Bürgerkriegsparteien bezieht sich in der Regel auf Bevölkerungsgruppen, Ethnien, das Proletariat, die arme Bauernschaft, die »Unterdrückten« oder die Nation, das Reich oder gar die Zivilisation. Sie nehmen Identitäten und Identifizierungen für sich in Anspruch, die manchmal erst durch Gewalt erzeugt und dann auch erzwungen werden. Die Dauer des Bürgerkrieges und die hohen Bevölkerungsverluste sind in der Regel den vielen bewaffneten Konflikten und den vielen Arten der Kriegsführung geschuldet. Im Russischen Bürgerkrieg entschieden eher eine konventionelle Kriegsführung der »Roten« und der »Weißen«, die Sezessionskriege und auswärtige militärische Interventionen. Die konventionellen Kriege wurden aber begleitet von Bandenkriegen, Guerilla-Aktionen, von Aufständen und Pazifizierungen. Die Vielzahl der unterschiedlichen Aktionen gerade auch von para- und nichtstaatlichen Gewaltakteuren näherten in manchen Phasen und Regionen den Bürgerkrieg dem Typus der »neuen« Kriege an: Der Krieg als Selbstzweck. Dies gilt vor allem für nicht-staatliche lose Verbände, die im weitesten Sinne vom Beutemachen leben. Es fehlte allerdings das für die »neuen« Kriege zentrale Merkmal der Gewaltmärkte, d. h. des Krieges um die Kontrolle und Nutzung globaler ökonomischer Netzwerke und Ressourcen um ihrer selbst willen.9 Die historische Literatur über den Bürgerkrieg ist in der Regel fixiert auf den Gegensatz zwischen den Bolschewiki und ihren »weißgardistischen« – so die bolschewistische Terminologie – mehr oder minder gegenrevolutionären Feinden. Stellvertretend stehen hierfür die Generäle A. I. Denikin, A. V. Kolčak, N. N. Judenič und P. N. Wrangel. Während auf bolschewistischer Seite zunächst unerfahrene, aber fanatische Politiker das Handeln bestimmten, waren 9 Diese Typisierung bezieht sich v. a. auf Frech, Siegfried; Trummer, Peter I. (Hg.), Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2005; Kalyvas, Stathis N., The Logic of Violence in Civil War, Cambridge u. a.: Cambridge UP 2006; Dreißler, Stefan, Eigendynamische Bürgerkriege. Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte, Hamburg: Edition Hamburg 2016. Einleitung 15 es auf weißer Seite Generäle, politisch unerfahren und hilflos gegenüber den durch die Revolution verursachten Veränderungen. Die Fixierung auf dieses Gegeneinander ist insofern berechtigt, als die großen Feldzüge und Kämpfe zwischen den beiden Gegnern den Bürgerkrieg letztendlich entschieden.10 Aber eigentlich müsste nicht von einem Bürgerkrieg, sondern von vielen Kriegen im russischen Bürgerkrieg die Rede sein. Die militärischen Auseinandersetzungen gingen zunächst (1918) aus dem Zusammenbruch des alten Regimes hervor.11 In der zweiten Phase (1919 bis 1921) waren sie schon »Kinder« des sich selbst ernährenden Bürgerkrieges und eine Folge der chaotischen Verhältnisse vor allem in den Peripherien des alten Reiches. Die Repressalien auf bolschewistischer und weißer Seite enthemmten die Kriegführung noch weiter. In der Zeit 1917/18 bis 1922 gab es zudem Sezessionskriege. Sie waren wie in Finnland, Lettland und in der Ukraine zugleich auch Bürgerkriege zwischen Weißen und Roten. Die transkaukasischen Republiken wurden wie die Ukraine, der Norden und der Ferne Osten zudem Objekte auswärtiger Intervention und erst zum Schluss durch bolschewistische Truppen besetzt. Besonders in den südlichen und südöstlichen Randgebieten des ehem. Zarenreiches entstanden Räume exzessiver Gewalt, hervorgerufen durch militärische Verbände, oft unter einem charismatischen Führer. Sie »ernährten« sich aus dem Land, das sie durchstreiften. Die Übergänge zwischen politischen Programmen, denen sie angeblich folgten, und reiner Räuberei waren fließend. Stabile Herrschaftszonen vermochten sie nicht zu errichten. In der Regel imitierten sie, was sie unter freiem Kosakentum verstanden. Der Anarchist Nestor Machno in der Ukraine und der exzentrische Baron von Ungern-Sternberg im Fernen Osten und der Äußeren Mongolei sind typische Figuren, die so nur unter den chaotischen Bedingungen des Bürgerkrieges Bedeutung gewinnen konnten.12 Neben dieser, unter dem Sammelbegriff der »atamanščina« zusammengefassten hoch mobilen Kriegführung kam es gegen Ende des Bürgerkrieges zu zahlreichen, wenn auch von einander isolierten Bauernaufständen. Sie reichten vom russischen Schwarzerde-Gebiet bis nach Westsibirien. Sie machten den Bolschewiki erheblich zu schaffen.13 In Mittelasien hatten die Bolschewiki zudem bis in die 1920er Jahre mit Aufständen der einheimischen Basmatschi zu tun. Zum Teil gingen sie über in einen Guerillakrieg.14 10 11 12 13 14 Richard Pipes, The Russian Revolution 1899–1919, London: Collins Harvill 1990; Katzer, Nikolaus, Die weiße Bewegung in Russland, Böhlau 1999; Figes, Orlando, A People’s Tragedy. The Russian Revolution 1891–1924, London: Pimlico 1997; siehe die Beiträge Guerre, guerres civiles et conflits nationaux dans l’Empire russe et en Russie soviétique 1914–1922, in: Cahiers du Monde Russe et Soviétique 38, 1997, H. 1–2 Beyrau, Dietrich, Brutalization Revisited: The Case of Russia, in: Journal of Contemporary History 50, 2015, 2–4, 21–41. Exemplarisch vgl. Schnell, Felix, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg: Hamburger Edition 2012; Sunderland, Willard, The Baron’s Cloak. A History of the Russian Empire in War and Revolution, Ithaca – London: Cornell UP 2014. Krispin, Martin, »Für ein freies Russland…«: Die Bauernaufstände in den Gouvernements Tambov und Tjumen’ 1920–1922, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010. Pakoy, N. B., Basmachi movement from within, in: Nationalities Papers 23, 1995, 373–399; Buttino, Marco, Ethnicité et politique dans la guerre civile à propos de »basmačestvo« en Fergana, in: Cahier du Monde Russe et Soviétique 38, 1997, 1–2, 195–222. 16 Einleitung Auch wenn in der ersten Hälfte 1918 auf weißer wie auf bolschewistischer Seite noch mit versprengten Verbänden der alten Armee gekämpft wurde, so formierten sich doch sehr schnell auf beiden Seiten konventionelle Truppeneinheiten – die Rote Arbeiter- und Bauernarmee und die vielen weißen Verbände in den Randgebieten des ehem. Reiches. Letztere mussten von hier aus operieren. Die Bolschewiki hingegen verfügten über ein vergleichsweise stabiles Zentrum mit seinen teils alten, teils neuen Strukturen. Dies erleichterte die Erzwingung von Kooperation auch jener Teile der Bevölkerung, die eher anti-bolschewistisch gestimmt waren. Dies galt besonders für die Bildungsberufe einschließlich der Offiziere. Auf ihr Wissen konnten die Bolschewiki nicht verzichten. Im Unterschied zur Westfront war der Erste Weltkrieg im Osten auch ein Bewegungskrieg gewesen. Dies gilt in noch stärkerem Umfang für den Bürgerkrieg. Kriegszonen und Operationsfelder waren alle Randgebiete des ehemaligen Reiches, manchmal mit Vorstößen der Weißen nach Zentralrussland. Der Feldstab der Roten Armee versuchte, die territorialen Gewinne und Verluste aller Operationen zwischen dem Oktober 1918 und dem Dezember 1919 zu erfassen. Danach besetzte die Rote Armee in diesem Zeitraum ein Gebiet im Umfang von ca. 1,9 Mio. Quadratkilometern mit einer Bevölkerung von 32,5 Mio. Einwohnern und verlor ein Territorium im Umfang von 750.000 Quadratkilometern mit einer Bevölkerung von 6,9 Mio. Personen. Von Kriegshandlungen erfasst worden sei demnach ein Territorium von 2,8 Mio. Quadratkilometern mit 63, 4 Mio. Einwohnern.15 Damit erklären sich auch die hohen Bevölkerungsverluste, höher als im Weltkrieg. Nach den Angaben des Demographen B. C. Urlanis wiesen im Ersten Weltkrieg – in der Reihenfolge – das Deutsche und Russische Reich, Frankreich und Österreich-Ungarn die höchsten Verluste an Gefallenen und an Verwundungen gestorbenen Soldaten auf. In Relation zu den mobilisierten Soldaten, zur männlichen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter und zur Bevölkerung insgesamt befand sich Russland allerdings auf einem der hinteren Plätze der kriegführenden Staaten. Russland erlebte bis 1917 – im Unterschied zur Zeit des Bürgerkrieges – ein demographisches Wachstum. In den Grenzen der Sowjetunion (1930) wuchs die Bevölkerung von 139 Millionen (1914) auf etwa 142 Millionen Personen (1917).16 Die Kriegszonen des Ersten Weltkrieges hatten sich in den nicht-russischen Peripherien des Reiches, im Westen und im Süden (Transkaukasus), befunden. Dies war sicherlich ein Grund, weshalb der Erste Weltkrieg in der russisch-sowjetischen Erinnerungskultur keine große Rolle spielte. Im Bürgerkrieg wurden mit Ausnahme Zentralrusslands fast alle Territorien des ehemaligen Reiches von Kriegshandlungen erfasst. Die Truppen aller Seiten hatten riesige Distanzen zu überwinden. Regionen wie das russische Schwarzerde-Gebiet, die Ukraine, das Wolga-Ural-Gebiet und Sibirien erlebten jenseits der Fronten zwischen Rot und Weiß zudem noch Kleinkriege, bewaffnete Aufstände und Partisanenaktionen. 15 16 RGASPI f. 71 op. 34 d. 168 Bl. 1–3; zu den Operationslinien vgl. Harrison, Richard W., The Russian Way of War. Operational Art 1904–1940, Lawrence/Kansas: UP of Kansas 2001, 156. Urlanis, B. C., Istorija voennych poter’, SPb: Poligon 1994, 393. Einleitung 17 Damit lässt sich auch die dramatische Verlustbilanz erklären – Verluste durch Kriegshandlungen und mehr noch durch ihre Folgen: Zerstörungen, Epidemien, Kriminalität und Hungersnöte. Daher traf es im russischen Zentrum wie an den Peripherien vor allem die Zivilbevölkerung. Die zentralrussischen Gebiete mit ihren Industriezentren befanden sich fast ununterbrochen unter bolschewistischer Kontrolle. Hier wurden die Bevölkerungsverluste vor allem durch Unterernährung und durch Epidemien verursacht. In den Peripherien ergaben sich die Bevölkerungsverluste durch die mobilen Fronten und vielen Herrschaftswechsel. Nach unterschiedlichen Berechnungen ging die Bevölkerung der in der UdSSR zusammengeschlossenen Gebiete von etwa 142 (1917) auf 132 (1922) Millionen Personen zurück. Die Verluste durch den Bürgerkrieg und die Hungersnot werden für Russland auf 2,5 bis 3 Millionen, für die Ukraine auf eine bis anderthalb Millionen geschätzt.17 In die Rote Armee sind – jedenfalls auf dem Papier – bis zu 5 Millionen Personen rekrutiert worden, in die weißen Armeen bis zu einer Million. Gefallen und an Verwundungen gestorben sind in der Roten Armee schätzungsweise über 700.000, in den weißen Verbänden ca. 225.000 Soldaten. Die Opfer antijüdischer Pogrome werden mit 300.000 bis zu 600.000 Personen veranschlagt, die Opfer bolschewistischer Repressalien und militärischer Befriedungsaktionen mit bis zu 1,3 Millionen, die des weißen Terrors auf bis zu 100.000 Personen. An den Folgen von Epidemien starben 1918 bis 1922 schätzungsweise bis zu 2 Millionen Personen, darunter über 280.000 Rotarmisten. In den polnischen Kriegsgefangenenlagern starben nach sowjetischen Schätzungen Zehntausende von Rotarmisten. Ende 1921 befanden sich ca. 50.000 Personen in sowjetischen Konzentrationslagern.18 Von der Hungersnot 1921/22 wurden schätzungsweise zwischen 22 und 30 Millionen erfasst. Angaben zu den Hungertoten im Wolgagebiet und in der Ukraine belaufen sich jeweils auf etwa 1 Million Personen. Manche Schätzungen nennen sogar die Gesamtzahl von 5 Millionen. Angaben zu den verwaisten und unbehausten Kindern schwanken zwischen 800.000 und vier Millionen, der Umfang der Kriminalität ließ sich seit Ende 1917 ohnehin nicht mehr quantifizieren. Zudem verlor Russland durch Emigration über 1,5 Millionen Einwohner.19 17 18 19 Prokopovič, S. N., Narodnoe chozjajstvo SSSR, Bd. 1, New York: Izd. Čechova 1952, 55–56; Poljakov, Ju. A. u. a. (Red.), Naselenie Rossii v XX veke v trech tomach, Bd. 1, Moskau: ROSSPEN 2000, 94–95; Krawchenko, Bohdan, Social Change and National Consciousness in Twentieth Century Ukraine, Oxford: Macmillan 1985, 46–47. Schätzungen zu den Opfern von Repressalien und den Verlusten auf allen Seiten vgl. Katzer, Nikolaus, Die weiße Bewegung in Russland, Köln u. a.: Böhlau 1999, 293; zu den gefallenen und an Krankheiten verstorbnen Rotarmisten vgl. Krivošeev, G. F. (Red.), Grif sekretnosti snjat. Poteri vooružennych sil SSSR v vojnach, boevych konfliktach. Statističeskoe issledovanie, Moskau: Voennoe izd. 1993, 36, 40; Michutina, I. V., Tak skol’ko že sovetskich voennoplennych pogiblo v Pol’še v 1919–1920 gg., in: Novaja i Novejšaja Istorija 1995, 3, 64–69; Ochotin, N. G., Roginskij, A. B. (Red.), Sistema ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR 1923–1960, Moskau: Memorial 1998, 12. Prokopovič, Narodnoe chozjajstvo, Bd. 1, 59; Poljkakov u. a. (Red.), Naselenie, Bd. 1, 133.134; Golczewski, Frank (Hg.), Geschichte der Ukraine, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 206; Figes, Orlando, Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917– 1921), Oxford: Clarendon Press 1989, 317–326; Narskij, Igor’, Žizn’v katastrofe. Budni nasele- 18 Einleitung (Dis-)Kontinuitäten: Gewalt und Terror in der Revolution von 1905/06 Die Frage, die Historiker und Publizisten umtreibt, ist die nach den (Dis-) Kontinuitäten von Gewalt in Russland. War sie, die aus dem Weltkrieg und dem Zusammenbruch des alten Regimes hervorging, durch spezifische Gewalttraditionen vorgeprägt oder verdankten sich die Exzesse des Bürgerkrieges der spezifischen Situation, wie sie viele Bürgerkriege kennzeichnet, wenn begrenzende Regeln in der Kriegführung und im Umgang mit dem Gegner und der Bevölkerung von den kämpfenden Parteien außer Kraft gesetzt werden?20 Manche Historiker, wie Orlando Figes und Richard Pipes, lassen die Revolution in den 1890er Jahren beginnen, d. h. sie unterstellen implizit eine Kontinuität von mehr als zwanzig Jahren.21 Die meisten Historiker hingegen lassen die »Kontinuität der Krise« 1914 beginnen.22 Im Folgenden werden einige Szenarien und Milieus aus der Zeit vor 1914 vorgestellt, die nicht nur sehr gewalttätig waren, sondern sich in einigen Fällen durch Gewalt geradezu konstituierten. Kriegerische Gewalt als die Erfahrung eines trotz aller Kriege doch begrenzten Teils der Bevölkerung des Russischen Reiches wurde seit der Jahrhundertwende durch eine neue Gewalterfahrung ergänzt, die mit den revolutionären Bewegungen zu tun hatte. Nach der Niederschlagung des Pugačev-Aufstandes (1773–1775), einer Kombination von Kosaken- und Bauernaufständen, hatte das ethnische Russland Gewalt bestenfalls in Gestalt staatlicher Repressalien erfahren. Mit Entstehung der revolutionären Bewegung seit den 1860er Jahren wurde die Bevölkerung erstmals Zeuge von vornehmlich punktueller, aber demonstrativer Gewalt aus der Gesellschaft heraus. Nach der Jahrhundertwende waren es revolutionäre Gruppen, die Gewalt und Terror systematisch als politisches Instrument einsetzten, um die Regierenden zu Reformen zu zwingen bzw. das alte Regime zu stürzen. Im Zuge der politischen Auseinandersetzungen verselbstständigte sich der Terror oft genug und war in manchen Phasen nur noch schwer von gewöhnlicher Kriminalität und Räuberei zu unterscheiden. Zwischen 1905 und 1907 wurden über 9.000 Todesopfer des revolutionären Terrors gezählt, darunter ca. 4.500 Angehörige staatlicher Einrichtungen – vom Minister bis zum Polizisten. Etwa eine gleiche Anzahl von eigentlich unbeteiligten Zivilpersonen wurde durch terroristische Aktionen getötet. Noch 1907 gab es täglich 18 Terroropfer. Zwischen 1908 und 1910 zählten die Behörden 19.957 Terrorakte und sog. Expropriationen. Todesopfer dieser Aktionen waren 732 Beamte und Polizisten und über 3.000 Zivilperso- 20 21 22 nija Urala v 1917–1922 gg., Moskau: ROSSPEN 2001, 323–325, 490–497; Ball, Alan, And now my Soul is Hardened, Berkeley: University of California Press 1994, 16, 36–44, 61–72. Kalyvas, Stathis N., The Logic of Violence in Civil War, Cambridge u. a.: Cambridge UP 2006; Heuser, Beatrice, Rebellen, Partisanen, Guerilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute, Paderborn u. a.: Schöningh 2013. Pipes, Russian Revolution 1899–1919; Figes, Orlando, The People’s Tragedy. The Russian Revolution 1891–1924, London u. a.: Pimlico 1997. Holquist, Peter, Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921, Cambridge – London: Harvard UP 2002. Einleitung 19 nen. Die größte politische Aufmerksamkeit fand die Ermordung des Ministerpräsidenten P. A. Stolypin (1./14. Sept. 1911). Zwischen 1905 und 1911 wurden etwa 17.000 Personen Opfer des Terrors, die Expropriationen sind nur phasenweise gezählt worden. Allein 1905/06 wurden 1951 Überfälle und Expropriationen registriert; davon betroffen waren 940 staatliche und private Geldhäuser. Es wird geschätzt, dass 1905 bis Mitte 1906 etwa 1 Million Rubel auf diese Weise »enteignet« wurden.23 Wenn der sog. Blutsonntag in Petersburg (9./22. Januar 1905) als Auslöser der Revolution in Russland gilt, so konzentrierten sich zunächst die revolutionären Aktionen in den Peripherien, in Polen, den Ostseeprovinzen (Kur-, Livund Estland) und den Kaukasus-Gebieten. Besonders gewalttätig gestaltete sich die Lage in den polnischen Städten. Die Taktik der polnischen Sozialisten (PPS) mit ihrer Kampforganisation (organizacja bojowa) ähnelte in vieler Hinsicht der der russischen Sozialrevolutionäre (PSR). »Selbstschutz« ging reibungslos über in Messerattacken, Schusswaffen-Einsatz oder Bombenattentate. Manchmal wurden auch Revolvermänner (rewolwerowcy) angemietet. Polen erlebte eine Eruption der Gewalt: Streiks, die in aufstandsähnliche Aktionen mit Schießereien übergingen. Revolutionäre und nationalistische Gruppierungen und Parteien bekämpften einander. Lynchjustiz gegenüber angeblichen Verrätern, (jüdischen) Bordellbesitzern oder Prostituierten gehört ebenfalls ins Bild. Lodz und Warschau wurden zu Zentren exzessiver revolutionärer Gewalt mit kollektiven Gewaltaktionen, Morden und Expropriationen – und dann auch staatlicher Repressalien. So wurden hier 1906 680 Anschläge gezählt; 1905–1906 wurden 970 Beamte, Polizisten, Spitzel, Streikbrecher und Unternehmer getötet. In Lodz wurden 1905–1907 mindestens 400 Personen getötet und über 500 verletzt. Die Opfer unter Polizei und Justiz gingen in die Hunderte.24 In den Ostseeprovinzen spielte der individuelle Terror, wie er von der PPS und der PSR propagiert und praktiziert wurde, eine geringere Rolle. Hier standen die Arbeiter- und Bauernbewegung stärker als anderswo unter dem Einfluss der Sozialdemokratie. In allen drei Gouvernements (Kur-, Liv- und Estland) überschnitten sich soziale und nationale Gegensätze. Besonders streikfreudig bis zu Gewaltakten war die multiethnische Arbeiterschaft in Riga und Libau. Auf dem Lande ging die Selbstorganisation der (Bauern-)Gemeinden über in Angriffe, Beschädigung oder Zerstörung. Gütshöfe und Herrensitze gingen in Flammen auf. In Kurland waren 229, in Livland 183 und in Estland 161 Rittergüter, insgesamt etwa 40 % aller Güter Objekte bäuerlicher Aggression. Die Regierung verlor zeitweilig die Kontrolle über das Land und Städte wie Riga.25 23 24 25 Geifman, Anna, Thou shalt kill: Revolutionry Terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton/N. J.: Princeton UP 1993, 21. Kaczynska, Elżbieta, Tłum i władza. Anatomia masowych ruchów społecznych w Królestwie Polskim, In: Dies., Przemoc zbiorowa. Ruch masowy. Rewolucja, Warschau: Wyd. Uniwersyteta Warszawskiego 1990, 83–86; Blobaum, Robert E., Rewolucja. Russian Poland 1904–1907, Ithaca – London: Cornell UP 1995, 74–98. Peršin, P. N., Agrarnaja revoljucija v Rossii, Bd. 1–2, Moskau: Izd. Nauka 1966, Bd. 1, 242; Benz, Ernst, Die Revolution von 1905 in den Ostseeprovinzen Russlands. Ursachen, Verlauf der 20 Einleitung Staatliche Repressalien und das Militär Obwohl in Petersburg und Moskau die Anzahl der Polizei je Einwohner höher lag als in westlichen Hauptstädten, war Russland insgesamt »underpoliced«, d. h. es fehlte eine ausreichende Polizeipräsenz vor allem in der Provinz und in vielen der neuen Industriereviere im Süden.26 Wie schon im Zuge der Bauernbefreiung 1861 bis 1863 und zu späteren Zeiten war eine Befriedung im Falle von Unruhen auf dem Lande ohne den Einsatz der Garnisonstruppen kaum möglich. Ein Vorzeichen dessen, was kommen würde, lieferten 1902/3 die Bauernunruhen in den Gouvernements Poltava und Char’kov. 1905–1907 wurden neben den Ostseeprovinzen die Zuckerrübenanbau-Gebiete der westlichen Ukraine und insgesamt das russisch-ukrainische Schwarzerdegebiet zu Zentren der Bauernunruhen. Hier kam es in 50 % aller Bezirke (uezdy) zu unterschiedlichsten Arten von Manifestationen. Bauernunruhen umfassten Streiks der Landarbeiter und Pächter, Verweigerung von Pachten, Waldfrevel, illegale Nutzung von herrschaftlichen Weiden und Äckern und nicht zuletzt Angriffe auf Gutsherrensitze, aber auch auf bäuerliche Einzelhöfe (chutora). Aus Sicht der Behörden galten oft schon einfache, amtlich nicht genehmigte Bauernversammlungen und ihre Beschlüsse und Petitionen als Aufruhr.27 Als nach dem Oktobermanifest (17./30. Oktober 1905), das die Einführung bürgerlicher Freiheiten und einer Konstitution versprach, die Unruhen weder in den Peripherien noch in den Zentren nachließen und Russland zudem eine Welle von antijüdischen Pogromen erlebte, entwickelte die Regierung eher ungeplant und wenig systematisch den Gegebenheiten angepasste militärpolizeiliche Maßnahmen. Sie ließen den Militärs und der Polizei immer mehr Freiheiten und sicherten faktisch Straflosigkeit für Übergriffe zu. In den Städten mussten die Truppen wichtige Einrichtungen – Fabriken, Banken und staatliche Einrichtungen – bewachen. Bei Streiks und Arbeiteraufständen kamen vor allem Kosaken und andere berittene Einheiten zum Einsatz. In besonders gefährdeten Städten wie in Lodz, Warschau, Riga oder Tiflis patrouillierten kleine Trupps, vornehmlich zum Schutz vor bewaffneten Attacken der hier überall verhassten Polizei. Überfälle auf Soldaten waren seltener. Wurden sie allerdings angegriffen oder fühlten sie sich bedroht, kam es ihrerseits zu Racheaktionen und Ausschreitungen. In Polen hatte die politische Führung angesichts der bedrohlichen Lage schon im Sommer 1905 bewaffnete Patrouillen in Marsch gesetzt. Hier galten Kosaken und andere berittene Einheiten als 26 27 lettischen und estnischen Arbeiter- und Bauernbewegung im Rahmen der ersten russischen Revolution, Mainz: Phil. Diss. 1989, 260, 275–276. Fuller jr, William C, Civil-Military Conflict in Imperial Russia, 18881–1914, Princeton/N. J.: Princeton UP 1985, 102; Schnell, Felix, Ordnungshüter auf Abwegen? Herrrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden: Harrassowitz 2006, 64–102; Schnell, Die »disziplinierte Polizei«: Zum Wandel von Repräsentationen staatlicher Herrschaft im Moskau des ausgehenden Zarenreiches, In: Baberowski, Jörg u. a. (Hg.); Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/M. – New York: Campus 2008, 303–320. Peršin, Agrarnaja revoljucija, Bd. 1, 241–245; Hildermeier, Geschichte Russlands, 1022–1030. Einleitung 21 besonders schießfreudig und zeigten vor Ort eigene Initiativen. Die Infanterie dagegen musste angesichts des ermüdenden und gefährlichen Einsatzes eher zum Einsatz gedrängt werden. Faktisch wurde wie später auch in Russland die Einhaltung formaler Regeln durch das Militär und die Polizei außer Kraft gesetzt.28 Da die Regierung in den Ostseeprovinzen die Kontrolle verloren hatte, mussten regelrechte Feldzüge organisiert werden. Dies geschah unter starker Beteiligung von baltendeutschen Offizieren und Gutsherren. Die Truppen erhielten auch hier weitgehend freie Hand, mit den Folgen von Racheakten, Plünderungen, Brandstiftung und Erschießungen (ohne irgendwelche Formalitäten). Allein im Januar und Februar 1906 sollen ca. 750 Personen getötet worden sein. Allerdings hatte die Regierung seit Januar 1906 die Befehlshaber zur Mäßigung und zur Einhaltung formaler Regeln bei Verurteilungen aufgefordert.29 Auf dem Lande musste auf fliegende Kommandos der in den Gouvernements stationierten und dann auf die von der Front heimkehrenden Truppen zurückgegriffen werden. Auch hier spielten bei den Repressalien Kosaken und andere berittene Einheiten die entscheidende Rolle. Der Einsatz der Truppen auf dem Lande, oft begleitet von höheren Offizieren und selbst von Generalen und Adjutanten aus dem Umfeld des Zaren, kombinierte Überredung, Gewaltandrohung und bei hartnäckigem Widerstand auch exemplarische oder kollektive Bestrafung durch Prügel, Geldstrafen und sonstige Kontributionen. Als die Bauernunruhen und Übergriffe auch nach dem Oktobermanifest nicht nachließen, erhielten die Truppen seit dem November 1905 hier – wie schon zuvor in den Grenzländern – freie Hand. Der Ministerpräsident S. Ju. Witte und besonders der Innenminister P. N. Durnovo forderten ziemlich unverhüllt zum Terror auf. Ob und wie Strafmaßnahmen vollzogen wurden, hing aber sehr stark von den örtlichen Instanzen und Befehlshabern ab. Der spätere Innenminister und Ministerpräsident P. A. Stolypin verschaffte sich als Gouverneur der Provinz Saratov, die von vielen Unruhen erschüttert wurde, durch harte und pauschale Strafmaßnahmen gegen Bauern in Regierungskreisen besonderes Ansehen. Die immer unzureichend versorgten und ausgestatteten Truppen sollten von den Dörfern unterhalten werden. Die Einsätze glichen bald klassischen Dragonaden. Prügelstrafen wurden exzessiv angewendet, Plünderungen und Brandstiftung und andere Übergriffe sollten nicht mehr geahndet werden, d. h. das Regime nahm den Terror auf dem Lande billigend in Kauf.30 Noch wüster war das Verhalten der Truppen in den kaukasischen Gebieten. Hier korrelierte es mit den anarchischen, oft kaum noch überschau- und kon28 29 30 Gumb, Christoph, Drohgebärden. Repräsentationen im historischen Wandel 1904–1907, Berlin: Phil. Diss. Humboldt-Universität 2011, 264–84. Internationale Publikationen (pdf Urn: nbn:de:kobv:11–100213720); Ders., Die Festung: Repräsentationen von Herrschaft und die Präsenz der Gewalt (1904–1906), In: Baberowski u. a. (Hg.), Imperiale Herrschaft, 271–302. Bushnell, John, Mutineers and Revolutionaries: Military Revolution in Russia, 1905–1907, Ph. D. Indiana University 1977, 137. Fuller, Civil-Military Conflict, 137–140; Manning, Roberta Th., The Crisis of the Old Order in Russia. Gentry and Governement, Princeton/N. J.: Princeton UP 1982, 173–175. 22 Einleitung trollierbaren zumeist interethnischen Auseinandersetzungen und oft mit Formen eines Guerillakrieges in manchen Gebieten. Auch hier erhielten die Truppen freie Hand mit den erwartbaren Folgen.31 Die Polizei und Teile des Militärs – vor allem die Kosaken, andere berittene Einheiten sowie die Gardetruppen – fungierten 1905 bis 1907 fast schon als Bürgerkriegspartei. Die Infanterie dagegen und technischen Truppen waren eher anfällig für Passivität, Disziplinlosigkeit und manchmal auch für revolutionäre Stimmungen. Nach den Ausnahmegesetzen von 1881 als Folge der Ermordung Kaiser Alexanders II. und folgenden Ergänzungen waren in den Gebieten im Ausnahmezustand die Gouverneure und andere zivile Instanzen vor Ort berechtigt, Militär zur Prävention oder auch zur Unterdrückung von Unruhen anzufordern. Da Truppen nie in genügendem Umfang zur Verfügung standen und zudem zumeist unzureichend ausgestattet und versorgt wurden, waren diese Einsätze eine große Belastung für die Soldaten und überforderten manchmal die Befehlshaber. In Polen gab es allein 1906 über 11.800 Einsätze, in Russland wurden über 7.500 Einsätze gezählt, nicht so selten unter Mitnahme von Feldgeschützen und Maschinengewehren. Zum Gebrauch von Feuerwaffen soll es 1905 in 8 % der Einsätze, 1906 und 1907 zwischen 4,5 % und 6 % der Fälle gekommen sein.32 Übergriffe von Soldaten waren dabei ebenso an der Tagesordnung wie der Missbrauch der militärischen und polizeilichen Einsätze durch zivile Instanzen und verängstigte oder rachsüchtige Gutsbesitzer, welche die Gelegenheit zur »Lösung« von Konflikten mit den Bauern nutzten. Der Einsatz der Truppen gegen die eigene Bevölkerung war nicht unproblematisch. Er verursachte unentwegte Auseinandersetzungen zwischen dem Kriegsministerium, den Wehrkreischefs, den Militärjuristen und Befehlshabern vor Ort auf der einen Seite, dem Innenministerium und den lokalen zivilen Instanzen auf der anderen Seite. Auffällig an den Konflikten bleibt, dass in der Regel die zivilen Instanzen ihre Wünsche gegenüber den Militärs durchsetzten. Dies galt für die Weisungsbefugnis ziviler Instanzen für den Truppeneinsatz und konnte in Einzelfällen bis zur Vorgabe der Taktik, der Dauer des Einsatzes bis zum Gebrauch der Schusswaffe führen. Es war vor allem der Innenminister P. N. Durnovo, unterstützt vom Ministerpräsidenten S. Ju. Witte, der in den Peripherien und nach dem Oktober 1905 in Russland den schonungslosen Einsatz der bewaffneten Einheiten – gegen das militärische Ressort – betrieb.33 Unter den Militärs gab es Widerstände, sich zum Büttel des Regimes machen zu lassen und – wie die Polizei – alles Ansehen in der Bevölkerung zu verlieren. Ihre wichtigsten Argumente liefen darauf hinaus, dass die ständigen Einsätze für Wachdienste und Patrouillen die Truppen nicht nur überforderten, sondern auch die Ausbildung für den Kriegsdienst verhinderten. Selbst die Kosaken gerieten angesichts umfassender Mobilisierung sowie ständiger und 31 32 33 Baberowski, Jörg, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München: DVA 2003, 77–83; Miller, A. I. u. a. (Red.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj imperii, Moskau: NLO 2007, 284–306. Daten bei Fuller, Civil-Military Conflict, 130, 144, 152; Gumb, Drohgebärden, 268. Fuller, Civil-Military Conflict, 138; Gumb, Drohgebärden, 295–298. Einleitung 23 lang anhaltender Abwesenheit von ihren Arbeits- und Wohnorten in wirtschaftliche Schwierigkeiten.34 Der Einsatz der Kriegs- und mobilen Feldgerichte gegen zivile Angeklagte in Gebieten des Ausnahmezustands stieß zunächst ebenfalls auf Vorbehalte des Militärs. In den Ostseeprovinzen wurden ca. 1.500 (zivile) Angeklagte vor Kriegsgerichte gestellt, davon 595 Personen hingerichtet. Vor den Kriegs- und Feldgerichten standen 1905 bis 1910 insgesamt ca. 23.800 Personen, davon wurden 2.473 zum Tode verurteilt. Der Anteil von Zivilpersonen vor Militärgerichten war 1905 noch vergleichsweise niedrig, 1908 lag er aber bei über 50 %. Bei der Verhaftung und in den Gefängnissen waren Prügel und Folter keine Ausnahme.35 Neben den mehr oder weniger formalen Verfahren vor den Kriegsgerichten der Wehrkreise kamen auch mobile Feldgerichte zum Einsatz, eine »Travestie von Militärjustiz« mit in der Regel unerfahrenen Offizieren als Richtern.36 Daneben muss mit vielen Tötungsakten im Verlauf des Vorgehens gegen Unruhen gerechnet werden. In der Literatur kreisen die Schätzungen um über 30.000 auf dem Lande getötete Personen.37 Die Soldaten und Militärs »funktionierten« im Sinne des Regimes in den peripheren, nicht-russischen Ländern. Etwas anders sah es in den russischen Gebieten aus, wo man es mit der eigenen, russischen Bevölkerung zu tun hatte und die Verständigung bei Wachdiensten und bei Patrouillen in Stadt und Land leichter als in der fremdnationalen Peripherie war. Die Armee war seit den Reformen des Kriegsministers D. A. Miljutin und seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1874 in dem Sinne zur »Volksarmee« geworden, als die Wehrpflichtigen nach einigen Jahren Wehrdienst wieder in ihre Dörfer und Wohn- oder Arbeitsstätten zurückkehrten. Hatten die Soldaten der alten Armee vor dem Krimkrieg formal lebenslang gedient und mit dem Eintritt in die Armee ihre Standeszugehörigkeit gewechselt, blieben sie nun Angehörige der Stände und Berufsgruppen, aus denen heraus sie rekrutiert worden waren. Die Angehörigen der alten Armee vor den Reformen waren durch ihren langen Dienst an zumeist von ihrer Heimat entfernten Stationierungsorten ihrer Herkunft entfremdet und funktionierten als Söldner mit Bindungen nur an ihre Truppe und Vorgesetzten. Daher konnten die Soldaten ohne weiteres im Falle von Unruhen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden. Die Befehlshaber hatten angesichts der vergangenen Kämpfe gegen die Bergvölker im Kaukasus und gegen Polen (1863/64) mehr Erfahrungen im Umgang mit und in der Prävention von Unruhen, Aufständen und Kleinkriegen als die anderen kontinentalen Armeen. Diese Konstellation einer Armee, die blindlings gehorchte, hatte sich seither allerdings grundsätzlich geändert.38 Primärer Zweck der Ausbildung sollte der Kriegs- und nicht der Polizeieinsatz sein. Es 34 35 36 37 38 Fuller, Civil-Military Conflict, 144–168; Bushnell, Mutineers, 138. Fuller, Civil-Military Conflict 171–186; Benz, Die Revolution, 171; Gumb, Drohgebärden, 264–284; Blobaum, Rewolucja, 260–291; Kaczynska, Tłum, 86. Fuller, Civil-Military Conflict, 175. Hildermeier, Geschichte Russlands, 1030. Beyrau, Militär und Gesellschaft, 433–456. 24 Einleitung war nicht ausgemacht, ob die Spannungen und Konflikte in der Gesellschaft nicht auch einen Niederschlag in der Armee finden würden. Die Situation für das Regime war zu Beginn des Jahres 1905 insofern besonders ungünstig, als sich nur etwa ein Viertel der Armee von 2,5–3 Millionen Mann – ca. 650.000 Mann – im Europäischen Russland befand. Die sukzessiv nach Europa zurückkehrenden Einheiten mit ihren vielen Reservisten ließen sich auch nicht ohne weiteres für Polizeidienste verwenden. Die Einsätze im Wachdienst, in Patrouillen und fliegenden Kommandos auf dem Lande waren nicht zuletzt angesichts der schlechten Versorgung und Unterbringung anstrengend und ermüdend. In Russland kam es dennoch nur vergleichsweise selten zu Solidarisierungen zwischen Soldaten und Zivilisten. Es zeigte sich, dass die Bindung an die Truppengemeinschaft (und Angst vor Disziplinarstrafen) insgesamt stärker waren als Sympathien mit den Streikenden und aufrührerischen Bauern. Erst nach Verkündung des Oktobermanifests kam es gehäuft zu Petitionen, Protesten und offenen Meutereien. Das Oktobermanifest hatte hinsichtlich der Soldaten nichts ausgesagt. Aber es wurde in der Truppe als ein Freiheitsdokument aufgenommen, das auch für sie gelte und den Soldaten wie den Zivilisten Bürgerrechte zusicherte. Hier zeigten sich immer noch oder wieder jene kulturelle Distanz und jenes Missverstehen zwischen der Obrigkeit und dem (bäuerlichen) Volk, das die Unruhen auch im Zuge der Bauernbefreiung 1861 bis 1863 geprägt hatten: die Umdeutung obrigkeitlicher Vorgaben im Sinne eigener Erwartungen, Hoffnungen und Visionen von einer guten Gesellschaft. Das Oktobermanifest löste daher zwischen Oktober und Dezember 1905 eine Welle von Petitionen, Protesten und auch gewalttätigen Aktionen aus, die nach militärischen Konventionen der Zeit als Meuterei zu klassifizieren waren. Die Literatur nennt 195 Vorfälle, davon zehn bewaffnete und 52 Fälle, in denen das demonstrative Zeigen von Waffen allerdings eher symbolische Bedeutung hatte. In hundert Fällen wurden Forderungen artikuliert; es wurden etwa die gleiche Anzahl unerlaubter Versammlungen abgehalten; in über fünfzig Fällen kam es zu Übergriffen gegen Offiziere. In sechzig Fällen wurde der polizeiliche Einsatz verweigert.39 Es gab darüber hinaus offensichtlich viele Fälle von Disziplinverfall und passiver Resistenz, bei denen unter der Hand irgendwelche Kompromisse geschlossen wurden, um Schlimmeres zu verhüten. Dies galt insbesondere für viele aus Fernost zurückkehrende Truppen mit hohen Anteilen erst jüngst rekrutierter Reservisten. Um Konflikte zu vermeiden, wurden sie möglichst schnell entlassen. Oft war es daher mühsam, überhaupt einsatzfähige Truppeneinheiten zu mobilisieren. Am aktivsten waren die Marine und Genietruppen mit ihrem hohen Anteil an (Fach-)Arbeitern. Im Mittelfeld zwischen Petitionen und Disziplinverfall befanden sich viele Truppen der Infanterie (und Artillerie) mit ihren hohen Anteilen an Bauern-Soldaten. Am loyalsten erwiesen sich die Truppen der Garde, prominent eingesetzt gegen den Dezember-Aufstand in Moskau, die Kosaken und andere Kavallerie-Einheiten. 39 Bushnell, Mutineers, 74. Einleitung 25 Die Forderungen, die in Petitionen und Beschwerden artikuliert wurden, betrafen zunächst vor allem Probleme des Dienstes: die Dauer des Wehrdienstes, Versorgung und Ausstattung, Besoldung und Urlaubsfragen. Sie umfassten aber in vielen Fällen auch schon grundsätzliche Probleme und Forderungen nach Anerkennung als »menschliches Wesen«. Häufige Themen waren die Arbeitseinsätze zur Aufbesserung der Regimentsökonomie, der Verzicht auf Polizeieinsätze, die Abschaffung der Briefzensur, Freizügigkeit (im Urlaub), Zugang zu öffentlichen Bibliotheken und nicht zuletzt das Recht auf politische Aktivitäten der Soldaten oder Meinungsfreiheit. In Einzelfällen wurde die Wahl von Offizieren und Unteroffizieren gefordert, meistens verbunden mit aktuellen Wünschen, unbeliebte Vorgesetzte abzusetzen. In ihrer Konsequenz liefen die sozialen und politischen Beschwerden darauf hinaus, was 1917 mit dem Begriff des Bürger-Soldaten gefordert und kurzzeitig realisiert wurde, aber angesichts ihres anarchischen Zuschnitts zur Auflösung der Armee führen sollte.40 Auffällig dagegen ist, dass im Unterschied zu 1917 keine Forderungen gestellt wurden, welche die Gesellschaft insgesamt betrafen – etwa die Landfrage, das Wahlrecht oder die Konstitution betreffend. In ihren Vorstellungen blieb die Armee noch ein geschlossener Körper, in dem allerdings Strukturveränderungen parallel zu denen in der Gesellschaft erhofft wurden. Die in den Petitionen und Beschwerden erkennbaren Erwartungen bildeten so etwas wie eine »Avantgarde« unter den aktivistischen Einheiten. Sie waren 1905 nicht repräsentativ für die Stimmung in der Armee insgesamt. Deshalb gelang es dem Regime trotz aller Schwierigkeiten genügend Truppen zur Unterdrückung von Streiks und Aufständen zu mobilisieren. Aber die Loyalität der Masse der Bauern-Soldaten, von den Arbeiter-Soldaten ganz zu schweigen, war nicht mehr über alle Zweifel erhaben. Staatliche und interethnische Gewalt Angesichts der polyethnischen Zusammensetzung des Russischen Reiches besonders in den Grenzländern sind interethnische Konflikte zwar nicht naturgegeben, aber sie überraschen auch nicht angesichts der Migrationen und der sozialen Umbrüche seit der beginnenden Industrialisierung. Konflikte und mehr oder minder friedliches Zusammenleben koexistierten im Zarenreich, wie die neuere Literatur zu Recht betont.41 Hier stehen aber bewaffnete Auseinandersetzungen im Vordergrund. Die Konflikte in den Grenzländern seit Mitte des 19. Jahrhunderts folgten nicht einem Schema, sondern entsprangen sehr unterschiedlichen Situationen. Sie konnten gegen die Regierung gerichtet sein, oft allerdings handelte es sich um regionale Konflikte, in denen die Regierung als Vermittler oder als Instanz auftrat, die Konflikte mit polizeilichen oder militärischen Mitteln ruhig stellte. Dies erleichterte dem Staat vor 1914, die 40 41 Bushnell, Mutineers, 83–91. Buchen, Tim; Rolf, Malte (Hg.), Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und in Österreich-Ungarn (1850–1918), München: DeGruyter Oldenbourg 2015. 26 Einleitung Auseinandersetzungen zu begrenzen und zu isolieren, so dass das Imperium insgesamt dadurch nicht in eine Krise geriet. Es lassen sich im Wesentlichen drei Techniken erkennen, die mit je unterschiedlichem Gewichtung angewendet wurden: Polizeilich-militärische Befriedung, administrative Reformen und bevölkerungspolitische Maßnahmen. Die Unterwerfung des Nordkaukasus seit Beginn des 19. Jahrhunderts war neben militärischen Aktionen immer mit Umsiedlungen, der Ansiedlung von Kosaken und der Aussiedlung von Teilen der einheimischen Bergvölker verbunden. Die radikalste Maßnahme war die mehr oder minder aktiv geförderte Vertreibung der Čerkessen aus dem westlichen Nordkaukasus ins Osmanische Reich. Dies kann man neben den Vertreibungen großer Teile der türkischen Bevölkerung aus den Balkanländern als den Beginn von Bevölkerungskriegen in den Grenzzonen des Osmanischen Reiches, Russlands und des Balkans ansehen.42 Die Eroberung des Nordkaukasus wurde verbunden mit einer Neuordnung der polizeilich-militärischen Verwaltung. Sie sollte als Vorbild für die Etablierung der Wehrkreise dienen, die in den Grenzgebieten und später auch im Innern Russlands den Übergang zum Ausnahmezustand erleichterten.43 Im polnischen Aufstand von 1863/64 wurden Maßnahmen einer ethnischen Trennung zwischen Polen und der ostslavischen Bevölkerung in den sog. Westgebieten nur angedacht. Die Regierung beschränkte sich auf eine soziale Schwächung des polnischen Adels.44 Andere interethnische Konflikte wie die antijüdischen Pogrome 1881/82 wurden polizeilich ruhig gestellt und mit einer Unzahl von diskriminierenden Sonderregeln für die Juden beantwortet.45 Die zunächst latenten Spannungen zwischen den Bauernvölkern und der Ritterschaft in den Ostseeprovinzen boten wie die polnische Frage in den Westgebieten nach dem Krimkrieg den Anlass für eine russisch-nationalistische Agitation. Sie setzte die Regierung zusätzlich unter Druck. Sie sollte den mehr unterstellten als tatsächlich vorhandenen Separatismus der Deutschen und Polen (im sog. Westgebiet) durch administrative Maßnahmen unterbinden. Dies geschah dann ohne radikale Eingriffe in die ständische (Besitz-)Struktur.46 42 43 44 45 46 Miller, A. I. u. a. (Red.), Severnyj Kavkaz, 155–183; Kreiten, Irma, A colonial experiment in cleansing: The Russian conquest of Western Caucasus, 1856–65, in: Journal of Genocide Research 11, 2009, 2–3, 213–241; Beyrau, Dietrich, Grenzen, Politik, Krieg und Herrschaftswechsel: Ein Vergleich, In: Schild, Georg; Schindling, Anton (Hg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u. a.: Schöningh 2009, 231–272, 239–246. Beyrau, Militär und Gesellschaft, 232–254. S. Aufsatz »Waffenungleichheit…« im Sammelband. S. Aufsatz »Vom Pariah ….« im Sammelband. Beauvois, Daniel, La bataille de la terre en Ukraine 1863–1914. Les Polonais et les conflits socioethniques, Lille: Presses Universitaires 1993; Staliunas, Darius, Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam – New York: Rodopi 2007; Ezergailis Andew; Pistohlkors, Gerd v. (Hg.), Die baltischen Provinzen Russlands zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917, Köln u. a.: Böhlau 1982; Brüggemann, Karsten; Woodworth, Bradley D. (Hg.), Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht (16. – 20. Jahrhundert), Köln u. a.: Böhlau 2012 (hier bes. die Beiträge von Brüggemann und Teil II.). Einleitung 27 Wieder einen gänzlich anderen Zuschnitt trugen die Auseinandersetzungen in Mittelasien. Der Status dieser Region des Russischen Reiches ähnelte dem einer Siedlerkolonie. Die Steppenregion, weitgehend identisch mit dem heutigen Kasachstan, und Turkestan waren zu Räumen ostslavischer Zuwanderung und Kolonisation geworden. Die russische Verwaltung forcierte zudem den Baumwollanbau in den Bewässerungsgebieten, mit der Tendenz zur Entstehung einer Monokultur. Der größte Teil der transuralischen Migration von etwa 5 Millionen Menschen war seit 1897 ins nördliche Steppengebiet, nach Sibirien und in den Fernen Osten erfolgt. In den Steppengebieten der Kasachen und Kirgisen wurden vor dem Krieg etwa 530 Bauern- und Kosakensiedlungen mit etwa 144.000 Siedlern gezählt. Andere Schwerpunkte der Zuwanderung waren das Semireč’e-Gebiet sowie Städte und Eisenbahnknotenpunkte in Turkestan. Dort lebten zu dieser Zeit etwa 6,8 Millionen Einheimische (nach heutiger Terminologie vor allem Usbeken, Tadschiken und Kirgisen) und über 40.600 Ostslaven.47 Gleichzeitig waren die Weideflächen der Nomaden zugunsten landwirtschaftlicher Siedlungen und der Sesshaftmachung von Kasachen und Kirgisen eingeschränkt worden. Im Krieg zeigten sich die Auswirkungen insofern, als sich insbesondere Turkestan nicht mehr selbst mit Getreide versorgen konnte. Lieferungen aus Russland waren unzureichend oder blieben aus. Die Folge waren im Sommer 1916 Brotunruhen mit Ausschreitungen und Pogromen der ostslavischen Siedler(innen) gegen zumeist einheimische Händler. Die seit der Jahrhundertwende bestehenden latenten Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern entluden sich, als die russische Regierung mit einem Dekret vom 25. Juni 1916 überraschend die Aushebung von einheimischen Männern im Alter zwischen 19 und 43 Jahren zum Einsatz für Hilfsarbeiten an der Front verkündete. Obwohl die ursprünglich vorgesehene Aushebung von 50.000 auf 30.000 Männer reduziert wurde, um insbesondere den Baumwollanbau nicht zu gefährden, kam es unter den Einheimischen in Stadt und Land zu Unruhen. Die muslimische Geistlichkeit agitierte gegen den Einsatz für die Ungläubigen. Ebenso wichtig für die Proteste dürften die korrupten Praktiken bei der Rekrutierung durch russische Beamte und einheimische Vermittler gewesen sein. Die Praktiken ähnelten hier offenbar denen in den russischen Gebieten und mehr noch denen gegenüber der jüdischen Bevölkerung im Westen des Reiches.48 Es kam zu Übergriffen in den Städten, zu Überfällen auf Bahnhöfe, zu Zerstörungen der Telegraphen und vor allem in den Nomadengebieten zu Überfällen auf ostslavische Siedlungen und Bauernhöfe. Deren wehrfähige Männer waren zumeist zum Kriegsdienst eingezogen worden. Die Zahl der Opfer unter der ostslavischen Bevölkerung wird mit etwa 8.000 Familien angegeben. Etwa 2.000 bis 3.000 Personen sollen getötet worden 47 48 Pipes, Richard, The Formation of the Soviet Union, Cambridge/Mass. – London: Harvard UP 1997, 83. 88. Benecke, Werner, Militär und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874– 1914, Paderborn u. a.: F. Schöningh 2006, 93–109. 28 Einleitung sein. Weit über tausend Bauernhöfe wurden zerstört und verbrannt.49 Der im August als Generalgouverneur nach Taškent entsandte General Aleksej N. Kuropatkin entwickelte eine Counter-Insurgency-Strategie: Sie umfasste die Bewaffnung der ostslavischen Männer, vor allem der (Bahn-)Arbeiter, die vom Wehrdienst ausgenommen waren, den Einsatz fliegender militärischer Kommandos in den strategisch wichtigen Regionen und nicht zuletzt die Deportation der einheimischen Bevölkerung aus einzelnen Regionen. Durch demonstrative und oft genug exzessive Gewalt (vor allem der Siedler) und durch Konfiskationen und Requisitionen insbesondere des Viehbestandes wurde ein erheblicher Teil der einheimischen Bevölkerung in die Flucht nach Singkiang getrieben. Einzelne Bezirke wie Pišpek und Pržewalsk wurden regelrecht entvölkert. Dort verblieben nur etwas über 30 % der einheimischen Bevölkerung. Im Semireč’e belief sich der Bevölkerungsverlust auf 20 %. Ebenso dramatisch waren die Verluste unter den Nomaden. Ein Teil der geflohenen Nomaden kehrte in die russischen Gebiete zurück, weil ihnen in Singkiang nicht geholfen wurde. Die Rückkehrer waren wiederum Massakern ausgesetzt. Die Zahl der Opfer unter den Einheimischen wird in Größenordnungen von Hunderttausenden geschätzt.50 Im Aufstand und seiner Niederwerfung sah die russische Seite offensichtlich eine Gelegenheit, die seit den 1880er Jahren begonnene systematische Kolonisierung des Landes, verbunden mit der Beseitigung der Nomadenwirtschaft zu forcieren. Damit würde der Status der Steppenprovinz und Turkestans als Siedlerkolonien gefestigt. Hierbei konnte man sich auf die Stimmung unter den Siedlern stützen. Sie blickten auf die Einheimischen wie auf »Hunde«. Das bäuerlich-russische Verständnis vom Grund und Boden als Gottesland, das dem zustehe, der es bearbeitet, wurde kolonialistisch transformiert: »Das Land gehört dem Zaren und wir sind das Volk des Zaren«.51 Die Gegensätze zwischen Einheimischen und ostslavischen Siedlern setzten sich insbesondere in Turkestan auch in der Revolution und im folgenden Bürgerkrieg fort. Die »proletarische« Revolution, zeitgleich in Taškent und Petrograd vollzogen, schloss die einheimische Bevölkerung als nicht-proletarisch von der Sowjetherrschaft aus. Die nun bolschewistisch-revolutionär camouflierten Gegensätze blieben in wechselnden Konstellationen bis in die Stalinzeit ein Feld ständiger Konflikte. Sie wurden mit der Kollektivierung gewaltsam still gestellt, hauptsächlich auf Kosten der einheimischen Nomaden- und Bauernvölker.52 49 50 51 52 Amanžolova, D. A. (Hg.), »Takoe upravlenie gosudarstvom – nedopustimo«. Doklad A. F. Kerenskogo na zakrytom zasedanii Gosudarstvennoj Dumy. Dekabr’ 1916 goda, in: Istoričeskij Archiv 1997, 2, 5–22; Happel, Jörn, Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart: Franz Steiner 2010, 140. Zum Aufstand vgl. maßgeblich Buttino, Marko, Revoljucija naoborot. Srednjaja Azija meždu padeniem carskoj imperii i obrazovaniem SSSR, Moskau: Zven’ja 2007 (Aus d. Italien.), 58–90; Happel, Nomadische Lebenswelten, 125–160. Brower, Daniel, Kyrgyz Nomad and Russian Pioneers: Colonization and Ethnic Conflict in the Turkestan Revolt, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44, 1997, 41–53, 48–49. Kindler, Robert, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg: Hamburger Edition 2014; Teichmann, Christian, Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien, Hamburg: Hamburger Edition 2016. Einleitung 29 Pfadabhängigkeiten Die Revolution von 1905/6 ist häufig als Generalprobe für die Revolution von 1917 bezeichnet worden. Eine solche Sicht marginalisiert die Entwicklungen im Jahrzehnt zwischen 1906 und 1917 und die Differenzen zwischen beiden Revolutionen. Ob die fortschreitende Kommerzialisierung und Industrialisierung und die Phase des brüchigen Konstitutionalismus die gesellschaftlichen Polarisierungen gemildert oder nur eingefroren haben, wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet.53 Unstrittig ist, dass für die Revolution von 1917 die Niederlagen der russischen Armee, ihre Erschöpfung und das Organisationschaos verantwortlich waren, das die Armeeführung durch ihre wirtschaftsund bevölkerungspolitischen Maßnahmen verursacht hatte.54 Der große Unterschied zu 1905/6 liegt darin, dass die westlichen Grenzländer als politischer Faktor wegen der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzung ausfielen. In der russischen Arbeiterschaft fanden revolutionäre Gruppen aber nach wie vor einen großen Anklang, wie die militanten Streiks vor allem in Petersburg vor dem Kriegsausbruch belegen. Die wenigen legalen Arbeiterorganisationen und Arbeitervertretungen wurden zudem zunehmend bolschewistisch dominiert.55 Entscheidend für 1917 und die Folgen war die Rolle der Soldaten. Ihre Weigerung zu kämpfen und die wachsende Disziplinlosigkeit besonders in der Etappe untergruben nachhaltig die staatliche Ordnung. Die Antikriegs-Stimmung von 1917 ist nicht mit Pazifismus oder mit der Propagierung von Gewaltlosigkeit gleichzusetzen. Chaos auf der einen Seite, die Unwilligkeit und Unfähigkeit zum Ausgleich unter den politischen Konkurrenten auf der anderen Seite lassen sich als Erbe des alten Regimes, aber ebenso als Erbe revolutionärer Militanz sehen, radikalisiert durch Kriegserfahrungen. Die politischen, manchmal geradezu utopischen Erwartungen und Forderungen – den Arbeitern die Fabriken, den Bauern das Land, den Soldaten Frieden und nicht zuletzt direkte Demokratie durch Sowjets – konnten von keiner Regierung erfüllt werden. Die Volksrevolution erstickte an ihren eigenen Widersprüchen. Die Bolschewiki waren ein Teil dieser Volksrevolution. Sie konnten sie guten Gewissens geschehen lassen und zugleich vom Chaos profitierten. Sie hatten es nicht geschaffen, nutzten es aber für sich aus. Um ihrer Herrschaft Dauer zu verleihen, agierten sie grausamer und systematischer als das alte Regime. Sie taten dies effizienter als ihre Gegner. Sie begründeten ein Herrschaftssystem, das – gestützt auf eine militante Anhängerschaft – sich Autorität verschaffte durch brutale Machtdemonstration und die partielle Integration populärer Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit. Pfadabhängigkeit erweist sich mithin als vielfach gebrochener Prozess ohne eindeutige und vorhersagbare Orientierung. 53 54 55 Hildermeier, Geschichte Russlands, 1336–1340. Sanborn, Joshua A., Imperial Apocalypse. The Great War & the Destruction of the Russian Empire, Oxford: Oxford UP 2014, 21–142. Haimson, Leopold; Brian, Eric, Changements démographiques et grèves ouvrières à Saint-Pétersbourg, 1905–1914, in: Annales ESC 40, 1985, 4, 781–803. 30 Einleitung Polen, die neuen baltischen Staaten und auch Finnland wären Gegenbeispiele und Belege dafür, dass Polarisierungen und Gewalt auch gemildert oder überwunden werden können. Ihre Geschichte nach 1922 zeigt, dass Gewaltorgien wie 1905/6 oder im Bürgerkrieg (in Lettland und Finnland) sich nicht fortsetzen und nicht in Gewaltherrschaft mündeten. Ein Grund mag sein, dass sich die neuen Eliten und maßgebliche Teile der Bevölkerung trotz aller Konflikte zu den Gewinnern des Krieges zählen konnten – im Unterschied zu den Kriegsverlierern und Parias des Versailler Systems.