KATHOLISCHE HOCHSCHULE NORDRHEIN-WESTFALEN, ABTEILUNG KÖLN Masterstudiengang (M.Sc.) Analyse des Suchthilfesystems für Substituierte mit Doppeldiagnosen und Beigebrauch im Hinblick auf die Akzeptanzorientierung – Handlungsempfehlungen für die fachtherapeutische und sozialarbeiterische Praxis und die strukturellen Rahmenbedingungen. – vorgelegt von: Student: Susanne Miller Studiengang: Master of science of addiction prevention and treatment Fachsemester: 6.Semester Matrikelnummer: 507468 Geburtsdatum: 15.01.1985 1. Prüfer: Prof. Dr Wolfgang Schneider 2. Prüfer: Prof. Dr Wolfgang Schwarzer E-Mail: [email protected] Berlin, den 12. Mai 2014 Inhalt 1 Einleitung................................................................................................................6 2 Opiatsubstitution...................................................................................................9 2.1 Definition und Klassifikation Opioidabhängigkeit............................................9 2.1.1 Epidemiologie.....................................................................................................10 2.2 Definition und Zielsetzung der Substitution.....................................................10 2.3 Substitutionsmittel.............................................................................................11 2.3.1 Methadon (Racemat) und Levomethadon(L-Polamidon)....................................12 2.3.2 Buprenorphin (Subutex)......................................................................................12 2.4 Rechtliche Rahmenbedingungen.......................................................................13 2.4.1 Betäubungsmittelgesetz und Betäubungsmittelverschreibungsverordnung ........13 2.4.2 Richtlinien Methoden vertragsärztlicher Versorgung .........................................14 2.4.3 BÄK-Richtlinien.................................................................................................14 2.4.4 Sonstige relevante Gesetze und Verordnungen....................................................15 2.5 Spannungsfelder durch die bestehenden Rahmenbedingungen........................15 3 Psychosoziale Betreuung.....................................................................................17 3.1 Definition und Zielsetzung................................................................................17 3.2 Wirksamkeit von PSB.......................................................................................19 3.3 Aktueller Diskurs über PSB als Zwang oder auf Freiwilligkeit .......................21 3.4 Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten.......................................................23 3.5 Umgang mit Beigebrauch in der PSB ..............................................................23 3.6 „IMPROVE“ eine Befragung unter den Beteiligten.........................................24 4 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten.........26 4.1 Beigebrauch.......................................................................................................26 2 4.2 Komorbiditäten ................................................................................................28 4.2.1 Persönlichkeitsstörungen....................................................................................29 4.2.1.1 Dissoziale Persönlichkeitsstörung...............................................................................30 4.2.1.2 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung................................................................31 4.2.2 Affektive Störungen............................................................................................31 4.2.3 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen.......................................32 4.3 Ätiologische Ansätze für die Komorbiditäten...................................................35 4.4 Selbstmedikationshypothese.............................................................................37 4.5 Zusammenfassung.............................................................................................38 5 Abstinenzorientierte versus Akzeptanzorientierte Suchthilfe..........................39 5.1 Menschenbild....................................................................................................39 5.2 Ethisches Verständnis von Abhängigkeit in der aktuellen Entwicklung...........40 6 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit...............................................................................................46 6.1 Stationäre Rehabilitation...................................................................................48 6.1.1 Schwerpunkt Substitution und Komorbiditäten..................................................49 6.2 Ambulante Rehabilitation................................................................................49 6.2.1 Ambulante Rehabilitation und Substitution.........................................................51 6.3 Soziotherapie.....................................................................................................52 6.4 Psychotherapie..................................................................................................52 6.4.1 Psychotherapie und Substitution.........................................................................55 7 Handlungsempfehlungen innerhalb des bestehenden Suchthilfesystems für Substituierte.........................................................................................................58 7.1 Auf Ebene der Rahmenbedingungen der Substitution .....................................58 7.2 Auf Ebene der psychosozialen Versorgung der Klienten..................................59 7.3 Auf Ebene der Suchthilfeträger.........................................................................59 7.4 Auf Ebene der Kostenträger..............................................................................61 3 7.5 Auf Ebene der psycho- und suchttherapeutischen Versorgung.........................61 8 Ausblick: Ambulante Clearingtherapie bei Substituierten mit Doppeldiagnose unter Beigebrauch ..................................................................63 8.1 Zielsetzung........................................................................................................63 8.2 Zielgruppe.........................................................................................................64 8.3 Setting und Rahmenbedingungen der Clearingtherapie....................................64 8.4 Therapeutische Ausrichtung..............................................................................65 8.5 Einbettung in das bestehende Hilfesystem........................................................65 9 Fazit.......................................................................................................................67 10 Literaturverzeichnis..........................................................................................70 4 Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1: Haltenhof et. al. Übersicht Persönlichkeitsstörungen, 2009, S. 16 Abbildung 2: Fava und Keller, Stufenmodell der Agoraphobie, 1993, S.25 Abbildung 3: Fachverband Sucht e.V, Übersicht Suchthilfesystem,2006, S.3 Verzeichnis der Abkürzungen PSB Psychosoziale Betreuung/Begleitung/Behandlung SGT Substitutgestützte Therapie CMA Chronisch mehrfach Abhängige ICD 10 International Classification of Desease 10 BÄK-Richtlinien Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger BtMG Betäubungsmittelgesetz BtMVV Betäubungsmittelverschreibungsverordnung BÄK Bundesärztekammer fdr Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V DHS Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.v PST Persönlichkeitsstörung PTBS Posttraumatische Belastungsstörung BPS Borderline Persönlichkeitsstörung APS Anti/Dissoziale Persönlichkeitsstörung F xx Kapitel im ICD, xx Ziffer SMA Suchtmittelabhängigkeit SoziotherapieRichtlinien Richtlinien des Bundesausschusses über die Durchführung von Soziotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung PsychotherapieRichtlinie Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie DGS Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin 5 Einleitung 1 Einleitung In meiner beruflichen Tätigkeit in der Psychosozialen Betreuung von Substituierten in Berlin und zuvor in der Drogenberatung in Freiburg hatte ich immer wieder Menschen in der Beratung, die etwas gemeinsam hatten: Die Betroffenen waren substituiert und konnten, trotz unterschiedlicher Etappen im Suchthilfesystem und dem Wunsch, ihren Beigebrauch nicht einstellen. Meist waren es Menschen, die eine oder mehrere diagnostizierte psychische Erkrankungen hatten. Die Betroffenen äußerten im Verlauf oft den Wunsch nach ambulanter Psychotherapie innerhalb ihres Lebensraums. Oft waren sie „therapiemüde“ und angstbesetzt, was die Aufgabe ihres Beigebrauchs betraf, da dieser häufig für die Symptomlinderung ihrer Erkrankungen eine Copingstrategie darstellte. Meist bestand der Wunsch entweder auf langfristige Sicht keine zusätzlichen Substanzen zu konsumieren, bzw. bei Konsum, diesen bewusst und gelegentlich haben zu können. Diese Wünsche sollten aus meiner Sicht in der Suchthilfe respektiert und gefördert werden. Die Betroffenen sind die Spezialisten für ihre Lebensentwicklung und sollten darin bestärkt, unterstützt und gefördert werden. Wiederkehrend haben Klienten versucht, Psychotherapeuten zu finden, die mit Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen arbeiten. Bisher ist es nicht gelungen, ein entsprechendes ambulantes Psychotherapieangebot zu finden. Die Substitution stellt ein Ausschlusskriterium dar, obwohl es seit einigen Jahren möglich ist, unter dieser eine ambulante Psychotherapie zu beginnen. Sie ist jedoch nur möglich ohne zusätzlichen Konsum und dem Willen, innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens, clean zu sein, also auch ohne Substitut. Diese Menschen konnten sich in ihren Lebenssituationen nicht vorstellen, ohne Substitut zu sein und/oder ohne Beigebrauch - meist vor dem Hintergrund vieler Versuche und bestehender psychischer Beeinträchtigungen. Hier stellt sich die Frage, in wie weit die Vorgabe Abstinenz, die nach wie vor - trotz großer Entwicklungen - immer am Ende einer Behandlung stehen soll, noch haltbar ist. Aufgrund dieser Erfahrungen entstand die Idee für diese Arbeit, in der eine Analyse des bestehenden Suchthilfesystems vollzogen werden soll. Eine definierte Klientengruppe von Substituierten mit Doppeldiagnosen und bestehendem zusätzlichen Konsum steht im Mittelpunkt, allerdings sind einige Punkte allgemein zu betrachten. Dazu kommen unterschiedliche Erfahrungen mit Mitarbeitern in der PSB, substituierenden Ärzten, Psychotherapeuten und Psychiatern, die immer wieder in unterschied6 lichen Kontexten bestätigt haben, dass zum einen Unterstützungsangebote fehlen und für diese Klientengruppe passenden Therapieangebote innerhalb ihrer Lebenswelten als defizitär betrachtet werden können. Zusätzlich ist die Behandlung von Klienten in der Substitution, trotz vieler Gesetze und Rahmenbedinungen, in der Praxis (auch innerhalb einer Stadt) so unterschiedlich, dass es teilweise für die Klientengruppe nur mit Glück zu tun hat, ob sie weiter behandelt werden. Oft ist auch ein regelrechtes „Ärztehopping“ zu beobachten, da der zusätzliche Konsum, aufgrund der Doppeldiagnosen, nicht überwindbar ist. Auch Innerhalb meines Teams ist mir wiederholt aufgefallen, wie hoch die Unsicherheit selbst bei Sozialarbeitern in der Praxis ist, was Fragen und Umgang mit psychiatrischen Erkrankungen und konstantem zusätzlichen Konsum betrifft. Weiterhin kommen immer wieder z.B Haltungsfragen auf, die es aus meiner Sicht in der Praxis nicht mehr geben dürfte. In dieser Arbeit soll versucht werden Teilaspekte, die häufig losgelöst voneinander betrachtet werden zusammenzuführen und so ein ganzes Bild zu bekommen. Es sollen aus der Analyse Handlungsempfehlungen auf unterschiedlichen Ebenen abgeleitet werden. Das folgende Kapitel wird sich mit der Opiatsubstitution beschäftigen. Es beinhaltet eine Definition und Klassifikation von Opiodabhängigkeit, um dann auf die Zielsetzung von Substitution einzugehen. Es findet eine Beschreibung und Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gesetzen und Rahmenbedingungen statt, um Spannungsfelder herauszuarbeiten. Ein Punkt wird auch die Beschreibung der zulässigen Substitutionsmittel sein, da diese im Kapitel 7 wieder aufgegriffen werden. Da die Substitution mit einer PSB verbunden ist, und das somit die zwei Bereiche sind, in denen sich Substitutierte befinden, wird diese im zweiten Kapitel genauer beschrieben. Sie wird definiert und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Um die Hilfsangebote für Substituierte zu ermitteln, ist es nötig zu beschreiben, welche Inhalte sie mit sich bringen und welcher Diskurs bezüglich des Zwangs zur PSB, des zusätzlichen Konsums und der Zufriedenheit der Beteiligten besteht. In einem nächsten Kapitel wird die betreffende Klientengruppe näher definiert. Hierbei sind die Schwerpunkte die bestehenden Doppeldiagnosen mit ihren Krankheitsbildern und der damit einhergehende zusätzliche Konsum von psychotropen Substan- 7 Einleitung zen. Um den Zusammenhang deutlich zu machen, wird auf ätiologische Ansätze und die Selbstmedikationshypothese eingegangen. In Kapitel 5 liegt der Schwerpunkt auf dem Akteur Soziale Arbeit, von dem die PSB erbracht wird. Wie ist das Menschenbild im Bereich der Suchthilfe, auf das sich die Soziale Arbeit bezieht und welches ethische Verständnis von Abhängigkeit besteht aktuell. Diese Punkte sind für die Kapitel 6 und 7 relevant und werden daher ausgeführt. Im nächsten Kapitel geht es um einen Überblick der bestehenden Angebote im Suchthilfesystem, um die Abhängigkeit zu „überwinden“, allerdings werden nur solche aufgegriffen, die direkt mit der Sucht in Verbindung stehen. Angebote die unterstützend angenommen werden können, wie Begegnungsstätten, unterschiedliche Wohnformen oder arbeitsvermittelnde Maßnahmen werden nicht weiter aufgeführt. Im 7.Kapitel werden die vorangegangenen Kapitel subsumiert, um Handlungsempfehlungen für die Behandlung von Substituierten auf unterschiedlichen Ebenen zu formulieren. Die Umsetzung der erarbeiteten Handlungsempfehlungen hätte jedoch Auswirkungen für alle Substituierten, und somit sind diese nicht mehr nur für die definierte Klientengruppe gültig. Jedoch sind sie aus der ursprünglichen Frage nach fehlender Unterstützung für die Klientengruppe hervorgegangen. Es geht um eine kritische Auseinandersetzung der vorhandenen Möglichkeiten, einem Abgleich mit Interessen der unterschiedlichen Akteure und dem Blickwinkel auf eine Klientengruppe, bei der oft davon gesprochen wird, sie sei „behandlungsresistent“. Im vorletzten Kapitel soll ein Utopie-Ausblick auf eine Therapiemöglichkeit gegeben werden, die denkbar wäre, würden sich die Handlungsempfehlungen umsetzen lassen. Dieser wird im Überblick dargestellt, weil es aus meiner Sicht die logische Konsequenz für die Klientengruppe wäre. Die Arbeit will einen Versuch darstellen, einzelne Bereiche zusammen zu führen, um unabhängig von Professionen und Interessen, eine Basis zu bilden, einen defizitären Hilfebereich auszugestalten. Es sollte durchgängig bedacht werden, dass es um eine bestimmte Klientengruppe geht, die in den einzelnen Settings oft nicht gut ankommen kann, weil Überforderung und Unsicherheit bzw. ein Mangel an passenden Angeboten besteht. Die vorliegende Arbeit ist für die bessere Lesbarkeit in der männlichen Form verfasst. 8 2 Opiatsubstitution Im folgenden Kapitel wird auf die Theorie zur Opiatabhängigkeit und Substitutionsbehandlung eingegangen. Eine Verortung innerhalb des rechtlichen Rahmens und eine Herausarbeitung der Spannungsfelder in dessen sich die Substitution befindet. Diese Grundlagen sind im Bezug auf den Hauptteil der Arbeit, welcher ab Kapitel 7 beginnt, von großer Bedeutung, da die Handlungsempfehlungen für das bestehende Suchthilfesystem und den Rahmen für eine neue Therapiemöglichkeit daraus resultieren. 2.1 Definition und Klassifikation Opioidabhängigkeit Die WHO definierte Sucht im Jahr 1957 als einen Zustand periodischer oder chronischer Vergiftungen, die durch den Gebrauch von Drogen hervorgerufen werden. Sie legte Kriterien fest, die die Sucht genauer beschreiben. Dies sind der innerliche Zwang eine Droge einnehmen zu „müssen“, eine Dosissteigerung, die aus der entstehenden Toleranz hervorgeht, die psychische und physische Abhängigkeit und die Schädlichkeit für das Individuum bzw. für die Gesellschaft. 1963 ersetzte die WHO den Suchtbegriff durch den der Abhängigkeit. Da diese jedoch nur auf die stoffgebundenen Süchte abzielt, definiert Wanke 1985 Sucht folgendermaßen: „Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Ergebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bedingungen und die sozialen Chancen eines Individuums“ (Tretter, 2001, S. 424). In Kapitel 5 wird erneut auf den Begriff der Abhängigkeit bzw. Sucht eingegangen, da dieses auch in Verbindung zu einem vorherrschenden Menschenbild steht. Substanzbezogene Abhängigkeiten werden im ICD10 (International Classification of Desease) und im DSM IV definiert. Da im deutschsprachigen Raum meist das ICD 10 benutzt wird, wird es auch in dieser Arbeit als Diagnosegrundlage dienen. Das ICD 10 definiert eine bestehende Abhängigkeit wie folgt: „Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und 9 Opiatsubstitution manchmal ein körperliches Entzugssyndrom. Das Abhängigkeitssyndrom kann sich auf einen einzelnen Stoff beziehen (z.B. Tabak, Alkohol oder Diazepam), auf eine Substanzgruppe (z.B. opiatähnliche Substanzen), oder auch auf ein weites Spektrum pharmakologisch unterschiedlicher Substanzen. In letzterem Fall spricht man dann von Mehrfachabhängigkeit bzw. Polytoxikomanie“ (ICD 10, F 19.2,www.dimdi.de ). Bei der Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung müssen mindesten drei der oben genannten Kriterien erfüllt sein und über 12 Monate bestehen. 2.1.1 Epidemiologie Die deutsche Suchthilfestatistik aus dem Jahr 2012 führt 29.415 Personen an, die sich aufgrund ihres Opiatkonsums in ambulante oder stationäre Behandlung begeben haben. Somit ist dieser Personenkreis die zweitgrößte Gruppe nach den Cannabiskonsumenten, die sich in Behandlung begeben. Das Verhältnis von Männer zu Frauen beträgt 1:3,2(vgl. Steppan et al. , 2012). Die Ginko-Stiftung der Landesstelle für Suchtvorbeugung in NRW geht von 6000080000 heroinabhängigen Menschen in Deutschland aus (vgl. Ginko, 2014). Das deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMID) geht 2007 aufgrund unterschiedlicher Datensätze von 92000-182000 Personen aus, die problematischen Heroinkonsum betreiben(vgl. Busch et al., 2007). Allerdings muss bedacht werden, dass sich diese Daten aus den unterschiedlichsten Statistiken ergeben, welche von Polizei, Behandlungsstellen etc. kommen, die jeweils aus eigenen Blickwinkeln bzw. Zugangsmöglichkeiten heraus erhoben werden. Zudem ist „problematischer“ Heroinkonsum nicht weiter definiert. 2.2 Definition und Zielsetzung der Substitution In der Präambel der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Therapie formuliert diese, dass die Opiatabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit ist, die sich als behandlungsbedürftig darstellt. Die Substitution soll, • eine Behandlung darstellen, welche schrittweise zu einer Abstinenz führt und somit einen verbesserten Gesundheitszustand zur Folge hat, 10 • eine Unterstützung sein, weitere bestehenden Erkrankungen behandeln zu können, und • die Risiken verhindern, die aufgrund einer Opiatabhängigkeit bei Schwangerschaft und Geburt bestehen können(vgl. Bundesärztekammer, 2010). Die Umsetzung soll auf unterschiedlichen Ebenen statt finden, oft werden diese als Zielhierarchie dargestellt. • Sicherung des Überlebens, • Reduktion des Beigebrauchs von zusätzlichen Suchtmitteln, • gesundheitliche Stabilisierung und Behandlung von Begleiterkrankungen, • Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben • und der Opiatfreiheit(vgl. Bundesärztekammer, 2010). Auf die einzelnen Punkte wird in der weiteren Arbeit wiederholt Bezug genommen, da es nach wie vor als Ultimo Ratio gesehen wird, die Opiatfreiheit herzustellen und es des öfteren so erscheint, als wären die weiteren Ziele weniger relevant und legitim. Es muss die Frage gestellt werden wie sehr es auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen gewollt ist, auch die anderen Ziele zu unterstützen und zu fördern; immer auf der ethischen Grundlage, dass der Betroffene diese Unterstützung freiwillig in Anspruch nimmt. Auf die ethischen Fragen wird in Kapitel 5 differenzierter eingegangen. Die deutsche Hauptstelle für Suchtfragen formuliert ethische Prinzipien für die Substitution, welche den gleichberechtigten Zugang für alle Betroffenen, die individuelle Hilfeplanung, die vollständige Aufklärung und vor allem das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen umfassen(vgl. DHS, 2010). Eine Substitutionsbehandlung ist angezeigt, wenn eine manifeste Opiatabhängigkeit, wie in Kapitel 2.1 definiert vorliegt. Das zur Substitution eingesetzte Mittel hat die Funktion eines Heroinersatzstoffes, und verhindert das Auftreten von Entzugserscheinungen für einen begrenzten Zeitraum(vgl. Tretter, 2008, Gschwinde 2007). 2.3 Substitutionsmittel Es dürfen nur die in der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) zugelassenen Substitutionsmittel eingesetzt werden. Das sind Methadon, Polamidon und 11 Opiatsubstitution Buprenorphin(vgl. Bundesapothekerkammer, 2011). Seit 2009 ist auch eine Substitution mit Diamorphin möglich. Auf diese wird aber nicht weiter eingegangen, da sonst der Rahmen der vorliegenden Arbeit überschritten würde. Im folgenden werden die Charakteristik der benutzten Substitutionsmittel beschrieben, da diese im Verlauf der Arbeit noch zu bedenken sind (siehe Kapitel 8). 2.3.1 Methadon (Racemat) und Levomethadon(L-Polamidon) Methadon kommt in 2 Formen vor, als d-Methadon und l-Methadon. Das verwendete Methadon ist ein Racemat, dass aus 50% l- und 50% d-Methadon besteht. Das Levomethadon besteht nur aus l-Methadon. Levomethadon, abgekürzt Pola hat bei gleicher Dosis eine doppelte Wirksamkeit. Zusätzlich ist es meist besser verträglich, da es hochwertiger ist. Beide Arten haben eine Halbwertszeit von etwa 24 Stunden, somit muss das Substitutionsmittel täglich eingenommen werden. Es wird oral konsumiert und hat außer den „klassischen Kick“ und ein abgeschwächtes Gefühl der Gleichgültigkeit die gleiche Wirkung wie Opiate, dass heißt, es bringt eine schmerzlindernde, sedierende und angstlösende Wirkweise mit sich. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Schwitzen, Schwindel, Libidoverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen(vgl. Gschwinde, 2007). Von zusätzlichem Gebrauch weiterer atemdepressiv wirkender Substanzen wie Benzodiazepinen oder Alkohol, geht das höchste Gefährdungspotential aus(vgl. Tretter, 2008). 2.3.2 Buprenorphin (Subutex) Buprenorphin ist in Deutschland seit 2000 als Substitutionsmittel zugelassen und wird hauptsächlich zur Substitution von Kurzzeitabhängigen verschrieben. Zusätzlich können Klienten, die sich in einem niedrigen Dosisbereich von Methadon oder Polamidon befinden, auf Buprenorphin umgestellt werden, da sich die Abdosierung einfacher darstellt. Der Handelsname von Buprenorphin ist Subutex, oder als Kombinationspräparat mit Nalaxon, Suboxone. Beide Medikamente müssen sublingual eingenommen werden. Buprenorphin hat je nach Dosierung eine längere Halbwertszeit (1-3Tage), wodurch in gegebenen Fällen keine tägliche Einnahme nötig ist. Ein 12 weiterer positiver Aspekt sind die geringeren Nebenwirkungen, Schwitzen, depressive Verstimmungen, Schlaflosigkeit etc. treten unter Buprenorphin in wesentlich geringerem Ausmaß auf(vgl. Gschwinde, 2007). Buprenorphin hat im Gegensatz zu den anderen Substitutionsmitteln keine sedierende Wirkung, somit sind die Betroffenen klarer und können eher ihren Tagesablauf beibehalten. Allerdings gibt es eine große Gruppe von Klienten, die auf die sedierende Wirkung nicht verzichten wollen bzw. können, da im Bezug auf die Doppeldiagnosen, die Dämpfung der Symptome oft als hilfreich empfunden wird(vgl. Eugen,Gastpar, 2004). 2.4 Rechtliche Rahmenbedingungen Die Substitutionsbehandlung findet in unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen statt, zwischen denen zum einen Spannungsfelder bestehen, und die zum anderen aus suchtpsychologischer Sicht nicht mit dem heutigen Wissensstand zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von abhängigem Verhalten konform sind. In einem späteren Teil der Arbeit wird letzteres genauer dargestellt, zu Beginn liegt der Schwerpunkt auf dem Spannungsfeld zwischen den Rechtsbereichen und Richtlinien, da dieses die Praxis der Substitution teilweise erheblich erschwert. 2.4.1 Betäubungsmittelgesetz und Betäubungsmittelverschreibungsverordnung Das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ist ein Bundesgesetz, in dem der generelle Umgang mit Drogen geregelt ist. Es umfasst den Anbau, die Herstellung und den Handel mit den dort aufgeführten Substanzen. Die Straftatbestände für diese Taten sind dort ebenfalls festgelegt. Im Bezug auf die Substitution ist die Anlage III des BtMG, welche die Regelungen für die verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel beinhaltet, die relevanteste. Im §13 Abs. 3 BtMG ist die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) zu finden(vgl. BtMG vom 9.Juli 2013, Weber, Schröder-Printzen, 2009). Diese regelt die Abgabe und den Verkehr der aufgeführten Substanzen sowie deren Höchstabgabemengen. Für die Praxis muss der substituierende Arzt diese einhalten, da es sonst zu einem Straftatbestand kommen kann. Es sind die Voraussetzungen festgelegt unter welchen der Arzt ein Substitutionsmittel 13 Opiatsubstitution weiter verschreiben darf. Es ist verankert, dass er dieses nicht weiter verschreiben darf, wenn er davon Wissen hat, dass der Patient „...Stoffe gebraucht, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck der Substitution gefährdet, oder das ihm verschriebene Substitutionsmittel nicht bestimmungsgemäß verwendet“(vgl. §5, Abs. (2), BtMVV). Weiterhin wird auf die Vergabepraxis und auf die Take-Home-Regelung eingegangen und diese genau vorgegeben. Die BtMVV ist vor allem im Bezug auf die Häufigkeit von Beigebrauch und der realistischen Umsetzung in der Praxis von Wichtigkeit. Die rigiden Regelungen des BtMG stehen im Widerspruch zur Richtlinie der Bundesärztekammer(BÄK). Wie sollen Ärzte nun in der Praxis verfahren. Diese Diskussion wird zum Ende des Kapitels geführt werden. 2.4.2 Richtlinien Methoden vertragsärztlicher Versorgung In den Richtlinien der Methoden vertragsärztlicher Versorgung werden Behandlungsmethoden aufgenommen, die zu den vertragsärztlichen Leistungen zählen. Im 2. Kapitel ist die substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger (kurz Substitution) beschrieben. Die Grundlage ist die BtMVV und somit hat diese direkten Einfluss auf die Substitutionspraxis. Die Inhalte sind in großen Teilen deckungsgleich mit der BtMVV, jedoch werden hier Empfehlungen für die Praxis ausgesprochen und es handelt sich nicht um ein Gesetz. Jedoch besteht verpflichtender Charakter für die Leistungserbringer der Versorgung(vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss, 2013). 2.4.3 BÄK-Richtlinien Die BÄK legt, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Standes, Richtlinien zur Behandlung Opiatabhängiger in der Substitution fest. Diese Richtlinien sind für die substituierenden Ärzte verbindlich und finden ihre Grundlage im §5 Abs. 11 BtMVV. Die letzte Fassung ist aus dem Jahr 2010, in der einige Punkte verändert wurden. Es werden alle Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Aufnahme einer Substitutionsbehandlung genau definiert. Ebenso die Beendigung und der Abbruch einer substitutionsgestützten Behandlung. 14 „Eine Substitutionstherapie ist zu beenden, wenn sie sich nicht als geeignet erweist, (wenn) sie mit einem fortgesetzten, problematischen Konsum anderer gefährdender Substanzen einhergeht“ (Bundesärztekammer, 2010, S.11). Die Substitution soll Voraussetzungen für die Behandlung von Begleit- und Folgeerkrankungen schaffen, welche die Abklärung von weiteren psychischen Erkrankungen einschließt. Die Erstellung eines individuellen Behandlungskonzepts soll erfolgen(vgl. Bundesärztekammer, 2010). Auf weitere Details dieser Richtlinie wird im Verlauf der Arbeit immer wieder Bezug genommen, um die Spannungsfelder, in denen sich die Behandlung von Substituierten befindet, zu verdeutlichen und zum Schluss Handlungsempfehlungen (Kapitel 7) daraus ableiten zu können. 2.4.4 Sonstige relevante Gesetze und Verordnungen Es bestehen weitere relevante Vorschriften und Gesetze, wie die Arzneimittelrichtlinien, die Gebührenordnung für Ärzte oder die Regelungen über Weiterbildungen der Ärzte, die hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollen, aber keinen direkten Einfluss auf die Thematik der Arbeit haben. 2.5 Spannungsfelder durch die bestehenden Rahmenbedingungen Wie bereits erwähnt, steht das BtMG und die BtMVV mit den Richtlinien der BÄK im Widerspruch. Jellinek beschreibt die Substitutionspraxis als erfolgreich, diese habe aber ein Problem mit der Gesetzeslage. Im BtMG wird der Beigebrauch nicht gewertet, in der Praxis müsse aber der Beigebrauch individuell bezogen auf die Behandlungsziele unterschiedlich gewertet werden. Ein Behandlungsfehler wird durch das BtMG zum Straftatbestand, er müsse aber wie in anderen Fachgebieten der Medizin auch „nur“ als ein solcher gewertet werden(vgl. Jellinek, 2012). Fleischmann führt dieses weiter aus, indem er das strafrechtliche Dilemma wie folgt formuliert: „Bei der Substitutionsbehandlung konkurrieren anders als sonst in der Medizin medizinische und strafrechtliche Erfordernisse. Der Schnittstellenprozess zum BtMG und zur BtMVV ist nicht ohne Delikatesse und erfordert vom Arzt Sicherheit im Umgang mit zwei ganz unterschiedlichen Systemen. Die Praxis zeigt, dass es nach wie vor Strafverfahren gegen substituierende Ärzte gibt, 15 Opiatsubstitution (...)wo sich Ärzte schlicht und einfach in einem Dschungel von Vorschriften und Paragraphen verirrt haben, und zwar in bester Absicht“(vgl. Fleischmann in Bellmann et al., 2000, S. 18). Der 115. Ärztetag fordert den Gesetzgeber auf, die betäubungsrechtlich relevanten Vorgaben (BtMG und BtMVV) an den Stand der Wissenschaft anzupassen. Die Hauptbegründung liegt in der fachlichen Übereinkunft, dass das in der BtMVV festgeschriebene Abstinenzparadigma nicht den internationalen Behandlungsstandards der Opiatabhängigkeit als chronische Krankheit entspricht, die unter anderem auch in den Behandlungsrichtlinien der WHO festgelegt sind(vgl. WHO, 2009). Für Deutschland bedeutet dies die Anpassung an die BÄK-Richtlinien, da diese neben der Abstinenz weitere Zielsetzungen zulassen. Einzelne Punkte der DGS-Initiative beziehen sich auf • • die Höchstverschreibungsdosis,die erhöht werden müsste, die Opiatabhängigkeit müsste durch Opioidabhängigkeit ersetzt werden, da die Substitution dann auch für eine weiteren Patientengruppe ergänzt werden könnte, • die Patientenzahl für Ärzte ohne Weiterbildung sollte von 3 auf 5 erhöht werden, um die Versorgung im ländlichen Gebiet zu verbessern • und die Vergabe aus der Praxis müsste in bestimmten Situationen erlaubt werden(DGS-Initiative zur Änderung der BtMVV, September 2012, 3.Version Langfassung). Der letzte Punkt steht allerdings mit Arzneimittelgesetz und dem Dispensierrecht im Konflikt(vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2010). Hierauf wird nicht eingegangen, da es für die Arbeit nur von geringfügiger Relevanz ist. Zusätzlich wird die Anpassung der Richtlinien der vertragsärztlichen Versorgung an die BÄK-Richtlinien gefordert. 16 3 Psychosoziale Betreuung Im folgenden Kapitel wird die PSB, welche meist im Rahmen der Substitution stattfindet, vorgestellt und auf ihre Eigenheiten im bestehenden Suchthilfesystem untersucht. Die PSB soll kritisch hinterfragt und analysiert werden im Bezug darauf, inwieweit sie für die betroffene Klientengruppe von Relevanz sein kann, unter den gegebenen Besonderheiten, welche diese mit sich bringt. Die Festlegung der Klientengruppe findet im darauf folgenden Kapitel 4 statt. 3.1 Definition und Zielsetzung Bei dem Versuch die PSB zu definieren, stößt man auf die Unsicherheit, für welchen Begriff das „B“ steht: für Betreuung, Begleitung, Behandlung oder Beratung? Für diese Arbeit wurde sich, aufgrund der folgenden Annäherungsversuche, für die Betreuung entschieden. Gerlach beschreibt die „Beratung“ meist als einmalige oder begrenzt thematisch festgelegte Kontaktphase, die „Begleitung“ sei in der Regel offen, wenig verbindlich, könne aber kurz-, mittel- und langfristig angelegt sein. Die „Betreuung/Begleitbetreuung“ und „Behandlung“ sind mittel- und langfristige Unterstützungsangebote, die sich durch einen zeit- und arbeitsintensiven Charakter auszeichnen. Der Rahmen ist verbindlich und mit dem Klienten festgelegt(vgl. Gerlach in Gerlach und Stöver, 2005). Die Unklarheit der Begriffe findet sich auch in den Rahmenbedingungen wieder, die BtMVV spricht von „psychosozialen Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen“, die BÄK-Richtlinien von „psychosozialer Betreuung, Begleitung und Begleitbetreuung“ und die Richtlinien vertragsärztlicher Versorgung von „psychosozialen Betreuungsmaßnahmen“.(vgl. Gerlach in Klee und Stöver, 2005) Obwohl der Betreuungsbegriff etwas Passives beinhaltet, das nicht mit dem zugrunde liegenden Menschenbild einhergeht, wird er in der vorliegenden Arbeit unter der Voraussetzung benutzt, dass die betroffene Person sich auf freiwilliger Basis in PSB befindet, bzw. die Unterstützung möchte. Weitere Ausführungen dazu folgen im Kapitel 3.3. 17 Psychosoziale Betreuung Die Inhalte der PSB sind wie die Begrifflichkeit selbst, nicht klar festgelegt, es zeichnet sich auch bei der „...Organisation, Finanzierung, Angebotspalette, Arbeitsmethoden Zielvorgaben bundesweit ein äußerst heterogenes, teils diffuses (…)“(Gerlach in Schneider und Gerlach, 2009, S.41). und Bild ab. Auf der einen Seite wird dieses hinterfragt, auf der anderen Seite besteht die Befürchtung, dass eine gemeinsame Einigung auf PSB-Richtlinien der Sozialen Arbeit ihre Flexibilität nehmen würde. Diese Flexibilität spiegelt jedoch ein Stück weit die Diversität wieder, mit der Mitarbeiter in der PSB konfrontiert sind bei der Berücksichtigung individueller Entwicklungsverläufe ihrer Klienten. Die PSB verfügt über eine breite Zielsetzung, die von Überlebenssicherung bis hin zur Abstinenzerreichung geht. Zwischen diesen beiden „Polen“ lassen sich jedoch sämtliche Ziele verorten, die sich aufgrund der individuellen Lebenswirklichkeiten der Betroffenen formulieren lassen. (vgl. Gerlach in Schneider und Gerlach, 2009) Die Zielsetzung der PSB unterscheidet sich in der Literatur nur geringfügig. Der Fachverband Drogen und Rauschmittel e.V (fdr) formuliert in seiner Stellungnahme zur Substitutionsbehandlung aus dem Jahr 2007 allgemein: „Psychosoziale Begleitung soll demnach die Linderung und Beseitigung der Folgen der Suchterkrankung durch Unterstützung und Mobilisierung der Problemlösungs- und Veränderungsfähigkeit in Multiproblemsituationen und unter systematischem Einbezug personaler und gesellschaftlicher Ressourcen, der sozialen Umwelt und Nutzung der Hilfesysteme umfassen“(FDR, 2007, S.5). Die PSB hat die Aufgabe, den Betroffenen in seinen psychischen, physischen und sozialen Belangen zu unterstützen. Hierzu gehören: • Sicherung des Überlebens, • Verhinderung körperlicher Folgeschäden, Verbesserung und Stabilisierung des Gesundheitsstatuses • soziale Sicherung der Betroffenen durch Maßnahmen zum Erhalt von Wohnung, Arbeit und privater Unterstützungsstrukturen. • Verhinderung bzw. Milderung sozialer Desintegration, Ausgrenzung und Diskriminierung, (Verminderung der Beschaffungskriminalität und -prostitution • Vermittlung von Einsichten in Art und Ausmaß der substanzbezogenen Störungen und Risiken zur Förderung der Veränderungsbereitschaft, 18 • Förderung eines konsumfreien Lebens bzw. konsumfreier Phasen und Reduzierung riskanter Konsummuster, • Behandlungsmotivation und Akzeptanz professioneller Hilfeangebote, • Erreichen einer verbesserten Lebensqualität, auch durch Bearbeitung von Rückfällen • autonome Lebensgestaltung in freier, persönlicher Entscheidung, • Stabilisierung der Interventionserfolge, Unterstützung dauerhafter Abstinenz. Auch im Rahmen der PSB wird immer wieder darüber diskutiert inwieweit die Abstinenzerreichung im Vordergrund stehen sollte. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V legt in ihrem Positionspapier „Psychosozialer Betreuung Substituierter“ dar, dass die Substitution und somit auch die PSB, als ein wesentlicher Bestandteil der Überlebenssicherung zu werten ist. Die Betreuung muss dem individuellen Hilfebedarf entsprechen. Sie stellt eine Leistung dar, „...die dazu dient, Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“(DHS,2010). Diese Selbstbestimmung beinhaltet im Sinne dieser Arbeit auch den Beigebrauch anderer Substanzen während der Substitution. Hierauf wird bei der Festlegung der Klientengruppe für die defizitären Angeboten näher eingegangen (siehe Kapitel 4.1 und 4.4) 3.2 Wirksamkeit von PSB Die Wirksamkeit der PSB genießt keinen großen Stellenwert in Studien erforscht zu werden, trotz des in Deutschland fast flächendeckend verpflichtenden Charakters. Die WHO hat 2009 eine Studie veröffentlicht, welche die unterschiedlichen psychosozialen Interventionen gegenüber stellte. Das Fazit hierbei war, dass der zusätzliche Substanzkonsum leicht zurück geht, die Haltequote in der Substitution verbessert wird und die gesamte Effektivität gesteigert wird, wenn psychosoziale Interventionen in Anspruch genommen werden. Ausschlaggebend ist allerdings das individuelle Eingehen auf den Betroffenen. 19 Psychosoziale Betreuung Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2009) rät auf der Basis systematischer Übersichtsstudien der verfügbaren Literatur und Expertenkonsultationen hinsichtlich der psychosozialen Behandlung folgendes: „Psychosoziale Interventionen einschließlich kognitiver und verhaltenstherapeutischer Ansätze sowie Techniken des „Contingency Managements“ (verhaltenstherapeutische Verstärkerstrategien) können die Wirksamkeit der Behandlung erhöhen, wenn sie mit Substitutionsbehandlung (agonist maintenance treatment) oder opioidentzugsbegleitender Medikation kombiniert werden. Psychosoziale Unterstützung sollte allen Patienten zugänglich gemacht werden, wenngleich denjenigen, die solch ein Angebot nicht wahrnehmen, eine effektive pharmakologische Behandlung nicht vorenthalten werden darf.“ In der Heroinstudie in Deutschland wurde die Wirksamkeit von zwei Methoden innerhalb der PSB gegenübergestellt und untersucht. Es stellte sich heraus, dass die Methode in der PSB keine Unterschiede aufweist, dass alleine die Tatsache der Teilnahme positive Effekte auf die Haltequote mit sich bringt. Umso langfristiger und intensiver die PSB erfolgt, desto höher die Verbesserung des Gesundheitszustands und der psychosozialen Situation, sowie die Verminderung des Beigebrauchs. Zusammenfassend sagt Dagkwitz, der positive Effekt der Substitution kann durch psychosoziale Interventionen verstärkt werden(vgl. Degkwitz, 2009). Boywitt und Kollegen haben 2012 eine Studie veröffentlicht in der sie die PSB evaluieren. Die Teilnehmer der PSB können ihren Gesundheitszustand stärker verbessern als die Nichtteilnehmer. Bei den Teilnehmern ist wiederum ein Unterschied zwischen konsumfreien und weitergebrauchenden Teilnehmern zu verzeichnen. Die noch konsumierenden Teilnehmer konnten in höherem Maße von der PSB profitieren. Dies resultiert daraus, dass bestehender Beikonsum wohl eine stärkere Ausgangsbelastung darstellt. Die Studie fasst die PSB zusammen, indem sie formuliert, dass sie ein „...günstiger Bestandteil der Substitutionsbehandlung, der zu einer Stabilisierung der psychosozialen Situation der Klienten beiträgt“(Boywitt, et al.,2012, S.275). ist. Der Zusammenhang der Wirksamkeit zur bestehenden Beigebrauchsintensität muss beim nächsten Punkt der Arbeit wieder aufgegriffen werden. 20 3.3 Aktueller Diskurs über PSB als Zwang oder auf Freiwilligkeit Seit Beginn der Substitutionsbehandlung in Deutschland war die PSB ein Teil des Behandlungskonzepts, bezüglich des Verpflichtungscharakters gab und gibt es Unterschiede, in Bremen war sie ein freiwilliges Angebot, in Berlin wurde sie als verpflichtende Mitbehandlung eingeführt. Heute besteht meist aus rechtlicher und fachlicher Perspektive deutschlandweit eine Teilnahmeverpflichtung innerhalb der Substitution. Die Häufigkeit des Gesprächsturnuses hängt von der Region, dem Träger, der Finanzierung, der Bedürfnisse des Klienten und vielem mehr ab(vgl. Gerlach in Gerlach und Stöver, 2005). Die DHS schreibt in ihrem Positionspapier zur Psychsozialen Betreuung aus 2009: „Unterstützend zur ärztlichen Substitutionsbehandlung soll routinemäßig PSB angeboten werden. (...) Die Mehrheit der in der DHS vertretenen Verbände hält die PSB daher für einen zentralen Bestandteil der Substitutionsbehandlung in Deutschland, auf den nur dann verzichtet werden kann, wenn und solange eine PSB nicht möglich oder nicht notwendig ist. In diesem Fall kann zur Abwehr akuter gesundheitlicher Gefahren die medizinisch pharmakologische Behandlung auch ohne PSB erfolgen“(DHS,2010). Daraus lässt sich schließen, dass nicht alle Verbände oder Vereine die Ansicht haben, dass die PSB einem Zwangscharakter unterliegen sollte. Diese unterschiedlichen Positionen sollen im folgenden erläutert werden. Vor allem in Hinsicht auf die Selbstbestimmung des Klienten (vgl. 5) lässt sich der Zwangscharakter kritisch hinterfragen. Auch der Gedanke, dass die Substitution ausreichend in der Forschung auf ihre Wirksamkeit untersucht wurde und die der PSB, wie in 3.2 beschrieben, nicht, muss die Frage zulassen, wie kann so sicher die Verpflichtung zur PSB gefordert und durchgesetzt werden, wenn ihre Wirksamkeit nicht einmal ausreichend evidenzbasiert nachgewiesen ist. Unter anderem äußern sich Gerlach, Stöver und Schneider in unterschiedlichen Veröffentlichungen kritisch gegenüber der Pflicht bzw. dem Zwang zur PSB. Stöver und Gerlach hinterfragen in ihrem Übersichtbeitrag über die PSB, warum Patienten erst „...zu ihrem Glück gezwungen werden müssen, und warum man nicht auf die Notwendigkeit, Bedeutung und Attraktivität der Angebote setzt“(Stöver, Gerlach, 2010, S. 66). 21 Psychosoziale Betreuung So könnte durch eine Informationsweitergabe den Betroffenen die Entscheidung gegeben werden, ob und welche Hilfen sie in Anspruch nehmen wollen. Auch die Angebotspalette wäre breiter gestaltbar. Denn die Unterstützungsvielfalt ist so groß, wie die Vielzahl der Individuen, welche die Hilfestellungen gerne in Anspruch nehmen möchten. Die Möglichkeit „echte“ individuelle Angebote machen zu können, wäre inbegriffen. Die Suchthilfe müsste selbstbewusst hinter ihren Angeboten stehen und nicht über eine Verpflichtung Klienten „an sich binden“. Laut Buschkamp sollte PSB „..idealerweise nur auf ausdrücklichen Wunsch der Substituierten als Hilfe zur Bewältigung persönlicher Probleme durchgeführt werden“(Buschkamp nach Gerlach und Stöver, 2010, S. 66). Nachgewiesener Weise trägt die Substitution allein schon dazu bei, dem Betroffenen eine verbesserte Lebenssituation zu ermöglichen. Weshalb weiß die Suchthilfe besser als der in seiner Lebenswirklichkeit Verankerte, was gut für ihn ist? Die Haltungsfrage, die nicht trennbar davon dahinter steht, wird zu einem späteren Zeitpunkt der Arbeit thematisiert(siehe Kapitel 5.). 2010 fand in Berlin in Expertentreffen mit dem Arbeitstitel „Strategien zur Sicherung und Verbesserung der Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger“ statt. Ein Punkt waren die Rahmenbedingungen und Anforderungen an die PSB. Die aktuelle Diskussion über die frei wählbare Zusatzleistung PSB fand auch dort ihren Raum. Deutschland ist mit Schweden und Norwegen das einzige Land, welches PSB als verpflichtendes Element in die Substitution integriert hat. Durch die nicht einheitliche Definition der PSB, hat sich eine große Bandbreite an Leistungen etabliert. Die Arbeitsgruppe übt Kritik daran, dass in manchen Regionen durch das fehlende Angebot einer PSB auch keine Substitution aufgenommen werden kann, dass der „Zwangscharakter“ und die damit einhergehende große ökonomische Bedeutung keine Offenheit für die individuell benötigten Angebote zulässt, dass die Träger Angst davor haben, kommunale Finanzierungen zu verlieren, wodurch eine Kreuzfinanzierung anderer Angebote durch die PSB problematisch wird, bis hin zu einigen Stimmen, die der PSB auf Grund des Zwanges die Legitimation ganz entziehen. Dies basiert auf der Grundlage, dass die akzeptierenden Haltung in der Suchthilfe sich auf ein ressourcenorientiertes, selbstbestimmtes Menschenbild bezieht, widerspricht. Ei22 nigkeit bestand in dem Punkt, dass Betroffen als Beteiligte gesehen und behandelt werden müssen und darin, dass Abhängigkeit eine multi-dimensionale Erkrankung ist, und somit als bio-psycho-soziales Modell zu verstehen ist und dementsprechend durch integrative Behandlungskonzepte behandelt werden muss. Der erste Arbeitsschritt wäre allerdings auch hier eine allgemein gültige Definition des Angebots PSB (vgl. akzept e.v, 2010). 3.4 Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten Gölz beschreibt die Zusammenarbeit zwischen Klient/Patient, Arzt und Berater als eine besondere auf Grund der unterschiedlichen Professionen und damit verbundenen Zielsetzungen. Zum einen kann die daraus resultierende Dynamik therapeutisch genutzt werden, zum anderen kann es aber aufgrund der Persönlichkeitsakzentuierungen der Behandelten leicht zu Rivalitätsproblemen führen. Die Professionen sollten sich ihrer eigenen und der anderen Kompetenzen bewusst sein. Die eigene Behandlungsmotivation muss ständig reflektiert werden und die eigenen suchtmedizinischen Kenntnisse, therapeutischen Fähigkeiten und das Wissen über psychiatrische und somatische Erkrankungen realistisch eingeschätzt werden. Es müssen regelmäßige Fallbesprechungen und Dreiergespräche stattfinden, um den Prozess transparent zu gestalten und die Ziele sollten immer wieder neu festgelegt werden. Es müssen klare Regeln vereinbart sein, über die alle Beteiligten informiert sind(vgl. Gölz in Gerlach und Stöver 2005). Ebenso kommt es bei der Zusammenarbeit auf die strukturellen Rahmenbedingungen an. In ländlichen Regionen gibt es die Substitution meist integriert in die hausärztliche Versorgung, während es im städtischen Raum auch integrierte Modelle gibt, in denen die Substitution und die PSB unter einem Dach sind. 3.5 Umgang mit Beigebrauch in der PSB Es gibt nur wenig aussagekräftige Literatur bezüglich des Umgangs innerhalb der PSB mit Beigebrauch. Auf Internetseiten der diversen Suchthilfeträger spiegeln sich die unterschiedlichsten Ansichten bezüglich des Beigebrauchs wieder. Grundsätzlich gibt es nur die Richtlinien für die Substitution, in denen der Beigebrauch thematisiert wird. Es scheint, als wäre der Umgang mit Beigebrauch zum großen Teil von der Haltung und des Suchtverständnisses der einzelnen Träger abhängig. Es gibt Träger, 23 Psychosoziale Betreuung die bei Beigebrauch als Bedienung eine Entgiftung fordern als Voraussetzung bzw. für die Weiterführung einer PSB. Ebenso gibt es PSB-Konzepte, die den Beigebrauch in die PSB einbeziehen oder spezielle Programme im Sinne einer Beigebrauchskontrolle, integrieren. Aus der Praxis wird immer wieder laut, dass sich bei Umgang mit Beigebrauch sehr schwer getan wird, was auch damit zu tun hat, dass die PSB und der Klient oft zum Handeln „gezwungen“ werden, da der Arzt die rechtliche Verantwortung trägt und daher die nächsten Behandlungsschritte vorgibt. Auf den Umgang, vor allem im Zusammenhang mit Doppeldiagnosen und weiteren Abhängigkeitserkrankungen, die eben nicht substituiert werden können, wird in einem späteren Teil der Arbeit genauer eingegangen(siehe Kapitel 4). 3.6 „IMPROVE“ eine Befragung unter den Beteiligten Akzept e.V erhob in der Befragung „IMPROVE“ 2009 mit Interviews und Fragebögen Informationen zur aktuellen Substitutionspraxis. Es wurden 200 Konsumenten die nicht substituiert werden, 200 mit Substitution, 101 Substitutionsärzte und 51 nicht-substituierende Ärzte mit suchtmedizinischer Qualifikation befragt. Bei „IMPROVE“ ging es um das Verständnis und die Einstellungen der Ärzte und der Opioidabhängigen zur Qualität und Versorgungslage der Behandlungsform Substitution. Die Studie unterteilt nach vier Regionen: Nord, West, Ost und Süd. Patienten und Ärzte sehen in allen Regionen die soziale Rehabilitation und verminderte Straffälligkeit, den verminderten Konsum und einen verbesserten Gesundheitszustand als die wichtigsten Aspekte. Die örtliche Versorgung ist aber regional sehr unterschiedlich. 31% aller Befragten bezeichnen die Versorgungssituation als schwierig bis sehr schwierig, vor allem im Süden mit 54% sei die Suche nach einem Substitutionsarzt problematisch. Die schlechte Verfügbarkeit von Ärzten, Wartelisten für die Behandlung, das strenge Behandlungsreglement und fehlendes Wissen sind aus Ärztesicht wichtige Punkte. Die Gruppe der Nicht-Substituierten begannen unter anderem keine Behandlung, weil sie Angst hatten, die Regeln nicht einhalten zu können und dadurch der Frustration eines Behandlungsabbruchs ausgesetzt zu sein werden. Bei der Gruppe der Ärzte, die substituieren dürfen, aber keine Substitution anbieten, benennen 37% die Rahmenbedingungen, 18% den organisatorischen Aufwand und 14% die Vergütung als Gründe. 82% dieser Ärzte haben in der Vergangenheit substi24 tuiert, aber aus oben genannten Gründen nicht mehr angeboten. Die Verbesserungsvorschläge der substituierenden Ärzte unterscheiden sich kaum von den Kollegen, die nicht substituieren. Hier sind es bspw. 47%, die sich Veränderungen in den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen wünschen. Betrachtet man die Wünsche der Patienten differenzierter, so geht es überwiegend um die Vereinfachung der Take-Home-Regelungen, die Flexibilität der Ausgabezeiten und mehr persönlicher Verantwortung. Die Ärzte sehen die unerlaubte Medikamentenweitergabe innerhalb der Take-HomeRegelungen mit 49% als ein erhebliches Problem, 17% als ein besonders schweres Problem. Die Bedenken sind begründet, da 23% der Patienten angeben, ihr Substitut schon mal verkauft oder weitergegeben zu haben, um anderen eine Eigensubstitution zu ermöglichen oder den Suchtdruck zu nehmen. Dies würde für einen weiteren Ausbau der Therapiemöglichkeit sprechen. Ein weiterer wichtiger Punkt bei IMPROVE ist die Substitution in der Haft. Darauf wird in dieser Arbeit nicht eingegangen. Auch die PSB wird als sinnvoll und unterstützend bewertet. Der Schwerpunkt der Befragung lag jedoch auf der medizinischen Behandlung, also auf der Substitution(vgl. akzept e.V, „IMPROVE“, 2010). 25 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten 4 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten In der Praxis der PSB wird man immer wieder mit einer Klientengruppe konfrontiert, die aufgrund ihrer multiproblematischen Lebenskontexten und ihrer oft jahrelangen Konfrontation mit dem Suchthilfesystem resigniert haben. Es wird häufig von wiederholten Behandlungsabbrüchen auf beiden Seiten gesprochen und davon, dass diese Gruppe „behandlungsresistent“ sei. Bei genauerer Betrachtung fallen jedoch einige Faktoren auf, weshalb es für diese Klienten „keine“ Hilfe geben kann. Sie werden als „schwerstabhängige“, „behandlungsrestistente“, „durch das Netz gefallene“, „motivationsschwache“, „nicht Wartezimmer taugliche“ Kranke bezeichnet, die bereits alle Hilfen in Anspruch genommen haben, und sich trotzdem keine Verhaltensänderung abzeichne. Im Bezug auf die Substitution und die PSB geht es um den Kontext Beigebrauch bei bestehenden Komorbiditäten, im Sinne einer Selbstmedikationshypothese, welche zum einen, innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen der Substitution, an ihre Grenzen stößt, zum anderen aber Haltungsfragen in Richtung Akzeptanzorientierung aufwirft (Kapiel 5.2). 4.1 Beigebrauch In der Substitutionsbehandlung ist der Beigebrauch von anderen Substanzen von großer Relevanz. Zum einen durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, zum anderen auf dem „Weg zur Abstinenzerreichung“. Es gibt Untersuchungen zu bestehendem Beigebrauch und wichtige Beiträge aus der Praxis, wie damit umgegangen wird (bzw. werden sollte). Zu Beginn werden die Häufigkeiten des Beigebrauchs dargestellt. Die Premos-Studie aus dem Jahr 2011 zeigt, dass nach 6 Jahren Untersuchungszeitraum die häufigsten Beikonsumsubstanzen Cannabis mit 33,4%, Benzodiazepine mit 18,6% und Opioide mit 12,8% waren. Inwieweit die Daten von dem 1-Erhebungszeitpunkt abweichen, kann wegen der Nichtverfügbarkeit eines entsprechenden Nachweises nicht beurteilt werden(vgl. Wittchen et al., 2011). Das Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) Hamburg verweist bezüglich der 30-Tagesprävalenz in einer Studie zum Gebrauch von Substanzen in der Substitution bei Heroin auf 31,7%, bei Kokain auf 22,0% und bei Benzodiazepinen auf 23,2%(vgl. ZIS, 2013). 26 Die Zahlen der beiden Studien sind nicht direkt vergleichbar, da die Premos-Studie nach 6 Jahren Laufzeit die Daten erhoben hat und das ZIS eine Querschnittstudie, und sich somit die Befragten an unterschiedlichen Punkten ihrer Behandlung befanden. Abschließend kann man sagen, dass Cannabis, Kokain, Opiate und Benzodiazepine die größte Gruppe der zusätzlich konsumierten Substanzen ausmacht. Im Bezug auf die Praxis findet man zum thema Beikonsum unterschiedliche Positionen. Stöver formuliert seinen Standpunkt zum Beikonsum 2007 wie folgt: „Sofern der Beikonsum nicht lebensgefährdend ist, sollte er zunächst nur Anlass sein, im Gespräch gemeinsam die Ursachen zu erforschen und eine allmähliche Verhaltensänderung herbeizuführen. Liegt der Versuch einer Selbsttherapie mit ungeeigneten Mitteln vor, sollte der Arzt den Beikonsum durch eine medizinisch sinnvolle Therapie ersetzen. Vor allem, wenn gleichzeitig eine soziale Reintegration und eine berufliche Rehabilitation gelungen ist, sollte ein fortgesetzter unproblematischer Nebenkonsum nicht mit einem Therapieabbruch geahndet werden“(Stöver, 2007, S.17f). Auch Küfner und Ridinger sprechen sich dafür aus, dass bei fortlaufendem Konsum zuerst eine psychiatrische Abklärung stattfinden muss, und die Beendigung der Substitution keine Alternative darstellt(vgl. Küfner und Ridinger, 2008). Ganz grundsätzlich sollte nach Schay die Substitution, als Behandlungsform einer Abhängigkeitserkrankung, der von anderen chronischen Erkrankungen gleichgesetzt werden. Das bedeutet, sie ist zentraler Bestandteil in der Behandlung Abhängigkeitserkrankter und muss im Sinne von harm-reduction statt finden, unabhängig von einem Abstinenzwillen(vgl. Schay, 2011). In der Praxis kommt es für Betroffene oft zu Auflagen seitens der Ärzte zur Beigebrauchsentgiftung. Es werden für die Dokumentationen immer wieder saubere Urinkontrollen benötigt, um vor der Kassenärztlichen Vereinigung die Aufrechterhaltung der Substitution zu legitimieren. Diesen wird meist nachgekommen, da kein Abbruch der Substitution riskiert wird. Allerdings wird der Beigebrauch meist wieder aufgenommen, aufgrund der Selbstmedikation (Kapitel 4.4). Es entsteht oftmals ein Kreislauf zwischen Substitution und gehäuften, „halbfreiwilligen“ Beigebrauchsentgiftungen. 27 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten 4.2 Komorbiditäten Als Komorbidität bezeichnet man in der Medizin das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer Grunderkrankung. Die Zusatzerkrankung muss ein eigenes, diagnostisch abgrenzbares Krankheitsbild aufweisen, das nicht selten kausal mit der Grunderkrankung zusammenhängt. Es können Doppel- und Mehrfachdiagnosen gestellt werden. Der Begriff der Doppeldiagnosen bezeichnet die Komorbidität zwischen einer Abhängigkeitserkrankung und einer psychischen Erkrankung. Wenn mehrere Abhängigkeitserkrankungen bestehen wird von einer Mehrfachabhängigkeit gesprochen. Die Doppeldiagnose ist somit eine bestimmte Form der Komorbidität(vgl. Moggi, 2007). In der Arbeit werden die Begriffe Doppeldiagnose und Komorbidität jeweils des entsprechenden Autors benutzt. Tretter geht von 40-60% der Substituierten aus, die eine psychiatrische Komorbidität aufweisen(vgl. Tretter,2008). Auf die somatischen Komorbiditäten wird in der vorliegenden Arbeit hingewiesen, allerdings nicht vertieft eingegangen. Die höchsten somatischen Komorbiditäten bestehen zu Hepatitis, HIV/AIDS und Gefäßerkrankungen. Wenn unterschiedliche Arbeiten verglichen werden, zeigen sich die häufigsten Komorbiditäten zwischen Abhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen(37-79%), affektiven Störungen(31-58%) und Neurotischen-, Belastungs-, und somatoformen Störungen(32-55%). Krausz et al. erhoben 1998, in Hamburger Drogenhilfeeinrichtungen, Daten zur Komorbidität unter Opiatabhängigen. Die Untersuchung ergab, dass bei 55% der Befragten, mindestens einmal in ihrem Leben, eine weitere ICD 10 Diagnose im Bereich psychischer Erkrankungen festgestellt worden war. Hier ergab die Auswertung, dass mit 43% die Belastungs- oder Transformatoren Erkrankungen die größte Gruppe bildeten und die affektiven Störungen bei 32% lagen(vgl. Ladewig in Thomasius, 2000). Die einzelnen Komorbiditäten werden im folgenden sowohl epidemiologisch als auch inhaltlich genauer beschrieben. 28 4.2.1 Persönlichkeitsstörungen Von einer Persönlichkeitsstörung(PST) innerhalb der Diagnosesysteme wird gesprochen, wenn eine Person Verhaltens-, Gefühls- und Denkmuster aufweist, die von denen der soziokulturellen Umgebung abweichen und somit für den Betroffenen in persönlichen und sozialen Situationen zu „Problemen“ führen. Die Muster innerhalb der Persönlichkeit sind unangepasst, unflexibel und überdauernd. Beeinträchtigungen und Leidensdruck entstehen meist in den Bereichen Soziales und Arbeit. Es werden jedoch auch andere Lebensbereiche tangiert. Es wird von dysfunktionalen Persönlichkeits- und Verhaltensstilen gesprochen(vgl. Schmitz et al., 2001). Frommer definiert Persönlichkeitsstörungen als „...langjährig persistierende unflexible Charakterzüge und Verhaltensmuster eines Individums, die sich in zahlreichen Situationen manifestieren und zu subjektivem Leiden des Beroffenen und seiner sozialen Umgebung führen“(Frommer in Haltenhof et al. 2009, S.11). Für die Betroffenen ergeben sich aus einer PST eine Vielzahl von Folgen, z.B Mangel an Beziehungsfähigkeit, Isolation, konfliktgeladene und instabile Beziehungsmuster und/oder einer Diskrepanz von Nähe, Distanz und Autonomie(vgl. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V, 2011). Im ICD 10 gibt es 8 spezifische PST und zwei weitere sonstige nicht weiter beschriebene. Diese lassen sich in drei Gruppen aufteilen. Abbildung 1: Übersicht der Persönlichkeitsstörungen nach Haltenhof Frei und Rehm haben in der Schweiz 2002 eine Meta-Analyse von 16 Studien durchgeführt, in der 3754 opiatabhängige Patienten eingeschlossen waren. Die Lebenszeitprävalenz für PST betrug 42,2 %, differenziert nach Art der PST ergaben sich 29 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten für die dissoziale PST 30,6 % und für die Borderline PST 10,6%(vgl. Haltenhof et al. 2009, Frei und Rehm 2002). Zu den oben allgemein beschriebenen Kriterien der PST kommen spezifische Diagnosemerkmale hinzu. Im folgenden Abschnitt werden diese beschrieben. 4.2.1.1 Dissoziale Persönlichkeitsstörung Die Dissoziale PST wird im ICD 10 unter F 60.2 wie folgt festgelegt: „Eine Persönlichkeitsstörung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen für andere gekennzeichnet ist. Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das der betreffende Patient in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist“ (ICD 10, F60.2, www.dimdi.de). Zarbock beschreibt den Persönlichkeitsstil von Betroffenen als einen, der in Hinsicht auf die Entstehung dadurch gekennzeichnet ist, früh Gewalterfahrungen gemacht zu haben und Bindungsunsicherheit erlebt zu haben. Überproportional sind Männer betroffen, die sich dann durch ihre Erfahrungen damit abfinden sich mit einer „Täterrolle“ zu identifizieren. Das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit werden durch ein „sich über den anderen stellen“ erlangt. Dieses geschieht durch Quälen von Mitmenschen und Verstoßen gegen bestehende Normen(vgl. Zarbock, 2011). In der Praxis lässt sich bei Klienten mit Abhängigkeitserkrankungen häufig feststellen, dass ein solches Verhalten in den Herkunftsfamilien und -milieus erfahren wurde(Nachahmungslernen). Im Bezug auf möglichen Beigebrauch während der Substitution stellt sich die Frage, ob eine Verbindung zu vermehrtem Kokainkonsum hergestellt werden kann, nämlich im Sinne einer Steigerung des Kompetenzerlebens durch den Drogeneffekt(vgl. Barth, 2011). Im Hinblick auf die Behandlung ist festzustellen, dass Menschen mit Dissozialer PST oftmals keine Krankheitseinsicht haben und schwer in bestehende Rahmenbehand- 30 lungen passen, im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen gibt es bis heute keine standardisierten Behandlungskonzepte. 4.2.1.2 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung Die Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3) lässt sich in zwei Typen unterscheiden, in den Impulsiven Typ (F60.30) und den Borderline-Typ (F60.31). Im Bezug auf die Komorbiditäten mit Abhängigkeitserkrankungen ist der BorderlineTyp von größerer Relevanz, daher wird hier auf diesen eingegangen. Zentral bei der Borderline PST ist die Auffälligkeit der instabilen Stimmungen und Affekte. Diese führen zu Identitätsproblemen und Impulskontrollstörungen und in zwischenmenschlichen Beziehungen zu großen Schwierigkeiten. Die Borderlinestörung wird auch als Bindungsstörung interpretiert und bezeichnet. Die extremen Verhaltensweisen gehen mit übertriebener Wut und Aggression einher. Unter emotionaler Belastung führen diese bis zu erheblichen Selbstverletzungen und parasuizidalen Handlungen. Ebenfalls können sie auch mit affektiven Störungen einhergehen(vgl. Fiedler, 2007). Dolz et al. zeigen auf, dass in ihrer Studie 75% der Borderline-Patienten Kriterien für eine Affektive Störung, 60% für eine Angststörung, 34% für eine Essstörung und 19% für eine Abhängigkeitserkrankung aufweisen(vgl. Dulz et al. 2011). Wittchen et al. fanden 1992 in einer Follow-Up-Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland heraus, dass 69% aller jemals von einer psychischen Erkrankungen Betroffenen mindestens an zwei psychischen Störungen litten. Die Studie bestätigt, dass die Komorbidität bei Angststörungen, affektiven Störungen und Abhängigkeitserkrankungen besonders hoch ist. Substanzstörungen sind die zweithäufigste komorbide Störung(vgl. Lüdecke et al. 2010). 4.2.2 Affektive Störungen Die Affektiven Störungen (F3) werden in manische, bipolare und depressive Phasen eingeteilt. Die Diagnose wird nach Art, Häufigkeit und Stärke genauer festgelegt. Bei Substanzstörungen treten die depressiven Erkrankungen häufiger auf. Damit diese als Einzeldiagnose gestellt werden kann, muss geklärt sein, dass sie nicht durch eine Substanz ausgelöst wurde. 31 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten Affektive Störungen zeigen generell eine hohe Assoziation für das Vorhandensein mehrere Komorbiditäten, welche man als Multimorbidität bezeichnen kann. Es gibt die depressive Episode (F32) und die rezidivierende depressive Störung (F33). Erstere wird bei erstmaligem Auftreten diagnostiziert. Die rezidivierende depressive Störung, wenn bereits eine depressive Episode in der Vorgeschichte vorlag. Beide können nach leichte, mitteleren und schweren Grades differenziert werden(vgl. Schaub et al., 2013). Zentrale Symptome einer depressiven Episode sind eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, der Konzentration, des Selbstwertgefühls, Schuld- und Wertlosigkeitsgefühe, negative Zukunftsgedanken, Suizidalen, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. 4.2.3 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Bei diesen Störungsbildern sind für die Komorbiditäten zu Abhängigkeitserkrankungen die Agoraphobie (F40), die Panikstörung (F41), die generalisierte Angststörung (F41.1) und die Posttraumatische Belastungsstörung(PTBS)(F43.1) von größter Bedeutung. Daher wird auch nur auf diese im folgenden Abschnitt Bezug genommen. Nach Barth kann für Opiatabhängige von einer Komorbidität zu Angsterkrankungen von bis zu 41 % ausgegangen werden(vgl. Barth, 2011). Eine genauere Abgrenzung der Einzelkrankheitsbilder ist schwierig, da sie oft vermischt auftreten und in einigen Punkten kaum von einander abzugrenzen sind. Die Agoraphobie ist eine Angst vor bestimmten Situationen, wie z.B:Menschenmengen, öffentlichen Plätze, alleiniges Reisen oder Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause. Es muss eine deutliche und anhaltende Angst vor zwei der Situationen bestehen, und sie darf nicht durch eine andere psychische Erkrankung erklärbar sein und muss nach Auftreten der Störung mindestens einmal zeitgleich in einer Situation bestanden haben(vgl. Lang et al, 2012; vgl. ICD 10; vgl. Vogelsang und Schuhler, 2010). Meistens gehen der Agoraphobie Panikattacken voraus. In oben beschriebenen Situationen wird versucht, das Auftreten von Panikattacken zu verhindern. Ausschlaggebend ist das Gefühl des „ausgeliefert zu sein“ und die Vermeidung von peinlichen Situationen, in denen keine Flucht möglich ist. 32 Panikstörungen sind wiederkehrende Panikattacken die sich durch intensive Angst und Unbehagen auszeichnen, plötzlich auftreten und innerhalb von etwa 10 Minuten ihr Maximum erreichen. Um ein Panikattacke zu definieren müssen vier der folgenden Symptome auftreten: • Palpitationen, Herzklopfen oder beschleunigter Herzschlag • Schwitzen, Zittern und Beben • Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot und Erstickungsgefühle • Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust • Übelkeit und Magen-Darm-Beschwerden • Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder der Ohnmacht nahe sein • Derealisation oder Depersonalisation • Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden • Angst zu sterben • Parästhesien • Hitzewallungen oder Kälteschauer (vgl. Lang et al, 2013, Vogelsang und Schuhler, 2010) Patienten, die unter einer Panikstörung und/oder Agoraphobie leiden, weisen meistens mehrere Verhaltensänderungen auf, die alle das Ziel gemeinsam haben weitere Attacken zu verhindern. Dadurch können auch andere Angststörungen und Depressionen entwickelt werden. Die Panikstörung tritt kaum als Einzelstörung auf, sondern komorbid mit depressiven Störungen, Angststörungen, substanzbedingten Störungen, somatoformen Störungen, und bipolaren Störungen(vgl. Lang et al., 2013). Oft geht die Panikstörung anderen Störungen voraus. Fava und Kellner haben ein Stufenmodell entwickelt, anhand dessen der Zusammenhang zwischen Agoraphobie und der Entstehung einer rezidivierenden depressiven Episode erklärt werden soll. Letztere wird im DSM V als Major Depression bezeichnet, welcher Begriff auch in der folgenden Grafik verwendet wird. 33 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten Abbildung 2: Stufenmodell zur Agoraphobie nach Kava und Keller Die generalisierte Angststörung zeichnet sich durch eine generelle Angst aus, die anhaltend ist. Sie ist nicht auf bestimmte Situationen oder Umgebungen begrenzt, sondern „frei“. Symptome sind: ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden. Die Patienten sind oft belastet von Katastrophendenken oder der Annahme, sie selbst oder ein Angehöriger könnte erkranken oder einen Unfall erleiden(vgl. ICD 10). Sowohl die Agoraphobie mit/ohne Panikstörung, die Panikstörung und die generalisierte Angststörung sind Krankheitsbilder, bei denen Benzodiazepine verschrieben werden können. im Hinblick auf die festgelegte Klientengruppe, sollte es nicht verwundern, dass hier ein Zusammenhang mit dem Beigebrauch in der Substitution besteht, vor allem mit angstlösenden Substanzen wie Alkohol, Opiaten und Benzodiazepinen. Die PTBS ist eine verspätete oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation unterschiedlicher Dauer, die mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß einhergeht. Sie ruft Verzweiflung hervor, und zeichnet sich durch das „wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma 34 wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung (auf)“(ICD 10, F43.1, www.dimidi.de). aus. Damit einher gehen oft Angst und Depression, welche nicht selten Suizidalen beinhalten. Lüdecke gibt an, dass 70-90% aller Abhängigkeitserkrankten schwere Traumatisierungen erlitten haben, 40-60% der opiatabhängigen Frauen und 25-40% der Männer haben sexuelle Missbrauchserfahrungen. Generell sei die Traumatisierungsrate bei abhängigen Menschen 5-15 fach erhöht. Für die Entstehung einer PTBS sei die Wahrscheinlichkeit 2-8fach erhöht. Somit ergibt sich aus den unterschiedlichen Studien Komorbidität zwischen PTBS und Abhängigkeit von 30-50%. 10% der Frauen und 5 % der Männer entwickeln nach einer Traumatisierung eine PTBS(vgl. Lüdecke, 2010, Najavits 2009). Alle Erkrankungsformen gehen mit Verhaltensveränderungen und Einschränkungen im alltäglichen Leben einher und lösen großen Leidensdruck bei den Betroffenen aus. In Kombination mit der Abhängigkeit bedingen diese sich nach Entstehung gegenseitig, jedoch bleibt die Frage nach der primären und sekundären Erkrankung oft ungeklärt. Auf diesen wichtigen Punkt für die Behandlung wird in 4.4 differenziert eingegangen. 4.3 Ätiologische Ansätze für die Komorbiditäten Die Ätiologiemodelle sind ebenfalls nach Art der psychischen Erkrankung unterteilt. Bei der Komorbidität von Angst und Abhängigkeit wird sich auf die Angstforschung gestützt. Es wird davon ausgegangen, dass Angstsymptome den Konsum von Substanzen aufgrund ihrer pharmakologischen und psychologischen Wirkung bedingen, und dann - im Sinne eines Verstärkungslernens - beibehalten werden. In diesem Fall wird von einer unidirektionalen direkten Kausalbeziehung gesprochen, d.h. Störung A hat Störung B zur Folge. Ein zweites Erklärungsmodell, welches eine bidirektionale direkt Kausalbeziehung umfasst, geht davon aus, dass sich Störung A und Störung B gegenseitig beeinflussen, im Sinne eines „Teufelskreismodells“ wie von Kushner et al erarbeitet. 35 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten Bei den affektiven Erkrankungen lassen sich die Zusammenhänge nicht so klar erkennen, es werden mehrere Ätiologiemodelle diskutiert. Die Depression verursacht die Abhängigkeitserkrankung, die Abhängigkeitserkrankung verursacht die Depression, die Depression und die Abhängigkeitserkrankung bedingen sich gegenseitig oder es gibt einen dritten Faktor, der beide Störungen bedingt. Es können keine klaren zeitlichen Zusammenhänge aus den unterschiedlichen Studien geschlossen werden (vgl. Moggi in Moggi, 2007). Bei den Persönlichkeitsstörungen werden drei Ätiologiemodelle diskutiert. Das Modell der primären SMA besagt, dass die Abhängigkeit zur Ausbildung einer PST beiträgt. Das Modell der primären PST geht davon aus, dass eine PST eine SMA mit bedingt, also bestimmte Persönlichkeitsmerkmale Substanzkonsum wahrscheinlicher machen. Beim Modell gemeinsamer Faktoren sind diese für die Ausbildung der PST und SMA unabhängig voneinander verantwortlich. Es ist davon auszugehen, dass die Modelle unterschiedliche Relevanz bezüglich der verschiedenen PST haben. Für die BPS und die APS scheint dass dritte Modell eine besondere Rolle zu spielen, da bei Störungsbildern die Genetik oder Traumata in der frühen Kindheit – als gemeinsam auslösender Faktor – von Bedeutung sind. Auch bei der Enstehung von Abhängigkeiten können genetische Faktoren ursächlich sein. Für die APS, und auch teilweise für die BPS, konnten genetische Determinanten nachgewiesen werden. Aus psychosozialer Sicht gibt es gemeinsame Faktoren, die sowohl Risikofaktoren für Abhängigkeits- als auch für Persönlichkeitsstörungen darstellen(vgl. Verheul in Moggi, 2007, Petzold et al., 2007). „BPS scheint spezifisch mit früher emotionaler Vernachlässigung und sexueller und/oder körperlicher Misshandlung korreliert zu sein (Paris,1994), während APS in Zusammenhang mit verschiedenen unspezifischen frühen Familienfaktoren in Beziehung steht (Dawson&Grounds, 1995)“ (Verheul in Moggi 2007, S.153). In der Regel treten die komorbiden psychischen Störungen 5-10 Jahre vor der Substanzstörung erstmalig auf. Bei 91% der Persönlichkeitsstörungen (nicht differenziert auf BPS und APS) und 84% der Angststörungen ist dies zu beobachten, bei den Affektiven Störungen sind sie primär als auch sekundär einzustufen(vgl. Lieb und Issenssee in Moggi 2007). 36 4.4 Selbstmedikationshypothese Khantzian stellt bereits 1985 die Selbstmedikationshypothese auf, welche besagt, dass der Substanzkonsum im Zuge von Komorbiditäten ein Copingversuch darstellt, um auf die Symptome Einfluss zu nehmen. Das bedeutet, Patienten nutzen bestimmte Substanzen, um gezielt einzelne Symptome zu beeinflussen oder zu mildern. Khantzian begann diese Forschung der Komorbidität zwischen Abhängigkeit und Psychosen. So kann der Betroffenen Spannungszustände „lindern“, Emotionen abflachen oder Trigger „bewältigbar“ machen. Die Selbstmedikationshypothese ist Grundlage für unterschiedliche Erklärungsmodelle komorbider Angststörungen, affektiver Erkrankungen und PTBS(vgl. Lüdecke et al. 2010, Dally in Bilitza 2012, Zemke und Paschke in Hönekopp und Stöver 2011). Ihren Ursprung hat die Selbstmedikationshypothese in der Spannungsreduktionstheorie nach Conger und dem Modell der Stressreaktionsdämpfung nach Sher&Levenson. Seit Mitte der 1980er Jahre haben Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter versucht, „...have been moved to understand and explain addiction from the point of view of psychological suffering. They have drawn on psychoanalytic theory; examined vulnerability, dependency, attachment, and self-soothing capacities; and have also looked at self-disturbances and emotional dysregulation. They have tried to understand the relationship between widespread contemporary addiction and psychological distress. They all suggest, and in different ways, that people selfmedicate with drugs and alcohol because they are unable to selfcare“(Khantzian nach Fetting, 2012, S.93). Diese Gedanken und die Zusammenhänge verstehen zu wollen war für Khantzian ausschlaggebend weiter zu forschen. Der Psychiater Dodes formulierte, dass das „Herz der Sucht“ die fehlende Befriedigung von seelischen Bedarfen ist(vgl. Feeting, 2012). Die Frage hinter der Selbstmedikationshypothese ist, wie das Wissen darüber in Behandlungsangebote einfließen kann und dem Verhalten des Betroffenen entgegen kommen kann und inwieweit eine Behandlung auf die Sucht bzw. die komorbide Störung ausgelegt werden muss. Diese Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgegriffen, nachdem in den folgenden Kapiteln zuerst die Haltung des Suchthilfesystems und die bestehenden Hilfsangebote mit ihren Zugangsvoraussetzungen erläutert werden. 37 Definition der Klientengruppe mit defizitären Behandlungsangeboten 4.5 Zusammenfassung Bei der definierten Klientengruppe handelt sich zusammengefasst um Substituierte, die weiteren Konsum von illegalen psychotropen Substanzen betreiben, meist von Benzodiazepinen, Cannabis und Opiaten. Diese Substanzen haben in ihrer Wirkweise gemeinsam, dass sie beruhigend und angstlösend wirken. In Verbindung zu den am häufigsten vorkommenden Komorbiditäten zwischen Abhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen (37-79%), affektiven Störungen (31-58%) und Neurotischen-, Belastungs-, und somatoformen Störungen (32-55%), liegt oft die beschriebene Selbstmedikation vor. Die psychischen Erkrankungen können hohen Leidensdruck und Unsicherheit bei den Klienten auslösen. Die Betroffenen versuchen durch die Einnahme von Substanzen ihre Symptome zu mindern und für sich erträglich zu machen. Oftmals können oder wollen sie sich nicht in psychiatrische Behandlung begeben. Die beschriebene Klientengruppe unterliegt einer Vielzahl von Beeinträchtigungen krankmachender und krankheitserhaltender Faktoren. 38 5 Abstinenzorientierte versus Akzeptanzorientierte Suchthilfe In diesem Kapitel wird die Frage nach einer ethischen Auseinandersetzung und einer professionellen Haltung hinsichtlich der Menschen mit Abhängigkeiten und dem Verständnis von Abhängigkeit selbst gestellt. Der Fokus liegt hierbei auf den sozialarbeiterischen und fachtherapeutischen Akteuren, da diese in der PSB und den therapeutischen Angeboten maßgeblich beteiligt sind. Die vorherrschende Haltung ist eng an die Frage der Akzeptanzorientierung geknüpft, und wird somit an Hand dieser geführt. 5.1 Menschenbild Die Soziale Arbeit basiert auf einer eigenen Ethik, welche international von der Federation of Social Workers (IFSW) definiert wurde. Selbstverständlich gilt diese somit für den Bereich der Sozialen Arbeit, folglich daraus aber auch für die Suchthilfe. Die Soziale Arbeit versteht sich als Menschenrechtsprofession, der ein bestimmtes Menschenbild zugrunde liegt. Die unterschiedlichen Übereinkommen und Erklärungen, auf der diese basiert, werden nicht weiter vertieft. Hier sollen nun Haltung und Sichtweisen, auf die sich Soziale Arbeit berufen sollte, reflektiert werden. Die Sozialarbeit hat das Recht und die Pflicht auf Selbstbestimmung zu achten, d.h. sie soll das Recht der Menschen auf eigene Wahl- und Entscheidungsfreiheit achten und fördern. Diese Freiheit ist nicht von der eigenen Werte- und Lebensvorstellung zu bewerten. Weiterhin soll sie das Recht auf Beteiligung fördern und die Menschen in alle Entscheidungen einbeziehen. Die ganzheitliche Betrachtung und Behandlung stellt ebenfalls einen wichtigen Wert dar. Dies bedeutet, dass die Soziale Arbeit den Menschen nicht losgelöst von seinen individuellen Lebensumständen betrachten darf. Es müssen grundsätzlich alle Aspekte miteinbezogen werden. Schließlich ist es wichtig und unerlässlich, die Stärken der Menschen zu erkennen, diese zu fördern und wachsen zu lassen. Auch die Wahrung der sozialen Gerechtigkeit darf nicht vergessen werden. Die Soziale Arbeit hat die Verpflichtung, diese einzufordern und gegebenenfalls auf Missstände aufmerksam zu machen. 39 Abstinenzorientierte versus Akzeptanzorientierte Suchthilfe Die wichtigsten Punkte sind: Diskriminierung entgegenzutreten, Verschiedenheiten anzuerkennen, Mittel gerecht zu verteilen und gegen ungerechte politische Entscheidungen und Handhabungen zu agieren(DBSH, 2009, Engelke 2004). Die Grundlage der Sozialen Arbeit ist ein ganzheitliches, humanistisches Menschenbild, das den Menschen als konstruktiv sieht, der danach strebt, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten und diesem einen Sinn und ein Ziel zu geben. Er strebt nach Autonomie und ist ganzheitlich als „Trias“, aus Körper-Seele-Geist zu betrachten. Der Mensch befindet sich dauerhaft in einem Spannungsfeld zwischen Autonomie und Interdependenz. Alle Menschen sind gleichwertig und gleichberechtigt und ihre Würde ist unantastbar. Diese Haltung ist Grundlage für die Soziale Arbeit in allen Bereichen. Weiter soll hierauf nicht im Generellen eingegangen werden, sondern nur im Bezug auf einzelne Aspekte im Suchthilfebereich. Im Kontext damit stößt man, im Hinblick auf einzelne Begrifflichkeiten, an Grenzen, welchen man sich annähern muss, um eine Haltung zu entwickeln. Die Ermöglichung einer humanistisch-ganzheitlichen Sichtweise hängt ab • von der Definition von Sucht bzw. Abhängigkeit • von der Zuschreibung, dass es sich um eine Krankheit handelt • und vom Grad des Vertrauens auf die Fähigkeiten des Klienten, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln. 5.2 Ethisches Verständnis von Abhängigkeit in der aktuellen Entwicklung Die folgende Diskussion der Begriffe und die damit einhergehenden Konsequenzen für die Praxis, sollten als Annäherung verstanden werden, da eine abschließende Beurteilung kaum möglich scheint. Die WHO verwendete von 1957-1964 den Begriff „Sucht“, der danach von den Begriffen „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ abgelöst wurde. In wissenschaftlichen Arbeiten wird meist von „Abhängigkeit“ gesprochen. 1968 wurde die Alkoholabhängigkeit zur Krankheit erklärt. 1971 trat das BtmG in Kraft, welches das Opiumgesetz ablöste(lexikon.stangl.eu, 2014). 40 2013 erschien das DSM-5, in welchem der frühere Oberbegriff „Substanzbezogene Störungen“ durch „Sucht und zugehörige Störungen“ ersetzt wurde. Zusätzlich fiel die Differenzierung zwischen „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ weg, welche nun unter „Substanzgebrauchstörung“ subsumiert wird. Somit taucht der Suchtbegriff wieder auf(Rumpf und Kiefer, 2011, Psychotherapeutenkammer NRW, 2013). Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form Änderungen der Begriffe auch im ICD-11 aufgenommen werden, das für 2015 geplant ist. Im Kontext der Diagnosekriterien aus DSM und ICD ist Abhängigkeit als Krankheit zu werten, diese Frage kann auch im Bezug auf die Haltung gestellt werden. Was bedeutet die Zuschreibung als Krankheit bzw. die Definition als Sucht oder Abhängigkeit für die Betroffenen, das Hilfesystem und die darin Beschäftigten? Eine Frage ist, ob der Krankheitsbegriff dem der Autonomie bzw. dem des Autonomiekonstrukts entgegensteht, oder ob eine Verbindung, vor allem im Bezug auf Unterstützungsangebote, möglich ist. Degewitz formuliert darauf bezogen folgendes Problem: Die Autonomie würde bedeuten, dass der Klient für sich selbst und die daraus resultierende Situation verantwortlich ist. Das kann auf der einen Seite ein Anstoß sein, ebenso selbstbestimmt einen Weg zu entwickeln, die Situation zu verändern. Auf der anderen Seite aber auch eine große Last und Überforderung darstellen. Es kann keine Entlastung über die „Label“ Abhängigkeit erreicht werden(vgl. Degewitz in Stöver,1999). Wenn daran angeknüpft der Zustand der Sucht als Abhängigkeit definiert wird, würde es innerhalb der Autonomiebestrebungen, für die Therapieangebote bedeuten, dass es Konsumenten immer frei gestellt sein muss Angebote anzunehmen oder abzulehnen(vgl. Sansoy, 2006). Hier könnte man erneut die Verpflichtung zur PSB mit einbeziehen. Auch Ambroselli bezieht sich auf die Teilhabe der Betroffenen im Sinne einer Beteiligung an der Auswahl von Angeboten, da sie am besten wissen, welche Unterstützungsangebote ihnen nützlich sein könnten(vgl. Ambroselli, 2006). Weiterhin gehen Degewitz und Herwig-Lempp davon aus, dass sich Erklärungsmodelle oder Zuschreibungen nicht aufgrund der „objektiven Wahrheit“ durchsetzen sondern nur wegen des Nutzens, den sie für bestimmte Interessensgruppen von Menschen haben. Dadurch können Angebote installiert werden(vgl Degewitz in Stöver, 1999). 41 Abstinenzorientierte versus Akzeptanzorientierte Suchthilfe Das könnte für den Abhängigkeitsbegriff bedeuten, dass allein die Einstufung als Krankheit die Legitimation bildet, Unterstützungsangebote zu installieren. Würde diese entfallen, gäbe es kein Interesse mehr, personelle, finanzielle und staatliche Mittel zur Unterstützung bereitzustellen. In Verbindung mit dem Ausgangspunkt Autonomie könnte der Staat sich zurückziehen und die Verantwortung komplett an den Betroffenen zurückgeben. Degewitz schreibt dazu bereits 1999, dass der medizinische Apparat nur agiert, wenn übermäßiger Konsum vorhanden ist, die Psychotherapie nur, wenn diagnostizierte Defizite im intrapsychischen Bereich bestehen, und die Soziale Arbeit zusätzlich, wenn Probleme innerhalb des Umfeldes vorhanden sind. Wäre also der Konsum immer als selbstbestimmt definiert, hätte kein Bereich die Legitimation bzw. die Motivation zu handeln(vgl. Degewitz in Stöver, 1999). Übersetzt in die Praxis bedeutet dies eine unabdingbare Diagnose, die für eine Behandlung - unabhängig von Anschauungen und individueller Betrachtung - nötig ist. Auch die Sicht der Sozialarbeiter unterstützt diese Ansicht: „Die Sozialarbeiter sprechen bei der Beschreibung des Konsums ihrer Klienten in der Regel nicht von kontrollierten Konsumformen, sonder von Sucht. Dabei klassifizieren sie Sucht als Krankheit und kritisieren den gesellschaftlichen Umgang mit Drogen. Im Gegensatz zu anderen Süchten bezeichnen sie Drogenkonsum als in der Gesellschaft nicht anerkannte Krankheit. Dies hat zur Folge, dass weder die Ursachen von Sucht gesellschaftlich verstanden werden noch der Umgang damit den betroffenen Menschen gerecht wird. Statt dessen findet eine Ausgrenzung der Drogenkonsumenten statt“(Unterkofler, 2006, S.81ff). Doch was sagt dieses System über die Akzeptanz- und Abstinenzorientierte Arbeit aus? Stößt die Akzeptanzorientierung an dieser Stelle nicht auf ein unüberbrückbares Hindernis in bestimmten Bereichen, zum Beispiel der Substitution mit PSB? Die akzeptierende Drogenarbeit muss als Antwort auf die prohibitive Drogenpolitik und abstinenzorientierte Drogenhilfe gesehen werden(vgl. Stöver, 1999, Unterkofler, 2009). „Die Abgrenzung zu diesen spiegelt sich in den folgenden Grundannahmen akzeptierender Drogenarbeit wider, die sich mit Rechten und Fähigkeiten der Drogenkonsumenten, mit einem spezifischen Verständnis von Drogenkonsum sowie mit dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Drogenproblem beschäftigen“(Unterkofler, 2009, S.73). 42 Unterkofler und Stöver beschreiben 6 Säulen der akzeptierenden Suchthilfe. Erstens sind Drogenkonsumenten fähig zur Selbstbestimmung. Sie werden nicht als Opfer ihrer Sucht gesehen, sondern als Konsumenten unterschiedlicher Substanzen. Auch bei stärkeren Konsummustern wird diese Sichtweise beibehalten, weil kein sich kein Konsum sich linear entwickelt sondern dynamisch. Zweitens werden Konsumenten nicht per se als beratungs- und behandlungsresistent gesehen, sondern Konsum als ein Lebensentwurf, indem die Vorraussetzung für Hilfestellungen nur gegeben sind, wenn der eigenen Wunsch besteht etwas ändern zu wollen. Drittens resultiert daraus unter anderem auch die Festlegung, dass Abstinenz keine Voraussetzung für eine Hilfe sein darf. Da die Abstinenz nicht für jeden Konsumenten erreichenswert, angemessen oder gewollt ist. Als vierter Punkt werden menschenwürdige Lebensbedienungen für jeden Konsumenten gewollt. Fünftens soll der Drogenkonsum als ein komplexes Phänomen verstanden werden. Der letzte Punkt besagt, dass der Konsum von Drogen nicht als Krankheit verstanden werden kann(vgl. Unterfkofler, 2006, Stöver 1999). „Vielmehr kann Drogenkonsum vielfältige Konsumformen und -muster, Lebensbedingungen, Lebensentwürfe und Persönlichkeiten widerspiegeln. Diese Annahme wird durch kontrollierte Konsumformen und selbst organisierte Ausstiegsverläufe bestärkt. Drogenkonsum kann deshalb nicht als Krankheit angesehen und auch nicht ausschließlich von Therapeuten geheilt werden“ (Unterkofler,2006, S.74). Hier wird wieder deutlich, dass ein entscheidender Aspekt die Definition als Krankheit ist, welche zuvor bereits aufgegriffen wurde. Der Akzeptanzorientierung steht die Abstinenzorientierung gegenüber, die in Kapitel 3 und 6 genauer beschrieben ist. Es scheint nur das eine oder andere zu geben und der Bereich „dazwischen“ wird kaum genutzt. Es wäre sinnvoll und erstrebenswert, dass beide Bereiche ihre Haltung und Arbeitsweise gegenseitig verstehen lernen und anerkennen. Stöver formuliert die Herangehensweise folgendermaßen: „Beide Paradigmen schließen sich also nicht aus, sondern sollten sich eigentlich sinnvoll ergänzen, praktisch ineinandergreifen und sich befruchten. Auf der Prioritätenliste tritt die Abstinenz zunächst in den Hintergrund. Sie hat subjektiv für einzelne Drogenkonsumenten/-innen trotzdem noch immer, insbesondere unter den illegalisierten Bedingungen von Drogenkonsum, einen hohen Wert. Beide Ansätze, der mit vorwiegender Abstinenzorientierung und der mit vorwiegender Akzeptanzorientierung, können allerdings nur sinnvoll ineinandergreifen, wenn sie sich über ihr Menschenbild und den individuellen 43 Abstinenzorientierte versus Akzeptanzorientierte Suchthilfe und gesellschaftlichen Stellenwert von Abstinenz klar werden“(Stöver in Stöver, S.22f,1999). Weitere wichtige Aspekte im Bezug auf die Haltung sind die der Sozialarbeiter innerhalb ihrer Stelle. Mitarbeiter in Kontaktläden sind sich meist über die Akzeptanzorientierung bewusster und sehen diese als wichtiger an, als zum Beispiel Mitarbeiter in der PSB. Eine Vermutung ist, dass oftmals fälschlicherweise Akzeptanzorientierung mit Niederschwelligkeit gleichgesetzt wird, so die Erfahrung aus der Praxis. Ebenso kann beobachtet werden, dass sich die Mitarbeiter, unabhängig der ideologischen Ausrichtung des Arbeitgebers, sehr unterschiedlich definieren(vgl. Vogt in Stöver, 1999). Ein besserer Austausch innerhalb der Suchthilfe könnte diesen Zustand positiv beeinflussen, denn in letzter Konsequenz bedeutet es, dass Klienten, die z.B zur Teilnahme an der PSB verpflichtet werden, je nach „Belieben“ des Mitarbeiters, nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse betreut werden, da diese mit den Ansichten des Betreuers so stark kollidieren, dass die Betreuung beendet wird. Ein Beispiel aus der Praxis, ist der Abbruch der PSB durch die Betreuung, aufgrund „riskanten Beigebrauchs“. Auf gesellschaftlicher und politischer Ebene muss bei „Antidrogenmaßnahmen“ eine Bezugnahme auf die wirklichen Bedürfnisse der Drogenkonsumenten vollzogen werden und nicht weiterhin der Drogenkonsum an sich im Mittelpunkt stehen(vgl. Ambroselli in Blickpunkt Ethik, 2006). Hoffmann unterstützt diese Aussage, indem sie der Sozialen Arbeit zuspricht, einen Beitrag leisten zu können zur Entdramatisierung des Umgangs mit Drogen und ihrer Konsumenten. Das Ziel muss sein, dass das Befinden der Betroffenen im Mittelpunkt steht(vgl. Hoffmann, 2012). „Das Selbstbestimmungsprinzip räumt jedem Menschen das Recht zur freien Entscheidung über sein Leben ein, soweit dieses Recht nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht anderer Kollidiert“(Svedberg, S.84,2006). Abschließend stellt die Frage nach der Definition von „Sucht“ und „Abhängigkeit“, der Einstellung als Krankheit und den ethischen Gesichtspunkten einen großen Feld dar. In der Theorie ist die Akzeptanzorientierung der ethisch wertvollere Ansatz und sollte grundsätzlich beibehalten werden. Allerdings stößt er, mit der Ablehnung der Sucht als Krankheit, in der Praxis an seine Grenzen. Denn damit müsste das System 44 komplett überdacht werden. Wenn Sucht keine Krankheit mehr darstellt, und somit aus dem Klassifikationssystem raus fällt, wäre es wahrscheinlich nicht mehr möglich, Hilfeleistungen für die Betroffenen zur Verfügung zu stellen, da sich dann wohl kaum eine Institution mehr für eine Versorgung einsetzten würde. Die Legitimation und auch Verpflichtung bzw. der Sicherstellungsauftrag, dass bestimmte Angebote gemacht werden müssen, fiele dann weg. In dieser Arbeit soll nicht über die bestehende Drogenpolitik diskutiert werden. Vielmehr will sich diese Arbeit zum Ziel setzen, Veränderungen für eine verbesserte Versorgung der Klientengruppe vorzuschlagen. 45 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit 6 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit Im Folgenden soll die ambulante und stationäre Rehabilitation aufgrund unterschiedlicher Eigenschaften betrachtet werden. Indikation, Grenze, Zugang, Zielsetzung und Finanzierung werden unter Berücksichtigung des vorherigen Kapitels diskutiert. In einem zweiten Schritt sollen weitere Therapiemöglichkeiten bei bestehender Abhängigkeit beschrieben werden. Vor ab muss die Abgrenzung zwischen Therapie und Rehabilitation geklärt werden. Die Definition der WHO, welche sich im Report „ Disability prevention and rehabilitation“ aus dem Jahr 1981 wiederfindet, lautet wie folgt: „Rehabilitation includes all measures aimed at reduving the impact of disabling and handicapping conditions, and at enabling the disabled and handicapped to achieve social integration. Rehabilitation aims not only at training disabled and handicapped persons to adapt to their environment, but also at intervening in their immediate enviroment and society as a whole in order to facilitate their social integration. The disabled and handicapped themselves, their families, and the communities they live in should be involved in the planning and implementation of services to rehabilitation“(WHO, 1981). Rehabilitation ist somit ein umfangreiches Konzept, welches sich je nach Schwerpunktsetzung um die betroffenen Bereiche ganzheitlich kümmert. Als Therapie wird die Behandlung von Krankheiten, im Sinne eines Heilverfahrens, definiert(Pschyrembel, 2002). Bei Abhängigkeitserkrankungen zum Beispiel die Psychotherapie, welche innerhalb der Rehabilitation, eine Säule der Behandlung darstellt. Die Rehabilitation kann stationär, ambulant oder teilstationär erfolgen. Im Jahr 2011 wurden von der Deutschen Rentenversicherung 87.499 Entwöhnungsbehandlungen bewilligt und 53.965 abgeschlossen. 82% wurden stationär und 18% ambulant durchgeführt. 63% der bewilligten Leistungen fielen auf Alkoholabhängige, 1% auf Medikamentenabhängige, 19% auf Drogenabhängige, 9% auf Mehrfachabhängige und 8% auf sonstige Eingliederungen(Reha-Qualitätssicherung der Deutschen Rentenversicherung, 2013). Im Jahr 2011 machte die Rehabilitation der Abhängigkeitserkrankungen im Gesamtspektrum aller Rehabilitationen insgesamt 6% aus(Reha-Bericht Update 2012). Das entspricht einer Summe von 595,7 Millionen Euro(vgl. Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziale Berlin, 2014). Die gesetzliche Grundlage für die Rehabilitation findet sich im SGB IX. 46 Je nach Ausgangssituation bei Beantragung der Rehabilitation kommen verschiedene Kostenträger in Frage, die Rentenversicherung, die Krankenkasse oder die Sozialhilfeträger. Diese Unterscheidung ist für die Kapitel 7 und 8 relevant und wird daher kurz erläutert. Die Kosten für die vorangehende Entzugsbehandlung werden grundsätzlich von den Krankenkassen bezahlt. Die Rehabilitation, insofern es sich um eine Leistung zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit handelt, wird von der Rentenversicherung übernommen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Diese sind mindestens 6 Monatsbeitragszahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung innerhalb der letzten zwei Jahre, oder 12 innerhalb der letzten fünf Jahre. Sind diese nicht erfüllt, erfolgt eine Finanzierung über die Krankenkasse(Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, 2006 Dieses Verfahren wird in der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die zwischen den Rentenversicherungsträgern und den gesetzlichen Krankenkassen besteht, geregelt. Weiterhin sind dort die Ziele der medizinischen Rehabilitation, die Voraussetzungen, das Beantragungsverfahren und der Leistungsumfang festgelegt. In vier Anlagen werden die Anforderungen für die Leistungserbringer, die Kriterien für eine Abwägung von ambulanter und stationärer Therapie und die vorübergehende Substitution zu Beginn einer Rehabilitation geregelt(vgl. Deutsche Rentenversicherung und Deutsche Krankenversicherung, 2001). Abbildung 3: Das Suchthilfesystem aus Fachverband Sucht e.V 47 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit 6.1 Stationäre Rehabilitation Die Ziele der medizinischen Rehabilitation sind das Erreichen und die Erhaltung der Abstinenz, sowie körperliche und seelische Störungen zu behandeln oder auszugleichen und die Eingliederung in Arbeit und Gesellschaft zu erhalten oder zu erreichen (Deutsche Rentenversicherung und Gesetzliche Krankenkassen 2008, 2011). In Anlage 4 werden erweiterte Ziele bei vorübergehende Substitution definiert. Hierauf wird am Ende des Abschnitts genauer eingegangen. Generell wird die stationäre Rehabilitation/ Entwöhnungsbehandlung in spezialisierten Einrichtungen oder Fachabteilungen durchgeführt. In der stationären Rehabilitation sind die Rehabilitanden ganztägig in der Einrichtung. Sie übernachten dort und erhalten volle Verpflegung. Je nach Schwere und Art der Erkrankung erstreckt sich die Länge der Behandlung auf 8-15 Wochen. Die Suchtmittelfreiheit ist übergeordnetes Ziel und soll durch unterschiedliche Behandlungsformen erhalten werden. Erhalten, weil sie in einer vorhergegangene Entzugsbehandlung hergestellt wurde(vgl. RehaQualitätssicherung der deutschen Rentenversicherung, 2013, DRV-Schriften, 2002, Tretter 2008 ). Die Psychotherapie ist zentraler Bestandteil und findet in Einzel- und Gruppensettings statt. Die therapeutischen Verfahren basieren in den meisten Einrichtungen auf der Anschauung der humanistischen Psychologie(vgl. Friedrichs, 2002, Tretter, 2008). Hinzu kommen Physiotherapie, Sport- und Bewegungsgruppen, arbeitsplatzbezogene Leistungen, Informationsveranstaltungen, Schulungen, Beratungen, Entspannungstraining, Kunst-, Gestalt- und Musiktherapie und soziotherapeutische Angebote. Somit wird in der stationären Rehabilitation multimodal und multiprofessionell gearbeitet. Zusätzlich ist die Behandlungsdichte wesentliche höher als im ambulanten Bereich(vgl. Reha-Qualitätssicherung der deutschen Rentenversicherung, 2013, Tretter 2008, Friedrichs, 2002). Vorteile sind außerdem ein sicheres therapeutisches Milieu und die Möglichkeit, ein belastendes und für die Abstinenzentwicklung problematisches Umfeld, vorübergehend zu verlassen, sowie die Förderung und Stabilisierung von Änderungsabsicht und -fähigkeit. Die DHS widerspricht dem allerdings, mit der Begründung, dies sei ein unnatürliches Umfeld(vgl. DRV-Schriften, 2002). 48 6.1.1 Schwerpunkt Substitution und Komorbiditäten Die Voraussetzungen für die vorübergehende Substitution innerhalb der stationären Rehabilitation sind die selben wie die der Ambulanten(siehe 6.2.1). Wenn über den Fachverband Sucht e.V eine stationäre Therapieeinrichtung gesucht wird, die substitutionsgestützte Rehabilitation anbietet, werden einem fünf Einrichtungen genannt. Bei der Kategorie Doppeldiagnosen bekommt man 45 Ergebnisse, kombiniert bleiben noch 4 Einrichtungen übrig. Allerdings werden nicht in allen vier Kliniken Opiatabhängige und bestimmte psychische Störungen behandelt. Für die in der Arbeit definierte Gruppe bliebe - während laufender Substitution wenigstens am Beginn der Behandlung - nur eine Klinik übrig(Fachverband Sucht e.V, http://www.sucht.de, 2014). 6.2 Ambulante Rehabilitation Die Ziele der ambulanten Rehabilitation sind identisch mit denen der stationären Rehabilitation. Diese Ziele sollen durch unterschiedliche Schwerpunkte erreicht werden. Dazu zählen unter anderem: der Aufbau und die Festigung von Krankheitseinsicht, die Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen, die Herstellung der Veränderungsmotivation, eine funktionale Affektregulierung, die Bearbeitung der Schädigungen insbesonders psychischer Funktionen, die Entwicklung von Copingstrategien, die Krankheitsverarbeitung und der Aufbau eines suchtmittelfreien Umfelds. Die ambulante Rehabilitation wird wohnortnah erbracht, die Rehabilitanden bleiben somit in ihrem Umfeld. Voraussetzungen sind: die Rehabilitationsbedürftigkeit, bestehende Rehabilitationsfähigkeit, eine positiv gestellte Rehabilitationsprognose und die individuell zu erfüllenden Zugangsvoraussetzungen Nicht die medizinische Diagnose allein ist Voraussetzung für die ambulante Rehabilitation sondern eine „Analyse und Bewertung von Schädigungen insbesondere psychischer Funktionen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigungen der Teilhabe sowie der Lebenssituation des Rehabilitanden“(DRV-Schriften, 2008, S.3). In Anlage 1 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ werden die Voraussetzungen detaillierter definiert. So muss der Rehabilitand über die nötige Mobilität und 49 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit physische und psychische Belastbarkeit verfügen. Er sollte ein stabiles soziales Umfeld und eine stabile Wohnsituation haben, die unterstützend wirken, sowie die Fähigkeit zur Mitarbeit, zur Teilnahme an regelmäßigen Terminen und zur Abstinenzerhaltung, welche wie bei der stationären Therapie, durch einen Entzug gewährleistet sein soll(vgl. DRV, 2008). Vor allem bei berufsbegleitender Rehabilitation ist die ambulante Rehabilitation indiziert. Jedoch bedeuten Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitsunfähigkeit nicht automatisch den Ausschluss für die ambulante Behandlungsform. Ausschlusskriterien für die ambulante Rehabilitation sind „...schwere Störungen auf seelischem, körperlichem oder sozialem Gebiet, die eine ambulante Rehabilitation in Frage stellen, z.B akute Intoxikation, akute Psychose, chronische psychotische Prozesse, manifeste Suizidalität, fremdgefährdendes Verhalten oder erhebliche psychische und körperliche Komorbiditäten, die in einer ambulanten Einrichtung nicht ausreichend mitbehandelt werden können“(DRV, 2008, S.4). Inhaltlich sind die therapeutischen Einzel- und Gruppengespräche sowie die Einbeziehung von Bezugspersonen, die wesentlichen Kernelemente. Auch hier soll in interdisziplinären Teams gearbeitet werden. Zusätzlich gibt es, je nach Bedarf, unterschiedliche Zusatzangebote. Die ambulante Therapie soll nicht nur auf Einzelgesprächen basieren, da der Rehabilitand befähigt sein muss in Gruppen zu arbeiten. Der Rückfall führt nicht zwangsläufig zum Abbruch der Leistung. Voraussetzung ist ein konstruktiver und offener Umgang mit der Thematik. Die Bereitschaft zur Rückfallbearbeitung muss vorhanden sein. Zusätzlich muss die positive Rehabilitationsprognose erhalten bleiben(vgl. DRV, 2008). Aus Sicht der Therapieeinrichtungen wird der Erfolg einer Therapie meist immer noch daran gemessen, ob diese rückfallfrei beendet wird und ob die Abstinenz aufrecht erhalten werden kann. Diese Sichtweise muss aber in Frage gestellt werden, da „...die Entwicklung der Persönlichkeit und die berufiche Entwicklun g außer acht bleiben. Zahlreiche Krankheitsverläufe zeigen, dass ein Rückfall, der nur wenige Tage dauert, weil der Patient frühzeitig therapeutische Hilfe in Anspruch nimmt, einen erfolgreichen Genesungsprozeß kaum schmälert und die Persönlichkeitsnachreifung mit ihren erfreulichen Auswirkungen auf die Beziehungsentwicklung und die berufliche Konsolidierung erneut voranschreitet“ (Büchner in Heigl-Evers et al., 2002, S.49). 50 6.2.1 Ambulante Rehabilitation und Substitution Seit 2001 ist es möglich, unter laufender Substitution, eine ambulante Rehabilitation zu beginnen. Die Rahmenbedingungen sind in Anlage 4 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ nachzulesen. Die stabile Dosis in der Substitution und die Beikonsumfreiheit von vier Wochen vor Beginn, sind obligatorisch. Die Beikonsumfreiheit muss regelmäßig von dem behandelnden Arzt dokumentiert werden. Das Ziel ist die vollständige Abstinenz innerhalb eines festgelegten Zeitfensters bezüglich der Abdosierung und der therapeutischen Maßnahmen, die zur Erreichung angewandt werden. Die Einnahme wird als übergangsweise gesehen, da ansonsten die gleichen Bedingungen wie bei der „drogenfreien“ Rehabilitation gelten(vgl. DRV, 2008). Hier sollte angedacht werden, dass eine Rehabilitation - mit fortlaufender Substitution - genauso ihre Berechtigung erhält. Leider war es nicht möglich, dazu Literatur zu finden. In der Dokumentation „Substitution und Psychotherapie im stationären und ambulanten Setting“ von akzept e.V. gibt es einen kurzen Verweis von Heinz. Zum einen gibt er zu bedenken, dass gerade bei Klienten, die schon lange Zeit substituiert werden, das Substitut eine eigene Funktionalität hat, welche nicht mehr nur der Kontrolle von Entzugzsymptomen entspricht(vgl. Heinze, 2011). „Bei Aufrechterhaltung der Substitution sind die Chancen zur Rehabilitation und Eingliederung in das Erwerbsleben oft aussichtsreicher als bei Durchsetzung einer Abstinenzanforderung“(Heinze, 2011 S.59). Zum anderen schreibt er innerhalb eines Vortrags von Köhler (Rentenversicherung), dass - bei Erfüllung der Interessen der Rentenversicherung - schon jetzt eine Substitution bis zum Ende der Rehabilitation theoretisch zugelassen würde. Vor allem bei psychiatrisch komorbiden Klienten sollte der Einsatz des Substituts, analog zu Psychopharmaka, während und nach der Rehabilitation zum Einsatz kommen(vgl. Heinze, 2011). 6.3 Soziotherapie Die gesetzliche Grundlage der Soziotherapie ist der §37a SGB V, in Verbindung mit §92 Abs. 1 Satz 2 Nr 6 SGB V. Soziotherapie soll schwer psychisch kranke Menschen befähigen, Leistungen in Anspruch zu nehmen, die ihnen zustehen. Dies Ziel 51 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit basiert auf der Annahme, dass Menschen - mit bestimmten Erkrankungen - nicht in der Lage sind, selbstständig medizinische Leistungen zu eruieren, zu beantragen und auch in Anspruch zu nehmen. Hauptbestandteile der Soziotherapie sind die Motivationsarbeit und strukturierende Trainingsmaßnahmen. Sie hat einen koordinierenden und begleitenden Charakter eines individuellen Therapieplans. Soziotherapie soll dazu beitragen, Krankenhausbehandlungen zu verhindern, zu vermindern, oder sie zu kompensieren, wenn diese zwar angezeigt wären, aber nicht ausführbar sind. Die Kosten werden, soweit die Indikation besteht, von den Krankenkassen übernommen. Soziotherapie findet im sozialen Umfeld des Patienten statt und ist eingebettet in einen ärztlichen Behandlungsplan(vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss, 2001, Fachausschuss Soziotherapie, 2000). Die Krankheitseinsicht soll ermöglicht werden, „..indem Einsicht, Aufmerksamkeit, Initiative, soziale Kontaktfähigkeit und Kompetenz gefördert wird“(Gemeinsamer Bundesausschuss, 2001, S.1). Indikation für Soziotherapie stellen schwere psychische Erkrankungen aus den Bereichen des schizophrenen Formenkreises und der affektiven Störungen dar. Im ICD 10 sind diese im Kapitel F20.xx-22.xx, F24.xx,F25.xx und F31.5,F32.3,F33.3 definiert. Auf die einzelnen Diagnosen wird nicht näher eingegangen, da die Soziotherapie in ihrem bestehenden Rahmen meist nur bei CMA-Patienten von Bedeutung ist(Gemeinsamer Bundesausschuss, 2001). 6.4 Psychotherapie Die Psychotherapie findet ihre rechtliche Grundlage im Psychotherapeutengesetz und in der Psychotherapie-Richtlinie, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss erarbeitet wurde. Psychotherapie wird von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt, wenn sie dazu dient, seelische Krankheiten zu erkennen, zu heilen, Verschlimmerung zu verhindern oder Krankheitsbeschwerden zu bessern. Psychotherapie darf nicht ausschließlich zur beruflichen Anpassung oder beruflichen Förderung dienen(Gemeinsamer Bundesausschuss, 2009). Innerhalb dieser Richtlinie wird seelische Krankheit wie folgt definiert: 52 „...als krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die Patientin oder den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind. Krankhafte Störungen können durch seelische und körperliche Faktoren verursacht werden; sie werden in seelischen und körperlichen Symptomen und in krankhaften Verhaltensweisen erkennbar, denen aktuelle Krisen seelischen Geschehens, auch pathologische Veränderungen seelischer Strukturen zugrunde liegen können“(Gemeinsamer Bundesausschuss, 2009, §2). Psychotherapie findet in einem festen Rahmen von Verfahren, Methoden und Techniken statt. Es ist festgelegt, dass analytische, tiefenpsychologische und verhaltenstherapeutische Verfahren zulässig sind. Psychotherapie kann in Einzel und Gruppentherapie angeboten werden. Die Krankheiten, die innerhalb der Psychotherapie behandelt werden können, sind: • Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie • Angst- und Zwangsstörungen • Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen • Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen • Essstörungen • Nichtorganische Schlafstörungen • Sexuelle Funktionsstörungen • Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen • Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend(Gemeinsamer Bundesausschuss,2009). Einschränkungen werden im Bezug auf Psychische und Verhaltensstörungen aufgrund psychotroper Substanzen gemacht. Psychotherapie ist nur dann zulässig, wenn die Abstinenz mit der 10. Behandlungsstunde hergestellt ist und von einem unabhängigen Arzt dokumentiert wurde. Kommt es zu einem Rückfall in der Behandlung, müssen sofort geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Abstinenz wiederherzustellen. 2011 wurde die Psychotherapie-Richtlinie dahingehend geändert, dass eine Psychotherapie für Substituierte ermöglicht wurde. Jedoch auch hier ist der zusätzliche Konsum von Substanzen ebenso ein Ausschlusskriterium. Psychotherapie ist nur möglich, wenn eine regelmäßige Zusammenarbeit mit den substituierenden Ärzten und 53 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit anderen beteiligten Stellen bezüglich der Therapieziele und Behandlungsmaßnahmen besteht(Gemeinsamer Bundesausschuss, 2009). Im Jahr 2008 haben die Bundespsychotherapeutenkammer und der Fachverband Sucht e.V ein gemeinsames Positionspapier erarbeitet, wie eine mögliche Kooperation zwischen Psychotherapie und Suchtbehandlung gestaltet werden könnte. Einige Punkte sollen hier herausgestellt werden, da sie sich zum Teil in Kapitel 7 wiederfinden bzw. aufgegriffen werden. Grundsätzlich wird der Psychotherapie in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen ein hoher Stellenwert zugesprochen, vor allem aufgrund der häufig auftretenden Komorbiditäten. In der stationären Behandlung ist sie bereits fest verankert, im ambulanten Bereich nimmt sie weiter zu, jedoch überwiegend in der Rehabilitationsund Nachsorgephase. Allerdings sind die Akteure der Meinung, dass auch in der Vorphase ambulante Psychotherapie als Behandlungsmöglichkeit hilfreich wäre. Der Anteil der Patienten mit Suchterkrankungen ist in der vertragspsychotherapeutischen Versorgung, gemessen an der hohen Zahl von Abhängigkeitserkrankungen in der Allgemeinbevölkerung, bisher sehr gering. Die Frage nach der verbesserten Kooperation beantworten die Beteiligten mit der Notwendigkeit der Veränderung des §73 Abs. 2 SGB V, d.h. Psychologische Psychotherapeuten sollten befähigt werden, medizinische Rehabilitationsleistungen verordnen zu dürfen. Eine weitere Verbesserung wäre die Zulassung der Behandlung von Patienten mit schädlichem Gebrauch als Neben- oder Hauptdiagnose bei bestehender physischer Komorbidität(Bundespsychotherapeutenkammer und der Fachverband Sucht e.V, 2008). Allerdings findet in diesem Punkt noch keine Differenzierung statt, bezüglich des „erlaubten“ Konsums bei laufender Psychotherapie. 6.4.1 Psychotherapie und Substitution 2011 fand in Berlin eine Fachtagung zum Thema Substitution und Psychotherapie statt. Veranstalter waren akzept e.V. in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin und dem Berufsverband Deutscher Psychiater/Nervenärzte. 54 Aus der Dokumentation können einzelne Aspekte für die Behandlung der definierten Klientengruppe im Sinne dieser Arbeit heraus genommen werden, obwohl sie auch für das gesamte Suchthilfesystem gelten können. Stöver formuliert die Wichtigkeit der Verzahnung der zwei großen Ansatzpunkte in der Suchthilfe im Bezug auf die Psychotherapie. Die Substitution kann nur schwer an der Überwindung der Ursachen der Sucht arbeiten, da ihr Behandlungsangebote fehlen, die sich mit den oftmals vielfachen Belastungen beschäftigen. Die Rehabilitation dagegen sieht nach wie vor die Abstinenz als Ziel und schreckt dadurch viele Betroffene ab. Das bedeutet für ihn, die Substitution müsse um therapeutische Angebote erweitert werden und die stationär und ambulante Psychotherapie müsse sich Substituierten öffnen. Es könnte eine Dynamik innerhalb des Suchthilfesystems entstehen und damit - der oft klaren Trennung der beiden Richtungen - entgegenwirken. Schließlich sei in keinem anderen Bereich der psychosozialen Arbeit und des Gesundheitssystems die Trennung so klar, sondern dort herrsche eine Selbstverständlichkeit vor, dass medikamentöse Behandlungen mit psychosozialen Interventionen und Psychotherapie kombiniert werden(vgl. akzept e.V et al., 2012). Lüdecke versucht in ihrem Beitrag die Besonderheiten bei der Psychotherapie mit Substituierten hervorzuheben. Substituierte bringen meist viele unbearbeitete Themen und Ziele mit, welche ihrer Ansicht nach in äußere und innere Ziele unterteilt werden können. Die äußeren betreffen das Umfeld und die aktuelle Lebenssituation, z.B.Wohnraum, Straffälligkeit und drohende Inhaftierung. Innere Ziele betreffen psychische Situation, z.B. gewünschte Verhaltensveränderung, Affektregulierung oder Überforderung. Das psychotherapeutische Arbeiten sollte sich demnach in zwei Phasen unterteilen: Die erste ist gekennzeichnet durch eine Akzeptanz, die mit der Sicherung der Grundbedürfnisse einhergeht. Wenn diese dann hergestellt ist, fängt die Arbeit der zweiten Phase an, welche durch die Erreichung der inneren Ziele gekennzeichnet ist. Die Erarbeitung von Veränderungsstrategien, die Verbesserung von Introspektionsfähigkeit, Affektregulierung, Selbststeuerung und Copingstrategien im Mittelpunkt(ebd.). Täschner et al. beschreiben die Psychotherapie mit Abhängigen als eine schwere Aufgabe, da diese nicht monomethodisch stattfinden kann, sondern übergreifend und integrativ arbeiten muss. Diese Annahme basiert darauf, dass sich psychische Prozesse nur bearbeiten lassen, wenn die körperlichen und sozialen Faktoren gesichert sind (vgl. Täschner et al., 2010). 55 Ambulante versus stationäre Rehabilitation und Therapiemöglichkeiten bei Opiatabhängigkeit In der Psychotherapie sind in Deutschland drei Verfahren zugelassen und abrechenbar, dass sind, wie oben beschrieben, die Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse und die tiefenpsychologisch fundierten Verfahren. Scheiblich formuliert, auf die unterschiedlichen Verfahren, Grenzen bei der Therapie mit Abhängigen. Die psychoanalytischen Verfahren sind nach seiner Auffassung wirkungslos bzw. sogar kontraindiziert, da diese mit der Übertragung auf den Therapeuten arbeiten. Weiterhin ist es nicht förderlich, wenn in Anbetracht der hohen Traumatisierungsraten, diese Menschen innerhalb der Verfahren durch die konfliktaufdeckenden Therapiemethoden erneut belastet und destabilisiert werden. Bei Abhängigkeiten sei der wichtigste Bestandteil die intrapsychische Situation, die sich eher mit verhaltenstherapeutischen Verfahren bearbeiten ließen(vgl. Scheiblich in Nickolai, 2000). Um auch für die Erarbeitung der Clearingtherapie in Kapitel 8, zu verstehen, weshalb eine verhaltenstherapeutische Ausrichtung gewählt wird, sollen im folgenden Abschnitt kurz die wichtigsten Merkmale beschrieben werden. „Die Verhaltenstherapie ist eine auf der empirischen Psychologie basierende psychotherapeutische Grundorientierung. Sie umfasst störungsspezifische und -unspezifische Therapieverfahren, die aufgrund von möglichst hinreichend überprüftem Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine systematische Besserung der zu behandelnden Problematik anstreben. Die Maßnahmen verfolgen konkrete und operationalisierte Ziele auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens, leiten sich aus einer Störungsdiagnostik und individuellen Problemanalyse ab und setzen an prädisponierenden, auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Problembedingungen an. Die in ständiger Entwicklung befindliche Verhaltenstherapie hat den Anspruch, ihre Effektivität empirisch abzusichern“ (Margraf, J., 2009, Seite 6). Grundsätzlich hat die Verhaltenstherapie 3 Hauptziele: die Reduktion der Krankheitssymptome und Rezidivprophylaxe, den Aufbau von alternativen, gesundheitsfördernder Kompetenzen und die Erhöhung des Selbsthilfepotentials. Letzteres geht mit der Verbesserung der Selbstwirksamkeit einher. Die Verhaltenstherapie lässt sich in drei Richtungen unterteilen, einmal die klassische Verhaltenstherapie, die ihren Schwerpunkt auf das beobachtbare Verhalten legt, und Veränderungen der Kognitionen dadurch zustande kommen, dass das Verhalten verändert wird. Als zweites die kognitive Therapie, bei der der Fokus auf der Verände- 56 rung der Denkmuster liegt und die Verhaltensänderung dadurch geschieht. Schließlich die kognitive Verhaltenstherapie die auf beiden Ebenen interveniert. Sie setzt bei Kognitionen und dem Verhalten an. Die Techniken sind zum Beispiel die Stimuluskontrolle, Konfrontations- und Bewältigungsverfahren, die operanten Verfahren, die kognitiven Verfahren, das Training sozialer Kompetenzen und Entspannungstechniken. Die Verhaltenstherapie analysiert auf unterschiedlichen Ebenen das Verhalten. Bei der Makroanalyse, die als vertikale Verhaltensanalyse gesehen wird, ist der Blickwinkel umfassend, die Probleme werden in einem großen Kontext gesehen, dabei werden Ziele, Pläne, Schemata und Grundannahmen herausgearbeitet. Es entsteht ein hypothetisches Bedingungsmodell, welches die biographische Anamnese und die Symptomentwicklung beinhaltet. Ziel ist, ein Störungsmodell zu formulieren, um das Selbstverständnis des Patienten zu fördern. In der Makroanalyse finden somit die Plan- und Schemaanalyse statt. In der Mikroanalyse wird das Verhalten in einzelnen Situationen beschrieben. Sie findet auf der somatischen, emotionalen, motorischen und kognitiven Ebene statt. So erhält man eine genaue Analyse aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus diesen Analysen leitet sich das therapeutische Arbeiten ab(vgl. Margraf, 2009, Linden und Hautzinger, 1993, Hoffmann, 1990, Bartling et al. 2008, Schermer et al. 2005). 7 Handlungsempfehlungen innerhalb des bestehenden Suchthilfesystems für Substituierte Im folgenden Kapitel werden die vorangegangenen Inhalte subsumiert und daraus resultierende Handlungsempfehlungen formuliert, um die Versorgung von Substituierten zu verbessern. Diese Handlungsempfehlungen können für die gesamte Substitution gelten, allerdings werden sie hier für die ausgewählte Klientengruppe formuliert. Bei der Klientengruppe fallen - wie voran beschrieben – einige „Besonderheiten“ auf, vor allem was das fehlende Angebot im bestehenden Suchthilfesystem betrifft. 57 Handlungsempfehlungen innerhalb des bestehenden Suchthilfesystems für Substituierte 7.1 Auf Ebene der Rahmenbedingungen der Substitution Auf der Ebene der Rahmenbedingungen sollten folgende Veränderungen vorgenommen werden. Wie in 2.5 beschrieben sollten das BtMG und die BtMVV den Richtlinien der BÄK angepasst werden. Der Beigebrauch sollte daher in diesen gewertet werden, um den behandelnden Ärzten die Möglichkeit zu geben, individuelle Behandlungspläne mit den Patienten zu entwerfen. Innerhalb dieser Behandlungspläne wäre es dann möglich, den in der Realität bestehenden Beigebrauch (siehe 4.1) zu akzeptieren und dadurch keine Sanktionen erteilen zu müssen. Gleichermaßen wäre es den Patienten möglich, in ihrem Tempo bzw. ihren Zielen entsprechend, an ihrem Konsum zu arbeiten, auch wenn diese Ziele nicht immer die Aufgabe allen Konsums darstellen. Die Übereinkunft, dass die Opiatabhängigkeit eine chronische Erkrankung darstellt, könnte somit in bestehendes Recht übernommen werden und brächte für alle Beteiligten eine Entspannung im Behandlungsprozess mit sich. Vor allem der Beigebrauch im Zusammenhang mit Komorbiditäten (siehe 4.2), im Sinne der oben beschriebenen Selbstmedikation (siehe 4.4), würde den nötigen Stellenwert erhalten, um weitere sinnvolle psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen zu ermöglichen, ohne ständig wiederkehrende und nicht zielorientierte Akutbehandlungen zu „erzwingen“ (siehe 3.6). Substitution muss, im Sinne von harm-reduction, genauso anerkannt werden, unabhängig von der Zielsetzung „Abstinenz“. Diese Veränderungen könnten auch dazu führen, dass in ländlichen Gebieten sich Mediziner bereit wären Substitution anzubieten, was zu einer regionalen Verbesserung der Versorgung für Opiatabhängige führen würde. Weiterhin könnte der in 3.6 beschriebenen Angst der Nicht-Substituierten entgegengewirkt werden, die keine Behandlung anfangen, aufgrund des immer drohenden Behandlungsabbruchs. Grundsätzlich solltedie Versorgung für Opiatabhängige deutschlandweit gleichermaßen gesichert und praktiziert. Es darf keinen Unterschied machen, ob der Betroffene in einer Großstadt oder in einer ländlichen Region Unterstützung benötigt. 58 7.2 Auf Ebene der psychosozialen Versorgung der Klienten Die Lebenssituationen und Problemlagen von Menschen mit Opiatabhängigkeiten sind multidimensional und so vielfältig wie ihre Biographien. Daher sollte die psychosoziale Versorgung sich darauf einlassen und anpassen. Psychosoziale Betreuung kann keinen verpflichtenden Charakter haben (siehe 3.3), wenn davon ausgegangen wird, dass die Betroffenen selbstbestimmt sind. Die Substitution darf nicht an Bedingungen einer psychosozialen Betreuung geknüpft sein. Die Substitution allein kann eine ausreichende Unterstützung darstellen (siehe 2.2). Eine flächendeckendes Angebot der freiwilligen PSB sollte trotzdem vorhanden sein. In Brandenburg, zum Beispiel, ist dieses nicht gewährleistet. Die Substituierten müssen oft lange Wege nach Berlin in Kauf nehmen, um sich dort in PSB zu begeben, da diese Voraussetzung für eine Substitution ist. Dort wiederum müssen sie von den Suchthilfeträgern oft abgelehnt werden, weil die zuständigen Kostenträger in Brandenburg die PSB in Berlin nicht finanzieren. 7.3 Auf Ebene der Suchthilfeträger. Grundsätzlich müsste ein Selbstverständnis entwickelt werden, was PSB überhaupt beinhaltet (siehe 3.1), welche Haltung die Mitarbeiter mitbringen sollten, welches Verständnis von Abhängigkeit und Krankheit vorliegt und welches Menschenbild damit einhergeht (siehe 5.1 und 5.2). Zusätzlich sollten Suchthilfeträger sich politisieren, da sie aufgrund ihrer Profession auch die Zielsetzung haben, sich gegen Soziale Ungerechtigkeit und damit einhergehender Diskriminierung zu positionieren. Suchthilfeträger haben die Verpflichtung, auf Versorgungsdefizite aufmerksam zu machen und für einzelne Klientengruppen benötigte Angebote zu entwickeln - auch wenn dies bedeutet neue Wege zu gehen und dass sie sich damit gegen den immer noch vorherrschenden Abstinenzgedanken zu stellen. Im Bezug auf die Rehabilitationsmöglichkeiten sollten die Suchthilfeträger neue Konzepte entwickeln für Substituierte. Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, unter durchgängiger Substitution, Rehabilitationsmaßnahmen (siehe 6.1 und 6.2) in Anspruch zu nehmen. Damit würde der Beobachtung entsprochen werden, dass für einige Substituierte die Einnahme des Substituts eine lebenslange Behandlung bedeutet, im Sinne einer chronischen Erkrankung (siehe 4.1). Die Betroffenen sollten in gleichem Maße Zugang zu allen Angeboten erhalten. Es kann auch unter einer Dau59 Handlungsempfehlungen innerhalb des bestehenden Suchthilfesystems für Substituierte ersubstitution die Arbeitsfähigkeit erhalten bzw. wiederhergestellt werden, das hieße, auch ein Kreislauf zwischen prekären Gelegenheitsarbeiten, Arbeitslosigkeit und eventueller Kriminalität könnte positiv beeinflusst werden. Bei Doppeldiagnosen wäre es so zum Beispiel möglich, während fortlaufender Substitution, erst eine Verbesserung der psychischen Situation zu erreichen und in einem zweiten Schritt an der Abhängigkeit zu arbeiten. Für die beschriebene Klientengruppe wäre es die kleinere Belastung, eine lebenslange Substitution zu erhalten, als die oft auftretenden „Drehtüreffekte“ zwischen Psychiatrie, Therapie und Krankenhaus zu ertragen. Der Einwand, dass Therapie und Rehabilitation unter Substitution nur eingeschränkt möglich ist, da der Zugang zu den Emotionen durch das Substitut gedämpft ist, würde an dieser Stelle eine Rolle spielen. Allerdings wäre bei Buprenorphin (siehe 2.3.2) dieser Effekt nicht vorhanden und bei Methadon und Levomethadon (siehe 2.3.1) müsste eventuell über eine Höchstdosis diskutiert werden. Es könnte aber auch formuliert werden, dass diese nicht notwendig ist, da ja an den vorhandenen Emotionen und Verhaltensweisen gearbeitet wird und eine Abdosierung automatisch stattfinden kann, wenn eine Verbesserung bzw. Stabilisierung der psychischen Situation durch die Behandlung eingetreten ist. 7.4 Auf Ebene der Kostenträger Die Kostenträger der Rehabilitationen und Therapien sollten sich zum einen im Bezug auf die Zielsetzung, als auch auf die Kosten öffnen und diese auch finanzieren unter Dauersubstitution. Wie in 6.2.1 beschrieben, sei dies theoretisch möglich, jedoch wird es nicht durchgeführt, weil Bedenken bei den Kostenträgern aufkommen, inwieweit sich Finanzierungszuständigkeiten dadurch ändern könnten. Diesem könnte aber mit einer gemeinsamen Erklärung vorgebeugt werden. Die Tatsache, dass die Maßnahme unter einer Dauersubstitution absolviert wird, bedeutet nicht unweigerlich eine veränderte Situation. Würde die berufliche Rehabilitation im Vordergrund stehen, wären weiterhin die Rentenversicherungsträger Kostenträger. Wäre dies nicht der Fall, wären die Krankenkassen in der Pflicht (siehe 6.). Die Finanzierung des Substituts würde von den Krankenkassen getragen. Hier könnte der Einwand kommen, dass bei einer Cleantherapie diese Kosten wegfallen würden. Jedoch müsste 60 überdacht werden, inwieweit, auf lange Sicht, auch Kosten eingespart würden, z.B durch den Wegfall immer wieder stattfindender Entzüge und Akutbehandlungen in Krankenhäusern. Eventuell könnte auch den „Therapieversuchen und Abbrüchen“ ein Stück weit entgegengetreten werden, indem die unbedingte Abstinenzerreichung nicht mehr zwingend gefordert ist. Es wäre denkbar, dass sich eine größere Zahl an Klienten zu einer Rehabilitation entscheiden würden, mit der Sicherheit, dass sie ihre Substitution nicht unbedingt aufgeben müssen. Auch hinsichtlich der Doppeldiagnosen wäre auf diese Weise ein wichtiger Schritt für die Versorgung der Betroffenen gemacht. Die Behandlung der Klientengruppe ist oft durch zahlreiche Behandlungsversuche in Psychiatrie, Akutmedizin und Rehabilitation gekennzeichnet. Hier könnte ebenfalls eine bessere Bündelung von Ressourcen auf Seiten der Kostenträger stattfinden. 7.5 Auf Ebene der psycho- und suchttherapeutischen Versorgung Die Psychotherapierichtlinien sollten eine Öffnung für Menschen mit Abhängigkeiten ermöglichen. Eine ambulante Psychotherapie unter durchgängiger Substitution sollte ermöglicht werden. Auch hier könnte über eine Höchstdosis des Substituts diskutiert werden. Allerdings müsste eine solche Möglichkeit damit einhergehen, dass Psychotherapeuten besser geschult werden, was die Thematik von Abhängigkeitserkrankungen betrifft. In der Praxis kommt häufig die Rückmeldung, dass keine Erfahrung mit suchtspezifischen Inhalten besteht. Eine zweite Möglichkeit wäre die Approbation für Suchttherapeuten zuzulassen, um somit gezielt Psychotherapie für Menschen mit Abhängigkeiten installieren zu können. Natürlich müsste die Ausbildung dann zertifiziert sein und die Berufsbezeichnung des Suchttherapeuten geschützt. 8 Ausblick: Ambulante Clearingtherapie bei Substituierten mit Doppeldiagnose unter Beigebrauch Im folgenden soll ein Ausblick auf ein ambulantes Therapieangebot skizziert werden, das für die beschriebene Klientengruppe konzeptioniert werden könnte, um in der Theorie und Praxis eine Lücke im Hilfesystem zu schließen. Allerdings müssten dazu die vorangegangenen Handlungsempfehlungen umgesetzt werden. 61 Ausblick: Ambulante Clearingtherapie bei Substituierten mit Doppeldiagnose unter Beigebrauch Es ist nicht das Anliegen der Arbeit, dieses auszuarbeiten. Anliegen der Arbeit ist, einen Anstoß in Richtung einer Öffnung des bestehenden Suchthilfesystems zu geben. Die vorausgehende Analyse des Suchthilfesystems für Substituierte hinsichtlich therapeutische und psychosoziale Angebote war wichtig, um die nachfolgende Skizze einer Therapiemöglichkeit zu entwickeln. Es geht um die Behandlung und Unterstützung bei Doppeldiagnosen, auf dem Hintergrund, dass Betroffene sich häufig eine solche Möglichkeit wünschen, ihnen diese aber verwehrt bleibt. 8.1 Zielsetzung Die Zielsetzung kann als „Clearingtherapie“ verstehen. Die Klienten sollen innerhalb eines therapeutischen Konzepts die Möglichkeit haben, für sich eine Krankheitsdefinition und -einsicht zu erarbeiten, welche mit Psychoedukation einhergeht. Eine Erarbeitung von Akzeptanz der eigenen Situation stünde ebenso am Anfang eines solchen Prozesses. Trotz des Wunsches, Therapie zu machen geht diese oft mit einer Ambivalenz und Angst einher. Es könnte versucht werden, diese zu integrieren. Die Klienten könnten einen ersten Schritt in Richtung Selbstwirksamkeit gehen. Selbstwirksamkeit im Bezug auf ihre Symptomatik sowohl bei den Abhängigkeiten als auch bei den weiteren psychiatrischen Erkrankungen. Auch die Funktionalität der einzelnen Substanzen ist ein Hauptbestandteil, durch den die Klienten auf lange Sicht - bei eigenem Wunsch - ihren Konsum reduzieren können. Die Clearingtherapie hätte zwei Standbeine, das der Psycho- bzw. Suchttherapie und das der PSB. Die Zielsetzung wäre, dass sich die PSB, mit dem Klienten zusammen, um die Stabilisierung, das Erreichen oder den Erhalt der sozioökonomischen Faktoren kümmert und die Therapie mit dem Klienten die intrapsychischen Prozesse bearbeitet. 62 8.2 Zielgruppe Die Zielgruppe ist identisch mit der Klientengruppe, auf der diese Arbeit basiert. Das Angebot soll an Substituierte gerichtet sein, die zusätzliche Substanzen konsumieren und/oder eine Doppeldiagnose haben und gerne ambulant therapeutisch arbeiten möchten. Die Klienten benutzen Substanzen aufgrund einer Funktionalität, die ihnen dabei hilft, mit ihren psychischen Situationen umgehen zu können und Symptome zu lindern. Die Klienten wollen oder können keine Rehabilitation in Anspruch nehmen, da sie sich nicht vorstellen können, ohne Substitut ihr Leben zu bewältigen. Über eine Höchstdosis müsste in der Erprobung diskutiert werden. 8.3 Setting und Rahmenbedingungen der Clearingtherapie Die Therapie sollte von niedergelassenen Psychotherapeuten erbracht werden undzwar aufgrund der therapeutischen Ziele, mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung. Hier wären die oben genannten Suchttherapeuten, mit Recht auf Approbation, mit festgeschriebenem Ausbildungscurriculum, ideal. Die Therapie findet in Kombination mit einer PSB statt, was bedeutet, dass es ein Behandlungsteam aus Psycho- bzw. Suchttherapie und Sozialarbeit gäbe. Die PSB würde die Behandlung beginnen, um eine erste sozioökonomische Stabilität zu erreichen. In dieser Phase würde die Sicherung des Lebensunterhaltes, eine geregelte Wohnsituation, Schuldenregulierung und medizinische Versorgung eine Rolle spielen. Es würden wöchentliche Termine stattfinden. In einer zweiten Phase würde die Therapie einsteigen und wöchentlich ein Gespräch anbieten. Also hätten die Klienten jede Woche eine Therapiesitzung und einmal die Möglichkeit die PSB in Anspruch zu nehmen. Damit wäre gewährleistet, dass beide Behandelnden ihrem Auftrag entsprechend arbeiten könnten und der Klient für sich, an intrapsychischen und sozioökonomischen Themen. Die Klienten werden mit bestehendem zusätzlichem Konsum in die Therapie aufgenommen und es besteht nicht die Verpflichtung, diesen innerhalb eines Zeitraumes aufzugeben. Sie sollten es schaffen, Termine einzuhalten und nicht akut intoxikiert zu sein. Aus der Erfahrung in der PSB ist dies möglich, wenn die Klienten für sich eine Sinnhaftigkeit dafür entwickeln können. 63 Ausblick: Ambulante Clearingtherapie bei Substituierten mit Doppeldiagnose unter Beigebrauch Zeitlich müsste die Therapie an das Tempo der Klienten angepasst werden, allerdings wäre der Richtwert von 40 Sitzungen für eine Erstbeantragung denkbar. Bei einer verhaltenstherapeutischen Psychotherapie beträgt die Erstbeantragung 25 Sitzungen. Zu Beginn könnte man als zeitlichen Rahmen für den Klienten, erst mal ein Jahr einplanen. Im Verlauf wäre es auch denkbar, die PSB irgendwann nur noch auf Abruf zu erhalten und/oder als Ansprechpartner für den substituierenden Arzt und den Suchttherapeuten. 8.4 Therapeutische Ausrichtung Da die Verhaltenstherapie unterschiedliche Methoden und Techniken umfasst, die jedoch gemeinsam haben, dass sie den Klienten zur Selbsthilfe befähigen und das Erkennen von Ursachen und die Entstehung von Verhalten fördert, wird diese als die richtige für die Überlegungen gewählt. Mit den Klienten werden, durch das Erkennen von bestimmter Verhaltensmuster, Methoden und Techniken erlernt, die diese dazu befähigen sollen, funktionale Verhaltensweisen zu nutzen. Für den Konsum kann dies einen Rückgang bedeuten, wenn die Klienten daran arbeiten wollen. Das bedeutet den Versuch, die Funktionalität der Substanz durch andere Handlungen zu ersetzten. 8.5 Einbettung in das bestehende Hilfesystem Die Therapie könnte auf zwei Wegen genutzt werden. Zum einen als alleinstehende Behandlung für Klienten, die in ihrer Lebenssituation verbleiben wollen und, trotz Substitution, an ihren Mechanismen arbeiten wollen. Sie kann zum anderen aber auch zur Klärung von Zielen und zum Motivationsausbau für eine weitere Behandlung genutzt werden. Sie könnte einen wichtigen Bestandteil an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Suchthilfe darstellen. Die Klienten hätten die Möglichkeit, in einem geschützten, aber sehr offenen Rahmen für sich ihre Ziele therapeutisch zu strukturieren, während sie die Gewissheit haben, eine Begleitung für alle sozialarbeiterischen Belange zu haben. Die Zusammenarbeit zwischen PSB, Therapie und Substitution müsste klar und strukturiert definiert und organisiert sein. Die PSB und die Therapie stünden in ständigem Austausch, um sich über gemeinsame Ziele mit dem Klienten zu verständigen. 64 Die Zusammenarbeit mit dem Arzt könnte über die PSB laufen. Die PSB wäre der Vernetzungspunkt zwischen allen Beteiligten. 9 Fazit Das Suchthilfesystem in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten in großen Teilen verändert. Die Einführung der Substitution stellt für die Behandlung von Opiatabhängigen einen großen Schritt dar. Es fand eine Ausdifferenzierung durch unterschiedliche Kriterien statt. Die Angebote wurden erweitert und reichen heute von harm-reduction bis hin zur stationären Therapie. Es kann z.B. eine Unterteilung nach niedrigschwelligen und hochschwelligeren Angeboten und akzeptanzorientierten und abstinenzorientierten Angeboten gemacht werden. In der Auseinandersetzung mit der Akzeptanzorientierung wurde allerdings deutlich, dass der größte Teil der Hilfen immer noch abstinenzorientiert ausgerichtet ist, einerseits durch die Kostenträger, an65 Fazit dererseits aber auch durch die Suchthilfeeinrichtungen selbst. Zur gleichen Zeit wird aber auch klar, dass das Erfolgsparameter „clean sein“ oftmals nicht hilfreich und lebensnah ist. Für die Betroffenen, vor allem für die in dieser Arbeit beschriebene Klientengruppe, wäre wünschenswert, dass sie selbst entscheiden könnten, ob sie durch ihre Substitution eine hilfreiche, nicht zeitlich begrenzte Medikation, oder einen Übergang zwischen Konsum und Abstinenz erfahren wollen. Es wäre notwendig, die Substitution wie in Kapitel 7.1 beschrieben, dahingehend auszuweiten, dass sie ohne Druck und Richtlinienverstöße auch eine lebenslange Unterstützung sein könnte, ohne andere Unterstützungs- und Hilfsangebote auszuschließen z.B. betreute Wohnformen oder therapeutische Angebote in unterschiedlicher Ausgestaltung. Natürlich können, durch die Nebenwirkungen der Substitute, therapeutische Prozesse eventuell verlangsamt und abgeflacht werden. Das darf aber kein Grund sein, am Ziel der Abstinenz festzuhalten und die Hilfen deshalb nicht zu öffnen. Die Substituierten werden zu einer PSB verpflichtet, wobei ihnen zugetraut wird, dass sie in dieser ihre Themen bearbeiten und ihre Lebensbereiche organisieren und regeln können. Hierfür scheinen sie die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten zu haben. Wenn die Klienten allerdings in einen therapeutischen Prozess einsteigen wollen, wird vorab davon ausgegangen, dass sie hierfür nicht „klar“ genug sind. Die Möglichkeit einer wie in Kapitel 8 beschriebenen Clearingtherapie könnte in einem Manual erarbeitet werden und in der Praxis erprobt werden. Dafür wäre eine Offenheit von Sozialer Arbeit, Medizin und Therapie nötig. Die größte Hürde läge mit aller Voraussicht bei den Therapeuten. Die Vorbehalte hängen a) mit der mangelhaften Ausbildung im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen und b) mit den Vorgaben zusammen, die es bis dato noch nicht ermöglichen, eine solche anzubieten. Diesen Unsicherheiten könnte entgegengetreten werden, indem man die Ausbildung der Psychotherapeuten erweitert, oder den Suchttherapeuten mit VDR-Anerkennung die Approbation für einen bestimmten Personenkreis ermöglicht. Weiterhin wäre es von großer Relevanz, dass mit dem nötigen Vertrauen in die anderen Professionen, eng in multiprofessionellen Behandlerteams zusammengearbeitet wird. Weiter sollten die ethischen Aspekt und die Bedürfnisse der Betroffenen wieder mehr in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt werden. In der Praxis ist es problematisch, wenn die Suchthilfe eine genaue Vorstellung hat, mit welchen Hilfen der Betroffene 66 unterstützt werden kann, aber zugleich von anderer Seite eine Zuschreibung stattfindet, welche davon ausgeht, dass eine verantwortungsvolle Entscheidungsfindung dem Klienten nicht zugetraut wird. Es wäre eine gute Ausgangslage für die Entwicklung von neuen Angeboten, diese zu einem größeren Teil aus der Praxis heraus zu entwickeln und die Betroffenen bei diesem Prozess mit einzubeziehen. Es sollte möglich gemacht werden, Angebote zu erproben, da der gängige Weg für viele Konsumenten nicht der „richtige“ zu sein scheint. In diesem Zusammenhang geht es auch um eine klare und öffentliche Positionierung der Sozialen Arbeit sowohl der Gesellschaft, als auch den politischen Entscheidungsträgern gegenüber. Im Speziellen müsste eine Sensibilisierung für die Lebenssituationen der Konsumenten stattfinden, um verständlich zu machen, wie Veränderungen in der Suchthilfe dazu beitragen könnten, die Situation für die Betroffenen zu entspannen. Konsumenten befinden sich gesellschaftlich in einer schwierigen Situation, in der sie sich oft in unterschiedlichen Kontexten rechtfertigen müssen. Die Soziale Arbeit muss sich hier - durch ihre Stellung als Menschenrechtsprofession – für die Bedürfnisse und gegen Diskriminierung einsetzen. Über den verpflichtenden Charakter der Teilnahme an der PSB, sollte sich die Soziale Arbeit Gedanken machen: Ist dieser mit ihrem Menschenbild vereinbar ? Oft besteht der Eindruck, dass die Soziale Arbeit nicht das Selbstbewusstsein hat, auf ihre Angebote zu vertrauen, und davon auszugehen ist, dass Hilfesuchende diesen Bedarf nicht genügend freiwillig annehmen. Die PSB könnte jedem Substituierten zu Beginn der Substitution vorgestellt und dann von ihm - bei Bedarf - in Anspruch genommen werden. Hierfür müsste die Präsentation des Angebotes der PSB anderst gestaltet werden, z.B durch eine aufsuchende Arbeit vor Ort in den Praxen. Auch auf Seiten der Mitarbeiter in der PSB würde diese Freiwilligkeit des Angebots zu einer Entspannung führen. Auf Seiten der Kostenträger sollte darüber nachgedacht werden, wie lange ein Leistungsberechtigter aus der beschriebenen Klientengruppe Leistungen beantragt und bewilligt bekommt, d.h. Kosten verursacht, und ob diese Kosten durch die Finanzierung innovativer Angebote nicht auch minimiert werden könnten. Die Klientengruppe befindet sich oft zwischen Akutbehandlungen, Entgiftungsversuchen und/ oder Therapieversuchen. Zusätzlich werden häufig weitere Maßnahmen finanziert. 67 Fazit Hier muss die Frage gestellt werden ob dieser Kostenkreislauf nicht auch unterbrochen werden könnte, wenn z.B. durch eine Clearingtherapie in Kombination mit PSB und Substitution, schon frühzeitig ein Fundament bzw. eine Stabilität erarbeitet werden könnte und, daraus resultierend, diverse Wiederholungsbehandlungen wegfielen. Im Bereich der medizinischen Versorgung wäre eine größere Bereitschaft der Ärzte nötig, Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen zu behandeln. Die momentan geringe Bereitschaft hängt mit den gegebenen Rahmenbedingungen zusammen, allerdings nicht ausschließlich. Das Bild des Abhängigen scheint oftmals keinen Platz in der täglichen Praxis zu haben. Auch im Bereich der psychiatrischen Behandlung begegnet man bei niedergelassenen Ärzten Vorbehalten. In der beruflichen Tätigkeit der PSB stößt man immer wieder an Grenzen, Klienten an Psychiater zu vermitteln, die bereit sind, in Kombination mit dem Substitut, eine Behandlung für bestimmte Krankheitsbilder zu entwickeln und durchzuführen. Oftmals scheitert es auch an der Terminvergabe, wenn Klienten in Praxen anrufen. Kümmert sich ein Mitarbeiter der PSB darum, oder wird erst mal verschwiegen, dass eine Substitution stattfindet, ist eine Terminvergabe schon eher erfolgreich. Schlussendlich wäre es wünschenswert, dass auch in der hausärztlichen Versorgung größere Sicherheit im Umgang mit Abhängigkeiten erlangt wird. Vor allem ältere Klienten wünschen sich eine ärztliche Betreuung, die von Konstanz und Vertrauen geprägt ist. 68 10Literaturverzeichnis akzept e.V, (2010), Strategien zur Sicherung und Verbesserung der substitutionsbehandlung Opiodabhängiger, Dokumentation ExpertInnen Treffen am 2.Juni 2010 Berlin akzept e.V, (2010) IMPROVE. Eine Befragung unter Drogenkonsumenten, Patienten und Ärzten – Ansätze zur Verbesserung einer erfolgreichen Therapieform, 2010 akzept e.V, Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin, Berufsverband Deutscher Psychiater/Deutscher Nervenärzte, (2012) „Dokumentation, Substitution und Psyhotherapie im stationären und ambulanten Setting“, Fachtagung am 2.12.2011 Berlin Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. 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