Weiterlesen - Elisabeth Kulman

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PROLOG SEPTEMBER 2 012
Elisabeth Kulman singt die Leokadja Begbick in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Wiederaufnahme: I vespri siciliani
Interviews: Denoke, Furlanetto, Kulman
Ballett: Romeo und Julia
ELISABETH KULMAN
Singen
ist für mich
Geborgenheit
Auftritte im September:
Leokadja Begbick
(Aufstieg und Fall
der Stadt Mahagonny)
22., 27., 30., September
I
hre Darstellung der korrupten Turbokapitalistin
Leokadja Begbick in der Staatsopernerstaufführung von Weills und Brechts Aufstieg und Fall der
Stadt Mahagonny im vergangenen Jänner dürfte Interpretationsgeschichte geschrieben haben – nun
leiht Elisabeth Kulman zu Saisonbeginn, bevor sie mit
der Staatsoper auf Japan-Gastspiel geht, dieser menschenverachtenden Figur erneut ihre Stimme.
Das folgende Gespräch führte sie mit Andreas Láng.
Frau Kulman, ist Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny nun eine Oper oder nicht – diese Frage wird
ja gelegentlich diskutiert?
Elisabeth Kulman: Anders als die Dreigroschenoper, die den Namen „Oper“ im Titel trägt, zähle ich
Mahagonny sehr wohl zu dieser Gattung, zumal
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man für die Umsetzung gestandene Sänger benötigt – vor allem die Partien der Jenny und des Jim
Mahoney halten für die Interpreten einige Herausforderungen bereit. Die Dreigroschenoper wurde
hingegen explizit für Schauspieler konzipiert, die
Fähigkeiten zum sängerischen Gestalten haben.
Leokadja Begbick, traditionell mit betagteren Sängerinnen besetzt, würde man als typisches Charakterfach klassifizieren. Sind Sie daher eine Luxusbesetzung?
Elisabeth Kulman: (lacht) Das müssen andere beurteilen. Auf jeden Fall braucht man für die Leokadja eine Sängerin, die eine Portion Bühnenpräsenz mitbringt – und das schreibt man mir zu. Dass
eine junge Sängerin, die nicht nur über Reste von
INTERVIEW
Stimme, sondern über die Blüte ihrer Kraft verfügt,
diese Rolle gestalten darf, ist allerdings tatsächlich
unüblich, vielleicht handelt es sich diesbezüglich
an der Wiener Staatsoper sogar um ein Novum.
Waren Sie also überrascht, als Sie den Auftrag bekamen?
Elisabeth Kulman: Die Musik Kurt Weills war mir
natürlich vertraut, ich kenne viele seiner Werke,
beschäftige mich regelmäßig mit seinen Liedern,
und habe in den 90er-Jahren als Mädchen von Mahagonny bei einer konzertanten Aufführung des
Mahagonny-Songspiels im Wiener Konzerthaus
mitgewirkt. Überrascht war ich vom Angebot aufs
erste trotzdem, dachte mir dann aber: Da muss
man zugreifen, das ist eine Rolle, aus der man
schon etwas machen kann.
Rund einen Monat nach den Mahagonny-Aufführungen singen Sie den Smeton in der Anna Bolena
beim Staatsoperngastspiel in Tokio, also eine Belcanto-Rolle. Ist die Herangehensweise bei den beiden Partien trotz der stilistischen Differenz ähnlich?
Elisabeth Kulman: Nein, die beiden Rollen liegen
so weit auseinander, dass es einer richtigen Umstellung bedarf. Im Belcanto geht es ja, wie der
Name schon sagt, um den Schöngesang. Man versucht so homogen, auch so geglättet zu singen wie
nur möglich, ohne aber den Ausdruck, die Farben
zu verlieren. Bei Mahagonny kann man bewusst
hässliche Farben suchen, da sind auch veristische
Ausbrüche erlaubt. Beim Belcanto ist so etwas
strikt verboten, wie ich von Riccardo Muti gelernt
habe.
Ist man eigentlich stolz, dass man so unterschiedliche Partien im Repertoire hat?
Elisabeth Kulman: Um Stolz geht es nicht, es geht
um das stilistisch richtige Singen. Mein Anliegen
kann nicht lauten, eine große Palette an Rollen irgendwie auf meine Art zu machen, sondern mich
immer wieder in eine Sprache, in einen Stil, in einen Komponisten hineinzufühlen. Ich empfinde
das als eine essentielle Arbeit, die einen ganz großen Teil meines Berufes ausmacht.
Und worin besteht die persönliche Interpretation?
Elisabeth Kulman: In meinem Blickwinkel auf ein
Werk, auf eine Partie, in meiner Erfahrung, meinem
Wissen, das ich mir erworben habe, durch Sekundärliteratur, durch meine Zusammenarbeit mit
großen Dirigenten. Ich nenne beispielsweise die
Pole Nikolaus Harnoncourt und Riccardo Muti: da
liegen Welten dazwischen und ich habe die gleichen Werke mit dem einen und dem anderen gemacht. Bei Muti bin ich darüber hinaus in eine
italienische Welt eingetaucht, die mir vorher nicht
zugänglich war, die plötzlich bunt und erlebbar
wurde, wofür ich ihm unglaublich dankbar bin.
Diesen breiten Erfahrungsschatz trage ich immer
mit mir und nutze ihn nach bestem Wissen und
Gewissen je nach Situation.
Sind Sie bereit, auf Konfrontation zu gehen, wenn
Kollegen oder Dirigenten eine gänzlich andere Sicht
auf Werke haben als Sie?
Elisabeth Kulman: Vielleicht war meine Zusammenarbeit mit Dirigenten bislang deshalb immer
so gut, weil sie merkten, dass ich selbstständig
denke und nicht einfach mache, was man von mir
verlangt, sondern in Einzelfällen durchaus widerspreche. Heutzutage ist es ja nicht mehr so, dass
ein Dirigent alles bestimmt und Sänger oder Musiker bloß ausführende Organe sind. Natürlich hat
man Respekt vor einem erfahrenen Dirigenten,
und natürlich lasse ich mich gerne inspirieren und
sogar belehren. Aber was ich unter Zusammenarbeit verstehe, ist der Austausch zwischen einem
Dirigenten und den anderen künstlerisch Beteiligten: Ich biete meine Ansicht an, und er sagt dann,
ob er sie richtig findet oder falsch. Und genau das
ist das Schöne an meinem Beruf, dass man nicht
alleine, sondern gemeinsam Musik macht. So sehr
Künstler in manchen Aspekten Einzelgänger beziehungsweise Einzelkämpfer sind, sein müssen: Auf
der Bühne ringt man gemeinsam um das bestmögliche Ergebnis.
Kommen wir zu Mahagonny zurück: Dieses Stück
ist eindeutig politisch ausgerichtet. Muss oder kann
Kunst, Oper, Musik generell politisch sein?
Elisabeth Kulman: Oft hört man, jede Kunstform
oder Kunstausübung sei eine politische Äußerung,
da man alles, was man sagt oder tut, auch in einem
politischen Kontext sehen kann. Obwohl ich ein
politisch denkender und interessierter Mensch bin,
halte ich diesen Gedanken dennoch für sekundär.
Ein Musikstück transportiert in erster Linie die sehr
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persönliche, geradezu intime Sprache des Komponisten, ob er das will oder nicht, und auch ich bin
als Interpretin primär ein Mensch, der von Gefühlen und Stimmungen bewegt ist. Erst in zweiter
Linie kommen andere, intellektuelle Aspekte hinzu, zum Beispiel politische, wie eben in Mahagonny, wo die beiden Schöpfer Weill und Brecht eine
eindeutige politische Botschaft senden wollen, ja
geradezu eine Belehrung an ihre Hörerschaft.
Worin liegt eigentlich Ihre Grundmotivation, den
Beruf einer Sängerin auszuüben?
Elisabeth Kulman: Viele meiner Kollegen betonen,
dass sie den Beruf gewählt haben, um andere
glücklich zu machen, quasi um sich herzuschenken. Ich hingegen singe, weil es mich glücklich
macht. Ich kann gar nicht anders: Ich mag die
Proben, die Aufführungen, ich liebe es, wenn Musik um mich herum existiert, da diese Welt mich
zu schützen scheint, ein heimeliges Gefühl erzeugt.
Im Ausüben meines Berufes empfinde ich eine
Form der Geborgenheit, nach der ich Sehnsucht
habe. Mit anderen Worten: Ich bin Sängerin aus
egoistischen Gründen, freue mich aber, wenn andere, das Publikum, ebenfalls Freude an dem empfindet, was mir Spaß macht.
Haben Sie dieses Gefühl der Geborgenheit durch
Musik immer schon gekannt?
Elisabeth Kulman: Ja, von Kindheit an. Diese Geborgenheit in der Musik, diese Freude an der Musik war und ist der erste Antrieb meines Sängerinnendaseins, den ich nie verlieren will. Wenn
Singen eines Tages keine Freude mehr wäre, würde
ich den Beruf nicht mehr ausüben wollen. Früher
dachte ich, dass alle aus denselben Gründen auf
die Bühne gehen wie ich. Aber es gibt ganz verschiedene Motivationen, meine ist nur eine Variante. Manche brauchen den Applaus, den Ruhm, bei
manchen steht vielleicht das Pekuniäre im Vordergrund. Ich will das nicht werten, alles hat seine
Berechtigung.
Aber sind Nervosität oder der Druck, der vor einer
Vorstellung auf einem lasten kann, keine Glücksminderer?
Elisabeth Kulman: Es stimmt, es gibt Dinge, wie
eben das Lampenfieber, die einen stören können.
Vor allem am Ende meiner Zeit als Sopran bin ich
manchmal mit zitternden Knien auf der Bühne
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gestanden und habe Blut und Wasser geschwitzt
– diese Zeit will ich nicht mehr erleben. Ich strebe
ständig danach, solche Nebeneffekte des Berufes
los zu werden oder zu minimieren, damit ich mir
meine ursprüngliche Freude bewahren kann.
Fühlen Sie auf der Bühne das Publikum mit, denken
Sie während einer Aufführung ununterbrochen daran, dass im Saal hunderte Zuschauer sitzen?
Elisabeth Kulman: In der Oper sieht die Situation
etwas anders aus als während eines Liederabends.
In der Oper sieht man die Zuschauer ja bis zum
Schlussapplaus nicht, erfühlt sie allenfalls in feinen
Schwingungen. Man erzählt eine in sich geschlossene Geschichte, die auf der Bühne ihren Raum
hat und dort abgeschlossen ist – abgesehen von
manchen Inszenierungen, bei denen die vierte
Wand bewusst eliminiert wird. Meistens also gibt
es einen Betrachter von außen, der wie in einen
Fernseher hineinschaut. Bei Liederabenden hat
man hingegen die Verpflichtung, dem Publikum
etwas zu erzählen, indem man eine Beziehung
aufbaut. Das ist eine besondere Herausforderung,
die ich nach und nach gelernt habe. Da ist zudem
auch das Publikum gefordert, sich mir zu öffnen.
Das gelingt manchmal mehr oder weniger und
hängt von beiden Seiten ab.
Zum Abschluss noch eine allgemeine Frage: Wie
würden Sie „musikalisch“ definieren, also eine musikalische Person?
Elisabeth Kulman: (denkt kurz nach) Es gibt noch
den Begriff musisch. Ein musischer Mensch ist ein
künstlerisch empfänglicher Mensch, aber das ist
nicht dasselbe wie musikalisch. Viele Zuhörer werden sich als musische Menschen empfinden, aber
ob sie musikalisch sind, ist eine andere Frage. Es
werden auch nicht alle musikalische Menschen
Profimusiker. Es gibt auch sicher Profimusiker, die
unmusikalisch sind (lacht). Was macht also einen
musikalischen Sänger aus? Zunächst einmal
braucht er Bildung, eine Ausbildung, in der er die
Sprache der Musik erlernt, sich umfassendes Wissen aneignet. Darüber hinaus benötigt er Einfühlungsvermögen, um in die Welt des Komponisten
eintauchen zu können, und Gefühlstiefe. Beide
Qualitäten, also Herz und Hirn, müssen in ausreichendem und ausgeglichenem Maße vorhanden
sein, wenn eines verkümmert ist, liegt auch keine
echte Musikalität vor.
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