Telemedizin in der Praxis – ethische Fragen - TA

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Telemedizin in der Praxis – ethische Fragen
Kurzvortrag (20 Min.) an der Tagung zur Telemedizin von TA-Swiss
Kantonsspital Basel, 1. Juli 2005
Dr. Markus Zimmermann-Acklin
Institut für Sozialethik (ISE)
Universität Luzern
Gibraltarstrasse 3
Postfach 7763
CH – 6000 Luzern 7
http://www.unilu.ch/ise
[email protected]
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Sehr geehrte Damen und Herren
Ich bedanke mich herzlich für die Einladung zu Ihrer Tagung hier ans Universitätsspital
Basel. Technikfolgenabschätzung und Ethik verstehen ihre Arbeit ähnlich: Ohne TA ist
keine ernsthafte ethische Beurteilung möglich, ohne ethische Überlegungen fehlen Kriterien, um mutmaßliche Folgen einer neuen Technologie einordnen und bewerten zu können.
Ich möchte in drei Schritten
− einführend etwas zu den Chancen und Risiken der Telemedizin allgemein und zur Rolle
der Ethik sagen;
− zweitens im Sinne einer Auslegeordnung einige Themenfelder beschreiben, die dabei
aus ethischer Sicht zu unterscheiden sind;
− drittens wende ich mich kurz dem zentralen Themenfeld der TA-Studie zu, indem ich
auf Herausforderungen eingehe, die sich aus Anwendungen in der unmittelbaren Situation zwischen Behandlungsteam und Patienten ergeben.
1. Chancen und Risiken der Telemedizin aus ethischer Sicht
Zu den möglichen Auswirkungen der Telemedizin heißt es auf S. 48 der Studie:
− Durch telemedizinisch eingeholte Expertenurteile lässt sich die Qualität medizinischer
Behandlungen verbessern.
− Bedürfnisse der Patienten werden vollständiger abgedeckt.
− [Sie] kann zu Einsparungen führen. Call-Center erlauben es, unnötige Arztbesuche zu
vermindern. [Sie] trägt dazu bei, kostspielige Folgen von Behandlungsfehlern zu vermeiden.
− Indem Ressourcen gezielt eingesetzt werden, unterstützt [sie] eine gerechtere Gesundheitsversorgung.
− Die Selbstbestimmung der Patienten wird durch mehr Informations- und Wahlmöglichkeiten gestärkt.
Und weiter, quasi spiegelbildlich:
− Aufgrund der unvollständigen Information kommt es vermehrt zu Fehldiagnosen
und -behandlungen.
− Die psychosozialen Aspekte von Gesundheit könnten vernachlässigt werden.
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− Dient [sie] dazu, Kosten einzusparen, ist mit Einbussen bei der Qualität zu rechnen.
Müssen Anwendungen privat finanziert werden, läuft dies dem gerechten Zugang zur
Gesundheitsversorgung entgegen. Die Ausweitung des Versorgungsangebots kann einen
Kostenschub auslösen.
− Mängel beim Datenschutz gefährden die Privatsphäre, Mängel bei der Datensicherheit
vor allem die Gesundheit der Patienten.
Zu Recht stehen diese prognostischen Aussagen hier nebeneinander: Die Telemedizin gehört zu den neueren Technologien, die weder eindeutig positiv und zu begrüßen noch eindeutig negativ und daher abzulehnen sind. Wir werden auch nicht vor ethische Dilemmaentscheidungen gestellt, wie sie beispielsweise aus dem Bereich des Klonens bekannt sind.
Spezifische Aufgaben der Ethik bestehen unter diesen Umständen darin,
− mögliche Risiken und Chancen abzuwägen,
− gute Fragen zu stellen,
− auf Widersprüche oder fehlende Aspekte hinzuweisen,
− kritisch mitzudenken
− und angesichts zunehmend fragmentierter Lebenswelten und der komplexer werdenden
gesellschaftlichen Strukturen nicht zuletzt: auf Zusammenhänge hinzuweisen und an
Wertetraditionen zu erinnern.
In diesem Sinne ist die Ethik eine Integrations- und Orientierungswissenschaft, die notwendig interdisziplinär ausgerichtet ist.
Eine Bemerkung auf S. 42 der Studie fällt dabei ins Auge. Dort heißt es, die Technikfolgenabschätzung möchte eine möglichst neutrale Grundlage für politische Entscheidungen bieten und habe darum sehr grundsätzliche Leitlinien zur Beurteilung der Telemedizin
gewählt! Ich muss Ihnen ehrlich gestehen: Eine Neutralität, wie sie auf Seite 41 in den Leitlinien der Studie zum Ausdruck kommt, gefällt mir aus ethischer Sicht ausgesprochen gut,
ist sie doch von einem Ethos der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit und sozialen
Gerechtigkeit geprägt. Genannt werden als Ziele:
− Verbesserung der Lebenserwartung, Lebensqualität und Selbstbestimmung;
− gleicher und gerechter Zugang zur Gesundheitsversorgung;
− volkswirtschaftlicher Nutzen;
− Zufriedenheit der Behandelnden;
− Entwicklung der Medizin.
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Die hier enthaltenen Prinzipien verdanken sich Traditionen, an denen ich mich auch ethisch
orientiere und die in dieser Hinsicht keineswegs „neutral“ sind.
2. Themenfelder in der ethischen Auseinandersetzung mit der Telemedizin
Das Feld der telemedizinischen Anwendungen ist relativ unübersichtlich. Das zeigen nicht
zuletzt die komplexen Aufzählungen in der Studie. Nicht in allen Bereichen stellen sich die
gleichen ethischen Herausforderungen, darum mein Versuch, drei Themenbereiche voneinander abzugrenzen, wobei die Übergänge sicher fließend sind.
- Sozialethik: Gerechter Zugang zu den Ressourcen
Als Beispiel möchte ich an das iPath-Projekt erinnern, das hier am Universitätsspital Basel
aufgebaut wurde: In diesem Projekt steht nicht die Interaktion zwischen Arzt und Patient
im Zentrum, die in der Telemedizin-Definition der Studie stark gewichtet wird, sondern
beispielsweise Ferndiagnosen, das Einholen von Zweitmeinungen, eine gute Ausbildungsgrundlage, die Unterstützung von Labors u.a.m. Auch das ist Telemedizin, und hinsichtlich
der bestehenden Zusammenarbeit mit gesundheitlich schlecht versorgten Ländern des Südens zudem eine moralisch besonders ansprechende. Dass der Patient dabei keine direkte
Rolle spielt, zeigt auch das Diagramm aus einem SÄZ-Artikel von 2003.
Aus ethischer Sicht stehen bei diesem und ähnlichen Projekten daher die klassischen
Gerechtigkeitsfragen im Vordergrund:
− Wer erhält Zugang zu welchen Leistungen?
− Welche Leistungen sind aus der eigenen Tasche zu bezahlen, welche sollten solidarisch
finanziert werden?
− Besteht ein moralischer oder rechtlicher Anspruch darauf, dass Gewebeschnitte von einem Experten/einer Expertin eines Universitätsspitals diagnostiziert werden, auch wenn
ein Patient in einem abgelegenen Seitental behandelt wird?
− Bezogen auf die Schweiz: Wie lassen sich die unterschiedlichen Versorgungssituationen
zwischen Zentren (wie Basel) und Regionen (wie Samedan) begründen oder verbessern?
− Bezogen auf die weltweite Situation: Sollen und können auch die materiell ärmeren Länder (wie Mali oder afrikanische Länder südlich der Sahara) an den Errungenschaften der
modernen Medizin beteiligt werden? Handelt es sich dabei um einen neokolonialistischen Eingriff, der bestehende Abhängigkeiten noch stärker macht, oder um eine zu
begrüßende Hilfe zur Selbsthilfe?
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Die Fragen werden gegenwärtig z.B. unter dem Titel Rationierung im Gesundheitswesen
diskutiert. Gelungene Projekte wie das iPath machen Entscheidungen noch schwieriger, insofern sie zusätzliche Möglichkeiten anbieten, die angesichts der begrenzten Ressourcen
aber auch eine Bereitschaft zum Teilen voraussetzen (z.B. Teilen der wertvollen Arbeitszeit
von Expertinnen der Histologie).
- Klinische Ethik: Die eigentliche Behandlungssituation
Geht es hingegen um die Evaluation von Internetplattformen, das Telemonitoring oder
Telekonsultationen über ein Call Center, kommt die engere Definition der Telemedizin der
Studie zum Zug: Die Anwendung von Techniken, welche die Interaktion zwischen Patienten und Behandelnden und die unmittelbare medizinische Behandlung auf Distanz betreffen
(S. 8).
Aus ethischer Sicht stehen hier die Arzt-Patient-Beziehung und damit die Fragen der
Klinischen Ethik im Zentrum (S. 55-59; 102ff). Ich komme darauf zurück.
Dass dabei der Patient zunehmend zum Kunden wird (S. 35), der anstelle des ArztPatienten-Duos alleine in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, die Behandelnden
zusammen mit dem Internet und anderen Techniken dagegen im äußeren Kreis gesehen
werden, leitet bereits über zum nächsten Themenfeld, das es hier zu bedenken gilt, jedoch
nicht mit den Gerechtigkeitsfragen und den Überlegungen der klinischen Ethik erledigt ist,
nämlich:
- Hintergrundtheorien: Visionen von e-Healthcare
Martin Denz – jetzt am Management of Technology-College der ETH Lausanne tätig –,
steht für mich mit seinen Beiträgen symbolisch für diese Perspektive: Die Telemedizin wird
auch als Teil eines größeren Umwandlungsprozesses verstanden, der eine Veränderung des
Gesamtsystems gesundheitlicher Versorgung anvisiert. Kürzlich bemerkte er in einem
Interview in prophetischer Manier:
„Ist denn das Überleben als Dinosaurier in einer sich verändernden Gesundheitslandschaft
wirklich so erstrebenswert? Um künftig nicht als evolutionäre Verlierer dazustehen, würde
es uns gut anstehen, uns offenen Geistes darauf einzulassen, was wir durch professionelle
Organisations- und Kommunikationsformen sowie unter Einbezug zeitgemässer Arbeitsinstrumente hinzugewinnen könnten.“
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Er hält neue integrierte Versorgungsprozesse, neue Organisationsstrukturen, eine Weiterentwicklung der Arzt-Patient-Beziehung ohne Informationsgefälle (!) und Selbstmanagement des Patienten durch den Einsatz von e-Health für sinnvolle Visionen.
Angesichts dieser Umstrukturierungsideen werden kulturelle Hintergrundfragen wichtig:
− Was ist Gesundheit, was Krankheit?
− Ist es angemessen, den Patienten als Kunden zu verstehen, der zwischen verschiedenen
Angeboten frei wählt?
− Wie lassen sich die Ziele der Medizin bestimmen?
− Ist Medizin als Technik oder Kunst zu verstehen?
− Rückt gar das Internet anstelle des Arzt-Patienten-Duos ins Zentrum (vgl. Schaubild)?
− Ist die Grenze zwischen Mensch und Maschine neu zu bestimmen Microchip-Implantate)?
− Nicht zuletzt: Geht es um eine weitere Verstärkung des biomedizinischen Modells der
Medizin, die gegenwärtig durch ein neues Verständnis zumindest ergänzt wird, nämlich
das biopsychosoziale Medizinmodell, wie sie in der palliative care wichtig wird?
Diesen Fragen ist aus kulturhermeneutischer Perspektive nachzugehen, wobei – das
möchte ich betonen – die Ethik sich nicht einfach als Hausdisziplin der Technikkritiker und
Innovationsverhinderer versteht (der Technoszientophoben, wie sie der Bioethiker Gilbert
Hottois sie nennt). Genauso wenig verstehen wir unser Fach allerdings als Schmieröl mit
dem Ziel gesellschaftlicher Akzeptanzbeschaffung für neue Techniken.
3. Ethische relevante Herausforderungen im Bereich der klinischen Ethik
Die Themen lauten:
− Bedeutung des Vertrauens in der Arzt-Patient-Beziehung;
− Wahrung und Ermöglichung der Autonomie/der Selbstverantwortung des Patienten
(denken Sie nur an die genetische Diagnostik und die entsprechende Beratung, die vor
der Durchführung allfälliger Tests durchzuführen ist, die heute zum guten Teil via Internet zu bestellen sind);
− Wahrung des Nicht-Schadensprinzips (primum non nocere), Verzicht auf sinnlose und
schädigende Behandlungen;
− die Sicherung der Informierten Zustimmung des Patienten auf der Basis zuverlässiger
Information und persönlicher Beratung durch den Arzt;
− Gewährleistung der Fürsorgepflichten durch die Behandelnden;
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− fairer Zugang zu den begrenzten medizinischen Ressourcen;
− Qualitätssicherung in der medizinischen Behandlung inklusive Pflege.
Dazu einige Gedanken in Hinblick auf die telemedizinischen Anwendungen:
− Zentral ist die Arzt-Patient-Beziehung: Stehen telemedizinische Behandlungen nicht in
einem Kontext konventioneller Behandlung, werden sie sehr fraglich, insofern die unmittelbare Begegnung von Arzt/Behandelndem und Patienten unabdingbar ist. Die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient ist nicht durch technische Informationssysteme, Call-Center oder Datenbanken zu ersetzen. Diese Vorstellungen beruhen auf
der Illusion, in der das Gefälle zwischen Hilfsbedürftigen und Helfenden geleugnet und
damit ein zentrales Element der ärztlichen und pflegerischen Verantwortung übersehen
würde. Autonomie ist entsprechend komplex zu verstehen… Ein plausibles Beispiel bietet der zunehmende Bedarf an kompetenter Beratung im Bereich der genetischen
Diagnostik.
− Sind tatsächlich Einsparungen möglich? Wenn versprochen wird (Christian Baer in der
SÄZ 2003), es könnten 50% der Kosten im Bereich medizinischer Hochleistungszentren
eingespart werden, dann muss die Anschlussfrage lauten: Wer hat dabei das Nachsehen?
Auf wessen Kosten geschehen diese Sparübungen? Entsteht eine telemedizinische Billigmedizin für Leute, die sich den Arztbesuch nicht mehr leisten können? Wurde bedacht, dass mit den zunehmend besseren Therapiemöglichkeiten gerade die chronischen
Erkrankungen und damit die teuren Behandlungen stark zunehmen? Ebenso sehe ich die
Gewichtung der Gesprächszeit zwischen Arzt und Patient (als willkommenes Rationalisierungspotential) in Gefahr.
− Standardisierung statt individueller Behandlung? Wird weniger Gewicht auf die persönliche Beratung gelegt, dann steigt die Gefahr, nur noch Behandlungsstandards nach
Fragebogenmuster einzusetzen. Dabei leiden dann unter anderem die Qualität und auch
die Berücksichtigung der Autonomie des Patienten, insofern letztere erst im Austausch
zwischen Behandelnden und Patienten ermöglicht werden kann. Die Gefahr besteht, dass
Behandlungen nicht mehr auf den Patienten, sondern nur noch sein elektronisch
verfügbares Modell zugeschnitten werden.
− Digitale Kluft: Es besteht die Gefahr einer Benachteiligung der Menschen, welche mit
den neuen Techniken nicht oder nicht ausreichend vertraut sind.
− Datenschutz und Datensicherheit: Mit der Komplexität der Technik steigt auch die
Anfälligkeit des Gesamtsystems. Patientendaten müssen ausreichend gegen unbefugten
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Zugriff geschützt werden und die Systeme möglichst gut gegen technische Pannen gesichert werden.
− Verantwortungsdiffusion: Wer zeichnet letztlich für Behandlungsfehler verantwortlich,
zu denen es aufgrund telemedizinischer Beratung gekommen ist? Hier schließen sich
auch haftungsrechtliche Fragen an, die noch gelöst werden müssen.
Schlussbemerkung
Alle diese Fragen sollen nicht den Eindruck erwecken, die vorliegenden technischen Innovationen seien abzulehnen. Meines Erachtens gilt es aus ethischer Sicht, das Kind nicht mit
dem Bade auszuschütten, das Augenmerk auf die Vorteile zu richten, dabei aber die Sensibilität für mögliche Nachteile und Gefahren nicht zu verlieren.
Entsprechend der aufgezählten Themenfelder sind auch die anstehenden Aufgaben komplex:
− Es geht um Gerechtigkeitsfragen: Wer bekommt Zugang zu welchen Leistungen?
− Die menschliche Gestaltung der Beziehung zwischen Behandelnden und Patienten!
− Und nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzungen mit e-Health-Visionen um Sinnund Wertfragen: Welche Medizin wollen wir?
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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