Hausarbeit

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Universität Leipzig
Institut für Soziologie
Modul: Globalisierung, Europäisierung und soziale Sicherheit
Modulnummer: 06-02-203-3
Seminar: Europe after the Crisis
Seminarleitung & Erstprüferin: Dr. Jenny Preunkert
Sommersemester 2014
Hausarbeit
Vergleich politischer und sozialer Europäisierungsansätze
Johanna Katrynski
2. Fachsemester Soziologie, Master
Matrikelnummer: 2297176
E-Mail: [email protected]
Leipzig, den 30.09.2014
Einleitung
Der Gründungsgedanke der Europäischen Union (EU) beruhte auf dem Wunsch
nach supranationaler Zusammenarbeit, zunächst besonders im wirtschaftlichen Bereich (vgl. Weidenfeld 2011: 11). Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts wurde daraus
das Konzept der europäischen Integration entwickelt. Die Mitgliedsstaaten der EU
haben seitdem Kompetenzen an die EU abgegeben, supranationale Organe errichtet
und durch intergouvernementale Kommunikation bindende Einigungen erzielt. Somit haben sich die Mitgliedsstaaten in ein europäisches Konstrukt integriert und
eine Ebene für supranationale Zusammenarbeit geschaffen. In Reaktion auf diese
Veränderungen, begannen sich Rückwirkungen der EU auf die Nationalstaaten abzuzeichnen (vgl. Axt et al. 2007: 139), welche allgemeinhin als Europäisierung bezeichnet werden. In der Fachliteratur finden sich jedoch zahlreiche Definitionsvorschläge, was unter Europäisierung und Europäisierungsprozessen zu verstehen sei.
Daher befasst sich diese Hausarbeit zunächst mit der Sichtung vorhandener Definitionen und der Spezifizierung des Europäisierungsbegriffs. Dabei wird dieser von
verwandten Begriffen abgegrenzt und Problematiken der Begriffsumgrenzung erläutert. Es wird sich zeigen, dass Europäisierung auf verschiedene nationalstaatliche Bereiche Einfluss nimmt und sich daraus unterschiedliche Wirkungsdimensionen von Europäisierung analysieren lassen. Der Hauptteil fokussiert sich auf Aspekte der sozialen und politischen Dimension der Europäisierung und erläutert
Möglichkeiten, diese Dimensionen tiefergehend zu untersuchen. Beispielhaft werden dabei Studienergebnisse präsentiert, welche sich mit ebendiesen Untersuchungen auseinandersetzten. Im thematischen Kern dieser Hausarbeit steht die Frage,
welche unterschiedlichen Analyseebenen sich für die Untersuchung der sozialen
und politischen Dimension von Europäisierung eignen und wie, bzw. ob sich die
Dimensionen gegenseitig beeinflussen. Im Zuge dessen werden Schnittmengen der
politischen und sozialen Europäisierung dargestellt. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst und daraus entstehende Implikationen für die
weitere Europäisierungsforschung dargelegt.
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Die Abgrenzungsproblematik und weitere Schwierigkeiten des
Europäisierungsbegriffs
Der Europäisierungsansatz entstand zu Beginn der 1990er als Ausdifferenzierung
des Konzepts der europäischen Integration (vgl. Beichelt 2009:13). Beichelt stellt
zudem fest: „Eine ganze Reihe von Ansätzen stellt Integration und Europäisierung
nicht in Kontrast zueinander, sondern behandelt sie nebeneinander und verzichtet
auf eine strikte Unterscheidung der beiden Phänomene“ (ebd. 20). Daher bietet es
sich an, zunächst die Bedeutung von europäischer Integration zu spezifizieren.
Die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet die europäische Integration
als eine nicht abgeschlossene, „immer engere Zusammenarbeit europäischer Staaten“ (Zandonella 2009). Diese kann durch „Erweiterungen (Aufnahme neuer Mitglieder) und Vertiefungen (Intensivierung der Zusammenarbeit)“ (ebd.) erfolgen.
In der Integrationsforschung wird analysiert „wie nationale Interessen, Strukturen
und Politiken die Entwicklung von Institutionen und Policies auf supranationaler
Ebene beeinflussen“ (Knill 2005: 151). Es handelt sich daher um Auswirkungen,
die von den Nationalstaaten ausgehen und eine Dynamik auf europäischer Ebene
erzeugen.
Europäisierungsansätze hingegen beschreiben eine umgekehrte Wirkungsrichtung,
welche von der europäischen Ebene zu den Nationalstaaten verläuft. In Beichelts
Worten: „Der Begriff der Europäisierung […] wird stets für Prozesse verwendet,
die eine von der europäischen Ebene kommende Diffusion implizieren“ (ebd. 2009:
21). Diese Definition von Europäisierung als Rückwirkungen der EU auf Nationalstaaten ist eine sehr allgemeine und erfasst lediglich den Minimalkonsens, denn
es herrscht kein Übereinstimmung darüber, was unter Europäisierung zu verstehen
ist (vgl. Auel 2005: 295, Axt et al. 2005:137ff). Die zunächst deutlich scheinende
Abgrenzung der beiden Konzepte durch Initialwirkung und Rückwirkung ist in der
Realität durch die Prozesshaftigkeit der Phänomene nicht unbedingt deutlich, da
eine „klare analytische Trennung zwischen der Entstehung und Wirkung europäischer Politik“ (Auel 2005: 311) nicht grundsätzlich erfolgen kann. Des Weiteren ist
die europäische Integration an sich kein eindeutig abgegrenzter Begriff. Unklar ist
beispielsweise, ob die Entstehung einer europäischen Identität ein Prozess der eu-
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ropäischen Integration ist. Daher existieren trotz der Abgrenzung des Europäisierungsbegriffs von dem der europäischen Integration weiterhin Konzepte, welche
die Unterschiede nicht ausreichend kontrastieren (vgl. Beichelt 2009: 20).
Des Weiteren bietet sich die Möglichkeit, den Begriff der Europäisierung in Bezug
zum Globalisierungskonzept zu setzen und diesen somit zu spezifizieren. Münch
ist beispielsweise der Auffassung, dass Europäisierung ein Teil von Globalisierungsprozessen darstellt (vgl. Münch 2000: 233). Europäisierung wird somit als
Teilprozess einer internationalen Verflechtung begriffen, welcher sich jedoch auf
den europäischen Raum beschränkt. Andere Autoren schlagen vor, Europäisierung
als Antwort auf Globalisierung zu verstehen und weniger als Resultat einer Transnationalisierung der Staaten (vgl. Delanty & Rumford 2005: 8). Somit wird Europäisierung eine aktive Rolle zugesprochen und nicht als passives, unvermeidbares
Ergebnis von Globalisierung verstanden. Gleichzeitig wird Globalisierung auch als
Grundbedingung für Europäisierung betrachtet: „Europeanization is a process of
social construction […] in which globalization in all its facets, plays a key role in
creating its conditions” (ebd. 6). Doch insgesamt lässt sich feststellen, dass „das
Zusammenwirken und das Verschränkungsverhältnis dieser Vorgänge wie auch
und insbesondere die Spannungsbeziehungen und Gegenläufigkeiten, die zwischen
ihnen bestehen, noch keineswegs ausreichend analysiert erscheinen“ (Balla &
Sterbling 2009: 11). Problematisch ist hierbei zudem, das ebenfalls fehlende einheitliche Verständnis über den Globalisierungsbegriff an sich (vgl. ebd. 18).
Weitere Schwierigkeiten des Europäisierungsbegriffs betreffen die Reichweite und
die Kausalität. Es herrscht Unklarheit darüber, wie weitreichend Europäisierung zu
betrachten ist. Europäisierung hat „keine festen geografischen Grenzen“ und „geht
oft mit ähnlich gerichteten Marktprozessen einher“ (von Hirschhausen & Patel
2010: 3). Sodass die Wirkung der EU nicht nur, wie bisher angenommen, Mitgliedstaaten der EU betreffen, sondern ebenso Einfluss auf andere europäische und
nicht-europäische Staaten nimmt, insbesondere auf Beitrittskandidaten (vgl. Axt et
al. 2007: 141 ff). Vorgeschlagen wird daher eine Unterscheidung nach Mitgliedsund Beitrittseuropäisierung (ebd.). Zum anderen kann nicht bewiesen werden, dass
die EU Auslöser dieser Transformationsprozesse ist. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass es einen generellen Trend zu EU-Politikmodellen in europäischen Ländern geben kann. Generell stellt sich die Frage, ob und wie sich die innerstaatliche Politik
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der Nationalstaaten generell verändert (hätte), unabhängig von dem Einfluss der EU
(ebd. 146). Hier scheitert das Konzept zudem an der fehlenden Möglichkeit der
Quantifizierung der Europäisierung, da viele Prozesse noch in der Entwicklung sind
und somit nicht als eindeutiges EU-Resultat deklariert werden können.
Des Weiteren ist zu beachten, dass Europäisierung nicht immer homogen und zielgerichtet verläuft (vgl. von Hirschhausen & Patel 2010:3). Verschiedene Formen
der Europäisierung können sich ergänzen, überschneiden, miteinander rivalisieren
oder ersetzen (ebd.). Somit können sie auch entgegen der europäischen Integration
wirken, Nationalismus stärken und anti-europäische Haltungen hervorrufen (vgl.
Beichelt 2009: 22). Es liegt zudem keine deterministische Wirkung vor - der Einfluss auf die nationalen Politiken variiert zwischen den politischen Dimensionen,
Politikfeldern und Staaten (vgl. Börzel 2006). Beichelt fasst diesen Aspekt wie folgt
zusammen: „Europäisierung kann also auch Gegenläufigkeit oder Nicht-Linearität
bedeuten, und aus der vorgelagerten Handlung der Souveränitätsabgabe kann nur
in begrenztem Maße auf den späteren Gestaltungswillen und -spielraum im Nationalstaat rückgeschlossen werden“ (Beichelt 2009: 22).
Aufgrund dieser genannten Schwierigkeiten haben sich eine Vielzahl von Definitionen und Europäisierungskonzepten herausgebildet, welche auf unterschiedliche
Weise klassifiziert werden können. Beispielsweise können Rückwirkungen der EU
auf die Nationalstaaten danach unterschieden werden, ob sie sich intendiert oder
unintendiert, prozessual oder funktional vollziehen (vgl. Axt et al. 2007: 143).
Delanty und Rumford behaupten, dass alle Europäisierungskonzepte in institutionelle Ansätze oder vergleichende Studien aufgeteilt werden können, wobei sich die
institutionellen Ansätze hauptsächlich auf die EU konzentrieren und vergleichende
Studien vorwiegend die Nationalstaaten im Fokus haben (Delanty & Rumford
2005: 7). Im Folgenden werden die Europäisierungsbegriffe nach ihrer thematischen Dimension unterteilt. Es wird angenommen, dass sich Europäisierungstendenzen in unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft
verschieden manifestieren (vgl. Gerhards 2000: 277 ff). Diese Arbeit beschränkt
sich dabei auf die Betrachtung der sozialen und politischen Dimension der Europäisierung.
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Die politische Dimension von Europäisierung
Lange Zeit wurde der Begriff der Europäisierung vor allem in rechts- und politikwissenschaftlichen Debatten angewandt (vgl. von Hirschhausen & Patel 2010:1).
Eine Betrachtung der sozialen Aspekte von Europäisierungsprozessen, hinkte den
politischen Ansätzen stark hinterher (vgl. Delanty & Rumford 2005:1). Aus diesem
Grund fokussierte man sich zunächst vorwiegend auf Veränderungen der Rechtsund Politikgegenständen der Nationalstaaten. Die politische Dimension von Europäisierung „bezieht sich auf diejenigen politischen Veränderungen, die in den Mitgliedstaaten der EU aufgrund von Impulsen der EU-Ebene geschehen“ (Beichelt
2009: 20). Sprich: politische Entscheidungen ziehen eine Veränderung politischer
Strukturen nach sich. Dieser Ansicht entsprechend entstand beispielsweise die folgende Definition von Europäisierung als „process of influence deriving from European decisions and impacting member states‘ policies and political and administrative structures“ (Héritier 2001: 3). Es gibt zudem Definitionen, welche bereits eine
bestimmte Wirkungsrichtung implizieren: „In politischer und rechtlicher Hinsicht
bedeutet Europäisierung ein kontinuierliches Schrumpfen des Bereichs relevanter
politischer Regulierungen, die von den Regierungen noch autonom gestaltet werden
können, d.h. ohne dass jeweils übergeordneten politischen Leitideen, Zielbestimmungen und Rechtsnormen der Europäischen Union Rechnung getragen werden
muss“ (Bach 2000:11). Hier wird Europäisierung als konstante politische Entmachtung der Nationalstaaten betrachtet. Beichelt stellt durch eine Analyse der Verwendung des Europäisierungsbegriffs in verschiedenen Konzepten eine unvollständige
Liste dessen auf, was Europäisierung bedeuten kann1. Er benennt: „Die Veränderung externer Grenzen […], die Entwicklung von Institutionen auf der europäischen
Ebene[…], die Penetration von nationalen Governance-Systemen […], den Export
von Formen politischer Kooperationen […], ein politisches Einigungsprojekt“
(Beichelt 2009: 14). Diese Definitionsansätze beziehen sich auf politische Entwicklungen. Untersucht man diese Gegenstände empirisch, so könnte man die politische
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Er bezieht sich hierbei auf Olsen, Jonathan, 2002: The many faces of Europeanization. In: Journal of Common Market Studies, vol. 40, no.5, S.921-952.
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Dimension von Europäisierungsprozessen umfassen. Beichelts Ansatz bleibt bislang jedoch rein theoretisch.
Doch auf ähnliche Weise erforschte Tanja Börzel (2006: 491 ff.) die politische Dimension von Europäisierung. Sie untersuchte den Europäisierungsgrad der deutschen Politik empirisch und fand heraus, dass der Europäisierungsgrad insgesamt
kontinuierlich gestiegen ist, die aktiven Auswirkungen auf die nationale Ebene im
Verhältnis jedoch relativ gering sind. Dabei misst sie zunächst in einer fünfstufigen
Skala die Breite und Tiefe von Europäisierungsprozessen in verschiedenen Politikfeldern. Die Breite beschreibt die Zuständigkeitsebene für Politikgestaltung, gemessen anhand der Anzahl der Gegenstände in einem Politikfeld, welche unter die
Gesetzgebung der EU fallen. Die Tiefe der Europäisierung beschreibt die Art und
Weise, in der die EU ihre Gesetzgebungskompetenzen ausübt. Gemessen wurde
diese über den Grad der Einbeziehung supranationaler Akteure in den EU-Willensbildungsprozess und über die Abstimmungsregeln im Rat. In nahezu allen Politikbereichen hat im Zeitraum zwischen 1958 und 2003 die Tiefe und Breite zugenommen. Ihr Fazit der Untersuchung: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die
Europäisierung nahezu das gesamte Spektrum der Politik erfasst hat. Es gibt kaum
einen Bereich, in dem die EU von ihren Kompetenzen her nicht gestalterisch tätig
werden könnte“ (ebd. 497). Zu beachten ist hierbei, dass sie Europäisierung als interaktiven Prozess versteht, „[…] der sowohl die Entstehung neuer Institutionen,
politischer Prozesse und Politikprogramme auf der europäischen Ebene als auch
deren Wirkung auf der mitgliedsstaatlichen Ebene umfasst“ (ebd. 492). In einem
zweiten Schritt untersucht sie die Auswirkungen der Europäisierung auf Dimensionen der nationalen Politikgestaltung. Sie konzentriert sich dabei auf die Dimension
der politischen Programme (policy) in Deutschland und betrachtet die Politikinhalte, Politikinstrumente und Problemlösungsansätze, aus welchen die Verwaltungsstrukturen und der Regierungsstil folgen. Es können nur geringe Auswirkungen beobachtet werden. Sie begründet die Abschwächung der Europäisierungstendenz auf Deutschland durch den großen Einfluss Deutschlands auf die EU (ebd.
501) und die somit bereits bestehende Passgenauigkeit europäischer Gesetze in der
deutschen Politik. Zudem nutzt Deutschland den teilweise großen Interpretationsspielraum von EU-Politiken, um den Status-quo zu erhalten (ebd. 505). Sie fasst
zusammen: „Alles in allem hat die Europäisierung die deutsche Politik über die
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Einführung neuer Inhalte, Politikinstrumente und Problemlösungsansätze verändert, aber nicht grundlegend gewandelt“ (ebd. 502). Diese Untersuchung zeigt somit, dass das Potential der politischen Europäisierung sehr hoch ist, aber sich zumindest in Gründungsstaaten schwach auswirkt.
Zusammenfassend umfasst die politische Dimension von Europäisierung, durch die
EU hervorgerufene Veränderungen von nationalen politischen Strukturen, Leitideen, Machtgefügen, Grenzen, Institutionen und politische Kooperationen. Dabei
ist das Veränderungspotential hoch, die reellen Auswirkungen jedoch gering. Somit
zeichnet sie sich durch eine Planbarkeit in ihrer Forcierung, aber durch eine tendenzielle Unberechenbarkeit in ihren Auswirkungen aus.
Die soziale Dimension von Europäisierung und
Überschneidungen
Zunächst wird schnell deutlich, dass es bei der sozialen Dimension von Europäisierung nicht mehr alleine um Rahmenbedingungen oder Strukturen, sondern um gesellschaftliche Prozesse, individuelles Verhalten und auch Empfindungen wie beispielsweise neue mentale Prozesse (Beichelt 2009: 43) oder Solidarität geht. Europäisierung ist in diesem Sinne unter anderem ein Solidaritätswandel „[…], der nationale Solidaritäten zurückdrängt und transnationale Solidaritäten in den Vordergrund schiebt“ (Münch 2000: 205). Solidaritätswandel ist dabei mehr als nur ein
Umdenken. Es ist die Identifikation mit einer Gemeinschaft, welche nicht mehr nur
die eigene Nation inkorporiert. Mit einer transnationalen Solidarität geht auch eine
soziale Konvergenz einher – eine neue Gemeinschaft, bestehend aus unterschiedlichen Nationen erfordert und erzeugt Anpassungsprozesse der Nationen aneinander
(vgl. Delanty & Rumford 2005: 7). Wichtig ist hierbei, dass die europäische Gemeinschaft keineswegs die nationale ersetzt, sondern als Ergänzung oder als „zusätzliche Dimension der Selbstzuschreibung“ (Beichelt 2009: 111) anzusehen ist.
Deutlich wird dies dadurch, dass die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft nicht ersetzt, sondern diese ergänzt (ebd.; Art.17 EGV).
Eine mögliche konkrete Forschungsfrage zu der sozialen Dimension in Bezug auf
eine europäische Gemeinschaft ist: „Wie wirkt sich die europäische Integration gegebenenfalls auf die nationalgesellschaftlichen sozialstrukturellen Gegebenheiten
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aus?“ (Bach 2005: 17). In diesem Ansatz wird Europäisierung als Makroprozess
begriffen, in welchem „[…] sich vorher getrennte Ideen-, Wert- und Sprachräume,
aber auch Institutionen- und Handlungsbezüge zunehmend aneinander orientieren“
(Beichelt 2009: 33). Es wird angenommen, dass diese und weitere Ebenen an einem
Gesamtprozess beteiligt sind, der wiederum das politische System beeinflusst. In
ähnlichen Ansätzen wird vorgeschlagen „gesellschaftliche Effekte der Integration“
(Bach 2005: 17) zu analysieren. Aufgrund ihrer fundierten Theoriengrundlage, dienen hierbei als Analyseebenen Prozesse der institutionellen Differenzierung, Institutionalisierungen, Konfliktpotentiale und Spannungsverhältnisse sowie institutionalisierte Muster (ebd. 21).
Institutionalisierung ist jedoch ein Überschneidungsbereich der zwei Dimensionen.
In der politischen Dimension kann hiermit die Bildung politischer Institutionen und
Organe und die damit einhergehende zumindest stückweise politische Machtabgabe
entsprechender nationaler Institutionen gemeint sein. Aus sozialwissenschaftlicher
Perspektive ist Institutionalisierung die Entstehung neuer Regeln, sowie eine Verfestigung neuer Verhaltens- und Denkweisen der Individuen. Europäisierung kann
auch in dieser Sichtweise als ein Prozess von Institutionalisierung gedacht werden
(vgl. Mörth 2003: 159). Europäisierung umfasst somit nicht nur die Veränderung
institutioneller Rahmenbedingungen, sondern beeinflusst zusätzlich die Dynamik
der Gesellschaften und schafft einen Analyserahmen für soziale Veränderungen
durch die EU – „[…] an awareness of the importance of cultural dynamics”
(Delanty & Rumford 2005: 7). Somit ist die Untersuchung von Institutionalisierungsprozessen in beiden Dimensionen berechtigt.
Eine weitere Überschneidung findet sich, wie der Name es bereits andeutet, in der
Sozialpolitik. Dieses Themenfeld wird größtenteils durch die Politik geprägt, hat
aber enorme Auswirkungen auf soziale Gegebenheiten der Nationalstaaten. Studien, welche sich insbesondere mit der sozialen Dimension von Europäisierung beschäftigen, fokussieren sich zumeist auf die Wohlfahrtspolitik (z.B. Münch 2000)
oder mit der Bekämpfung sozialer Ungleichheiten (z.B. Beck 2005 & Bach 2000).
Nach Beck (2005) ist eine soziale Konsequenz zunehmender Europäisierung, dass
sich nationale Wahrnehmungsgrenzen sozialer Ungleichheiten auflösen. Das führe
dazu, dass soziale Ungleichheiten nicht länger unvergleichbar seien, sondern in direkte Relation mit anderen Ländern gestellt werden können. Die Legitimation des
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Nicht-Wissens sei somit nicht mehr gültig. Die Konsequenz hat Bach schon 2000
erläutert - die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit ist in einer europäischen Gesellschaft nicht mehr nationale Politik (vgl. Bach 2000: 28), nicht mehr allein Sache
der Nationalstaaten.
Auf ein Zusammenwirken der politischen und sozialen Dimension von Europäisierung weist auch Beichelt hin. Für Anpassungen auf der Policy Ebene müssen die
Themen „in der politischen Öffentlichkeit wichtig genug sein, um auch jenseits involvierter Fachöffentlichkeiten wahrgenommen zu werden. Erst dadurch entsteht
jenes Wechselverhältnis, bei dem sich weitere Wahrnehmungs- und Handlungsräume zunehmend aufeinander beziehen“ (Beichelt 2009: 43). Hier kann somit das
erwähnte Potential der politischen Europäisierung durch den Ausbau und die Festigung der sozialen Dimension bestärkt werden und an aktiven Einfluss auf die Nationalstaaten gewinnen. Andersherum beeinflussen politische Diskurse und Praktiken die Perzeption der EU-Bürger und machen Europa zu einer „Erfahrungsgemeinschaft“ (von Hirschhausen & Patel 2010:6).
Zusammenfassend gehören durch die EU verursachter Wandel der Gesellschaften,
der individuellen Denkweisen und die soziale Legitimation zur sozialen Dimension
von Europäisierung. Es wurde jedoch deutlich, dass die Dimensionen von Europäisierung ebenso wenig klar abgrenzbar voneinander sind, wie der Begriff der Europäisierung von verwandten Begriffen. Die Dimensionen haben thematische Überschneidungen wie Institutionalisierungsprozesse und Sozialpolitik. Zudem bedingen sie sich gegenseitig, deutlich geworden durch das Zusammenspiel zwischen
Veränderungen auf der Policy Ebene und einer europäischen Öffentlichkeit. Gegenstände der sozialen und politischen Dimension können sich somit verstärken,
ergänzen oder auch gegeneinander wirken.
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Fazit
Diese Hausarbeit hat gezeigt, dass das Konzept der Europäisierung sich weiterhin
in der Entwicklung und Erforschung befindet. Zukünftige Europäisierungsforschung solle sich laut von Hirschhausen und Patel „[…] insofern besonders für die
Knotenpunkte interessieren, an denen sich vormals isolierte Europäisierungsprozesse verknüpfen und neue Dynamiken nach sich ziehen. Europäisierung erscheint
so als Resultat einer Vielzahl von Schnittmengen, Überschneidungen und Transfers, die in ihrer Verflechtung und Verdichtung Europäisches als solches immer
wieder erst neu hervorgebracht haben“ (2010:12). Diese Interdependenzen wurden
auch durch die Betrachtung der sozialen und politischen Dimensionen von Europäisierung sichtbar. Durch die zunehmende Annäherung der Staaten aneinander, engere Kooperationen, offenere Grenzen und gemeinsame Regulierungen unter dem
Gebilde der Europäischen Union haben sich Rückwirkungen auf die Nationalstaaten ergeben, die nicht alleine ihre Politik und Wirtschaft beeinflussen, sondern auch
die soziale und wohlfahrtsstaatliche Ebene betreffen. Diese neu geschaffenen Wirkungsströme schaffen ihrerseits neue Interdependenzen und wirken zurück, sodass
es nicht mehr sinnvoll ist, Europäisierung nur in politischen Gegenständen zu untersuchen, ohne soziale Komponenten einzubeziehen. Während die Erforschung der
politischen Dimension der Europäisierung schon weit vorangetrieben wurde, wenn
auch nicht unter einem gemeinsamen Verständnis von Europäisierung, hinkt die
Untersuchung der sozialen Komponenten und Konsequenzen von Europäisierung
dem stark hinterher. Es scheint jedoch sinnvoll weitere Forschungen zu Europäisierungsprozesse im Gesamtkontext zu betrachten und besonderen Fokus auf Interdependenzen und Überschneidungen der Dimensionen zu legen, um ein Gesamtbild
der Wirkungen von Europäisierung zu erhalten.
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Literaturverzeichnis
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