(17) Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip christlicher Ethik?

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Vogt – Nachhaltigkeit [Zsfg. 17] 144
VI. Resümee
(17) Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip christlicher Ethik?
1. Einführung: Erwartungen an die Religionen in einer „postsäkularen“ Gesellschaft
Durch die gegenwärtige Form der Globalisierung ist die Welt zugleich einheitlicher und zerrissener geworden. Sie ist darauf angewiesen, dass die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen
„Zeichen und Werkzeug der Einheit“1 wird, die zu partnerschaftlicher Verantwortung für das
gemeinsame „Lebenshaus“ (οἶκος) befähigt. Für die Kirche und die Christen geht es dabei
zugleich um die Überwindung innerer Spaltungen, die sie daran hindern, den Glauben lebendig
zu bezeugen und die „Fülle der Katholizität“ in ihren Gliedern „wirksam werden zu lassen“2.
Für das lebendige Zeugnis und Engagement für die „vorpolitischen moralischen Grundlagen
eines freiheitlichen Staates“, von denen die Demokratie (und damit auch eine nachhaltige Entwicklung) lebt, ohne sie selbst rekonstruieren zu können3, kommt den Kirchen eine große, unerwartete Wertschätzung entgegen, die helfen kann die eigenen Potentiale neu zu entdecken und
zu entfalten. Die Zukunft der Kirchen liegt nicht darin, dass sie sich in sich selbst abschließen,
sondern darin, dass sie sich für die Herausforderungen der Zeit öffnen und in dieser
„Entäußerung“ (κένωσις) neu zu sich selbst finden. Im Dasein für andere, für das „Sakrament
des Bruders“ (L. Boff), und in der Wahrnehmung von Verantwortung für die Mitmenschen und
Mitgeschöpfe findet christliche Existenz zu sich selbst und zugleich zu einem geschwisterlichökumenischen Verhältnis zu anderen Religionen.
Das Worldwatch-Institut geht davon aus, dass der „Kurswechsel” der Weltgesellschaft zu einer
nachhaltigen Entwicklung nur dann gelingen kann, wenn die Religionen intensiv Mitverantwortung übernehmen (Gardner 2003). Gestützt ist diese These auf die Beobachtung, dass sich
seit einigen Jahren zwischen Religion, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik weltweit neue bemerkenswerte Bündnisse für Nachhaltigkeit bilden. Diese sind bislang jedoch noch schwach,
nur punktuell wirksam, von Wahrnehmungsproblemen, vielen Missverständnissen und weitgehendem Misstrauen überlagert. Die religiösen Potentiale werden bisher nur eingeschränkt für
eine ökologisch tragfähige, global gerechte und friedliche Entwicklung aktiviert.
Hier kann der Nachhaltigkeitsdiskurs helfen, die Potentiale der Religionen ethisch, ökumenisch
und gesellschaftlich zu erschließen. Zwischen dem Leitbild der Nachhaltigkeit und religiösem
Schöpfungsglauben besteht ein wechselseitiges Ergänzungsverhältnis: Der interreligiöse, wissenschaftliche und gesellschaftliche Nachhaltigkeitsdiskurs trägt zu einer ”ökologischen
Aufklärung” und interdisziplinären Vernetzung religiöser Ethik bei. Für die christlichen Kirchen
ist er das notwendige ”missing link”, um die Relevanz des Schöpfungsglaubens für die
aktuellen Herausforderungen moderner Gesellschaft neu zu entdecken, theologisch und
praktisch zu klären und seine ethischen Konsequenzen politikfähig in die Sprache von
Gesellschaft und Wirtschaft zu übersetzen.
Im Rahmen eines solchen Lernprozesses können die ethischen Impulse des Schöpfungsglaubens
und der kirchlichen Praxis globaler Solidarität auch ihrerseits wesentlich zu einer vertieften
Begründung des Nachhaltigkeitsprinzips beitragen. Der christliche Glaube birgt entscheidende
1
2
3
”Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die
Einheit der ganzen Menschheit” (Lumen Gentium 1).
Unitatis redintegratio Nr. 4 [Dekret über den Ökumenismus].
So Kardinal Ratzinger und Jürgen Habermas bei ihrem Gespräch in München; Katholische Akademie
in Bayern 2004.
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Anstöße, um das Leitbild nachhaltiger Entwicklung in seiner kulturellen und ethischen Dimension zu entfalten und so den Kurswechsel zu einer nachhaltigen Entwicklung auf der Ebene des
individuellen und gesellschaftlichen Wertewandels zu unterstützen.
Auf der Grundlage dieser These eines wechselseitigen Ergänzungsverhältnisses sollen im Folgenden sowohl Defizite aufgezeigt werden, die katholische Ethik und Praxis im interreligiösen,
interdisziplinären und gesellschaftlichen Diskurs aufarbeiten müssen, als auch spezifische Stärken, die sie ihrerseits in die Interpretation und Umsetzung von Nachhaltigkeit einbringen können. Es soll aufgezeigt werden, wo Anknüpfungen zwischen Nachhaltigkeit und verschiedenen
Traditionen religiöser Ethik bestehen und was dies für eine ökumenische
Schöpfungsspiritualität als „Befreiungstheologie für die erste Welt” bedeutet. Ziel der
Argumentation ist es, aufzuzeigen, dass es eines spezifisch sozialethischen, ökumenischen,
interreligiösen und interdisziplinären Lernprozesses bedarf, damit die religiösen Potentiale für
Nachhaltigkeit angemessen zur Entfaltung kommen. Zentraler Ausdruck für dieLernbereitschaft
der katholischen Kirche wäre die Anerkennung von Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip.
2. Religiöse Potentiale zur Begründung und Umsetzung von Nachhaltigkeit
Christinnen und Christen haben bereits einen nicht unerheblichen Beitrag zur Entwicklung des
Leitbilds nachhaltiger Entwicklung geleistet und verfügen über zentrale Potentiale, um die Anliegen der Nachhaltigkeit zu begründen, zu motivieren und umzusetzen:
1.
Das Konzept der „ganzheitlichen Entwicklung” als wesentlicher Baustein für das Leitbild
der Nachhaltigkeit: Der Entwicklungsbegriff aus der Enzyklika ”Populorum Progressio”
(Paul VI) von 1967 hat die frühen Konzeptionen der UNO zur Verbindung von Umweltund Entwicklungsprogrammen, aus denen das Nachhaltigkeitskonzept hervorgegangen ist,
beeinflusst. Maßgeblich ist hier vor allem der Begriff der „ganzheitlichen Entwicklung”,
der den Blick für die menschlichen und kulturellen Voraussetzungen des Wirtschaftens geöffnet hat (z.B. Populorum progressio Nr. 12-41; vgl. auch Sollicitudo rei socialis Nr. 2734).
Der Begriff der integrierten/ganzheitlichen Entwicklung bedarf jedoch in ökologischer
Hinsicht eines “aggiornamento”, einer Weiterführung - z.B. durch das Konzept der “ökologischen Ganzheit” (vgl. Erd-Charta Nr. 5) -, um den unterschiedlichen Dimensionen der
Nachhaltigkeit gerecht zu werden und nicht in eine defensive Abwehrhaltung zu führen.
Der Begriff ”Humanökologie”, wie es z.B. bei den katholischen Stellungnahmen zu UNKonferenz in Johannesburg verwendet wurde, ist einerseits ein wichtiger Beitrag zur Verdeutlichung ökologischer und sozialer Zusammenhänge, andererseits aber ergänzungsbedürftig, da hier die Eigenständigkeit der ökologischen Dimension gegenüber den unmittelbar zwischenmenschlichen Fragen (Münk 1998) nicht voll zum Ausdruck kommt. Die
Fruchtbarkeit dieses Ansatzes im Sinne der Schöpfungsverantwortung entfaltet sich also
erst dann, wenn er als ein wichtiger, aber ergänzungsbedürftiger Baustein im ökumenischen, interreligiösen und interdisziplinären Diskurs zu Nachhaltigkeit verstanden wird.
2.
Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Der
konziliare Prozess war und ist ein wichtiger Wegbereiter des gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurses (vgl. KEK/CCEE 1998; Rosenberger 2001; Stückelberger 1997, bes. 192205). Bereits 1974 hat der Ökumenische Rat der Kirchen das Konzept der „Sustainable Society” vertreten. Es gibt etwa unmittelbare Zusammenhänge zwischen der Trias des konziliaren Prozesses und der Trias von Ökologie, Ökonomie und Sozialem in der Botschaft von
Rio. Viele Christinnen und Christen stehen mit ihrem persönlichen Zeugnis für die
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Verbindung beider Prozesse, indem sie mit an den Verhandlungstischen saßen oder beispielsweise die Erd-Charta mittragen, die den Rio-Prozess wesentlich begleitet hat und
seine ethische Reflexion vertiefend weiterführt.
Die Schwäche des konziliaren Prozesses ist die mangelnde institutionelle Verankerung. Insofern ist hier um des Erfolges dieser für die Zukunft der Menschheit ganz entscheidenden
Initiative willen eine Verknüpfung mit den weltweiten Agenda 21-Prozessen von entscheidender Bedeutung (vgl. Vogt 1999a). Um die zukunftsweisenden ökumenischen Potentiale
des konziliaren Prozesses zur vollen Entfaltung zu bringen, bedarf es neuer Wege der Verankerung in kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen.
3.
Integrale Sichtweise von Natur und Kultur: Die integrale Sichtweise der Umweltfragen, die
sich mit dem Nachhaltigkeitskonzept durchzusetzen beginnt (vgl. BMU 1992 [Rio-Deklaration]; Kessler 1996; Boff 1996; Stückelberger 1997; Lochbühler 1998; Münk 1998; ZdK
1998; Vogt 1999b; Altner/Michelsen 2001; Höhn 2001) entspricht zutiefst dem Ansatz
christlicher Schöpfungsverantwortung: Diese hat nie die Natur für sich alleine, sondern
stets die Geschichte des Menschen in und mit ihr im Blick. Für die Wahrnehmung ökologischer Anliegen bedeutet dies, dass sie von vornherein in einem soziokulturellen Zusammenhang gesehen werden.
Sowohl die Rio-Deklaration als auch der konziliare Prozess verstehen Menschenschutz und
Naturschutz, Armutsbekämpfung und Umweltvorsorge als Einheit. Das Leitbild der Nachhaltigkeit kann deshalb von den christlichen Kirchen in seinen sozial-integrativen und kulturellen Aspekten (die noch häufig vernachlässigt werden) verstärkt werden. Der Anspruch
eines vernetzten Denkens, das ökologische und soziale Dimensionen wirklich integriert,
kann vom christlichen Naturverständnis begründet und differenziert werden.
Nachhaltigkeit bedarf einer solchen grundlegenden ethischen und religiösen Ausdeutung
jenseits naturromantischer oder esoterischer Modelle, damit sein fundamentaler Anspruch
nicht im Leeren hängt. Das fordert alle Religionen heraus, in Gemeinsamkeit und Vielfalt
ihren jeweiligen Beitrag zur Begründung und Interpretation des Leitbildes der Nachhaltigkeit einzubringen. Diese Tradition eines wirklich vernetzten Denkens von Ökologie, Ökonomie und Sozialem muss auch in den biblischen Religionen wieder neu entdeckt werden.
4.
Der Schöpfungsglaube ist eines der innovativsten Felder moderner Theologie und die Basis für die Wiedergewinnung ihrer Gesprächsfähigkeit mit modernen Naturwissenschaften.
Die Schöpfungstheologie ist systematisch gesehen die Frage, wie sich der Glaube auf die
empirische Wirklichkeit bezieht, und ist somit die Basis für die Gesprächsfähigkeit des
Glaubens im interdisziplinären, interreligiösen und gesellschaftlichen Diskurs. Hinsichtlich
der Überwindung des kausalmechanischen Naturbildes ergeben sich neue Brücken zwischen Religion, Naturwissenschaften (Quantenphysik, Kosmologie, Theorien komplexer
dynamischer Systeme etc.) und Teilen der ökologischen Bewegung (Schramm 1994, 58f;
Faber 2003, bes. 191-204; Stückelberger 1997; Lüke 2002).
Das religiöse Verhältnis zur Natur als ”Spur Gottes”, ”Symbolressource” oder „Raum des
geschenkten Lebens“ ist ein kraftvolles Gegengewicht zur Reduktion der Naturwahrnehmung als ”Warenlager” für Konsuminteressen. Die Religionen fördern eine emotionale
bzw. spirituelle Beziehung zwischen Mensch und Natur, was ein unverzichtbares, aber oft
fehlendes Glied in dem Bestreben ist, Nachhaltigkeit und Hingabe zu verbinden.
Dabei vermag beispielsweise die katholische Kirche auf eine Vielzahl hoch geschätzter
Traditionen bzgl. einer kulturellen Erschließung der Natur zurückzugreifen, die teilweise
erst im Kontext des Nachhaltigkeitsdiskurses wiederentdeckt werden: die Naturliebe des
Franz von Assisi, dem katholischen ”Umweltpatron”; die naturverbundene Medizin der
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Hildegard von Bingen; oder die gerade heute wieder als wertvolle Bereicherung geschätzte
ganzheitliche Kultur in Klöstern.
Im Ganzen ergibt sich eine gewaltige Herausforderung für die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in diesem Diskurs präsent zu sein und „ersatzreligiöse” (New Age) von
„religionsproduktiven” Elementen zu unterscheiden (Trepl 1987; Maxeiner/Miersch 1996,
28-40; Vogt 2001, 114-116; Faber 2003, 171-251).
5.
Konferenzen und Hirtenbriefe zu Nachhaltigkeit: Seit einigen Jahren wird das Leitbild der
Nachhaltigkeit verstärkt in kirchlichen Stellungnahmen und Beratungen aufgegriffen. Immer wieder äußerte sich Papst Johannes Paul II entschieden zu ökologischen Fragen und
forderte eine ”ökologische Bekehrung” (Botschaft vom 10. 6. 2002 anlässlich eines
Treffens mit dem ökumenischen Patriarch Bartholomäus I.; zur Entwicklung päpstlicher
Stellungnahmen vgl. Golser 2000, 119f.).
Bei internationalen Zusammenkünften auf Weltebene hat sich die katholische Kirche bisher zwar beteiligt, aber kaum selbst die Initiative ergriffen (Gardner 2003, 301), so z.B.
1986 bei dem vom WWF organisierten Treffen von Vertretern der Weltreligionen in Assisi, 1996-98 bei den Harvard-Konferenzen zu Weltreligionen und Ökologie mit mehr als
800 Wissenschaftlern, bei den seit 1994 stattfindenden ”Wassersymposien” auf Einladung
des orthodoxen Patriarchen Bartholomäus und im August 2000 bei dem Weltfriedensgipfel
mit über 1000 Religionsführern bei der UNO.
In diesen Initiativen zeigt sich zum Teil eine neue Qualität von Zusammenarbeit zwischen
Kirchen/Religionsgemeinschaften, Wissenschaft und Staat, aber diese neuen Kooperationen sind relativ wenig in der Öffentlichkeit und in den Kirchen selbst bekannt und kaum
politisch wirksam. Es fehlt eine bündelnde Kraft, um gemeinsam und entschlossen in die
Öffentlichkeit zu treten, aus der Mitte der eigenen Sendung heraus mit ganzer Kraft die
Themen voranzubringen. Zudem fehlt es oft an Glaubwürdigkeit, weil das eigene Handeln
der kirchlichen und religiösen Institutionen nicht dem bei Konferenzen propagierten Anspruch entspricht. Hier brauchen alle Religionsgemeinschaften und die zivilgesellschaftlichen Akteure der Nachhaltigkeit ihre wechselseitige Ermutigung und Stärkung.
6.
Das Europäische Christliche Umweltnetzwerk (ECEN) und die katholischen Umweltkonsultationen: 1997 hat die Zweite Ökumenische Versammlung in Graz zur Gründung eines
ökumenischen Netzwerkes für die Bewahrung der Schöpfung aufgerufen. Kurz darauf wurde das ECEN gegründet. Ergänzend fanden auf katholischer Seite von 1999 bis 2005 regelmäßige Konsultationen der Umweltbeauftragten des Rates der europäischen Bischofskonferenzen zu Schöpfungsverantwortung und nachhaltiger Entwicklung statt. Für die
bisherige Arbeit war es ein Gewinn, dass es beide Strukturen gab und gibt; für die künftige
Arbeit und politische Wirksamkeit ist eine Bündelung der Kräfte unverzichtbar.
Die Ökumene ist eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft der Umweltengagements
der Europäischen Kirchen, weil dieses seine Wurzeln wesentlich im ökumenischen Prozess
für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung hat. Die Ökumene darf jedoch nicht auf Kosten der Verankerung in den jeweils eigenen Strukturen gehen. Die Dritte
Europäische Ökumenische Versammlung 2007 in Rumänien hat dem Thema Klimawandel
und Nachhaltigkeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
7.
Friedenstiftung. Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass die Schicksalsfrage
für die Entstehung einer neuen Weltordnung im Zeitalter der Globalisierung wesentlich in
der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden liegt. Nachhaltigkeit ist nicht denkbar ohne
eine Überwindung der neuen Kriege, die als globaler Terrorismus und als Präventivkrieg
mit islamischen Ländern jeglichem Bemühen um Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungs-
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verantwortung im Wege stehen.
Vor diesem Hintergrund wächst der Ökumene, verstanden im weiten Sinne der interreligiösen Verständigung (vor allem zwischen christlichen und islamischen Gemeinschaften),
eine entscheidende Bedeutung für die Bewahrung und Wiedergewinnung des Friedens zu.
Angesichts der tiefen Ambivalenzen der monotheistischen Religionen in ihrem Verhältnis
zu Gewalt, werden interreligiöser Dialog und Ökumene zu den maßgeblichen Voraussetzungen von Frieden und damit auch von Nachhaltigkeit:
Kein Friede ohne Ökumene. Keine Ökumene ohne ökologische Gerechtigkeit. Keine ökologische Gerechtigkeit ohne Frieden. Es bedarf intensiver Dialoge, um zu verhindern, dass
der ökologische Konflikt um den Zugang zu den Ressourcen Wasser, Öl und Ackerland
religiös überlagert und angeheizt wird.
Am Rande sei hier kurz auf das Projekt Weltethos verwiesen, von dem der ökologischökumenische Dialog insbesondere das Ideal der Gewaltfreiheit aufnehmen kann. Gerade
dieser Aspekt scheint sich als Brücke zu den asiatischen Religionen anzubieten, wobei man
beispielsweise an Gandhis Verknüpfung des Ahimsa-Prinzips mit der Bergpredigt anknüpfen kann.
8.
Motivation für globale Solidarität: Nachhaltigkeit steht und fällt mit der Bereitschaft zu
globaler Solidarität. Ausgehend von der Botschaft Jesu haben die Kirchen die Verpflichtung, Anwalt der Schwächsten und Ärmsten zu sein. Dies gewinnt im Kontext nachhaltiger
Entwicklung eine besondere Aktualität, denn es geht um die existentiellen Lebensbedingungen der Ärmsten in den Entwicklungsländern und der künftigen Generationen, deren
Interessen in unserem politischen System nur schwach vertreten werden. Eine Globalisierung der Solidarität ist für viele Völker in den südlichen Ländern, die sich den globalen
Umweltveränderungen am schlechtesten anpassen können und deren Armut zunehmend
durch Umweltbelastungen verstärkt wird, eine Überlebensfrage. Die Kraft und Entschlossenheit zu einer solchen Solidarität bringen Politik und Wirtschaft nicht von sich her auf.
Hier braucht es intensive Unterstützung durch die Religionen, Hilfsorganisationen, Umweltverbände und eine kritische Weltöffentlichkeit.
Diese Forderung globaler Solidarität wird in der Kirche als Weltgemeinschaft und ältester
globaler Institution nicht nur in der Sozialverkündigung, sondern auch in der Praxis beispielsweise durch Missionsorden und Hilfswerke konkretisiert. Da Solidarität nicht primär
ein Erkenntnisproblem ist, sondern vor allem eine Frage der Motivation, können christliche
Verkündigung, kirchliche Hilfswerke und durch den Glauben ermutigte Hilfsbereitschaft
hier Vieles beitragen, was philosophische Begründungen und politische Appelle zu globaler Solidarität nicht vermögen. Die christlichen Kirchen schaffen tiefe Gemeinschaft, aktivieren lokale und weltweite Solidarität und engagieren sich intensiv für eine auf persönliche Entfaltung ausgerichtete Bildung. Damit fördern sie das wertvollste soziale Kapital,
dessen Intensivierung für eine nachhaltige Entwicklung unverzichtbar ist.
Die Entwicklungshilfe braucht eine ökologische Korrektur, um nicht blindlings das westliche Wohlstandsmodell, das bei einer globalen Ausbreitung unweigerlich zur völligen Überforderung der ökologischen Lebensgrundlagen führen würde, in andere Länder zu übertragen. Entwicklungshilfe muss künftig vielmehr als wechselseitiger Lernprozess verstanden
werden, in dem auch die scheinbar entwickelten Länder (die unter ökologischen Gesichtspunkten aber höchst unter- bzw. überentwickelt sind) von der Begegnung mit den südlichen Ländern lernen und global zukunftsfähige und damit nachhaltige Wirtschafts- und
Lebensstile entwickeln.
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9.
Beitrag zur Überwindung des massenhaften und maßlosen Konsums. Nachhaltigkeit
braucht eine Überwindung des massenhaften Konsums, der sich vor allem zu Lasten der
Natur in den Entwicklungsländern auswirkt. Um die notwendige "neue Bescheidenheit" zu
erreichen, sind in erster Linie erforderlich: eine Veränderung der Vorstellungen vom
glückenden Leben und die Vermittlung eines starken Selbstbewusstseins, das sich
unabhängig von äußerem Besitz und kurzfristigen Erlebniswerten anerkannt weiß und
damit befähigt ist, sein Glück in einem Lebensstil zu suchen, der nicht der heute vorherrschende ist (vgl. Mertens 1998, 201-220; BUND/Misereor 1996, 206-224.). Für einen
derartigen, nachhaltigen Lebensstil bietet das christliche Menschenbild wichtige Orientierungshilfen (KEK/CCEE 1995; DBK-Kommission VI 1998, Nr. 148-150).
Auf dieser Basis suchen die Kirchen deutlich zu machen, dass die Chancen humaner Entfaltung und Lebensbewältigung für einen Großteil der Menschen in Europa nicht primär
durch eine Steigerung des materiellen Wohlstandes zu verbessern sind, sondern dadurch,
dass kommunikative und kreative Fähigkeiten, soziale Bindungen sowie Räume für religiöse Sinnerfahrungen und ethische Orientierungen gestärkt werden. ”Gut leben statt viel haben” lautet ein vielzitierter Leitspruch der Studie ”Zukunftsfähiges Deutschland”, die von
Misereor und dem BUND 1996 gemeinsam herausgegeben wurde. Dieser „Schlager” der
ökologischen Debatte finden sich zum Teil fast wörtlich gleich in der neun Jahre früher
(1987) entstandene Enzyklika Sollicitudo rei socialis (Nr. 28f.).
Zu der anstehenden ethisch-kulturellen Wende der Lebensstile können die Religionen Substantielles beitragen. Die Mannigfaltigkeit an Vorstellungen eines gelingenden Lebens, die
die verschiedenen Religionen und Kulturen entwickelt haben, können als kultureller Schatz
der gesamten Menschheit gewertet werden, der viele Alternativen zum westlichen “Konsumterror” bietet.
Zugleich ist das Bemühen um nachhaltige Lebensstile eine Chance der Ökumene; denn die
Mahnung, nicht ausschließlich nach Reichtum und materiellen Gütern zu streben, ist die
wohl mächtigste, latente Lehre vieler Religionen. Was bei diesem ökumenischen Dialog
auf dem Spiel steht, sind Weichenstellungen für die Zukunft. Die Religionen sind herausgefordert, die Grundoptionen ihres jeweiligen Schöpfungsglaubens bzw. ihrer Kosmologie
und ihres Menschenbildes in den gesellschaftspolitischen Dialog einzubringen als Kraft zur
Umkehr, als Basis für eine kreative und solidarische Kultur des Lebens, als eine Vorstellung von Lebensqualität, die sich nicht an der Menge von Konsumgütern festmacht. Dabei
wird es jedoch auch darauf ankommen, die im kirchlichen Raum vorhandenen Beispiele
gelebter Nachhaltigkeit öffentlichkeitswirksam in Politik und Gesellschaft hineinzutragen.
10. Langfristiges Denken und strukturelle Dauerhaftigkeit: Nachhaltigkeit ist ein Zeitproblem.
Die ethische Basis der Nachhaltigkeit, nämlich Verantwortung für künftige Generationen,
ist vor allem eine Frage der Fähigkeit zu langfristigem Denken und der strukturellen Verankerung dieser langfristigen Perspektiven. Die Kirche kann von ihrem Selbstverständnis
und ihrer Struktur her als älteste und auf Dauer (Ewigkeit) ausgerichtete Institution hierzu
einen wichtigen Dienst leisten.
Glaube und Kirche sind wesentlich darauf angelegt, den Zeithorizont unserer Wertmaßstäbe zu erweitern. Dies wird in der Lebensgestaltung relevant durch eine Ordnung der
Zeit, die ein Grundanliegen der biblischen Religion bzw. der jüdisch-christliche Tradition
ist. Insbesondere die Feier des Sabbat bzw. des Sonntags sowie die Vielzahl von jahreszeitbezogenen Festen im Kirchenjahr können Wesentliches beitragen zu einer ”Ökologie
der Zeit”, die Biorhythmen und Jahreszeiten beachtet (Held/Geißler 1995; Bopp 2000).
Angesichts der Dominanz kurzfristiger und fragmentierter Interessen, die die Tagespolitik
und die Finanzmärkte bestimmen und das notwendige gemeinsame Handeln im Umweltbe-
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reich oft blockieren, können die Weltreligionen als nicht unmittelbar von nationalen Interessen oder kurzfristiger Wählergunst abhängige Gemeinschaften einen wichtigen Vermittlungs- und Versöhnungsdienst leisten. Es ist ”ihre von Gott gegebene Pflicht, diese
Freiheit mit aller Kraft und Klugheit in die Waagschale zu werfen, um dem Recht aller
Menschen und dem Eigenwert der übrigen Schöpfung im harten Ringen der Tagesfragen
gebührend zum Sieg zu verhelfen.” (EKD/DBK 1985).
11. Fähigkeit zur Sinnstiftung und ihrer verhaltensrelevanten Vermittlung: Die Frage der Orientierung hinsichtlich der Stellung des Menschen im Kosmos hat eine religiöse Dimension.
Die religiöse Komponente ist für die westliche Zivilisation dabei deshalb von zentraler Bedeutung, weil in ihr oft die Einheit von ”Kopf und Herz”, von Spiritualität/Sinndeutung
und Wissenschaft verloren gegangen ist. Soll eine Sinndeutung auch emotional und verhaltensrelevant vermittelt werden, ist eine Kommunikation auf der rituellen Ebene äußerst
hilfreich.
Dass der einzelne umweltverträglich handelt, hängt zumeist weniger von einer rationalen
Begründung ab als von einer emotional wirksamen Motivation. Durch Erzählungen, Riten
und Symbole tragen Religionen emotional prägend zur Sinnstiftung, ethischen Orientierung und Motivation bei. Freilich muss auch die religiös fundierte Motivation dann durch
Gewohnheiten, Gemeinschaften und äußere Rahmenbedingungen stabilisiert werden, um
”alltagsfähig” zu sein.
Die rituellen Elemente werden unter anderem in der orthodoxen sowie in der katholischen
Kirche besonders gepflegt und bieten – etwa im Bereich der Feste zu Themen der Schöpfung – eine reiche Quelle von Traditionsgut, das allerdings wieder neu erschlossen werden
müsste. Die ökumenische Herausforderung besteht hier wesentlich darin, im rituellen Bereich den Reichtum der Traditionen wiederzuentdecken, wo möglich – z.B. beim Erntedankfest – zusammen zu feiern und zu arbeiten, um die Kräfte zu bündeln und Traditionen
lebendig weiter zu geben.
12. Einfluss durch die große Zahl von Mitgliedern und beträchtliches Eigentum: Ein Drittel der
Menschheit sind Christen. Weit über zwei Drittel gehören den sechs großen Weltreligionen
an (Christentum, Islam, Hinduismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Judentum). Aufgrund
ihrer großen Zahl an Mitgliedern und Mitarbeitern, ihres weltweiten Eigentums an
Grundstücken und Gebäuden sowie ihrer wirtschaftlichen Macht (wenn sie denn gebündelt
eingesetzt wird) können die Kirchen und Religionsgemeinschaften unmittelbar Einfluss auf
die Zukunftsgestaltung nehmen.
Der nachhaltige Umgang mit dem eigenen Besitz ist zugleich ein Test für Glaubwürdigkeit.
Deshalb haben sich die christlichen Kirchen in vielen Ländern in den letzten Jahren verstärkt um eine nachhaltige Verwaltung im eigenen Bereich bemüht. Die ökumenische Zusammenarbeit hat sich dabei – jedenfalls in Deutschland – als ein ganz wesentlicher Erfolgsfaktor erwiesen: So wurde beispielsweise bereits 1975 vom Weltkirchenrat die Ökumenische Entwicklungsgenossenschaft ”Oikocredit” (früher EDCS) gegründet, die Kredite
an arme Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern vergibt. Die Projekte „Sustainable
Churches“ (ca. 120 Einrichtungen, die ein Umweltmanagement betreiben) und „Kirchen
für die Sonnenenergie“ (700 Kirchengemeinden mit eigenen Solarenergie-Anlagen) wären
nicht denkbar gewesen ohne die ökumenische Zusammenarbeit.
Vor dem Hintergrund dieser zwölf Potentiale für Nachhaltigkeit mehrt sich bei vielen die Überzeugung, dass gerade den Kirchen und Religionsgemeinschaften eine Schlüsselrolle zukommt
für eine breite gesellschaftliche Verständigung über die ethischen Grundlagen einer nachhaltigen Entwicklung. Die Praxis der Schöpfungsverantwortung ist für die Kirchen heute eine
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”Gelegenheit, die aktuelle Bedeutung ihrer Glaubenssätze für die großen Themen unserer Zeit
zu demonstrieren.” (Gardner 2003).
4. Resümee: Nachhaltigkeit als viertes Sozialprinzip
So wie der christliche Gedanke der Nächstenliebe und der Caritas in einem langen geschichtlichen Prozess zum Impuls der Sozialpolitik wurde, so liegt die innovative Aufgabe christlicher
Ethik heute ganz wesentlich darin, die theologischen, ethischen und praktischen Motive des
Schöpfungsglaubens zur Grundlage für eine verantwortliche Umwelt- und Zukunftspolitik zu
machen. Christliche Schöpfungsverantwortung ist heute auf den Weg der Agenda 21 verwiesen.
Sie kann und muss sich in ein weltweites Netzwerk für Nachhaltigkeit einbinden.
Die christlichen Kirchen sind dabei zugleich Gebende und Nehmende: Einerseits kann die Begründung und Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzeptes vom christlichen Schöpfungsglauben,
vom biblischen Menschenbild und von der kirchlichen Soziallehre entscheidende Impulse erhalten. Andererseits bietet das Konzept der Nachhaltigkeit für die Kirchen eine Chance, christliche
Schöpfungsverantwortung zu konkretisieren und unter den Bedingungen und tatsächlichen Entscheidungsproblemen moderner Gesellschaften zur Geltung zu bringen.
Sozialprinzipien als Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft
Der Begriff „Prinzip“ hat keinen guten Klang. Er wird mit „verstaubt“ und „starr“ assoziiert.
Eine Prinzipienmoral gilt als blind für die Besonderheiten des Einzelfalls. Von ihrer Entstehungsgeschichte her haben die Sozialprinzipien der christlichen Ethik jedoch gerade die umgekehrte Stoßrichtung: Sie sind entstanden als Reaktion auf die Erfahrungen des Wandels der
neuzeitlichen Gesellschaft, der wesentlich durch die Emanzipation des Subjekts in der Aufklärung ausgelöst wurde (Anzenbacher 1997, 178-224; Korff/Baumgartner 1999).
Der Begriff „Prinzip“ meint etwas Erstes, Ursprüngliches und Unteilbares, aus dem eine Sache
entweder besteht oder entsteht oder erkannt wird (Aristoteles, Metaphysik 1013a). Prinzipien
sind einheitsstiftende Grundsätze und Regeln (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355ff), die
der Begründung, Rechtfertigung und Kritik untergeordneter Normen dienen (Höffe 1993, 191f)
und aufgrund ihres allgemeinen Charakters der konkretisierenden Interpretation bedürfen, um
normativ relevant zu werden.
Die Frage nach Grundsätzen wird besonders „in Umbruchzeiten virulent, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Deutungs- und Orientierungsmuster ihre Plausibilität verlieren und Gesellschaften sich herausgefordert sehen, sich neu der Grundlage ihres Selbstverständnisses und
damit ihrer Zukunftsfähigkeit zu vergewissern. Dabei kann es durchaus auch zur Ausprägung
neuer Prinzipien kommen, mit denen dem Gang der geschichtlichen Entwicklung Rechnung
getragen wird. ...“ (Korff/Baumgartner 1999, 225)
Es geht darum, die normativen Leitlinien für die Regelung der sozialen Konflikte sowie die
Gestaltung der gesellschaftlichen Strukturen nach übergeordneten und allgemeinen Gesichtspunkten transparent zu machen, zu erklären, zu ordnen und zu gestalten. Prinzipien haben dabei
„nicht den Charakter von unmittelbar zu exekutierenden Normen oder Verordnungen, sondern
den von verfahrensrelevanten Grundsätzen. Sie geben bestimmte vom intentionalen Gesamtaufbau der menschlichen Handlungswirklichkeit her geboten erscheinende Grundausrichtungen
für das Handeln an, sagen aber von sich aus noch nichts darüber aus, wie im einzelnen zu entscheiden ist" (ebd.) Sozialprinzipien sind die ethische Grammatik für den Strukturaufbau der
Gesellschaftsordnung. Auf dieser grundsätzlichen Ebene der Übersetzung biblischer Imperative
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in ordnungsethische Kategorien, die der offenen Dynamik moderner Gesellschaft und Wirtschaft Rechnung tragen, haben die christlichen Sozialprinzipien ihren systematischen Ort.
Defizite im Bereich Ökologie
Wenn man auf dieser prinzipiellen Ebene fragt, sieht die Bilanz der Antworten christlicher Sozialethik auf die Umweltproblematik recht schwach aus: Es fehlt weitgehend an wirklich systematischen Antworten. Auf der Ebene der Prinzipien katholischer Soziallehre kommt die Umweltfrage nicht vor. Sie ist dort kaum als ein epochales Problem erfasst. Versuche einer systematischen Antwort auf die Umweltproblematik gibt es eher im Rahmen der Individualethik
(z.B. auf der Grundlage des Prinzips „Ehrfurcht vor dem Leben“); aber diesen Ansätzen fehlt
weitgehend die gesellschaftstheoretische Basis.
Das Fehlen einer zeitgemäßen Klärung der sozialethischen Grundlage für die Antwort der Kirchen auf die Umweltfrage wurde exemplarisch deutlich im Entwurf der Diskussionsgrundlage
zum Konsultationsprozess: Ökologische Problemfelder tauchten nur vereinzelt und als ein die
Kirche nicht näher angehendes Randphänomen auf. Das kommt einer Verharmlosung der Situation gleich. Die Sozialethik steht hier hilflos und blind der ethischen Problematik der MenschNatur-Beziehung in der technologischen Zivilisation gegenüber.
Abhilfe kann meines Erachtens nur eines schaffen: Der Versuch, das weltweit anerkannte, aber
nicht selten zur unverbindlichen Leerformel für politische Sonntagsreden verflachte Leitbild
der nachhaltigen Entwicklung als ethisches Prinzip zu präzisieren. Die Aufgabe liegt darin, die
Verbindlichkeit dieses Leitbildes deutlich zu machen, ohne in einen ökologischen Naturalismus
zu verfallen. Nicht als ökologischem Fachbegriff, sondern als ethisch-politischem Programm
und als kultureller Aufgabe kommt dem Leitbild der Nachhaltigkeit eine revolutionäre
Bedeutung zu.
Zunächst sind auf der Ebene des Prinzipiellen der Stellenwert und die Adressaten ökologischer
Imperative angesichts des Pluralismus und der offenen Dynamik moderner Gesellschaft und
Wirtschaft zu klären. Verbindliche Konkretionen kann ökologische Ethik nur im Dialog mit den
unterschiedlichen Wissenschaften und gesellschaftlichen Akteuren erreichen und einfordern.
Dabei ist auch christliche Ethik ein wichtiger Gesprächspartner.
Die Beteiligung an der interdisziplinären und gesellschaftlichen Suche nach Antworten auf die
ökologische Herausforderung ist auch für die christliche Ethik selbst ein Lernprozess. Der biblische Schöpfungsglaube braucht – so meine zentrale These - eine differenzierte Interpretation auf
der Ebene der Prinzipien, um für einen Ausgleich zwischen Ökologie und Ökonomie fruchtbar
zu sein. Dabei kann er mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit verbunden werden und sich in
vertiefter ethischer Begründung zu einem neuen Sozialprinzip verdichten.
Das Verhältnis der Nachhaltigkeit zu den klassischen Sozialprinzipien
Kennzeichnend für das Nachhaltigkeitsprinzip ist zunächst, dass es ein Naturnutzungskonzept
ist und damit auch in seiner ethischen Begründung den Bezug zum Menschen nicht aufgibt. Es
begründet den Umweltschutz aus der Verantwortung für künftige Generationen und aus der
globalen Solidarität der Menschen (vgl. Riodeklaration, bes. Grundsätze 1-6). Umweltschutz
wird als Voraussetzung und Bestandteil des Schutzes der unbedingten, personalen Würde des
Menschen verstanden. Damit ist das Prinzip der Nachhaltigkeit einer ökologisch aufgeklärten
Anthropozentrik zuzuordnen (vgl. Vogt 1999b, Nachhaltigkeit 243-252).
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Nachhaltigkeit ist mit dem Ansatz des christlichen Schöpfungsglaubens kompatibel und lässt
sich ohne logische Widersprüche mit dem Ansatz der christlichen Sozialprinzipien verbinden
(Münk 1998; Lochbühler 1998):
1. In seiner Begründung bezieht sich das Nachhaltigkeitsprinzip zentral auf die besondere
Würde und Verantwortung des Menschen als Person, die Voraussetzung und Schutzziel
nachhaltiger Entwicklung ist und sich politisch in der Achtung der demokratischen Menschenund Mitwirkungsrechte konkretisiert. Es hält prinzipiell an dem transzendentalphilosopischen
Ansatz der Kantschen Ethik fest, stellt den Mensch als Person und Verantwortungsträger in den
Mittelpunkt der ethisch-politischen Konzeption und ist in diesem Sinne – wie bereits dargelegt einer ökologisch aufgeklärten Anthropozentrik zuzuordnen.
Wenn Umweltethik dagegen wie in vielen Entwürfen der neuen ökologischen Ethik in Opposition zur Anthropozentrik und damit zum Personprinzip entfaltet wird, dann geraten ökologische und humane Perspektiven schon vom Ansatz her in einen Gegensatz, der falsche Alternativen vorprogrammiert und dazu neigt, den für das Nachhaltigkeitsprinzip wesentlichen Vernetzungsgedanken aus dem Blick zu verlieren. Die Forderungen der Nachhaltigkeit haben das
Personprinzip im Rücken und gewinnen nur in Verbindung mit diesem ihr volles ethisches
Gewicht und damit die Chance, internationale Akzeptanz in rechtlich verbindlichen Abkommen
zu finden. Dabei wird weltweiter Natur- und Umweltschutz als notwendiger und grundlegender
Bestandteil einer Verteidigung der personalen Entfaltungsmöglichkeiten und Grundrechte des
Menschen verstanden.
2. In der Mitte des Nachhaltigkeitsprinzips steht die Forderung nach einer weltweiten und generationenumspannenden Solidarität, deren Bewährungsprobe heute ganz wesentlich der Einsatz
für eine globale Entwicklungs- und Umweltpolitik ist. Da es für die notwendigen Reformen in
Politik und Wirtschaft nicht primär an Erkenntnis fehlt, sondern vor allem am Willen und den
strukturellen Voraussetzungen für ein weltweit kooperatives Handeln, ist die Forderung nach
Solidarität zu einem ethischen Kernelement nachhaltiger Entwicklung geworden. Angesichts
der Globalisierung der Märkte ist die Globalisierung der Solidarität der einzige Weg zur Erschließung einer lebenswerten Zukunft für alle Menschen (Vogt 2000a).
Die nachhaltige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen ist auch deshalb ganz wesentlich
eine Frage der Solidarität, weil die Armen sowie die kommenden Generationen in besonderer
Weise vom Raubbau an diesen betroffen sind (Birnbacher 1988; Jonas 1979). Aufgrund der
engen Zusammenhänge zwischen Armut und Umweltzerstörung gewinnt das Solidaritätsprinzip
in ökologischen Zusammenhängen eine vorrangige Bedeutung. Dies kommt nicht zuletzt in der
Agenda 21 zum Ausdruck, da sie in ihren ersten Kapiteln den Akzent auf Armutsbekämpfung
setzt. Wegweisendes Organisationsprinzip nachhaltiger Entwicklung ist Subsidiarität, die hier
vor allem deshalb eine tragende Bedeutung gewinnt, weil nachhaltige Entwicklung ein offener
Suchprozess ist, der kaum von oben verordnet und in allen Einzelheiten vorausgeplant werden
kann, sondern nur durch das selbständige Engagement vieler gesellschaftlicher Gruppen und
Institutionen zu erreichen ist. Nach Maßgabe der Subsidiarität darf der rechtsstaatliche Schutz
individueller Freiheit auch um ökologischer oder sozialer Ziele willen nicht preisgegeben werden. Damit ist jede "Ökodiktatur" strikt schon im Ansatz abzulehnen. Wo immer die Möglichkeit für individuelle und eigenverantwortliche Problemlösungen besteht, ist diesen der Vorrang
einzuräumen. Die wichtigste Voraussetzung für die Entfaltung der kreativen und innovativen
Potentiale wirtschaftlicher Eigenverantwortung sind Rahmenbedingungen, unter denen sich
ökologisches Engagement finanziell lohnen kann. Darüber hinaus bedarf es vermehrter Anstrengungen im Bildungsbereich zur Förderung ökologischer Schlüsselkompetenzen.
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3. Eine wichtige Realisierungsform der Subsidiarität im Rahmen nachhaltiger Entwicklung ist
Regionalisierung, also die Abgrenzung und Unterstützung relativ selbständiger sozialer Einheiten, die eng mit ihrer konkreten natürlichen und sozialen Umwelt verbunden sind und so ein
besonderes Interesse an deren Schutz haben. Subsidiarität im Sinne der Förderung regionaler
Eigenständigkeiten hat eine Schlüsselbedeutung für die Förderung mittelständischer Unternehmen und ihrer ökologisch vorteilhaften Potentiale. Zugleich fördert Regionalisierung die Chancen zivilgesellschaftlicher Mitgestaltung des eigenen Lebensraumes. Dies ist eine demokratische Leitidee nachhaltiger Entwicklung. Daher ist eine „teilhabende Demokratie“ (Agenda 21,
Kapitel 27) nicht nur Mittel, sondern zugleich fundamentaler Inhalt des Konzepts nachhaltiger
Entwicklung.
Auf diese hier nur kurz skizzierte Weise verknüpft und aktualisiert Nachhaltigkeit die traditionellen Prinzipien der Sozialethik im Problemhorizont der ökologischen Frage. So gewinnt das
Nachhaltigkeitsprinzip wichtige Inhalte seiner Begründung, seiner ethischen Motivationskraft
und seiner organisatorischen Gestalt aus dem engen Verweisungszusammenhang zu den bekannten Prinzipien:
-
Ohne das Persönlichkeitsprinzip, die anthropozentrische und damit personale Rückbindung
würde der Versuch, die umfassenden Forderungen des Nachhaltigkeitsprinzips zu
begründen, unweigerlich in naturalistische Konzepte münden.
-
Ohne das Solidaritätsprinzip und all die vielen Institutionen, die zur Sicherung solidarischer
Armutsbekämpfung geschaffen wurden, bliebe das Nachhaltigkeitsprinzip gewissermaßen
politisch und gesellschaftlich im leeren Raum, isoliert und – wie insbesondere das UNOKonzept zeigt – ohne stringente Begründung seiner wirtschaftlichen Komponente.
-
Ohne das Subsidiaritätsprinzip würde dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung das
organisatorische Herzstück fehlen. Ökologische Imperative könnten dann dazu missbraucht
werden, mehr Staat, mehr Reglementierung und mehr Zentralisierung zu fordern, statt
Strukturen der Freiheit und der Anpassung an die jeweiligen sozialen und natürlichen Lebensräume zu fördern.
Die Eigenständigkeit des Nachhaltigkeitsprinzips
In all diesen Überlegungen zur ökologischen Dimension der traditionellen Sozialprinzipien
kommt die nichtmenschliche Natur nur vermittelt über andere Inhalte zur Sprache. Ein Verständnis der ökologischen Verantwortung als bloßes Interpretationsmoment der sozialen oder
wirtschaftlichen Verantwortung würde jedoch der grundsätzlichen Problematik nicht gerecht. Es
stünde im Widerspruch zum Nachhaltigkeitskonzept, das die ökologische Dimension als eine
eigenständige Zielgröße gesellschaftlicher Entwicklung definiert: Der Schutz der Natur wird
nicht nur um wirtschaftlicher und sozialer Ziele willen gefordert, sondern auch um seiner selbst
willen.
Das bedeutet für das Nachhaltigkeitsprinzip: Der systematische Zusammenhang zu den traditionellen, auf den zwischenmenschlichen und gesellschaftlich-strukturellen Bereich bezogenen
Prinzipien ist nicht so zu verstehen, dass es darin enthalten oder als bloße Anwendung der überkommenen Denkmodelle auf die menschliche Naturbeziehung daraus ableitbar sei (Münk
1998). Dies wäre eine Verkennung der Tatsache, dass nicht die Gesellschaft das Umfassende
ist, sondern in vieler Hinsicht die Natur. Schließlich wird das Gesellschaftssystem von den
ökologischen Systemen getragen, während diese ihrerseits nicht auf die Gesellschaft angewiesen sind. Dementsprechend stellt auch das Nachhaltigkeitsprinzip, das die Naturbeziehung
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repräsentiert, die bisherigen Lösungsmodelle für sozioökonomische und soziale Konflikte in
einen größeren Zusammenhang. Es umgreift sie im Hinblick auf den Problemhorizont.
Ökologische Ethik auf der Grundlage des Nachhaltigkeitsprinzips führt jedoch nicht aus der
Gesellschaftstheorie und der Sozialethik heraus, sondern vielmehr tiefer in sie hinein. Es geht
darum, soziale Verhältnisse und Überlebensfragen aus der Dynamik des menschlichen NaturGesellschafts-Verhältnisses heraus zu begreifen (Beck 1986, 107f). Das ergibt sich schon daraus, dass sich ökologische Gefahren in der Moderne nicht mehr primär auf die unbeherrschte
Natur zurückführen lassen, sondern als nichtintendierte Nebenfolgen der Naturbeherrschung
verstanden werden müssen. Soziale und ökologische Folgen dürfen also nicht isoliert nebenund nacheinander betrachtet werden, sondern als wirklich ineinander und interdisziplinär
vernetzt.
Deshalb kann und muss Nachhaltigkeit als Sozial-Prinzip bezeichnet werden. Es geht um eine
„ökologisch Sozialethik“ (Höhn 1997, 266). Wenn man ökologische Ethik dagegen in der Begründung und Ausrichtung als Sonderethik konzipiert, gerät sie gesellschaftlich und ethisch ins
Abseits. Das Nachhaltigkeitsprinzip gewinnt seine Eigenständigkeit also gerade nicht aus der
Abgrenzung und Isolierung gegenüber den anderen Prinzipien, sondern vielmehr daraus, dass
die Beziehung des Menschen zur Natur als ein Problemfeld verstanden wird, das alle drei
Handlungsprinzipien in neuer Weise aktualisiert, vertieft und umfasst.
Das Neue ist nicht die Addition eines zusätzlichen Gegenstandsbereiches oder eine völlig eigenständige Begründung (wie es etwa häufig auf der Basis des Begriffs „Leben“ versucht wird),
sondern ein neuer Problemhorizont, angesichts dessen der Mensch neu lernen muss, sich als
Teil der Schöpfung zu sehen und personale Freiheit sowie gesellschaftlichen Fortschritt nicht
als Emanzipation von den naturwüchsigen Fesseln zu verstehen, sondern so, dass sie dauerhaft
von den Bedingungen der Natur mitgetragen werden.
Die Erfahrung der Grenzen der Natur kann für den Menschen auch eine Chance sein, seine eigenen Grenzen als Geschöpf, das das Leben nicht aus sich selbst hat und nicht dauerhaft behalten kann, neu zu erkennen. Nur wenn er sich dementsprechend in ein ihn tragendes und umfassendes Ganzes einfügt, ist sinnerfülltes Leben möglich. Auch wirtschaftlicher Erfolg ist nur
sinnvoll, wenn er sich in die Gesamtökonomie der Schöpfung einfügt.
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