Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen Adaptation and speciation in stickleback fish Jones, Felicity Friedrich-Miescher-Laboratorium für biologische Arbeitsgruppen in der Max-Planck-Gesellschaft, Tübingen Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Organismen haben einzigartige Anpassungsmechanismen entw ickelt, die ihnen ein Überleben in einer bestimmten Umw elt ermöglichen. Forscher im Friedrich-Miescher-Laboratorium suchen in Stichlingen diejenigen genetischen Veränderungen, die es Organismen im Allgemeinen ermöglichen, sich an neue Umgebungen anzupassen und zu spezifizieren. Meerw asserstichlinge beispielsw eise haben eine adaptive Radiation durchgemacht, aus der an vielen verschiedenen Orten w iederholt Süßw asserformen entstanden sind. Untersucht w erden die der Anpassung und Speziation zugrunde liegenden Muster molekularer Veränderungen. Summary Organisms across the w orld show unique adaptations that enable them to survive and flourish in distinct environments. Researchers at the Friedrich Miescher Laboratory are studying stickleback fish to unravel the genetic changes w hich allow organisms to adapt and speciate in new environments. Marine sticklebacks have undergone an adaptive radiation w ith freshw ater forms evolving repeatedly and independently at many different places. Using these pow erful replicates of the evolutionary process, research is identifying the common molecular changes underlying adaptation and speciation. Die Entstehung der Arten Die Erde beheimatet eine bemerkensw erte Vielfalt an Organismen unterschiedlichster Form und Größe. Viele Arten haben spezielle Merkmale ausgebildet, die ihr Überleben und ihre Fortpflanzung in einer speziellen Umgebung sichern. Die Erforschung der genetischen Grundlagen und der molekularen Mechanismen solcher umw eltbedingten Anpassungen kann diejenigen Faktoren aufzeigen, die Fitness und Überleben in speziellen Umgebungen einschränken oder fördern und neuen Artenbildungen zugrunde liegen. Die Ergebnisse bereichern nicht nur unser W issen über die Entstehung und Entw icklung von Biodiversität, sondern liefern auch Hinw eise darauf, w ie Arten, insbesondere auch landw irtschaftlich w ichtige Nutzpflanzen und Tiere, in Zukunft mit rasanten Umw eltveränderungen zurechtkommen können. Darüber hinaus geben die Resultate Aufschluss über die evolutionäre Fitness in verschiedenen Umgebungen und über die molekularen Grundlagen umw eltbedingter Krankheiten. © 2015 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/7 Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen Der Stichling als Modellorganismus zur Untersuchung adaptiver Evolution A bb. 1: De r dre ista che lige Stichling (Gasterosteus aculeatus). © Frie drich-Mie sche r-La bora torium de r Ma x -P la nck Ge se llscha ft/C ha n Der dreistachelige Stichling (Gasterosteus aculeatus, Abb. 1) ist ein kleiner, 4 bis 6 cm langer Meer- und Süßw asserfisch, der in verschiedenen aquatischen Lebensräumen in den gemäßigten Klimazonen der nördlichen Halbkugel vorkommt. Seit dem Abschmelzen der letzten pleistozänen Eiskappe vor 10.000 bis 20.000 Jahren haben sich in vielen neu gebildeten Süßw asserlebensräumen anzestrale Meerw asserstichlinge angesiedelt. In einem Zeitraum, der – evolutionär betrachtet – einem W impernschlag gleichkommt, hat diese Art eine adaptive Radiation erlebt: Einzelne Individuen haben sich in andere Umw elten hineingew agt und sich an die dort herrschenden Bedingungen angepasst. Heute gibt es dreistachelige Stichlinge in vielen verschiedenen Formen und Größen (Abb. 2, [1]). Die phänotypische, also äußerliche Diversität ist so bemerkensw ert groß, dass Naturhistoriker und Systematiker ursprünglich jede dieser Populationen als eigenständige Art beschrieben haben. Heute w erden sie aufgrund ihrer Fähigkeit, sich untereinander fortzupflanzen und überlebensfähige, gesunde Nachkommen zu produzieren, konsequenterw eise von Forschern als eine einzige Art zusammengefasst. A bb. 2: De r dre ista che lige Stichling (Gasterosteus aculeatus) ha t in jünge re r Ze it e ine a da ptive R a dia tion durchge m a cht und sich vom typische n m a rine n Ö k otyp (rot) zu Süßwa sse rök otype n (bla u) m it e ine r Vie lza hl unte rschie dliche r Form e n e ntwick e lt. Ma ßsta b: 1cm . © Aus [1], m it fre undliche r Ge ne hm igung de s Ve rla gs Hinsichtlich der Fähigkeit, sich untereinander fortzupflanzen und einen gesunden Nachw uchs zu produzieren, bestehen allerdings bemerkensw erte Ausnahmen – und genau die sind für Evolutionsbiologen besonders interessant. Eine derartige Ausnahme – als neuentstehende Artenpaare bezeichnet – sind verschiedene Meer© 2015 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/7 Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen und Süßw asserstichlingsformen, auch Ökotypen genannt. Solche morphologisch, physiologisch, verhaltensbedingte und genetisch verschiedene Ökotypen kommen w ährend der Fortpflanzungsperiode an den Unterläufen von Flüssen und Strömen der nördlichen Halbkugel miteinander in Kontakt [2]. Obw ohl Hybridisierung und Genaustausch möglich sind und stattfinden, verschmelzen die verschiedenen Ökotypen nicht zu einer einzigen homogenen Population [3, 4], sondern die jew eiligen Süß- und Meerw asserfische behalten ihre zahlreichen Unterschiede in Form, Physiologie und Verhalten und w eisen w eiterhin unterschiedliche Genpools auf. Untersuchungen belegen geringe Abw eichungen bei der Paarungspräferenz und in den Kontaktzonen sind Hybride und eingemischte Individuen gemeinsam zu beobachten [4, 5]. Das w iderspricht der klassischen Evolutionstheorie, nach der zu erw arten w äre, dass die Stichlinge angesichts eines so hohen Genflusses w ieder einen Hybridschw arm bilden. Damit w iederum die Verschiedenartigkeit von Meer- und Süßw asserökotypen erhalten bleibt, so die Hypothese der Forscher, können Hybride und Migranten nicht überleben oder sich angemessen fortpflanzen, sobald sie den falschen Genotyp in der falschen Umgebung in sich tragen. Da dieses Phänomen in den Meer- und Süßw asserkontaktzonen der Stichlinge w eltw eit laufend w iederkehrt, steht den W issenschaftlern nunmehr eine Vielzahl von Forschungsstandorten zur Verfügung, w odurch sie die molekularen Grundlagen von Anpassung und Speziation genau untersuchen können. Welche Faktoren und Prozesse liegen der unterschiedlichen Anpassung an verschiedene Umgebungen durchgängig und allgemein zugrunde? Und w ie tragen sie letzten Endes zur Bildung neuer Arten bei? Die Sequenzierung kompletter Genome deckt molekulare Grundlagen der Anpassung auf Kürzlich w urden im Rahmen einer groß angelegten Kooperation neueste Whole Genome Sequenzierungstechnologien eingesetzt, um die genomische Basis der adaptiven Divergenz zw ischen Meerw asser- und Süßw asserstichlingen aufzuklären [6]. Die Analyse von 21 Meer- und Süßw assergenomen, die zehn Replikatpaare von Meer- und Süßw asserstichlingen repräsentieren, bot den Tübinger W issenschaftlern sehr gute Möglichkeiten zu untersuchen, w o und w ie die Evolution das Genom optimiert hat. Das Ergebnis gestaltete sich als sehr interessant: In großen Teilen des Genoms unterscheiden sich die Süßw asserstichlinge nicht von ihren marinen Nachbarn; ein solches, nur durch eine zufällige Abw eichung (random drift) verursachte Muster entspricht zunächst der grundsätzlichen Erw artung der Evolutionstheorie. Im Unterschied dazu aber zeigen geographisch benachbarte Meer- und Süßw asserökotypen an 81 verschiedenen Genompositionen erhebliche genetische Unterschiede – entsprechend der natürlichen Selektion, die in bestimmten Umgebungen bestimmte adaptive Mutationen favorisiert. Mit anderen Worten: Der Stichling muss an mehr als 81 verschiedenen Genompositionen bestimmte genetische Varianten aufw eisen, um sich an Süßw asserumgebungen anzupassen. Eine Wiederverwendung bereits bestehender genetischer Variabilität ist wichtig für die Anpassung an den Lebensraum Diese Untersuchungen erbrachten mehrere überraschende Ergebnisse. Erstens: Die genomischen Unterschiede zw ischen Meer- und Süßw asserökotypen haben sich parallel zu ihrer Verbreitung entw ickelt. So unterscheiden sich beispielsw eise die Meer- und Süßw asserstichlinge in Schottland hinsichtlich der gleichen Genmutationen an den gleichen Genompositionen w ie die Meer- und Süßw asserfische in Kalifornien. Die W issenschaftler gehen davon aus, dass es sich bei über 35% der adaptiven Stellen im Genom um eine parallele W iederverw endung einer bereits bestehenden genetischen Variante handelt (Abb. 3; [6]). Diese © 2015 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/7 Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen sogenannten adaptiven vorgefertigten Bausteine sind bei allen Süßw asserpopulationen w eltw eit zu finden. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass diese Bausteine mittels einer Hybridisierung mit benachbarten Meerw asserfischen zw ischen Süßw asserpopulationen transportiert und mit geringer, aber nachw eisbarer Häufigkeit von Meerw asserfischen in neue Süßw asserumgebungen übertragen w erden. A bb. 3: Die Nutzung e ine r be re its vorha nde ne n ge ne tische n Va ria nte ist e in be de ute nde r Me cha nism us, de r de r Anpa ssung von Stichlinge n a n die Süßwa sse rum we lt we ltwe it zugrunde lie gt. Süßwa sse r-a da ptive Muta tione n k önne n sich m itte ls Hybridisie rung ve rbre ite n ode r sich be i ge ringe r Hä ufigk e it in de r m a rine n P opula tion ve rste ck e n; sie we rde n a be r be i de r Be sie dlung ne ue r Süßwa sse rha bita te durch die na türliche Se le k tion wie de rum be günstigt. © Frie drich-Mie sche r-La bora torium de r Ma x -P la nck Ge se llscha ft/Jone s Einzelne Meerw asserökotypen, die süßw asser-adaptive Bausteine aufw eisen, w urden mit einer Häufigkeit von unter 2% entdeckt [7]. Statt auf die Entstehung passender neuer Mutationen zu w arten - ein Prozess, der Millionen Jahre dauern kann - kann sich eine Population auf diese Weise rasant schnell an eine neue Umgebung anpassen, vorausgesetzt, sie w eist eine nützliche, bereits vorhandene genetische Variabilität auf oder hat Zugang dazu. Die Forscher untersuchen derzeit Tausende von marinen Stichlingen, um diejenigen Faktoren und Prozesse aufzuklären, die sich auf die Verfügbarkeit und Erhaltung der adaptiven genetischen Variabilität ausw irken. Anpassung über Mutationen in nichtkodierenden Teilen des Genoms Das zw eite überraschende Ergebnis: Der Großteil der Mutationen, die einer Umw eltanpassung zugrunde liegen, entfällt auf nichtkodierende Teile des Genoms ([6]; Abb. 4). Im Gegensatz zu proteinkodierenden Genen macht die nichtkodierende DNA den Großteil des Genoms aus, beinahe 90%. Früher hielt man diese DNA-Bereiche für Junk-DNA. Aufgrund von Forschungsergebnissen der letzten 20 Jahre w eiß man jedoch inzw ischen, dass die nichtkodierende DNA w ichtige Genschalter, sogenannte Regulierungselemente, enthält, die über Ort und Zeitpunkt des Ein- und Ausschaltens eines Gens im Organismus entscheiden. © 2015 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/7 Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen A bb. 4: Be i de r Ge sa m tge nom se que nzie rung ve rschie nde ne r Stichlingspopula tione n wurde n 81 Ste lle n ide ntifizie rt, die m it e ine r dive rge nte n Anpa ssung a n Me e r- und Süßwa sse rum ge bunge n ve rbunde n sind [6]. Eine k le ine Anza hl die se r a da ptive n Ste lle n we ist Muta tione n a uf, die prote ink odie re nde Ve rä nde runge n ve rursa che n (17%, ge lb). Ein Großte il de r a da ptive n Ste lle n (83%, grün) we ist je doch k e ine be stä ndige n Muta tione n a uf, die prote ink odie re nde Ände runge n ve rursa che n, sonde rn um fa sst pote nzie ll nichtk odie re nde Te ile de s Ge nom s, die ve rm utlich die Ge ne x pre ssion ste ue rnde R e gulie rungse le m e nte e ntha lte n. © Frie drich-Mie sche r-La bora torium de r Ma x -P la nck Ge se llscha ft/Jone s Die mit den Stichlingen erhaltenen Ergebnisse lassen also darauf schließen, dass die Umw eltanpassung überw iegend durch Mutation nichtkodierender Elemente erfolgt ist, die Zeitpunkt und Umfang der Gen- und Proteinexpression steuern, und nicht durch Änderung der Form oder Funktion von Proteinen selbst. Diese Entdeckung hat potenzielle Ausw irkungen darauf, w ie Forscher die genetische Grundlage von umw eltbedingten Erkrankungen des Menschen untersuchen sollten. Exom-Studien, also Untersuchungen der Gesamtheit der Exons eines Organismus und somit aller Genomabschnitte, die potenziell für Proteine kodieren, könnten nämlich bedeutende, nichtkodierende Mutationen übersehen, die aber umw eltbedingten Krankheiten zugrunde liegen. Das Tübinger Labor analysiert heute mit einer Vielzahl molekularbiologischer Methoden diejenigen Mechanismen, mit denen nichtkodierende DNA-Elemente die adaptive Genexpression regulieren, die am Ende über Fitness und Überleben eines Individuums in speziellen Umgebungen entscheidet. Genomische Inversionen und adaptive Genkassetten Eine dritte überraschende Entdeckung aus dem Vergleich von Stichlingsgenomen w ar die komplette Umkehrung von drei riesigen Genstücken, sogenannten Inversionen. zw ischen Meerw asser- und Süßw asserökotypen. Diese Inversionen verfügen über die sehr spezielle Eigenschaft, dass sie die beiden invertierten Chromosomenkopien voneinander getrennt halten können, indem sie die Mischung von Elternallelen bei der Weitergabe von Genen an den Nachw uchs unterdrücken; oder anders gesagt: die Rekombination w ird verhindert. Dadurch entsteht eine Kassette von Genen, die von Generation zu Generation intakt und unberührt w eiterzugeben ist. So ungew öhnlich dieser Prozess auch anmuten mag; er erw eist sich © 2015 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/7 Jahrbuch 2014/2015 | Jones, Felicity | Mechanismen der Anpassung und Artbildung bei Stichlingen als generelle Evolutionsstrategie der Anpassung: Stichlinge w ie auch Gauklerblumen [8], Apfelfliegen [9] und Heliconius-Schmetterlinge [10], so w ar festgestellt w orden, w eisen in einem frühen Stadium der adaptiven Divergenz Inversionen auf, w eil sie über das Potenzial verfügen, mehrere adaptive Mutationen als adaptive Super-Genkassette zu beherbergen. Zur w eiteren Erforschung der genetischen Grundlagen der Variabilität bei der Unterdrückung der Rekombination hat die Autorin kürzlich vom European Research Council (ERC) einen Consolidator Grant mit einer Förderung von zw ei Millionen Euro erhalten. Das Evolutionssupermodell der Stichlinge ist die Grundlage für eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Forschungsgebiets Der bescheidene dreistachelige Stichling erw eist sich als ein Supermodell der Evolution – er bietet neue Einsichten in die molekularen Grundlagen von Anpassung und Speziation. Die adaptive Radiation dieses kleinen Fisches liefert zahlreiche biologische Replikate und w esentliche Einblicke in die molekularen Veränderungen, die es Organismen ermöglichen, neue Umgebungen schnell zu besiedeln, dort zu überleben und sich zügig anzupassen. Die Forschergruppe arbeitet begeistert daran, das immer größer w erdende Stichlings-Gentoolkit zu ergänzen, mit dem sie ihre w issenschaftlichen Erkenntnisse kontinuierlich w eiter ausbauen können. W issenschaftler können heute mit genomeditierenden Techniken untersuchen, w ie spezielle adaptive Mutationen Phänotyp und Fitness eines Individuums beeinflussen. Sequenzierungstechnologien der nächsten Generation w erden angew andt, um die Rekombination von Hotu n d Coldspots im ganzen Genom zu identifizieren. Außerdem w erden natürlich hybridisierende Populationen untersucht, um den Einfluss spezieller Mutationen auf die Hybridfitness zu verstehen und den Gen-Austausch zw ischen entstehenden Meer- und Süßw asserarten zu begrenzen. Literaturhinweise [1] Bell, M. A.; Foster, S. A. The evolutionary biology of the threespine stickleback Oxford University Press, New York (1994) [2] McKinnon, J. S.; Rundle, H. D. 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