38 7 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit Komplexe Zahlen 7.1 Einführung. a) Gewisse quadratische Gleichungen wie x2 + 1 = 0 “ besitzen ” bekanntlich keine reelle Lösung; trotzdem wurden spätestens seit dem 16. Jahrhundert solche Lösungen als zunächst mysteriöse imaginäre und komplexe Zahlen gefunden“. Für rein relle Probleme konnten auf dem Umweg über das Komplexe“ ” ” reelle Lösungen gefunden werden. b) Dazu erfindet man zunächst eine ideale“ oder imaginäre“ Zahl i mit i2 = −1 . ” ” Mit dieser möchte man wie mit einer reellen Zahl rechnen; für x, y ∈ R hat man daher auch die komplexe“ Zahl x + iy . ” c) Zahlen dieser Art können addiert, multipliziert und dividiert werden: Man hat (x + iy) + (u + iv) = (x + u) + i(y + v) , (x + iy) · (u + iv) = xu + i2 yv + ixv + iyu = (xu − yv) + i(xv + yu) , x − iy x − iy 1 = = 2 für x2 + y 2 6= 0 . x + iy (x + iy) (x − iy) x + y2 7.2 Präzisierung. a) Die komplexen Zahlen aus 7.1 können als Punkte einer Ebe” ne“ veranschaulicht werden, welche die reelle Zahlengerade als x-Achse enthält; die präzise Fassung dieser Vorstellung wurde von C.F. Gauß und W.R. Hamilton im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt. b) Man definiert auf C := R2 eine Addition durch (x, y) + (u, v) : = (x + u , y + v) (1) und eine Multiplikation durch (x, y) · (u, v) : = (xu − yv , xv + yu) ; (2) für die imaginäre Einheit i := (0, 1) gilt dann i2 = (−1, 0) . Für (x, y) ∈ C erhält man daraus (x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = x + iy mit der Identifizierung R ∋ x ↔ (x, 0) ∈ C . Es ist z = x + iy , x, y ∈ R , (3) die Standardbeschreibung komplexer Zahlen z ∈ C . 7.3 Definitionen und Bemerkungen. a) Für z = x + iy ∈ C heißen Re z := x und Im z := y (4) Realteil und Imaginärteil von z . Durch z̄ := x − iy = Re z − i Im z (5) wird die zu z komplex konjugierte Zahl definiert. Damit gilt stets z + z̄ = 2 Re z , z − z̄ = 2i Im z und z · z̄ = (x + iy) (x − iy) = x2 + y 2 ∈ R . b) Unter der oben definierten Addition und Multiplikation ist C ein Körper, d. h. es gelten die Axiome A, M und D aus Abschnitt 1. Dies wird einfach durch Nachrechnen bewiesen; für die Existenz von z1 für z 6= 0 wurde dies in 7.1 c) bereits getan. 7 Komplexe Zahlen 39 c) Die Nenner komplexer Brüche wz können durch Erweitern mit w̄ stets reell gemacht werden: wz = wz w̄w̄ . Ein Beispiel ist etwa 1+2i (2−i)2 = 1+2i 4−4i−1 = 1+2i 3−4i = (1+2i) (3+4i) (3−4i) (3+4i) = 3−8+(6+4)i 9+16 = −5+10i 25 = − 15 + 52 i . d) Rechnungen in R , die nur die Körperaxiome benutzen, bleiben auch in C gültig, so etwa die Summenformeln oder der binomische Satz aus Abschnitt 2. e) Auf C existiert keine Ordnung, die Axiom O genügt. Aus diesem würde nämlich 1 = 12 > 0 und auch −1 = i2 > 0 folgen. f) Die komplexe Konjugation z 7→ z̄ ist eine Bijektion von C auf C ; stets gilt z + w = z̄ + w̄ und z · w = z̄ · w̄ . Man hat z̄ = z ⇔ z ∈ R . g) Der Abstand einer komplexen Zahl z = x + iy ∈ C zum Nullpunkt heißt Betrag oder Absolutbetrag von z . Aufgrund des Satzes von Pythagoras ist dieser gegeben durch q √ (6) | z | := x2 + y 2 = z · z̄ . Offenbar gilt stets | z̄ | = | z | . Weiter gelten die in Feststellung 1.10 formulierten Eigenschaften des Absolutbetrages auch im Komplexen: 7.4 Satz. Für z, w ∈ C gelten: |z| ≥ 0; |z| = 0 ⇔ z = 0, | zw | = | z | | w | , (7) (8) |z +w| ≤ |z|+|w| (Dreiecks-Ungleichung). (9) Beweise zu diesem Abschnitt findet man in [K1], Abschnitt 27. Aus (9) folgt für die Abstände oder Distanzen von Punkten z1 , z2 , z3 ∈ C sofort | z1 − z2 | ≤ | z1 − z3 | + | z3 − z2 | , (10) wodurch die Bezeichnung Dreiecks-Ungleichung“ auch für (9) motiviert wird. ” 7.5 Polarkoordinaten. a) Komplexe Zahlen können gemäß (3) durch ihre rechtwinkligen oder kartesischen Koordinaten x, y , aber auch durch Polarkoordinaten r, ϕ beschrieben werden: b) Für z ∈ C setzt man zunächst r := | z | . Für z 6= 0 liegt dann zr auf der Kreislinie S = {ζ ∈ C | | ζ | = 1} , und aufgrund der Konstruktion von Sinus und Kosinus in 3.6 gibt es Zahlen ϕ ∈ R mit z = r (cos ϕ + i sin ϕ) . (11) c) Gilt (11), so gibt ϕ den (im Bogenmaß gemessenen) Winkel an, den die Strecke [0, z] mit der positiven reellen Achse bildet. Jede solche Zahl ϕ ∈ R heißt ein Argument der komplexen Zahl z ∈ C\{0} . Ist ϕ0 ein Argument von z , so ist arg z := {ϕ = ϕ0 + 2kπ | k ∈ Z} (12) ϕ = arg z (13) die Menge aller Argumente von z . Man schreibt aber oft statt ϕ ∈ arg z . Mit Arg z wird der Hauptwert des Arguments von z ∈ C\{0} , d. h. das eindeutig bestimmte Argument im Intervall (−π, π] bezeichnet. Die Abbildung z 7→ Arg z kann als Schraubenfläche“ über der gelochten Ebene“ C\{0} veranschaulicht werden. ” ” 40 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit Zur Berechnung von Argumenten benötigt man Umkehrfunktionen trigonometrischer Funktionen: 7.6 Arcus-Sinus und Arcus-Kosinus. a) Der Sinus sin : [− π2 , π2 ] 7→ [−1, 1] (14) ist streng monoton wachsend und somit injektiv. Zu y ∈ R mit sin(− π2 ) = −1 ≤ y ≤ 1 = sin π2 gibt es aufgrund des Zwischenwertsatzes ein x ∈ [− π2 , π2 ] mit y = sin x ; folglich ist die Abbildung aus (14) auch bijektiv. Die Umkehrabbildung arcsin : [−1, 1] 7→ [− π2 , π2 ] (15) heißt Arcus-Sinus. Sie ist ebenfalls streng monoton wachsend und nach Satz 5.9 auch stetig. b) Für k ∈ Z gilt sin(kπ + x) = (−1)k sin x ; daher liefert der Sinus auch bijektive Abbildungen sin : [kπ − π2 , kπ + π2 ] 7→ [−1, 1] . Die entsprechenden Umkehrabbildungen arcsink : [−1, 1] 7→ [kπ − π2 , kπ + π2 ] (16) heißen Nebenzweige des Arcus-Sinus. Diese lassen sich durch den Hauptzweig arcsin = arcsin0 ausdrücken: arcsink (y) = kπ + (−1)k arcsin y , y ∈ [−1, 1] , k ∈ Z . (17) c) Man hat cos x = sin(x + π2 ) für alle x ∈ R . Für y ∈ [−1, 1] , k ∈ Z und x ∈ [kπ, (k + 1)π] hat somit die Gleichung cos x = y die eindeutig bestimmte Lösung x = arcsink+1 (y) − π 2 =: arccosk (y) . Für k = 0 erhält man den Hauptzweig des Arcus-Kosinus, die stetige Umkehrfunktion von cos : [0, π] 7→ [−1, 1] . Wegen (17) gilt arccos y = π 2 − arcsin y , y ∈ [−1, 1] . (18) 7.7 Tangens und Arcus-Tangens. a) Der Tangens wird außerhalb der Nullstellen des Kosinus als Quotient von Sinus und Kosinus erklärt, also tan x := sin x cos x , x ∈ R\{kπ + π 2 | k ∈ Z} . (19) sin(x+π) sin(−x) sin x − sin x = −cos = − tan x und tan(x + π) = cos(x+π) = − = Wegen tan(−x) = cos(−x) x cos x tan x ist der Tangens auf seinem Definitionsbereich eine ungerade und π - periodische Funktion. b) Der Tangens tan : (− π2 , π2 ) 7→ R (20) 7 Komplexe Zahlen 41 ist streng monoton wachsend und somit injektiv. Weiter gilt cos x > 0 auf (− π2 , π2 ) , cos x → 0 und sin x → ±1 für x → ± π2 , woraus sich sofort tan x → −∞ für x → (− π2 )+ , tan x → +∞ für x → (+ π2 )− ergibt. Für y ∈ R gibt es somit − π2 < a < b < π2 mit tan a < y < tan b , aufgrund des Zwischenwertsatzes also x ∈ (− π2 , π2 ) mit tan x = y . Folglich ist die Abbildung aus (20) bijektiv. Die Umkehrabbildung arctan : R 7→ (− π2 , π2 ) (21) heißt Arcus-Tangens. Sie ist ebenfalls streng monoton wachsend und nach Satz 5.9 auch stetig. c) Analog zu (17) sind Nebenzweige des Arcus-Tangens durch die Formel arctank (y) = arctan y + kπ , y ∈ R, k ∈ Z, (22) gegeben; diese sind die Umkehrabbildungen von tan : (kπ − π2 , kπ + π2 ) 7→ R . 7.8 Berechnung von Argumenten. a) Es sei z = x + iy ∈ C\{0} gegeben. Mit √ r = x2 + y 2 gilt für das Argument ϕ = Arg z dann cos ϕ = xr ∈ [−1, 1] . Für y ≥ 0 folgt ϕ = arccos xr , für y < 0 hat man ϕ = arccos−1 xr = − arccos xr . Mit sign y := ( 1 , y≥0 −1 , y < 0 (23) erhält man also die Formel Arg (x + iy) = sign y arccos √ x x2 +y 2 (24) . b) Man kann auch den Arcus-Tangens benutzen: Für x = 0 hat man z = iy und ϕ = sign y π2 . Für x = 6 0 ist tan ϕ = xy , und man erhält ϕ = arctan xy ϕ = arctan xy + π ϕ = arctan xy − π für für für < ϕ < π2 ⇔ x > 0 , < ϕ < π, − π < ϕ < − π2 . − π 2 π 2 7.9 Beispiel. a) Für z = −1 − i hat man r = | z | = also ϕ = − arccos(− √12 ) = − 3π . 4 b) Man kann auch so rechnen: tan ϕ = c) Man hat also z = −1 − i = = √ √ y x √ 2 und cos ϕ = (25) x r = − √12 , = 1 , also ϕ = arctan 1−π = π4 −π = − 3π . 4 2 (cos(− 3π ) + i sin(− 3π )) 4 4 − i sin 3π ). 2 (cos 3π 4 4 Es wird nun zur Abkürzung die Notation (vgl. Satz 30.10) E(ϕ) := cos ϕ + i sin ϕ für ϕ ∈ R eingeführt. Aus den Funktionalgleichungen von Sinus und Kosinus ergibt sich: (26) 42 I. Zahlen, Konvergenz und Stetigkeit 7.10 Satz. Für komplexe Zahlen z1 = r1 E(ϕ1 ) und z2 = r2 E(ϕ2 ) gilt z1 · z2 = r1 r2 E(ϕ1 + ϕ2 ) . (27) 7.11 Beispiele und Bemerkungen. a) Bei der Multiplikation komplexer Zahlen werden also die Beträge dieser Zahlen multipliziert und ihre Argumente addiert. Insbesondere liefert die Multiplikation mit E(ϕ) eine Drehung der Ebene um den Winkel ϕ . b) Aus Satz 7.10 ergibt sich die Formel arg (z1 · z2 ) = arg z1 + arg z2 := {ϕ = ϕ1 + ϕ2 | ϕ1 ∈ arg z1 , ϕ2 ∈ arg z2 } . Insbesondere gilt stets Arg z1 + Arg z2 ∈ arg (z1 · z2 ) ; diese Summe muß aber nicht = Arg (z1 · z2 ) sein. So gilt etwa Arg i + Arg (−1) = π2 + π = 3π = Arg (−i) + 2π . 2 Aus Satz 7.10 ergibt sich die Formel von de Moivre: 7.12 Folgerung. Für z = r E(ϕ) und n ∈ N gelten z n = r n E(nϕ) , 1 z = 1 r (28) E(−ϕ) . 7.13 Satz. Für n ∈ N und w ∈ C\{0} gibt es genau n Lösungen der Gleichung zn = w . Beweis. Für w = | w | E(ϑ) sind diese gegeben durch zk = q n | w | E(ϕk ) , ϕk = ϑ n + 2π n ·k, k = 0, . . . , n − 1 . (29) 7.14 Einheitswurzeln. a) Die Gleichung z n = 1 hat die n verschiedenen Lösungen zn,k = ǫkn , k = 0, . . . , n − 1 , mit ǫn := E( 2π ) . Diese n-ten Einheitswurzeln bilden n die Eckpunkte eines regelmäßigen n-Ecks mit Umkreis S = {z ∈ C | | z | = 1} . b) Für n = 3 etwa hat man ǫ3 = E( 2π ) = cos 2π + i sin 2π = − 12 + 3 3 3 und weiter ergibt sich ǫ23 = ǫ−1 = ǫ¯3 = − 21 − 3 i 2 √ i 2 √ 3, (30) 3. 7.15 Beispiel. a) Die Gleichung z 3 = w := √2 + 11i wird gelöst. Man hat hier √ , also | z | = 5 , und für den Winkel ϕ0 gemäß | w | = 125 und ϑ = arctan 11 2 1 11 (29) gilt ϕ0 = 3 arctan 2 . b) Aus (3.13) und (3.14) ergibt sich die Funktionalgleichung tan(x + y) = tan x+tan y 1−tan x tan y (31) des Tangens und daraus wiederum die des Arcus-Tangens: x+y arctan x + arctan y = arctan 1−xy c) Aus a) und (32) folgt ϕ0 = arctan 12 und (2 + i)3 = 2 + 11i auch sofort nachrechnen. sich nach (29) zu √ z1 = ǫ3 z0 = (− 21 + 2i 3) (2 + i) √ z2 = ǫ23 z0 = (− 21 − 2i 3) (2 + i) für | xy | < 1 . (32) damit z0 = 2 + i ; in der Tat läßt sich Die anderen beiden Lösungen ergeben √ = − 2+2 3 √ = − 2−2 3 √ + ( 3 − 12 )i , √ − ( 3 + 12 )i . 7 Komplexe Zahlen 43 7.16 Komplexe Widerstände. a) In einem elektrischen Stromkreis sei eine Wechselspannung gegeben durch U0 cos(ωt + p) . Es ist bequem, diese als Realteil der komplexen Spannung U(t) = U0 (cos(ωt + p) + i sin(ωt + p)) = U0 E(ωt + p) zu schreiben; hierbei ist U0 = | U(t) | > 0 , ω > 0 die Frequenz und p ∈ R eine Phase. b) In dem Stromkreis fließt ein Wechselstrom I(t) = I0 E(ωt + q) , und nach dem Ohmschen Gesetz gilt I(t) = U (t) Z mit dem konstanten Widerstand Z ∈ C . Man nennt Re Z den Wirkwiderstand, Im Z den Blindwiderstand und | Z | die Impedanz oder den Scheinwiderstand. c) Für einen Ohmschen Widerstand ist Z > 0 ; man hat einfach q = p und U0 = Z I0 . d) Bei einem idealen Kondensator muß der Strom die Spannung erst aufbauen, bevor diese wirksam wird; dies führt zu einer Phasenverschiebung p = q − π2 . Dies bedeutet Z = | Z | E(− π2 ) = −i | Z | . Da | Z | proportional zu ω1 ist, schreibt man i Z = − ωC mit der Kapazität C > 0 . e) Bei einer idealen Spule induziert der Strom über ein Magnetfeld zunächst einen entgegegesetzt gerichteten Strom; daher tritt eine umgekehrte Phasenverschiebung q = p − π2 auf. Dies bedeutet Z = | Z | E( π2 ) = i | Z | . Nun ist | Z | proportional zu ω , und man schreibt Z = iωL mit der Induktivität L > 0 . f) Bei Reihenschaltung werden die Widerstände addiert: Z = Z1 + Z2 , bei Parallelschaltung ihre Kehrwerte: Z1 = Z11 + Z12 . Schaltet man einen Kondensator, eine Spule und einen Draht in Reihe, so hat man also Z = R + i (ωL − 1 ). ωC Für die Resonanzfrequenz ω = √1 LC hat man Z = R .