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Bedrohung Buch?
Zur Publikationssituation in der arabischen Welt
Von Mona Naggar
Red.: Barbara Wahlster
Zitator:
(Salman Rushdie, Die satanischen Verse, Aus dem Engl.: Anonym, Rowohlt,
Reinbek, 4.Aufl 2008, S. 151-152)
Mahounds Qualen sind schrecklich. Er fragt: Ist es möglich, dass sie Engel sind?
Lat, Manat, Uzza. Kann ich sie engelsgleich nennen? Gibril, hast du
Schwestern? Sind sie die Töchter Gottes? Und er geht mit sich ins Gericht: ach,
meine Eitelkeit, ich bin ein hoffärtiger Mensch, ist es Schwäche, ist es nur der
Wunsch nach Macht? Muss ich an mir wegen eines Sitzes im Rat Verrat
begehen? Ist das vernünftig und weise oder ist es eitel und zeugt von
Eigenliebe?
Autorin:
"Die Satanischen Verse" - eine fantasievolle, surreale Erzählung, die
Muhammeds Offenbarungserlebnis und den monotheistischen Grundsatz
anzweifelt. Fiktion gegen das Dogma vom eingegebenen Wort Gottes. Eine
Romansatire im Sinne der Aufklärung; ein Buch, "das sich gegen den Islam, den
Propheten und den Koran richtet" - wie es 1989 in dem Rechtsgutachten von
1
Ayatollah Khomeini heißt und das einem Todesurteil gleichkommt.
Radiostationen , Zeitungen und Fernsehsender machen es in der ganzen Welt
bekannt.
O-Ton Waddah Sharara arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Ich denke zu diesem Zeitpunkt oder in der Person von Rushdie sind viele Dinge
zusammen gekommen. Salman Rushdie als Vertreter der nachkolonialen
Generation, der in England lebt, auf Englisch schreibt und den Roman als Form
gewählt hat. Dann zum ersten Mal in der neueren islamischen Geschichte
greifen Mullahs nicht nur nach der Macht, sondern vertreten auch eine
islamische schiitische Staatstheorie. Dann kommt die Logik der Medien hinzu,
die dieses Symbolhafte aufgegriffen haben. Und die Millionen Menschen, die
dafür aufnahmebereit sind.
Autorin:
Das fiktionale Buch wird als ein Komplott westlicher Mächte gegen die
Muslime und gegen den Islam interpretiert.
Die Reaktionen islamischer Institutionen und Gelehrter fallen unterschiedlich
aus. Die Empörung ist flächenübergreifend und die Forderungen nach dem
Verbot des Buches und der Übersetzungen ebenfalls. Aber nicht alle
unterstützen das Todesurteil. Die Azhar-Universität in Kairo, die führende
sunnitische Institution in der islamischen Welt, hat sich der Fatwa von Ajatollah
Khomeini nicht angeschlossen. Der Islamwissenschaftler und Azhar-Absolvent
Ridwan as-Sayyid:
O-Ton Ridwan as-Sayyid arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Die Azhar missbilligte, wie der Roman mit der Gestalt des Propheten
Muhammed umgegangen ist. Aber sie sagte auch, dass es nicht ihr Recht oder
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ihre Pflicht sei, eine Strafe gegen Rushdie zu verhängen. Denn er lebt nicht in
einem islamischen Land und er unterliegt dadurch auch nicht den islamischen
Maßstäben.
Autorin:
Eine ähnlich Position nimmt die Organisation der Islamischen Konferenz ein.
Sie verbietet Rushdies Roman in allen ihren Mitgliedsländern, schließt sich
allerdings nicht der Fatwa von Khomeini an. Ein Grund für diese Haltung ist die
politische Situation Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Zwischen dem
sunnitisch-wahhabitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran herrscht
starke Rivalität, ein Kampf um Einfluss und Ansehen in der islamischen Welt.
Dieses Ineinandergreifen von politischen und religiösen Beweggründen zieht
sich wie ein roter Faden durch die Zensurpraktiken in der arabisch-islamischen
Welt - bis heute.
Musik
Autorin:
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten Reformer erbitterte Kämpfe
gegen konservative Kreise und religiöse Institutionen. So zweifelte etwa der
ägyptische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Taha Hussein an der
Authentizität der vorislamischen arabischen Poesie. Wenn seine These stimmte,
dann müssten viele grundlegende Texte der Koranwissenschaften in neuem
Licht gesehen werden. Hussein wurde der Häresie beschuldigt und das Buch, in
dem er seine Ideen ausbreitete, verboten. Ebenfalls aus Ägypten stammte der
Religionsgelehrte Ali Abdalraziq, der die Untrennbarkeit von Staat und Religion
im Islam bestritt. Auf Betreiben der Azhar-Universität verlor er sein Amt als
Richter.
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Wenn der syrische Philosoph Sadik al-Azm heute auf die Geschichte von Zensur
in der arabischen Welt zurückblickt, dann gehören Taha Hussain und Ali
Abdarraziq zu den vielen "Fällen" im 20.Jahrhundert, - aber auch er selbst. Ende
der 60er Jahre wurde er in Beirut wegen "Aufstachelung zu konfessionellen
Unruhen" angeklagt. Grund war die Veröffentlichung seines Buches "Kritik des
religiösen Denkens". Damals solidarisierten sich Linke und Liberale mit ihm.
Ein Grund, warum er selbst sich Jahre später für Salman Rushdie einsetzte. AlAzm verfasste Kommuniqués, sammelte Unterschriften und versuchte "Die
satanischen Verse" arabischen Lesern nahezubringen. Der 75 jährige gibt der
Meinungsfreiheit im arabischen Raum heute ein denkbar schlechtes Zeugnis:
O-Ton Sadik al-Azm arabisch:
Voice Over/Sprecher:
In den 20er, 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts musste jemand wie Ali
Abdalraziq nicht um sein Leben fürchten. Auch ich musste damals nicht um
mein Leben bangen. Mit dem Mordversuch an dem Nobelpreisträger Nagib
Machfuz und dem Mord an dem ägyptischen islamkritischen Publizisten Farag
Foda Anfang der 90er Jahre gab es eine Zäsur. Jeder, der Gedanken äußert, die
den Islamisten missfallen, muss seither um sein Leben fürchten. Und es gibt eine
weitere Veränderung. Als ich damals mit den Angriffen gegen mein Buch
konfrontiert war, muss ich zugeben, dass ich gewissermaßen stolz auf meine
Kritiker war. Sie waren an einer ernsthaften Debatte interessiert und
argumentierten mit dem Verstand und auf Grundlage des Textes selbst. Sie
haben mein Buch gelesen und kommentiert, ohne dabei verbohrt oder
dogmatisch zu sein. Zu meinen Kritikern gehörten etwa der berühmte schiitische
Imam Musa as-Sadr oder der Gelehrte und Richter Mohamed Jawad Mughniya.
Er hat damals gesagt, dass er mit mir nicht einer Meinung sei. Aber wir sollten
als Muslime bereit sein, die Ideen, die ich aufwerfe, wahrzunehmen und zu
4
diskutieren, sonst sei das ein Verlust für den Islam. Das ist doch ein sehr nobler
Standpunkt. Heute gibt es so etwas kaum mehr.
Autorin:
Bei seinem Engagement für Rushdie musste Sadik al-Azm feststellen, dass nur
eine Minderheit unter den Intellektuellen bereit war, sich für die Freiheit der
Kunst einzusetzen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine tief sitzende Wut
gegen den Westen, der für die politische Misere in der arabischen Welt
verantwortlich gemacht wird. Bewunderung für die Iranische Revolution, die die
Großmacht USA herausfordert. Oder auch Angst: vor dem langen Arm des
Ajatollah Khomeini ebenso wie vor Verfolgung im eigenen Land.
Seit dem Ende der siebziger Jahre gewinnt der politische Islam eine immer
größere Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt. Die Iranische
Revolution 1979 und der Aufbau der Islamischen Republik haben dazu
beigetragen. In einigen arabischen Ländern wie Syrien oder Ägypten versuchten
radikalisierte Gruppen mit Gewalt die islamische Ordnung einzuführen, andere
reagierten mit Gewalt auf die Repression des Staates. Große Organisationen und
Parteien engagieren sich für eine Islamisierung der Gesellschaft von unten, auf
politischen und sozialen Wegen. Aber die Politisierung der Religion ist nur ein
Aspekt des Wandels, den diese Gesellschaften durch gemacht haben, meint
Ridwan as-Sayyid:
O-Ton Ridwan as-Sayyid arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Wenn früher ein kulturelles Problem mit religiösen Bezügen aufgetaucht ist,
dann wurde es zwischen den Intellektuellen ausgetragen oder zwischen den
Intellektuellen und den religiösen Eliten. Früher wäre vielleicht das Buch von
Rushdie verboten worden und die Sache wäre erledigt gewesen. Wer hat damals
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schon Zeitungen gelesen! Aber in den letzten Jahrzehnten wurde das Interesse
für solche Konflikte immer größer. Die Medien tragen die Diskussionen in jedes
Wohnzimmer. Und die Allgemeinheit ist konservativer geworden, nicht
unbedingt die Eliten, die immer noch die gleichen Dinge diskutieren wie in den
20er, 30er oder 60er Jahren (...) Die Menschen bei uns sind religiöser geworden
und geraten in Aufruhr, wenn Meinungen geäußert werden, die ihren
Vorstellungen vom Islam widersprechen. Natürlich bestimmen die Islamisten
zurzeit, was unter Islam zu verstehen ist. Was die altehrwürdige AzharUniversität sagt oder anerkannte Scheichs und Gelehrte, das hat weitaus weniger
Gewicht. Sie gelten als zu staatsnahe. Die islamistischen Gruppen und Prediger
dagegen verteidigen angeblich den wahren Glauben. Davon sind viele
überzeugt.
Autorin:
Parallel dazu beobachtet der libanesische Soziologe und Journalist Waddah
Sharara, dass die Fatwa ein beliebtes Mittel geworden ist, um Einfluss
auszuüben.
O-Ton Waddah Sharara arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Ich denke die Fatwa von Khomeini gegen Rushdie war tatsächlich ein
Wendepunkt. Nach 1989 gab es Fatwas zu allen möglichen Dingen. Bei uns im
Libanon tauchten unbedeutende Scheichs auf, die meinten sich aufspielen zu
müssen. Ein Rechtsgutachten erlaubte das Handeln mit Dollars, ein anderes
machte die Beteiligung an einer Demonstrationen zur religiösen Pflicht. Sogar
die Teilnahme an Wahlen wurde religiös gedeutet. Das schrieb eine Fatwa vor,
weil man am Tag des Jüngsten Tages nach seinem Wahlzettel gefragt wird.
Aber am Anfang steht Khomeini, der Salman Rushdie zu einem Ungläubigen
erklärt hat.
Musik: Ziad Rahbani "ana mish kafir"
6
Autorin:
"Ich bin kein Ungläubiger" singt der libanesische Liedermacher Ziad al-Rahbani
und nimmt den Trend radikaler Gruppen aufs Korn, Angehörige anderer
Religionen, politische Gegner oder Freigeister als Ungläubige zu bezeichnen.
Das ist nach klassischem islamischem Recht die Voraussetzung, sie von der
Gesellschaft auszustoßen. Es ist ein Freibrief sie zu ermorden. Eine sowohl von
Gerichten als auch von islamistischen Gruppen angewandte Methode. Mitte der
80er Jahre ist der sudanesische Reformer Muhammed Mahmud Taha wegen
Abfalls vom Islam in Khartum hingerichtet worden. Ein ägyptisches Gericht hat
den Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid von seiner Frau
zwangsgeschieden, weil er als vom Glauben Abgefallener, als Apostat deklariert
wurde. Der junge jemenitische Schriftsteller Wajdi al-Ahdal musste seine
Heimat fluchtartig verlassen, weil Prediger von der Kanzel ihn als Ungläubigen
beschimpften. In seinem Roman über die Stadt Sanaa kommen auch
gewaltbereite Islamisten und korrupte Staatsbeamte vor. Die Liste ließe sich
fortführen mit Fällen aus Jordanien, Saudi-Arabien oder Algerien.
Zitator:
(Salman Rushdie, Die satanischen Verse, Aus dem Engl.: Anonym, Rowohlt,
Reinbek, 4.Aufl 2008, S. 48)
Die Wut auf Gott trug ihn durch den nächsten Tag, doch dann verflog sie, und
an ihre Stelle trat eine schreckliche Leere, eine Verlassenheit, als er erkannte,
dass er mit dem Nichts sprach, dass überhaupt niemand da war, und da kam er
sich lächerlicher vor als je zuvor in seinem Leben, und er begann, inständig in
die Leere hineinzuflehen, ya Allah, sei doch da, verdammt sei da. Aber er fühlte
nichts, nichts nichts, und eines Tages entdeckte er, dass er es nicht mehr nötig
hatte, etwas zu fühlen. Jener Tag der Metamorphose war der Wendepunkt der
Krankheit und der Beginn seiner Genesung. Und um sich die Nichtexistenz
7
Gottes zu beweisen, stand er nun im Speisesaal des Hotels der Stadt, und die
Schweine fielen ihm aus dem Mund.
Musik
Autorin:
Eine schmale Seitenstraße in Westbeirut. Unweit der "Hamra", der bekannten
Flanier- und Einkaufsstraße, liegt das Büro des renommierten Verlages Centre
Culturel Arabe. Eine weitere Niederlassung führt der Verlag in Casablanca. In
den kleinen, bescheiden eingerichteten Räumen steht auf Holzregalen eine
Auswahl des Verlagsprogramms, darunter: "Salzstädte", der Romanzyklus des
saudi-arabischen Schriftstellers Abdulrahman Munif. Lange Zeit war er in seiner
Heimat und in vielen anderen arabischen Ländern verboten. Das saudische
Königshaus störte sich an Munifs Darstellung der frühen Geschichte des Landes
und seine Interpretation des Wandels, den die Gesellschaft nach der Entdeckung
des Erdöls durchgemacht hat und entzog im die Staatsbürgerschaft. Daneben
findet man Abhandlungen des Literaturwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid
zum Koran, dessen Aussagen er auf dem Hintergrund seiner Entstehung, seiner
historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit interpretiert. Diese Werke sind
in den meisten arabischen Ländern nicht erhältlich. Oder Bücher der
marokkanischen Soziologin Fatima Mernissi, die wegen der feministischen
Lesart der islamischen Geschichte ein Ärgernis für viele Zensoren ist.
Hassan Yaghi arbeitet seit Anfang der 80er Jahre als Lektor beim Centre
Culturel Arabe. Die Zahl der Bücher seines Verlages, die auf dem Index stehen
oder irgendwann gestanden haben, kann Yaghi nicht nennen:
O-Ton Hassan Yaghi arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Wir gehören zu den Verlagen, die sehr häufig Opfer von Zensur werden, da wir
versuchen mit unserem Programm Debatten und Diskurse anzustoßen, die in der
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arabischen Welt lange gefehlt haben. (...) Ein Grund Bücher zu verbieten ist die
Politik. Ein Buch, das sich etwa kritisch mit dem syrischen Regime
auseinandersetzt wird dort verboten. Romane von Tahar Ben Jelloun oder
Haruki Murakami landen ebenfalls auf dem Index. Wegen der Beschreibung
erotischer Szenen wird ihnen vorgeworfen, die Moral zu gefährden oder
lasterhafte Gedanken zu verbreiten. Wenn Bücher religiöse Themen behandeln
und dabei Wege beschreiten, die der Vorstellung der islamischen Institutionen
widersprechen, gibt es Probleme. Und das ist natürlich ein großes Dilemma.
Denn diese Verbote führen zu einer intellektuellen Erstarrung. Viele Fragen
diskutieren wir jeden Tag zu Hause oder bei der Arbeit. Zum Beispiel: Was
bedeutet der Koran für uns heute? Aber diese Diskurse können nicht fortgeführt
oder weiter entwickelt werden, eben wegen dieser Verbote. Doch wir brauchen
diese Diskussionen dringend.
Autorin:
Hassan Yaghi fährt jedes Jahr zu den vielen Buchmessen von Kairo, über Riad
bis nach Khartoum. Diese Messen sind für Buchhändler und Leser die einzige
Möglichkeit, sich mit neuen Titeln einzudecken. Ein funktionierendes
Vertriebssystem für Bücher gibt es in der arabischen Welt nicht, genauso wenig
wie einen Katalog sämtlicher lieferbarer Titel. Die Buchmessen sind aber auch
ein Gradmesser für den Wandel der Zensur.
O-Ton Hassan Yaghi arabisch:
Voice Over/Sprecher:
Nichts ist von Dauer in der arabischen Welt. Wenn die politischen Verhältnisse
sich ändern, dann ändern sich auch die Verbote. In einem Land wie Algerien
beispielweise standen Bücher zu islamischen Themen in den 90er Jahren auf
dem Index. In dieser Zeit herrschte dort ein erbitterter Kampf zwischen der
Regierung und islamistischen Gruppen. Aber jetzt ist das ganz anders.
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Tonnenweise geht islamische Literatur nach Algerien, das ist fast schon
erschreckend. Mit dem Wandel der politischen Systeme wandelt sich auch die
Zensur. Nicht Gesetze bestimmen die Spielregeln, sondern Launen. Wenn ich
auf die 80er Jahre zurückschaue, dann wurden oft linke oder kommunistische
Bücher verboten. Parteien mit dieser politischen Ausrichtung standen in vielen
arabischen Ländern in der Opposition und wurden von den Militärs oder von
den Regierungen unterdrückt. Das hat sich heute geändert. Sogar Saudi-Arabien
hat nichts mehr dagegen, wenn Bücher mit einem Leninbild auf dem Titelblatt
eingeführt werden. (...) Das Königshaus versucht zurzeit den Einfluss der
religiösen Kräfte im Land zurück zu drängen, Öffnung zu betreiben und die
Zensur zurückzufahren. In Ägypten passiert das Gegenteil. Weil die Machthaber
dort das religiöse Establishment brauchen, lässt man ihm freie Hand.
Musik:
Autorin:
Bis heute bezieht Saudi-Arabien einen Großteil seines Ansehens und seiner
kulturellen Ausstrahlung aus der Tatsache, dass die heiligen Städten Mekka und
Medina auf seinem Territorium liegen. Ein Land, in dem das absolutistische
Königshaus in Allianz mit einer puritanisch-wahhabitischen Gelehrtenkaste seit
über 70 Jahren regiert und der ganzen Gesellschaft ihre Vorstellung von Moral
und Religion aufzwingt. Mit Gesetzen, mit einer strengen Sittenpolizei und mit
der Schaffung von eigens für Frauen reservierten Bereichen versucht der Staat,
Kontakte zwischen Männern und Frauen nach Möglichkeit zu unterbinden. Und
doch ist das Königreich heute das spannendste Experimentierfeld für
zeitgenössische arabische Literatur.
O-Ton Hassan Yaghi arabisch:
Voice Over/Sprecher:
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In einem Land wie Saudi-Arabien fällt mir immer wieder auf, wie viele
Versuche es gibt, die Tabus zu durchbrechen. Ich denke, diese Häufung wird
nach und nach wirken. Heute sehen wir, dass die meisten Werke, die in SaudiArabien geschrieben werden, sexuelle Themen behandeln. Man hat den
Eindruck, als sei diese Gesellschaft tagaus tagein nur mit Sex beschäftigt. Das
stimmt natürlich nicht. Aber die Literatur ist eine Reaktion auf die Verbote, die
dort seit Jahrzehnten herrschen.
Autorin:
Wachsame Zensoren haben versucht, alle Bücher, die ihren Vorstellungen von
Religion und Sexualität widersprechen aus dem Land zu verbannen. Diese
Politik muss man wohl für gründliche gescheitert ansehen. Die junge Generation
des konservativsten aller arabischen Länder, die sich mit der neuen
Informationstechnologie bestens auskennt und diese auch nutzt, hat den Roman
als Mittel entdeckt, sich ihren Frust von der Seele zu schreiben, ihre
Erfahrungen und Phantasien aufs Papier zu bringen, damit berühmt zu werden
oder einfach nur zu schockieren. Die Bücher handeln von der ersten Liebe, von
homosexuellen Liebesabenteuern, von der Wut gegen die eigene Gesellschaft.
Soziale Normen und religiöse Regeln, die seit Jahrzehnten den Alltag der
Menschen bestimmen und das Verhältnis der Geschlechter bis ins kleinste Detail
organisieren, werden in Frage gestellt. Der arabische und internationale Erfolg
von Raja Alsaneas "Die Girls von Riad" hat vielen Mut gemacht und zum
Nachahmen animiert. In Saudi-Arabien boomt eine Literaturgattung, die erst
einige Jahrzehnte alt ist - naheliegend, findet die Schriftstellerin Badriya alBishr:
O-Ton Badriya al-Bishr, arabisch:
Voice Over/Sprecherin:
Ich denke, dass dieser Boom mehrere Gründe hat. Wir haben eine lange
Geschichte des aufgezwungenen Schweigens. Bei uns gab es lange Zeit nicht die
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geringste Meinungsfreiheit. Das hat natürlich auch die Literatur stark gehemmt.
Die großen politischen Ereignisse in den 90er Jahren, dann der Anschlag vom
11. September 2001 - all das hat bei uns vieles verändert. Die Macht des
religiösen Lagers ist zurückgegangen, vor allem sein Einfluss in kulturellen
Bereichen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Demographie. Die meisten
Menschen in Saudi-Arabien sind jung. Und sehr entscheidend sind natürlich das
Internet und der freie Informationsfluss. Das alles wirkt sich auf das Schreiben
aus.
Autorin:
Die wohl profilierteste literarische Stimme Saudi- Arabiens ist im Moment
Abdu Khal. In seinen Erzählungen und Romanen schildert er schonungslos die
Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen nach der Gründung
des Königreiches, der rasanten Modernisierung und der aufgezwungenen
wahhabitischen Form des Islam. In seinem neuesten Roman geht es um die
sexuellen Exzesse am saudi-arabischen Hof. Der Schriftsteller arbeitet als
Feuilletonchef der in Djiddah erscheinenden Zeitung "Ukaz". Khal und andere
arabische Schriftsteller wagen sich heute weit vor, wenn es darum geht, über
soziale und politische Missstände zu schreiben, über Sexualität oder Liebe. Aber
das Tabu, religiöse Grundsätze in Frage zu stellen besteht weiter. Religiöse
Stoffe in der Literatur zu behandeln ist für ihn undenkbar:
O-Ton Abdu Khal arabisch:
Voice Over:
Nehmen wir mal an, ein Schriftsteller entschließt sich, über das Leben des
Propheten Muhammed in einer fiktionalen Form zu schreiben. Er muss große
Hürden überbrücken. Das größte Problem ist die tief in ihm liegende Angst sich
dem Heiligen anzunähern. Wir leben in einer Kultur, die älter als 1300 Jahre ist.
Ihr kann man nicht so leicht entfliehen. Grundsätze kann man nicht so einfach in
Frage stellen. In unserer arabischen Welt kommt es vor, dass wegen politischen
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Meinungsverschiedenheiten Verbrechen begangen werden. Wie mag man wohl
reagieren, wenn es um "das Heilige" geht! Vielleicht kann sich der Schriftsteller
von seinen inneren Zwängen befreien, aber die äußeren Umstände bleiben doch
sehr schwierig. Und ich gebe offen zu, dass ich in meiner literarischen Arbeit
nicht imstande bin, religiöse Mythen anzugreifen. Ich kann kein Instrument sein,
um diese Religion zu zerschmettern.
Musik:
Autorin:
Die Praktiken, die staatliche und religiöse Stellen anwenden, um missliebige
Ideen zu verbannen und kritische Stimmen mundtot zu machen, wirken
widersprüchlich angesichts der medialen Revolution, die sich auch in der
arabischen Welt längst vollzogen hat. Wieso ein religionskritisches Buch
verbieten, wenn es für alle im Netz zugänglich ist? Warum einen erotischen
Roman auf den Index setzen, wenn freizügige Videoclips, Filme und Werbung
über die Bildschirme flimmern? Hassan Yaghi vom Verlag Centre Culturel
Arabe spricht von einem Zustand der tiefen Ratlosigkeit in der arabischen Welt
und hält sich zurück, Mutmaßungen über die Zukunft der Region abzugeben.
Der Soziologe Waddah Sharara beschreibt diese Zeit als Übergangsphase, die
sehr lange dauern kann und versucht, eine Erklärung für die Widersprüche zu
finden:
O-Ton Waddah Sharara arabisch.
Voice Over/Sprecher:
Wir haben auf der einen Seite diese Flut an Bildern, Nachrichten, Waren und
Investitionen. Auf der anderen Seite diesen Hang, Grenzen zu setzen,
Sicherheitszonen zu errichten. Wenn ich die Länder am Golf anschaue, dann
gibt es inmitten dieser modernen Fassade und dieses Konsums zum Beispiel
eine Festung, die Ramadan heißt. In der Öffentlichkeit müssen die Regeln des
Fastenmonats eingehalten werden. Man zeigt europäische Kunstwerke, auch
Aktbilder. Aber dann beschränkt man den Alkoholkonsum auf Hotellobbies.
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Das sind dann die Antworten. Man glaubt, dass diese Dinge unsere Identität und
unser Erbe ausmachen. Aber in Wirklichkeit erhöhen sie nur die Entfremdung
von der Welt.
Autorin:
So erscheint es kaum verwunderlich, dass auch 20 Jahre nach Khomeinis Fatwa
gegen Salman Rushdie und seinen Roman kein arabischer Verlag sich traut,
dieses Werk herauszubringen. Lediglich Ausschnitte davon liegen auf Arabisch
vor, übersetzt von dem Philosophen Sadik al-Azm und dem syrischen Dichter
Mamduh Adwan.
Aber es gibt auch jede Menge Widerstand und Kreativität. Der Boom der saudiarabischen Literatur ist ein Beispiel. Und Verlage wie das Centre Culturel Arabe
halten weiter an ihrem säkularen Programm fest. Dass zwei Verlageshäuser aus
Damaskus und Beirut beschlossen haben einige Romane von Rushdie wie
"Mitternachtskinder" und "Scham und Schande" den arabischen Lesern zu
präsentieren, lässt für die Zukunft hoffen. Und es gibt immer wieder Projekte,
die den Konservativismus der arabischen Gesellschaften herausfordern, die neue
Zeitschrift "Jasad" etwa. Die Lyrikerin und Journalistin Joumana Haddad
entschloss sich trotz Warnungen von Freunden "Jasad", Deutsch "Körper", zu
starten. Die erste Ausgabe erschien im Januar 2009 in Beirut - mit einem roten
Dessous auf den Umschlag. Es geht um freie Liebe, Selbstbefriedigung und
erotische Literatur. Haddad bekommt beleidigende Briefe und Mails, aber auch
viele ermutigende Zuschriften. Die Chefredakteurin von "Jasad" ist überzeugt,
dass die vielen Schriftsteller, Künstler und Musiker die unentwegt an den Tabus
kratzen, etwas bewirken werden:
O-Ton Joumana Haddad arabisch.
Voice Over/Sprecherin:
Wie mit Hörnern stoßen wir gegen eine dicke Wand. Ein Schlag nach dem
anderen, werden wir dann diese Mauer zum Einsturz bringen. Ich weiß nicht,
wann das passieren wird, aber die Lösung besteht nicht darin aufzugeben oder
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das Exil zu wählen. Ich kann das verstehen, wenn Menschen in andere Länder
gehen, um atmen zu können. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Wandel
von Innen kommen muss. Niemand kann von außen die Mauer zum Einsturz
bringen, nur die Menschen, die hinter ihr leben.
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