Dieter Nohlen 327 tinentaleuropäischem politischen System eine Exekutivstruktur, die der Persönlichkeit des Regierungschefs einen vergleichbar hohen potentiellen Stellenwert zuweist wie das Präsidentenamt der USA. Ebenso untypisch für die Mehrzahl westeuropäischer Systeme ist die ausgesprochen gewaltenteilig angelegte Staatsstruktur der USA, auf die sich Neustadts Überzeugung gründet, dass es vor allem auf das Überzeugungs- und Verhandlungsgeschick politischer Führungspersönlichkeiten ankomme. Literatur: Edward Corwin, The President: Office and Powers, New York 1940. Louis A. Fisher, The Politics of Shared Power: Congress and the Executive, 4. Aufl., Washington 1998. Don K. Price, Book Review, Presidential Power, in: American Political Science Review 54 (1960), S. 735-736. Ludger Helms Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie der Wahlsysteme, Opladen 1986 (VA: 4. Aufl., Opladen 2004). Das in mehrere Sprachen übersetzte Buch „Wahlrecht und Parteinsystem“, erstmals 1986 erschienen und seither mehrfach aktualisiert, basiert auf jahrzehntelanger Auseinandersetzung Dieter Nohlens mit der Thematik und präsentiert komprimiert dessen Erkenntnisse. Bereits 1969 war Nohlen als verantwortlicher Redakteur und Hauptautor an dem von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel herausgegebenen Band „Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane“ beteiligt. Er verfasste 1978 ein Buch über „Wahlsysteme der Welt“ und 1996 eines über „Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa“ (mit Mirjana Kasapović). Zudem gab er voluminöse Wahldatenhandbücher zu den Staaten Afrikas (1999), Asiens und Ozeaniens (2001), Nordund Südamerikas (2005). Ein einschlägiges Werk zu Europa ist in Vorbereitung. Seine Arbeiten zur Wahlsystemforschung sind international stark rezipiert worden. 328 Dieter Nohlen Das Buch, dessen Inhalt über den Titel hinausgeht, präsentiert in neun Kapiteln alle wesentlichen Aspekte zu Wahlsystemen. Das erste analysiert die Bedeutung, den Begriff und die Funktionen von Wahlen, das zweite die Voraussetzungen, den Verlauf und die Folgen der Ausbreitung des demokratischen Wahlrechts, das dritte Forschungsansätze zu Wahl- und Parteiensystemen. Besitzen diese kurzen Kapitel eher hinführenden Charakter, so stellen die nächsten drei unter der Überschrift „Wahlsystematik“ den Ansatz des Autors dar. Zunächst geht es um die Herausarbeitung der technischen Elemente von Wahlsystemen (Wahlkreiseinteilung, Wahlbewerbung, Stimmgebung, Stimmenverrechnung), dann um die Klassifikation von Mehrheits- und Verhältniswahl, schließlich um eine vergleichende Wahlsystemtypologie. Es schließen sich zwei Kapitel zu den Wahlsystemen der Welt an, zunächst überblicksartig im intraregionalen Vergleich, danach in Form von Fallstudien anhand unterschiedlicher Wahlsysteme: Großbritannien mit der relativen Mehrheitswahl, Frankreich mit der absoluten Mehrheitswahl, die Weimarer Republik mit der reinen Verhältniswahl, die Bundesrepublik Deutschland mit der personalisierten Verhältniswahl, Spanien mit der Verhältniswahl in Wahlkreisen unterschiedlicher Größe, Irland mit dem System der übertragbaren Einzelstimme (Single Transferable Vote), Russland mit einem segmentierten und Ungarn mit einem kompensatorischen Wahlsystem. Das letzte Kapitel untersucht systematisch den Zusammenhang von Wahlsystemen und Parteiensystemen. Dieser Aufbau ist abgesehen von Überschneidungen zwischen dem dritten und neunten Kapitel stringent. Das Buch, das in Verbindung mit anderen Studien des Verfassers zu sehen ist, hat einen zusammenfassenden wie weiterführenden Charakter. Nohlen begreift seinen Ansatz als „historisch-empirisch“. Er zeichnet sich durch die Orientierung am Einzelfall aus, durch Vergleiche und durch den Versuch einer systematischen Klassifikation. Dem Ansatz liegt nicht das Plädoyer für ein spezifisches Wahlsystem zugrunde, sondern die Ausrichtung an den Kontextfaktoren. Nohlen setzt sich damit von einem normativen Ansatz ebenso ab wie von einem empirisch-statistischen. Dem normativen Vorgehen wirft Nohlen vor, ein bestimmtes Wahlsystem ohne hinreichende Beachtung der Empirie zu bevorzugen, etwa bei Ferdinand A. Hermens’ Plädoyer für die Mehrheitswahl (→ Hermens 1941). Das empirisch-statistische Vorgehen, wie es u.a. Arend Lijphart (1994) praktiziert, verengt aus Sicht Nohlens dagegen insofern, als es sich auf den statistisch messbaren Teil der Wahlsysteme konzentriert. Beide Ansätze würden Kontextfaktoren vernachlässigen. Herkömmlich wurde die Verhältniswahl dadurch definiert, dass sie eine möglichst exakte Repräsentation der unterschiedlichen Richtungen anstrebt; Dieter Nohlen 329 die Mehrheitswahl dadurch, dass in einem Wahlkreis jener den Sitz erhält, der die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält. Diese Zuordnungen waren schief und Nohlen überwand sie mit seiner Typologie. Sein Verdienst für die Weiterentwicklung der Lehre von den Wahlsystemen liegt wesentlich darin, klar zwischen zwei Prinzipen unterschieden zu haben. Das Repräsentationsprinzip bezieht sich auf das gesamte Wahlgebiet, das Verteilungsprinzip auf den Wahlkreis. Das Repräsentationsprinzip der Mehrheitswahl will die Mehrheitsbildung fördern, das der Verhältniswahl strebt die Übereinstimmung von Stimmen- und Mandatsanteil an. Das Verteilungsprinzip Proporz besagt, dass in einem Wahlkreis die Stimmen proportional in Sitze umgesetzt werden. Beim Majorzprinzip erhält dagegen der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis das Mandat. Für den Autor gibt es auf der Ebene der Repräsentationsprinzipien keine Mischsysteme. Das ist jedoch umstritten. Segmentierte Wahlsysteme, bei denen ein Teil der Abgeordneten durch Mehrheitswahl, der andere durch Verhältniswahl bestimmt wird, liegen zwischen dem Repräsentationsprinzip der Mehrheitswahl und dem der Verhältniswahl. Gleiches gilt für die Wahl in Mehrmannwahlkreisen (natürliche Hürde) oder für ein Wahlsystem, das eine hohe Hürde von etwa zehn Prozent vorsieht (künstliche Hürde). Der Übergang zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl ist gleitend. Nohlen schreibt selbst davon, das segmentierte System könne als Wahlsystem durchaus Eigenständigkeit beanspruchen. Die Konsequenz aus seinem Ansatz, die Wahlsysteme zuerst danach zu bewerten, ob sie ihren Repräsentationsprinzipien Rechnung tragen, wirft ein Problem auf. Es ist dann nämlich ausschlaggebend, ob einem Wahlsystem das Repräsentationsprinzip Mehrheits- oder Verhältniswahl zugeschrieben wird. Nohlens exakte Aufbereitung der weltweiten Wahlsysteme (einschließlich der Reformdiskussionen) ermöglicht ihm ein fundiertes Urteil über die Auswirkungen der Wahlsysteme auf die Art des Parteiensystems. Er wendet sich entschieden gegen die These, es gäbe ein bestes Wahlsystem. Nohlen widerlegte mit seinem Buch gängige Annahmen. So zeigte er, dass die Zahl der Regierungswechsel nicht vom Wahlsystem abhängt, sondern mehr von den Strukturen des Parteiensystems. Die Behauptung, Wahlsysteme hätten gleichsam gesetzmäßige Auswirkungen, entbehre der empirischen Grundlage. Die Erklärungszusammenhänge seien komplexer. Für Nohlen beeinflussen Kontextfaktoren die Auswirkungen des Wahlsystems ganz entscheidend: die gesellschaftliche Struktur, die gesellschaftlichen Konfliktlinien, der Grad der Fragmentierung des Parteiensystems, dessen Institutionalisierungsgrad, das Interaktionsmuster der Parteien, die regionale Streuung der Wählerschaft 330 Dieter Nohlen und das Wählerverhalten. Die verstärkte Erforschung dieser Kontextfaktoren sei notwendig. Für Nohlen kann das Wahlsystem die Konsequenz eines spezifischen Parteinsystems sein, also eine abhängige Variable. Die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gibt ihm Recht. Wahlsysteme sollen laut Nohlen drei Funktionserwartungen Rechnung tragen: „Repräsentation im Sinne einer gewissen prozentualen Übereinstimmung von Stimmen und Mandaten, Konzentration im Sinne einer gewissen Begünstigung der Mehrheitsbildung durch eine Partei oder Parteienallianz und Förderung der Herausbildung eines strukturierten Parteiensystems, sowie schließlich Partizipation im Sinne der Auswahlchance des Wählers nicht nur unter Parteien, sonder auch unter Kandidaten“ (S. 425). Für den Autor entsprechen damit am besten jene Wahlsysteme den Funktionskriterien, die wie „Grabensysteme“ faktisch zwischen einem Mehr- und einem Verhältniswahlsystem angesiedelt sind. Dies mutet paradox an, weil solche Mischsysteme nach seiner Terminologie gar nicht vorkommen dürften. Nohlens Werk ist in theoretischer, systematischer und empirischer Hinsicht wegweisend für die vergleichende Wahlsystemforschung. Zu diesem Urteil kann auch kommen, wer nicht Nohlens strenge Scheidung zweier Repräsentationsprinzipien mitsamt den daraus abgeleiteten Konsequenzen teilt. Literatur: Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Ein Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1983, Düsseldorf 1985. Arend Lijphart, Electoral Systems and Party Systems, Oxford 1994. Dieter Nohlen/Michael Krennerich/Bernhard Thibaut (Hrsg.) Elections in Africa. A Data Handbook, Oxford 1999. Dieter Nohlen/Florian Grotz/Christof Hartmann (Hrsg.), Elections in Asia and the Pacific. A Data Handbook, 2. Bde., Oxford 2001. Dieter Nohlen, Elections in the Americas: A Data Handbook, 2. Bde., Oxford u. a. 2005. Dieter Nohlen, Wahlsysteme der Welt. Daten und Analysen. Ein Handbuch, München/Zürich 1978. Dieter Nohlen/Mirjana Kasapović, Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa, Opladen 1996. Eckhard Jesse