Wahl ohne Auswahl - von Volker von Prittwitz

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Volker von Prittwitz
Wahl ohne Auswahl?
Probleme des deutschen Wahlrechts im europäischen Vergleich
1. Parteien- und Personenwahl: Begriffe und Hypothesen
Mit der Bezeichnung Wahlen verbinden wir im allgemeinen die Vorstellung einer
demokratischen Entscheidung. Die politische Kurzformel in der Öffentlichkeit hierfür lautet
Freie Wahlen. Gemeint sind damit allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen
ohne zwingenden äußeren Druck, vor allem aber auch kompetitive Wahlen, in denen aus
unterschiedlichen Wahlangeboten ausgewählt werden kann, also Wettbewerb zwischen den
jeweiligen Anbietern besteht. Eine Wahl ohne Auswahl ist, den herrschend gewordenen
normativen Vorgaben der liberalen Demokratietheorie zufolge, keine Wahl, sondern lediglich
eine Wahlfarce. Dementsprechend hat die auf die Bundesrepublik Deutschland bezogene
Frage Wahl ohne Auswahl? prekären Charakter. Würden wir nämlich zum Ergebnis kommen,
es bestehe keine Auswahl, so bedeutete dies schlicht und ergreifend, dass wir in Deutschland
keine Demokratie hätten.
Übliches Kriterium zur Beurteilung der Frage nach kompetitiven Wahlen ist die
Auswahlmöglichkeit aus unterschiedlichen Parteien: Spätestens seit dem 20. Jahrhundert
gelten Parteien als wichtigste politische Organisationsform der Aggregation, Artikulation und
Vertretung politischer Interessen. Anders als die Honoratiorendemokratie, in der lediglich
einzelne besonders gebildete und begüterte Bürger den allgemeinen Volkswillen
auszudrücken suchten, ermöglicht die Parteiendemokratie die kollektive und damit
schlagkräftige Organisation von Interessen und eröffnet auch breiteren Volksschichten einen
organisierten Zugang zum politischen Prozess. Die Auswahlmöglichkeit aus
unterschiedlichen Parteien steht damit in hervorgehobener Weise für politische Pluralität
respektive moderne pluralistische Demokratie, der wohl wichtigste Grund dafür, dass sie von
der Hitlerdiktatur so hasserfüllt bekämpft wurde.
Auch in einer Sicht, nach der Parteien eine wichtige Rolle für die Demokratie spielen sollen,
bleibt das Individuum, hier der einzelne Abgeordnete, allerdings nicht normativ
bedeutungslos: Die Aggregation, Artikulation und Vertretung von Interessen vollzieht sich ja
letztlich immer vermittelt durch menschliche Individuen; Fähigkeiten und
Verantwortlichkeiten liegen gerade in einer Gesellschaft, die den Schutz der Menschenwürde
als obersten Leitwert betrachtet, nicht allein bei kollektiven Einheiten, sondern gerade auch
bei dem oder der Einzelnen. Und die menschliche Psyche ist nun mal primär auf die
Kommunikation mit Menschen ausgerichtet. Der Souverän Wähler möchte also gerne auch
Wahlalternativen zwischen Personen haben.
Personelle Wahlaspekte werden in der aktuellen Wahlsystemdiskussion vor allem unter zwei
Stichworten behandelt, Personenwahl und Präferenzstimmen. Als Personenwahl oder
individuelle Wahl wird die Wahl zwischen Einzelkandidaten unterschiedlicher Parteien
verstanden, eine Wahlform, die den Parteien die Auswahl ihrer (internen) Kandidaten
belässt.1 Von Präferenzstimmen (preferential voting) wird dagegen gesprochen, wenn die
Wähler das Recht haben, unter mehreren Kandidaten einer Partei einen oder mehrere
auszuwählen. Die rechtlich bedingte Fähigkeit der Wähler, über die personelle
1
Siehe dazu für das deutsche Wahlsystem Bundeswahlgesetz (BWG), Artikel 1 und Artikel 20.(BGBl.I. S. 1288,
1594, zuletzt geändert am 7. Mai 2002, BGBl. I S. 1529).
2
Zusammensetzung von Parlamenten zu entscheiden, lässt sich in einem Wort als
Personalisierungskompetenz der Wähler bezeichnen. Diese fehlt in Wahlsystemen, in denen
allein starre Parteienlisten zur Wahl stehen, völlig. Kann der Wähler lediglich zwischen
einzelnen Kandidaten unterschiedlicher Parteien wählen, ist seine
Personalisierungskompetenz gering. Das Präferenzstimmrecht schließlich gibt dem Wähler
große Personalisierungskompetenz.
Was leisten nun Wahlsysteme mit großer Personalisierungskompetenz des Wählers? Der
bisherige Stand der vergleichenden Forschung ist hierzu wenig eindeutig.2 Nach
Plausibilitätsannahmen und vorliegenden empirischen Versatzstücken scheinen mir jedoch
folgende Annahmen sinnvoll:
1. Personalisierungskompetenz der Wähler fördert die soziale Repräsentativität der
gewählten Parlamente, denn Wähler neigen grundsätzlich dazu, Kandidaten mit
eigenen Gruppenmerkmalen, so eigenem Geschlecht, eigener Schicht, eigener Ethnie,
eigener Religion, zu favorisieren. Mit dieser Annahme wird nicht bestritten, dass auch
andere Momente, insbesondere die quotierte Aufstellung von Kandidatenlisten, die
soziale Repräsentanz von Parlamenten fördern können.3
2. Personalisierungskompetenz der Wähler wirkt mäßigend auf den Parteienstaat. Denn
vor allem bei Präferenzstimmenrecht hängen die Wahlaussichten von
Parlamentskandidaten nicht nur von den Parteien, sondern gerade auch von der
Wählergunst ab. Ist die Parteienstimme mit der Personalstimme gekoppelt, so
kommen attraktive Kandidaten dem Wahlerfolg der sie aufstellenden Parteien zugute.
Die Parteiführungen werden bei der Aufstellung von Parteilisten oder
Direktwahlkandidaten also besondere Rücksicht auf den Wählerwillen nehmen.
3. Personalisierungskompetenz der Wähler erhöht die Akzeptanz des Wahlsystems und
damit die soziale Verankerung von Demokratie, da eine unmittelbare
Auswahlmöglichkeit von Personen dem überwiegenden Wählerwunsch entspricht.
4. Wahlsysteme, die Präferenzstimmen ermöglichen, sind üblicherweise komplexer als
Wahlsysteme ohne diese Stimmmöglichkeit. Angesichts dessen sind Wahlsysteme mit
großer Personalisierungskompetenz der Wähler umso sinnvoller, je besser die Wähler
die Kandidaten kennen. Dies ist in der Regel eher auf niedrigen institutionellen
Ebenen und in kleineren Wahleinheiten der Fall als auf hohen institutionellen Ebenen
und in größeren Wahleinheiten.
2. Personalisierungskompetenz des Wählers bei der Personalisierten Verhältniswahl?
Das deutsche Wahlsystem erlaubt eine freie Auswahl aus unterschiedlichen Parteien und
erfüllt damit eine fundamentale Voraussetzung freiheitlicher Demokratie. Neben der nach
dem Verhältniswahlprinzip durchgeführten Parteienwahl finden Personenwahlen zwischen
Wahlkreiskandidaten unterschiedlicher Parteien statt. Die Ergebnisse beider Wahlen werden
nach dem Verhältniswahlprinzip miteinander verrechnet. Dementsprechend ist für das
deutsche Wahlsystem die Kurzbezeichnung Personalisierte Verhältniswahl üblich.4
2
Siehe etwa Lauri Karvonen, Preferential Voting: Incidence and Effects, in: International Political Science
Review 25 (2004) 2, 203-220; Norbert Kersting, Nichtwähler. Diagnose und Therapieversuche, in: Zeitschrift für
Politikwissenschaft 14 (2004) 2, S. 403-427.
3
Zu den Gleichstellungseffekten von Quoten bei starrer Liste siehe Monique Leijenaar, Kees Niemöller,
Michael Laver u.a., Electoral systems in Europe: A Gender-impact Assessment, European Commission,
Directorate-General for Employment, Industrial Relations and Social Affairs, 1999, S. 49.
4
Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004, S. 305-307; problematisierend Volker
von Prittwitz, Vollständig personalisierte Verhältniswahl. Reformüberlegungen auf der Grundlage eines
3
Die vom Wähler getroffenen personellen Wahlkreisentscheidungen werden von den Parteien
allerdings häufig über so genannte sichere Listenplätze konterkariert. So gelangten in der
Bundestagswahl 2002 ca. 54 Prozent der Parlamentskandidaten sicher prognostizierbar, das
heißt unabhängig von maximalen Schwankungen der Wählerzustimmung zu einzelnen
Parteien, in den Bundestag.5 Besonders prekär erscheint diese wahlrechtlich gestützte Praxis
in Fällen, in denen Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis keine Wählermehrheit gefunden
haben, aber dennoch über eine Parteiliste in den Bundestag einziehen.6
Unter den Bundestagskandidaten einzelner Parteien können die Wähler in Deutschland
überhaupt nicht auswählen: Um die Erststimmen konkurrieren von den Parteien definitiv
ausgewählte Kandidaten (jeweils einer); in der Zweitstimmenwahl können lediglich starre, in
ihrer Zusammensetzung und Reihenfolge unveränderliche, Kandidatenlisten angekreuzt
werden. Ein Präferenzstimmenrecht sieht das deutsche Bundeswahlgesetz nicht vor.
Zusammenfassend ergibt sich eine sehr geringe Personalisierungskompetenz der Wähler zum
deutschen Bundestag.
3. Die Personalisierungskompetenz der Wähler im EU-Ländervergleich
Während kompetitive Parteienwahlen in allen EU-Ländern gesichert sind, unterscheidet sich
das Maß, in dem den Wählern ein Recht auf personelle Auswahl eingeräumt wird, in der
Europäischen Union erheblich. So standen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im
Juni 2004 sechzehn Länder mit Präferenzstimmenrechten neun Ländern ohne solche Rechte
gegenüber. Dieses zahlenmäßige Übergewicht nationaler Präferenzstimmenmodelle relativiert
sich allerdings dadurch, dass die bevölkerungsstärkeren Flächenländer Deutschland,
Frankreich, Großbritannien, Spanien und Polen bei den Europawahlen nach dem Prinzip der
starren Listen wählten (siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Präferenzstimmenmodelle bei den Wahlen zum Europaparlament 2004
Europa-Wahl 2004:
Konnte der Wähler zwischen mehreren Kandidaten
der selben Partei wählen?
ICELAND
Ja
FINLAND
NORWAY
Nein
RUSSIA
SWEDEN
ESTONIA
NORTH.
IRELAND
LATVIA
DENMARK
IRELAND
LITHUANIA
RUSSIA
UNITED
KINGDOM
BELO
RUSSIA
HOLLAND
BELGIUM
GERMANY
POLAND
LUXEMBOURG
UKRAINE
CZECH. REP.
SLOVAK REP..
FRANCE
MOLDAVIA
SWITZERLAND
AUSTRIA
HUNGARY
SLOVENIA
CROATIA
ROMANIA
BOSNIA HERCEGOVINA
PORTUGAL
SPAIN
ITALY
JUGOSLAVIA
BULGARIA
MACEDONIA
ALBANIA
GREECE
MALTA
TYRKEY
CUPRYS
Leistungsvergleichs der Wahlsysteme Deutschlands und Finnlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B
52/2003, S. 12-20.
5
Hans Herbert von Arnim, Wahl ohne Auswahl. Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die
Abgeordneten, in: Andreas Wüst (Hrsg.), Politbarometer. Festschrift für Dieter Roth, Opladen 2003.
6
Ebda.
4
Eigene Darstellung nach http://www.elections2004.eu.int/ep-election/sites/en/index.html (26.10.2004); Nohlen,
Dieter: Wie wählt Europa? Das polymorphe Wahlsystem zum Europäischen Parlament, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B17/2004, S. 29-37. In Abweichung von Dieter Nohlen wurde dem tschechischen Wahlsystem
zur EU-Parlamentswahl Präferenzstimmmöglichkeit zugeordnet. Quelle:
http://www.mvcr.cz/2003/volby/ep/info3de_volby_info.html (09.11.2004)
Abbildung 2: Personalisierungskompetenz der Wähler bei den letzten nationalstaatlichen
Wahlen in den heutigen EU-Mitgliedsländern
Personalisierungskompetenz der Wähler
bei den letzten nationalen Wahlen
ICELAND
groß
FINLAND
NORWAY
gering
RUSSIA
SWEDEN
ESTONIA
sehr gering
NORTH.
IRELAND
DENMARK
LATVIA
IRELAND
keine
LITHUANIA
RUSSIA
UNITED
BELO
RUSSIA
KINGDOM
HOLLAND
BELGIUM
GERMANY
POLAND
LUXEMBOURG
UKRAINE
CZECH. REP.
SLOVAK REP..
FRANCE
MOLDAVIA
SWITZERLAND
AUSTRIA
HUNGARY
SLOVENIA
CROATIA
ROMANIA
BOSNIA HERCEGOVINA
PORTUGAL
SPAIN
ITALY
JUGOSLAVIA
BULGARIA
MACEDONIA
ALBANIA
GREECE
MALTA
TYRKEY
CUPRYS
Eigene Darstellung nach Nohlen Dieter, Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004, S.203-206 und
219-221.
Bei den letzten nationalstaatlichen Wahlen wurde in 17 von 25 Ländern, nämlich in Irland,
Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen,
Polen, Tschechien, Österreich, Italien, Malta und Zypern, mit lose gebundenen Listen
beziehungsweise Präferenzstimmenmodellen und damit hoher Personalisierungskompetenz
gewählt. Geringe Personalisierungskompetenz ist demgegenüber in Großbritannien,
Frankreich und Griechenland gegeben (individuelle Personenwahl respektive Mischsystem),
sehr geringe Personalisierungskompetenz in Deutschland, Spanien und Ungarn (individuelle
Personenwahl mit starren Listen), und fehlende Personalisierungskompetenz in Portugal
(reine starre Liste).
4. Partizipation im EU-Ländervergleich: Personalisierungskompetenz und nationale
Referenden
Hinsichtlich der Frage, ob zur EU-Verfassung nationale Referenden durchgeführt werden
sollen, bestanden im Oktober 2004 unterschiedliche Ländergruppen: Einer im wesentlichen
westeuropäischen Ländergruppe, die sich sicher für ein Referendum entschieden hat (Irland,
Großbritannien, Portugal, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Holland, Dänemark), und einer
kleinen Gruppe, für die ein Referendum als wahrscheinlich gilt (Belgien, Polen, Estland),
sowie einer Gruppe mit unklarer Wahrscheinlichkeit (Italien, Tschechien, Slowakei,
Slovenien), steht eine Ländergruppe gegenüber, für die ein Referendum als unwahrscheinlich
gilt (Finnland, Schweden, Lettland, Litauen, Deutschland, Österreich, Ungarn, Griechenland,
5
Malta, Zypern).7 Berücksichtigen wir diesen Planungsstand und verzeichnen wir zusätzlich,
ob in EU-Ländern schon nationale Referenden durchgeführt worden sind, so ergibt sich eine
Bilanz von seltener Klarheit: Alle EU-Mitgliedsländer haben bereits zumindest ein
Referendum durchgeführt oder planen eines zur EU-Verfassung durchzuführen – mit
Ausnahme Deutschlands (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Zumindest ein nationales Referendum durchgeführt oder geplant
Nationale Referenden bisher oder geplant
ICELAND
Ja
FINLAND
NORWAY
Nein
RUSSIA
SWEDEN
ESTONIA
NORTH.
IRELAND
DENMARK
LATVIA
IRELAND
LITHUANIA
RUSSIA
UNITED
KINGDOM
BELO
RUSSIA
HOLLAND
BELGIUM
GERMANY
POLAND
LUXEMBOURG
UKRAINE
CZECH. REP.
SLOVAK REP..
FRANCE
MOLDAVIA
SWITZERLAND
AUSTRIA
HUNGARY
SLOVENIA
CROATIA
ROMANIA
BOSNIA HERCEGOVINA
PORTUGAL
SPAIN
ITALY
JUGOSLAVIA
BULGARIA
MACEDONIA
ALBANIA
GREECE
MALTA
TYRKEY
CUPRYS
Eigene Darstellung nach Ismayr, Wolfgang (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl., Opladen
2003; Ismayr, Wolfgang (Hrsg.), Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2002; Nohlen Dieter, Wahlrecht
und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004; http://www.bundestag.de/blickpunkt/Debatte/0406036.html
(23.10.2004)
Fassen wir diese Referendums-Bilanz mit dem EU-Länder-Vergleich der
Personalisierungskapazität bei nationalstaatlichen Wahlen zusammen, so akzentuiert sich die
Sonderstellung Deutschlands noch einmal negativ. Die Deutschen haben bei den nationalen
Wahlen nur geringe und bei den EU-Wahlen keine Personalisierungskompetenz. In der
Europäischen Union ist Deutschland zudem das einzige Land, das seinen Bürgern/innen auf
nationalstaatlicher Ebene bisher keinerlei Gelegenheit zu einer nationalen Volksabstimmung
eingeräumt hat.8 Nach diesen beiden Partizipationsgesichtspunkten nimmt Deutschland eine
Schlusslichtposition in der Europäischen Union ein. Deutschland ist, gemessen an Kriterien
der Abstimmungsdemokratie und der Auswahlmöglichkeit des politischen Personals, nicht
mit anderen EU-Ländern, sondern eher mit dem als prekär betrachteten Aufnahmekandidaten
Türkei vergleichbar. Auch die Türkei hat nämlich noch kein einziges Referendum zugelassen
und kennt nur starre Listen.9
7
Quelle: http://www.bundestag.de/blickpunkt/Debatte/0406036.html (23.10.2004)
Dies in eklatantem Gegensatz zu der in Artikel 21. Absatz 2 Grundgesetz enthaltenen prinzipiellen Festlegung
auf Wahlen und Abstimmungen als Kernelemente der deutschen Demokratie.
9
Dies mit einer 10-Prozent-Klausel; vgl. Dieter Nohlen (Anm. 4), S. 257.
8
6
5. Stilles Ringen um das Recht auf Personenauswahl in den EU-Mitgliedsländern
Wird die dargestellte Schlusslichtposition Deutschlands im EU-Vergleich öffentlich gemacht,
so könnte hieraus politischer Druck zugunsten größerer Partizipationschancen der
Bevölkerung in Deutschland entstehen. Die Referendumsproblematik ist im Sommer und
Herbst 2004 immerhin bereits öffentlich diskutiert worden.10 In der Wahlrechtsproblematik
allerdings findet bisher keine öffentliche Diskussion, sondern ein weitgehend stilles Ringen in
der Europäischen Union gerade unter dem Gesichtspunkt der Personenauswahl statt. Unter
den älteren EU-Mitgliedsländern sind die Wahlsysteme zum Europäischen Parlament bereits
seit Jahrzehnten umkämpfter Gestaltungsgegenstand. So wechselte Frankreich mit der ersten
Direktwahl zum EU-Parlament 1969 von der absoluten Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen
zur Verhältniswahl mit starrer Liste. Großbritannien tat sich schwerer mit der Aufgabe seines
traditionellen Wahlsystems relativer Mehrheitswahl und ging erst zu den EU-Wahlen 1999
zur Verhältniswahl mit starrer Liste über.
Die EU-Erweiterung im Mai 2004 stärkte zahlenmäßig das Lager der EU-Länder mit dem
Recht zur Personenauswahl: Von den zehn neuen Mitgliedsländern wählten in den
Europawahlen sieben Länder mit lose gebundenen Listen oder Präferenzstimmenlösungen
(Estland, Lettland, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Malta, Zypern), während drei Länder
(Litauen, Polen, Ungarn) mit starren Listen wählten.11 Bei den letzten nationalstaatlichen
Wahlen bestand eine noch klarere Mehrheit für die partizipativen Wahlsysteme (Ungarn als
einziges Land der zehn neuen Mitgliedsländer ohne Präferenzstimmmöglichkeit).12
Demgegenüber griff der ehemalige finnische Ministerpräsident Paavo Lipponen im Februar
2004 eine Initiative auf, das bisher in Finnland geltende EU-Wahlsystem mit lose gebundenen
Listen durch ein Wahlsystem mit starren Listen zu ersetzen.13 Diese Initiative stieß aber auf
kein politisches Echo: Nach einer zu der Änderungsinitiative im März durchgeführten GallupUmfrage in Finnland waren 76 Prozent der Befragten für die Beibehaltung des
personalisierten Wahlsystems und nur 14 Prozent für starre Listen.14 Die Finnen wissen
offensichtlich, was sie an ihrem Wahlsystem haben, nämlich eine Kombination der Personenund Parteienwahl, durch die die Macht des Parteienstaates begrenzt wird.
Unter diesen Rahmenbedingungen stellt sich die Frage: Wird der EU-Riese Deutschland die
anderen Mitgliedsländer auf seinen partizipationsarmen Kurs bringen oder aber sein Wahlund Abstimmungsrecht dem europäischem Partizipationsstandard anpassen?
10
Hierbei ergaben sich, gemessen an sonstigen Koalitionslinien, bizarre Konstellationen: Edmund Stoiber
(CSU), die FDP und Daniel Cohn-Bendit (Grüne) für ein Referendum, Kanzler Gerhard Schröder (SPD),
Außenminister Joschka Fischer (Grüne), Angela Merkel, Wolfgang Schäuble (CDU) gegen ein Referendum,
SPD und Grüne für eine neuerliche Initiative zugunsten direkter Demokratiemechanismen auf Bundesebene (Der
Tagespiegel vom 20.07.2004, S. 4; 21.07.2004, S. 4; 30.08.2004, S. 1; 31.08.2004, S. 1).
11
Siehe Abbildung 1. Dieter Nohlen, grundsätzlich Verfechter des deutschen Wahlsystems, stellte im Sommer
2004 (in: Wie wählt Europa? Das polymorphe Wahlsystem zum Europäischen Parlament, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B 17/2004, S. 33.) die große Zahl mittel-/osteuropäischer Länder mit Präferenzstimmenrecht
heraus.
12
Siehe Abbildung 2.
13
Helsingin Sanomat, 27.02.2004; Initiator war Jarmo Törneblom, pensionierter Beamter im Justizministerium
und früherer Wahlleiter in Finnland.
14
Helsingin Sanomat vom 17.03.2004.
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