Wirtschaftswunder, Planwirtschaft, Vereinigung und Transformation Rüdiger Pohl Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 endete nach über 40 Jahren die Teilung Deutschlands. Nachdem die sozialistische Planwirtschaft in der DDR gescheitert war, gilt für das vereinte Deutschland die soziale Marktwirtschaft. Seitdem steht das Land wirtschaftlich vor einer doppelten Herausforderung: dem Aufholprozess der neuen Länder zum westdeutschen Wirtschaftsniveau und der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland in einer globalisierten Welt. 쐃 EU und ausgewählte Industrieländer Durchschnittliche jährliche Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts 1991 - 2000 Durchschnittliche Veränderungsrate in % 8 7,2 7 6 5,5 5 4 3,2 3 2,9 2,8 2,7 2,4 2,4 2,3 2,3 2,3 2,2 2 1,9 1,9 1,9 1,6 1,4 1,0 1 0 IRL L USA NL P E GB A DK GR S B FIN F D I J CH © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 쐇 EU und ausgewählte Industrieländer Arbeitslosigkeit 2000 Standardisierte Arbeitslosenquote in % 12 11,3 11,0 10,4 10 9,8 8 9,3 7,8 6,9 6 5,6 5,4 4,7 4 4,4 4,3 4,1 4,0 3,7 3,5 2,8 2,6 2,3 2 0 E GR I FIN F D B S GB J DK IRL P USA A N NL CH L © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 22 Die Wirtschaft im vereinten Deutschland Aufholprozess Ost Mit der Öffnung der Grenzen im Herbst 1989 geriet die zuvor abgeschottete DDR-Wirtschaft unter einen internationalen Wettbewerbsdruck, dem sie nicht gewachsen war. Die Folge war 1990/91 ein massiver Einbruch der Produktion (Transformationsschock). Schlüsselaktivitäten auf dem Weg zur Marktwirtschaft waren die Einführung der D-Mark in der DDR im Juli 1990, die Privatisierung der staatseigenen Betriebe durch die Treuhandanstalt sowie die Einrichtung marktwirtschaftlicher Institutionen (Arbeitsmarkt u.a.). Die massive staatliche Förderung privater Investitionen unterstützte den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Die Finanzierung von Wirtschaftsförderung und sozialen Maßnahmen, die als Folge des Zusammenbruchs der DDR notwendig wurden, war und ist angesichts der schwachen ostdeutschen Wirtschaftskraft nur durch Mittelzuflüsse aus Westdeutschland zu bewältigen. Die Neuorientierung führte ab 1992 zu zuerst hohen, kurzzeitig zweistelligen Wachstumsraten �, die aber ab 1997 sogar unter die von Westdeutschland fielen. Was wie eine Krise der Transformation wirkt, ist letztlich die Folge eines notwendigen strukturellen Wandels. Der immense Nachholbedarf an Wohnungen modernen Standards, an Infrastruktur, gewerblichen und öffentlichen Gebäuden löste einen Bauboom aus. Gefördert durch Subventionen nahm die Bauproduktion von 1991 bis 1995 um 90% zu. Nachdem der Nachholbedarf weitgehend gedeckt war, kam es ab 1996 zu einer Normalisierung der Bauproduktion, was in diesem Fall bedeutete: Schrumpfung, mit dem Effekt einer dadurch stark gedrückten gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate. Die ostdeutsche Industrie hingegen entwickelte sich über das ganze Jahrzehnt hin dynamisch. Sie hat Zutritt zu den Weltmärkten gefunden, was ihre mittlerweile erworbene Wettbewerbsfähigkeit unterstreicht. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner erreichte die ostdeutsche Wirtschaft im Jahr 2000 einen Leistungsstand von 61% des westdeutschen Niveaus. Das ist zwar fast eine Verdopplung seit 1991 (33%), doch ist die Relation nach 1997 kaum mehr gestiegen. Der Aufholprozess wird erst weitergehen, wenn die Schrumpfung in der Bauwirtschaft zum Stillstand gekommen ist und zugleich die Dynamik der ostdeutschen Industrie anhält. Auch dann ist nicht mit einer vollen Angleichung in wenigen Jahren zu rechnen. Denn Ostdeutschland weist im Vergleich zu Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Unternehmen und Märkte Westdeutschland immer noch weniger und kleinere Unternehmen auf. Diese Lücke über Gründungsaktivitäten zu schließen, bleibt ein zeitraubender Prozess. Deutschland im Standortwettbewerb Der Blick auf Deutschland als Ganzes offenbart ein Bild mit Schattenseiten. Deutschland hat eine wohlhabende Volkswirtschaft mit einem leistungsfähigen Unternehmenssektor. Im Welthandel nimmt es unangefochten den zweiten Platz nach den USA ein. Jedoch ist die wirtschaftliche Dynamik im internationalen Vergleich schwach 쐃. Zugleich herrscht seit vielen Jahren eine hohe Arbeitslosigkeit �. Eine Ursache für diese akuten Probleme ist das Übermaß an einengenden staatlichen Regulierungen. Am Arbeitsmarkt halten weit ausgebaute Arbeitnehmerrechte die Kosten der Arbeit hoch – ein gravierendes Beschäftigungshemmnis. Auch die Abgabenlast aus Steuern und Sozialbeiträgen verharrt auf einem historisch hohen Niveau �. Deswegen wird der Ruf nach wirtschaftlichen Reformen immer lauter. Wirtschaft in Deutschland bis 1990 Die Teilung Deutschlands hat über mehr als vier Jahrzehnte hinweg die wirtschaftliche Entwicklung geprägt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die soziale Marktwirtschaft zur herrschenden Wirtschaftsordnung, in der DDR war es die sozialistische Planwirtschaft. Die westdeutsche Wirtschaft wurde in die marktwirtschaftlich ausgerichtete 쑺 Europäische Gemeinschaft eingebunden, die ostdeutsche in den sozialistisch organisierten 쑺 COMECON. Bundesrepublik Deutschland Die soziale Marktwirtschaft verbindet das Wettbewerbsprinzip – Koordination der Wirtschaftsaktivitäten durch freie Preisbildung bei privatem Eigentum an Produktionsmitteln – mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit. Die Konzeption erwies sich als sehr erfolgreich. Als Wirtschaftswunder wird die Phase von 1949 bis 1965 bezeichnet, in der die Wirtschaft mit hohen Raten wuchs � und zugleich die Arbeitslosigkeit überwunden wurde. Die Entwicklung war mit geringen Preissteigerungen, also stabilem Geld verbunden �. Erfolge am Weltmarkt prägten die Dynamik. Die Ausfuhrquoten stiegen von 17% (1960) auf 39% (1990). Seit Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich die Wirtschaft in Wachstumszyklen, die auch Rezessionen einschlossen. Das positive Gesamtbild der westdeutschen Wirtschaftsentwicklung trübte sich je- 쐋 Alte und neue Länder Jährliche Veränderung des Bruttoinlandsprodukts 1992-2003 in Preisen von 1995 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % 12 10 neue Länder ohne Berlin Deutschland 8 alte Länder ohne Berlin 6 4 2 0 92 941995 96 97 98 99 2000 01 02 03 -2 -4 © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 COMECON – engl. Council for Mutual Economic Assistance; im Westen übliche Bezeichnung für den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), am 25.1.1949 gegründeter wirtschaftlicher Zusammenschluss der Ostblockstaaten, 1991 aufgelöst Europäische Gemeinschaft – gegründet am 25.3.1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG); später in Europäische Gemeinschaften (EG) und dann Europäische Union (EU) umbenannt doch seit den 1970er Jahren ein. Mit der Rezession von 1975 ging die Vollbeschäftigung verloren. Aufgrund außenwirtschaftlicher Ursachen (Ölkrisen) war die Geldwertstabilität bedroht. � Abgabenquote 1960-2003 Steuern und Sozialversicherungsbeiträge in % des Bruttoinlandsprodukts 50 42,8 40 33,4 24,0 20 10 25,9 16,9 10,4 0 1960 40,5 41,3 36,6 30 23,0 Abgabenquote 43,2 12,6 1970 Steuern 23,6 16,9 24,6 22,7 18,6 18,6 Sozialversicherungsbeiträge 1980 1990 1960 bis 1990 nur alte Länder © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 2000 03 쐆 DDR Bruttoinlandsprodukt 1970 - 1989 in den jeweiligen Preisen Mrd. M 350 328 300 쐄 250 Alte Länder Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 1950 - 1990 in Preisen von 1991 Tsd. DM 100 32,8 50 1970 1980 1985 1989 10,0 Die wirtschaftliche Dynamik hat der Bevölkerung eine im Ganzen erhebliche Steigerung ihres Lebensstandards gebracht. Sichtbarster Indikator war der Anstieg der Produktivität (Vervierfachung von 1950 bis 1990). An der Steigerung der Leistungskraft war die Bevölkerung mit entsprechenden Lohnsteigerungen beteiligt. 0 1970 1980 1990 Bundesrepulik Deutschland einschließlich Berlin West nach dem Gebietsstand bis zum 3.10.1990; Gebietssprung 1959 / 60 in den Daten des Statistischen Bundesamtes durch Verkettung überbrückt © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 Doch auch die Wirtschaftspolitik hat in dieser Zeit Weichen falsch gestellt. Die kräftige Ausweitung der Sozialleistungen vor allem in den 1970er Jahren führte zu einer drastisch steigenden Abgabenlast � – ein Hemmnis für die Entfaltung der Wirtschaft. Deutsche Demokratische Republik Die Wirtschaft der DDR stand im Zeichen sozialistischer Planwirtschaft. Das Privateigentum an Produktionsmitteln war abgeschafft, freies Unternehmertum wurde unterbunden. Statt des Preismechanismus koordinierten staatliche Pla- 쐂 Alte Länder Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit und Preisindex 1950 - 1993 Pro zent 12 10 8 6 4 2 0 1955 Mio. DDR Erwerbstätige 1970-1989 9,73 9,2 1960 1975 © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 18,0 1950 쐊 0 25,4 10 176 140 150 30 20 221 200 39,8 40 286 nung und Lenkung die Wirtschaftsentwicklung. Die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren wie das BIP – in jeweiligen Preisen gerechnet – zeigten zunächst positive Entwicklungen �. Die Erwerbstätigkeit stieg ebenfalls �; es gab keine offene Arbeitslosigkeit. Die Verbraucherpreise blieben über lange Zeiträume stabil. Doch dahinter verbargen sich in Wahrheit prekäre wirtschaftliche Verhältnisse. Die Stabilität reflektierte nicht stabile Produktionskosten, sondern eine 1960 1965 1970 1980 1985 1975 -2 Bruttoinlandsprodukt, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % Arbeitslosenrate in % Preise, Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % -4 -6 1950 Bundesrepulik Deutschland einschließlich Berlin West nach dem Gebietsstand bis zum 3.10.1990; Gebietssprung 1959/60 in den Daten des Statistischen Bundesamtes durch Verkettung überbrückt © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 1990 9,75 9,47 9,5 9,00 9,0 deswegen Steuern und Abgaben hoch. Damit der Aufbau Ost weiter vorankommt, bedarf es vor allem einer Wirtschaftspolitik, die Deutschland als Ganzem zu mehr Dynamik verhilft, denn letztlich kann die ökonomische Transformation der neuen Länder nur in einem dynamisch wachsenden Deutschland vorankommen. An die Stelle der gescheiterten DDR-Wirtschaft eine selbsttragende ostdeutsche Wirtschaft zu setzen, ist gleichwohl ein generationenübergreifender Prozess.웇 쐎 8,74 8,5 DDR Berufstätige in den produzierenden und nichtproduzierenden Bereichen 1949 - 1989 Berufstätige in Mio. 3,5 0 1970 1975 1980 1985 1989 Industrie 3,0 produzierendes Handwerk © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 2,5 immer höhere staatliche Subventionierung der Preise. Das Wachstum war nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass die ostdeutsche Wirtschaft vor der Konkurrenz kostengünstigerer und qualitativ überlegener Produkte aus dem Ausland weitgehend abgeschottet wurde. Im Außenhandel musste die DDR immer höhere Kosten aufwenden, um eine Deviseneinheit zu verdienen. Die Auslandsverschuldung gegenüber westlichen Volkswirtschaften brachte die DDR in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit. Trotz erheblicher Investitionen erreichten die Innovationen vielfach nicht die Weltstandards. Die DDR war schließlich nicht mehr in der Lage, dem Verfall des Kapitalstocks (Wohnungen, Infrastruktur, öffentliche Gebäude) Einhalt zu gebieten. Die Vollbeschäftigung wurde damit erkauft, dass in den Betrieben eine wirtschaftlich nicht gerechtfertigte Überbeschäftigung hingenommen wurde. Im Vergleich zur Wirtschaft in der Bundesrepublik fiel die DDR-Wirtschaft immer mehr zurück. Das Bruttosozialprodukt je Einwohner, welches schon 1950 schätzungsweise nur zwei Drittel des westlichen Niveaus erreicht hatte, lag 1989 nur noch bei 40%. Das wirtschaftliche Scheitern der DDR ist im Kern darauf zurückzuführen, dass das System der sozialistischen Planwirtschaft versagt hat. Um die Anpassungslasten des Transformationsprozesses für die ostdeutsche Bevölkerung zu mildern, wurde (und wird) ein erheblicher Teil vor allem sozialer Leistungen durch Transferzahlungen aus Westdeutschland aufgebracht. Dies wirkt im früheren Bundesgebiet wachstumshemmend, sind doch auch Bauwirtschaft 2,0 Land- und Forstwirtschaft 1,5 Verkehr, Postund Fernmeldewesen Handel 1,0 sonstige produzierende Zweige 0,5 0 1950 nichtproduzierende Bereiche insgesamt 1960 1970 1980 1989 © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 쐅 Alte Länder Erwerbstätigenstruktur 1950-1990 Erwerbstätige im Inland nach Sektoren Erwerbstätige in Mio. 14 12 10 produzierendes Gewerbe 8 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei 6 Handel und Verkehr Staat, private Haushalte u.a. 4 Dienstleistungsunternehmen 2 0 1950 1960 1970 1980 1990 Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin West nach dem Gebietsstand bis zum 3.10.1990; Gebietssprung 1959/60 in den Daten des Statistischen Bundesamtes durch Verkettung überbrückt © Leibniz-Institut für Länderkunde 2004 Wirtschaftswunder, Planwirtschaft, Vereinigung und Transformation 23