Kapitel 2 Lagrangesche Mechanik Hier entwickeln wir eine elegante und einfache Betrachtungsweise der Newtontheorie, die eine Verallgemeinerung für quantenmechanische und relativistische Systeme ermöglicht. 2.1 Einleitung/Motivation Wir haben bis jetzt den Zugang zur Mechanik über die Newtontheorie gewählt. Im Wesentlichen erfasst man die Bewegung eines zusammengesetzten Systems durch die Bewegung seiner Bestandteile (meist “Teilchen”) und derer Wechselwirkung, also der Kräfte die zwischen ihnen wirken. Da wir wissen, dass die Materie atomistisch ist, erscheint dieser Zugang für eine große Anzahl an Phänomenen realistisch. Aber sehr oft sind die Ortskoordinaten und Impulse der Teilchen nicht wirklich zweckmäßig, um ein System zu analysieren, es gibt besser geeignete Koordinaten, um das System zu beschreiben. Betrachten wir zum Beispiel das ebene Pendel (siehe Fig. 2.1(a)), dann gibt es eine einzige Koordinate, die sich ändert, der Winkel. Es ist also eigentlich ein 1–dimensionales Problem, die Bewegung erfolgt zwar in 2 Dimensionen, ist aber auf einen Kreis gezwungen. Daher ist es sicher dem Problem besser angepasst, wenn man den Winkel als Koordinate auffasst. Bei dem Lagrange–Hamiltonschen Zugang zur Mechanik werden daher im Allgemeinen nicht die Teilchenkoordinaten als dynamische Variable verwendet, sondern so genannte “generalisierte” Koordinaten qα (t), wobei α = 1, 2, . . . , f die f verschiedenen Freiheitsgrade bezeichnet. Im obigen Beispiel “Pendel” wäre q = φ. Für ein Doppelpendel haben wir 2 Freiheitsgrade (siehe Fig. 2.1(b)), q1 = φ1 , q2 = φ2 . Man versucht also wirklich nur die relevanten und unabhängigen Variablen für die Beschreibung zu verwenden. Im Allgemeinen stellen wir uns vor, dass es prinzipiell möglich sein sollte, 49 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik (a) (b) Abbildung 2.1: (a) Zeigt die generalisierte Koordinate des Pendel und (b) die generalisierten Koordinaten eines Doppelpendels. die Teilchenkoordinaten aus den generalisierten Koordinaten und umgekehrt berechnen zu können qα = qα (~r (1) , ~r (2) , . . . , ~r (N ) , t) α = 1, 2, . . . , f (n) (n) ~r = ~r (q1 , q2 , . . . , qf , t) n = 1, 2, . . . , N (f ≤ 3N ) . (2.1) (2.2) Nun versucht man nicht die Bewegungsgleichungen der generalisierten Koordinaten durch Einsetzen der Transformationen der Teilchenkoordinaten zu gewinnen (das haben wir ja zum Beispiel beim Pendel gemacht φ̈ = − gl φ), damit würden wir nichts Neues gewinnen, sondern man wählt einen anderen Ausgangspunkt, das Hamiltonsche Wirkungsprinzip, das Prinzip der kleinsten Wirkung. Mathematisch ist es ein Variationsproblem. Die Bewegungsgleichungen sind die Euler–Langrangeschen Gleichungen dieses Variationsproblems. D.h. an die Stelle von Ansätzen für Kräfte tritt ein Ansatz für eine Funktion der generalisierten Koordinaten, d.h. wir müssen eine solche Funktion “erraten” und nicht mehr “Kräfte”. Wir werden sehen, dass dies oft viel einfacher ist. Aber es gibt noch viel mehr Vorteile durch diese Methode. Der Formalismus kann weit über die Mechanik hinaus verwendet werden, er gestattet eine allgemeine Formulierung von “Dynamik” eines Systems im Laufe der Zeit. D.h. so können z.B. quantenmechanische Systeme behandelt werden, aber auch Systeme mit kontinuierlich unendlich vielen Freiheitsgraden (Feldtheorien) und relativistische Systeme. Alle 4 fundamentalen Wechselwirkungen (schwache, starke, elektromagnetisch, gravitative) können mit diesem Formalismus behandelt werden! 50 2.2. Generalisierte Koordinaten und deren Geschwindigkeiten Auch die größere Einfachheit bei einer sehr großen Klasse von Problemen ist ein Vorteil. Weiters –wie wir sehen werden– erkennt man viel besser die Zusammenhänge zwischen Geometrie und Physik (Symmetrien und Erhaltungssätze,. . . ). Für manche Probleme ist aber dieser Zugang auch Newtonstheorie unterlegen. Reibungskräfte sind schwer zu behandeln. Historisch hat sich der Hamiltonsche–Lagrangesche Formalismus durch das Problem der Zwangskräfte ergeben. Bei einem Pendel übt der Faden die Zwangskraft auf die Masse aus, die im Gleichgewicht mit der entsprechenden Komponente der Gravitationskraft steht. Beim ebenen Pendel ist es noch nicht schwer diese zu beschreiben, aber denkt man an das Doppelpendel, dann ist es gar nicht mehr einfach, zu erkennen, wo welche Zwangskraft, die sich ja auch noch zeitlich ändert, angreift. Also schon das Doppelpendel ist à la Newton schwer zu lösen, mit Lagrange ist es ganz einfach (wie wir sehen werden). Mehr noch, es ist ganz klar, wie eine Verallgemeinerung zu einem Dreifach–, Vierfach–,. . . Pendel auszuschauen hat. Zwangskräfte treten sehr oft auf, man denke nur an mechanische Maschinen. Zusammenfassend ist der Hamiltonsche–Lagrangesche Zugang das Tor zur Modernen Physik und daher denke ich, sollte eine zukünftige Lehrkraft die Grundideen verstehen, obwohl man diesen Zugang in dieser Form in der Schule nicht unterrichten kann. Und wenn man sich in die Materie ein wenig “reingetigert” hat, wir man auch feststellen, dass es gar nicht so schwer ist und vielleicht auch ihre Schönheit bewundern. :-) 2.2 Generalisierte Koordinaten und deren Geschwindigkeiten Prinzipiell sollten generalisierte Koordinaten qα , die Lage eines Systems zum Zeitpunkt t festlegen, stetig und mindestens 2 mal nach der Zeit t ableitbar sein. Die erste Ableitung nach der Zeit q̇α nennt man generalisierte Geschwindigkeit. Wie wir von Newton wissen, braucht man zur Lösung seiner Differentialgleichungen die Anfangsbedingungen r(n) (t0 ) und ṙ(n) (t0 ). Genauso ist es für die generalisierte Koordinate, wir müssen qα (t0 ) und q̇α (t0 ) kennen. Die Angabe von 2f Zahlen qα (t0 ), q̇α (t0 ) soll damit ausreichen, das “Schicksal” des betrachteten Systems für alle t ≥ t0 vorauszusagen, d.h. auszurechnen. Das bedeutet, dass man die q̈α berechnen kann und die entsprechende Differentialgleichung 2. Ordnung werden wir die “Euler–Lagrangeschen” Bewegungsgleichungen nennen. Ihre Integration gibt dann die “Bahnkurven” des Systems, wobei hier Bahnkurve oft in einem sehr abstrakten Sinne zu ver51 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Abbildung 2.2: Sphärisches Pendel stehen ist. Denken wir an das Pendel, erhalten wir eine Bahnkurve für einen Winkel. Der Lagrangeformalismus liefert Differentialgleichungen 2. Ordnung für die f Variablen qα (t). Der Hamiltonformalismus ist dazu eine Alternative, bei der man anstatt der generalisierten Geschwindigkeiten q̇α sich geeignete generalisierte Impuls pα definiert (haben normalerweise nichts mit dem kinetischen Impuls zu tun). Die entsprechenden Hamiltonschen Bewegungsgleichungen bilden ein System 1. Ordnung für die 2f (kein Vorteil ohne Nachteil) Variablen (qα , pα ) (graphisch können diese im Phasenraum veranschaulicht werden, den wir beim harmonischen Oszillator kennen gelernt haben). Beide Formalism beruhen auf dem gleichen Prinzip, sind also das Gleich nur unterschiedlich betrachtet. 2.3 Wie erfolgt eine Bewegung? Der Lagrange–Hamiltonsche Zugang basiert auf einem Extremalprinzip, konkret geht es um ein Minimum eines Integrals, das die Wirkung ist. Dieses Integral über eine gewisse Funktion L, die Lagrangefunktion heißt, ist der Ausgangspunkt, d.h. er ist nicht zu beweisen, und es gilt diese Funktion zu “erraten”. Analog muss auch ein Kraftansatz für die Newtonsche Mechanik erraten werden. Um eine Formulierung des Prinzips zu erhalten, gehen wir davon aus, dass das betrachtete System durch die folgende Lagrangefunktion gegeben ist L(qα (t), q̇α (t), t) = L(q1 (t), q2 (t), . . . , qf (t), q̇1 (t), q̇2 (t), . . . , q̇f (t), t) . (2.3) 52 2.3. Wie erfolgt eine Bewegung? Physiker neigen dazu sich das Leben so leicht wie möglich zu machen, daher werden wir in Zukunft nur noch q schreiben, aber qα (t) meinen, analog q̇; d.h. die obige Funktion schreiben wir auch so L(q, q̇, t) . (2.4) Wir werden auch sehen, dass das Grundkonzept unabhängig von der Anzahl der Freiheitsgrade f und damit Anzahl von den generalisierten Koordinaten ist. Das Wirkungsprinzip (Hamiltonsches Prinzip der kleinsten Wirkung) lautet dann: Die Bewegung eines Systems verläuft für Zeiten t0 ≤ t ≤ t1 so, dass das Integral, die Wirkung, Z t2 S= L(q, q̇, t) dt t1 ein Minimum annimmt. Schauen wir uns mal ein konkretes Beispiel an, den senktrechten Wurf. Wie wir wissen ist die Bewegungsgleichung à la Newton gegeben durch F = m z̈ = −m g (2.5) ż = −g t + v0 . (2.6) und einmal integrieren gibt Damit ist die Lösung der Bewegungsgleichung durch die Bahnkurve g (2.7) z(t) = − t2 + v0 t + z0 2 gegeben. Die generalisierte Koordinate ist hier also einfach die Höhe, q = z. Die graphische Bahn für die Bewegung sieht dann so aus: 53 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Stellen wir uns folgendes vor, wir müssen die obige Bahn errechnen, kennen aber nur den Wert von z für t = t0 , also q(t0 ), und für t = t1 , also q(t1 ). Wir können man uns viele verschiedene Bahnen vorstellen, wie wir diese zwei Punkte verbinden können: Für jeden Weg berechnen wir jetzt das Integral, also den Zahlenwert S. Mathematisch ist es gar nicht so schwer, das Minimum zu finden, wie es vielleicht zunächst aussieht. Wir suchen ja nicht einen Punkt (bzw. eine Zahl), sondern eine Kurve, die Funktion q(t), also eine Differentialgleichung. Nennen wir die wirkliche Bahn q(t), jede andere, “falsche” Bahn, können wir durch qF (t) = q(t) + δq(t) (2.8) bezeichnen. Klarerweise muss die Funktion δq(t) für t0 und t1 verschwinden, also δq(t0 ) = δq(t1 ) = 0 , (2.9) da wir ja wollen, dass alle betrachteten Bahnen durch den betrachteten Anfangs- bzw. Endpunkt gehen sollen. Unser Ziel ist es also, dass δq(t) immer kleiner wird, hier ein Beispiel (die Werte von δq(t) sind in der unteren Kurve dargestellt): 54 2.3. Wie erfolgt eine Bewegung? und hier ein besseres Beispiel: Wenn man qF einigermaßen gut “erraten” hat, wird δq(t) im ganzen Intervall klein gegen q(t). Und wie sieht es mit der Ableitung aus: q̇F = q̇ + δ q̇ = d d q + δq . dt dt (2.10) Auch δ q̇ wird klein gegen q̇, falls qF nicht zu “eckig” ist. Betrachten wir jetzt den Unterschied der Wirkung Z t1 Z t1 δS = L(q + δq, q̇ + δ q̇, t) dt − L(q, q̇, t) dt (2.11) t0 t0 und machen eine Taylorentwicklung zur 1. Ordnung (Trick: ξ = q + δq): ¾ Z t1 ½ ∂L(q, q̇, t) ∂L(q, q̇, t) δS = L(q, q̇, t) + δq + δ q̇ + O(2) dt ∂q ∂ q̇ t0 Z t1 − L(q, q̇, t) dt t0 ¾ Z t1 ½ ∂L(q, q̇, t) dδq ∂L(q, q̇, t) = δq + + O(2) dt . (2.12) ∂q ∂ q̇ dt t0 Durch partielle Integration im letzten Term erhalten wir (O[2] wir ab jetzt weggelassen) ¶ µ µ ¶ ¾ Z t1 ½ d ∂L(q, q̇, t) d ∂L(q, q̇, t) ∂L(q, q̇, t) δq + δq − δS = δq dt ∂q dt ∂ q̇ dt ∂ q̇ t0 ¯t ¾ Z t1 ½ d ∂L(q, q̇, t) ∂L(q, q̇, t) ∂L(q, q̇, t) ¯¯ 1 δq − δq ¯ (2.13) = δq · dt + ∂q dt ∂ q̇ ∂ q̇ t0 t0 55 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Der letzte Term verschwindet, da wir δq(t0 ) = δq(t1 ) vorausgesetzt haben. Wir verlangen jetzt laut Wirkungsprinzip δS = 0 (2.14) und da δq zwar klein, aber willkürlich ist, muss der Integrand verschwinden ∂L(q, q̇, t) d ∂L(q, q̇, t) − =0. ∂q dt ∂ q̇ (2.15) Das ist die Euler–Lagrange Bewegungsgleichung für unser Problem! Da wir alles ganz allgemein gehalten haben, gilt diese Differentialgleichung für q(t) für beliebige Probleme. Falls wir mehrere Freiheitsgrade f haben, gilt für jeden Freiheitsgrad einzeln die obige Herleitung und damit folgt ¾ f Z t1 ½ X ∂L(qα , q̇α , t) d ∂L(qα , q̇α , t) δS = − δqα · dt + O[2] . ∂q dt ∂ q̇ α α t 0 α=1 (2.16) und wir sehen, dass in jedem Summanden alle q außer qα als gegeben aufgefasst werden müssen (partielle Ableitung). Damit haben wir das Ziel erreicht: Für ein beliebiges Problem mit f Freiheitsgraden gilt die folgende Bewegungsgleichung für die verallgemeinerten Koordinaten: ∂L(qα , q̇α , t) d ∂L(qα , q̇α , t) − =0 ∂qα dt ∂ q̇α α = 1, 2, . . . , f . (2.17) Ihre Lösungen bestimmen damit die Dynamik, also die zeitliche Entwicklung des Systems. Aber wie “errät” man die Funktion L? 2.4 Wie “errät” man die Lagrangefunktion? Kommen wir zurück zu unserem Beispiel, dem senktrechten Wurf. Die Bewegungsgleichung lautet (siehe Gleichung 2.5) m q̈ = −m g . (2.18) Diese soll sich ergeben durch d ∂L(q, q̇, t) ∂L(q, q̇, t) = . dt ∂ q̇ ∂q 56 (2.19) 2.4. Wie “errät” man die Lagrangefunktion? Setzen wir mal die Lagrangefunktion durch L = c1 q + c2 q̇ an, dann ergibt die folgende Gleichung 0 = c1 . (2.20) Die rechte Seite wäre ja schon mal ok, falls wir die Konstant c1 = −mg setzen. Aber die linke Seite führt sicher zu keiner Bewegungsgleichung. Wir müssen also für L immer Potenzen in q̇ ansetzen, die mindestens größer 1 sind. Machen wir den folgenden Ansatz für L = −m g q + c2 q̇ k mit k ≥ 2 , (2.21) Dann ergibt die Euler–Lagrangesche Bewegungsgleichung k(k − 1) c2 q̇ k−2 q̈ = −m g . (2.22) Diese Gleichung stimmt mit Gleichung (2.18) überein, falls wir k = 2 (nur dann verschwindet q̇) und c2 = m/2. Damit haben wir die Euler–Lagrangesche Bewegungsgleichung für den senktrechten Wurf gefunden L(q, q̇, t) = m q̇ 2 − mg q . 2 (2.23) Das kommt uns aber sehr bekannt vor, zur Erinnerung q = z! Der erste Term ist nichts anderes als die kinetische Energie und der zweite Term ist die potentielle Energie!! Also die Lagrangefunktion ist die Differenz der kinetischen Energie und der Potentiellen Energie L = Ekin − U !! Gilt das Allgemein? Wir haben ja ein sehr spezielles Beispiel behandelt. Aber die Antwort ist ja, im Falle von konservativen Kräfte (und nicht relativistisch), ist die obige Aussage richtig. Für nicht konservative oder relativistische Kräfte kann man aber auch den Lagrangeformalismus verwenden, man muss das entsprechende U , das nicht (nur) die potentielle Energie ist, erraten. Man sieht hier gleich einen Vorteil dieses Formalismuses, man muss nicht die 3N Kraftkomponenten für N Teilchen erraten, sondern nur die Funktion U für die f Freiheitsgrade. Weiters ist der Formalismus so allgemein, dass man auch für quantenmechanische und relativistische Systeme das richtige Mittel zur Hand hat. Bevor wir weitere allgemeine Eigenschaften von L betrachten, diskutieren wir noch weitere Bespiele à la Lagrange. Das ebene Pendel: Wie bereits diskutiert, kann man als generalisierte Koordinate einfach den Winkel φ nehmen (siehe Abbildung 2.1 (a)). Die Bewegungsgleichung m l2 φ̈ = −m g l sin φ lautet (à la Newton Rückstellkraft 57 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik oder über Potential (Energieerhaltung)). Schauen wir mal, ob wir das mit der oben erworbenen Strategie hinbekommen. Die kinetische Energie ist gegeben durch m ẋ2 m ẏ 2 m ż 2 m l2 φ̇2 + + = , 2 2 2 2 Ekin = (2.24) wobei wir fürs letzte Gleichheitszeichen die Polarkoordinaten eingesetzt haben. Die potentielle Energie ist durch U (z) = m g l + m g z = m g l(1 − cos φ) (2.25) und damit haben wir die folgende Lagrangefunktion L = m l φ̇2 + m g l cos φ (2.26) und wir berechnen den zu φ kanonisch konjugierten Impuls zu pφ = ∂L = m l2 φ̇ , ∂ φ̇ (2.27) das ist natürlich der Drehimpuls! Mit ∂L = −mg l sin φ folgt die Bewegungsgleichung ∂φ d ∂L ∂L = dt ∂ φ̇ ∂φ −→ m l2 φ̈ = −m g l sin φ . (2.28) Das Doppelpendel: Diesen Fall haben wir noch nicht diskutiert und er wäre auch sehr schwer à la Newton. Aber mit dem Lagrangeformalismus ist es ein Kinderspiel! Zunächst ist klar, wir haben jetzt 2 Freiheitsgrade, also 2 generalisierte Koordinaten haben, φ1 , φ2 (siehe Abbildung 2.1 (b)). Die Polarkoordinaten für die zwei Massen m1 , m2 lauten x1 (t) y1 (t) z1 (t) x2 (t) y2 (t) z2 (t) = = = = = = l1 sin φ1 0 −l1 cos φ1 l1 sin φ1 + l2 sin φ2 0 −l1 cos φ1 − l2 cos φ2 . (2.29) Die kinetische Energie ist gegeben durch Ekin = m2 2 m1 2 (ẋ1 + ẏ12 + ż12 ) + (ẋ + ẏ22 + ż22 ) 2 2 2 58 (2.30) 2.4. Wie “errät” man die Lagrangefunktion? und die potentielle Energie durch U = m1 g z1 (t) + m2 g z2 (t) . (2.31) Und damit nach Einsetzen haben wir bereits die Lagrangefunktion m1 + m2 2 2 m2 2 2 L = l1 φ̇1 + l φ̇ + m2 l1 l2 φ̇1 φ̇2 cos(φ1 − φ2 ) 2 2 2 2 +(m1 + m2 ) g l1 cos φ1 + m2 g l2 cos φ2 . (2.32) Aus dieser folgt durch simples Differenzieren die Bewegungsgleichung (siehe Übungen). Nach dem gleichen Rezept folgt die Bewegungsgleichung für ein Dreifach–, Vierfach–,. . . Pendel. Sphärisches Pendel: Dieses kann durch 2 verallgemeinerte Koordinaten φ, θ beschrieben werden (siehe Abbildung 2.2) x = l sin θ cos φ y = l sin θ sin φ z = −l cos θ l = const. (2.33) Dann ergibt sich die Lagrangefunktion zu ml2 2 (θ̇ + sin2 θ φ̇2 ) − m g l(1 − cos θ) (2.34) 2 Für die Bewegungsgleichung brauchen wir die verallgemeinerten Impulse L = ∂L = m l2 θ̇ ∂ θ̇ ∂L = = m l2 sin2 θ φ̇ ∂ φ̇ pθ = pφ (2.35) und ∂L = ml2 sin θ cos θφ̇2 − m g l sin θ ∂θ ∂L = 0. ∂φ (2.36) Bei der letzen Gleichung haben wir 0 erhalten, da diese verallgemeinerte Koordinate nicht in L vorkommt, diese nennt man zyklisch und ist von physikalischer Bedeutung (siehe auch nächsten Abschnitt). Die zwei Bewegungsgleichungen lauten damit m l2 θ̈ = m l2 sin θ cos θ φ̇2 − m g l sin θ d (m l2 sin2 θ φ̇) = 0 −→ pφ = m l2 sin2 θ φ̇ = const. dt (2.37) 59 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Das sphärische Pendel dreht sich immer im gleichen Sinn um die z–Achse, schneller für kleines θ. Der zu φ konjugierte Impuls ist also eine Erhaltungsgröße. Das tritt immer auf, wenn die dazugehörige verallgemeinerte Koordinate nicht explizit in der Lagrangefunktion vorkommt, also eine so genannte zyklische Koordinate ist. Wir werden sehen, dass allgemein gilt, dass aus einer Symmetrie eine Erhaltungsgröße folgt (hier haben wir es mit einer Rotationssymmetrie bezüglich z–Achse zu tun). Ein weiter Vorteil des Lagrange Formalismuses. Ein Massenpunkt im äußeren konservativen Kraftfeld: Hier sind die kartesischen Koordinaten die besten generalisierten Koordinaten. Die Lagrangefunktion ist L(x1 , x2 , x3 , ẋ1 , ẋ2 , ẋ3 ) = m 2 (ẋ + ẋ22 + ẋ23 ) − U (x1 , x2 , x3 ) 2 1 (2.38) gegeben. Folglich haben wir 3 Euler–Langrange Bewegungsgleichungen d ∂L ∂L = dt ∂ ẋi ∂xi i = 1, 2, 3 . (2.39) Und die verallgemeinerte Impulse sind ∂L = m ẋi = pi ∂ ẋi (2.40) und die rechte Seite der Euler–Langrange Bewegungsgleichungen ist ∂L ∂U = − = Fi , ∂xi ∂xi (2.41) natürlich nichts anderes als die Kraft, damit haben wir die Newtonschen Bewegungsgleichungen wie wir sie kennen d (mẋi ) = Fi . dt (2.42) Perle entlang starrem Stab: Eine Perle (Kugel mit Loch) sei reibungsfrei an einem Stab gefädelt. Der Stab rotiert um eine Achse unter dem Winkel β. Um festzustellen wie viele Freiheitsgrade es gibt, betrachten wir die Zwangsbedingungen an die Perle. Der Winkel mit der Drehachse β ist konstant, daher: cos β = p z x2 + y 2 + z 2 p −→ z − x2 + y 2 + z 2 cos β = 0 . 60 (2.43) 2.5. Erhaltungssätze und Symmetrien Die Winkelgeschwindigkeit ist auch konstant, daher lautet die 2. Zwangsbedingung: tan(ωt) = y x −→ y − tan(ωt) = 0 . x (2.44) Wir brauchen 3 Koordinaten, um die Perle zu lokalisieren, und haben 2 Zwangsbedingungen, daher haben wir einen Freiheitsgrad. Als verallgemeinerte Koordinate bietet sich der Abstand vom Ursprung an, r(t), und wir wählen daher die folgenden Koordinaten für unser Problem x = r(t) sin β cos(ωt) y = r(t) sin β sin(ωt) z = r(t) cos β . (2.45) Diese Koordinaten erfüllen die zwei Zwangsbedingungen identisch (einfach einsetzen), daher haben wir die richtigen Koordinaten für das Problem gewählt. Damit errechnet sich die Lagrangefunktion zu L= m 2 (ṙ + r2 ω 2 sin2 β) − m g r cos β 2 (2.46) und damit die Euler–Lagrange Bewegungsgleichung zu r̈ = r ω 2 sin2 β − g cos β . (2.47) Diese Differentialgleichung ist vom Typ q̈ = q und uns bereits bekannt, die Lösung ist r(t) = Aeω sin βt + g cos β . ω 2 sin2 β (2.48) Wer glaubt, dass dieses Beispiel à la Newton leicht ist, soll es probieren. 2.5 Erhaltungssätze und Symmetrien Betrachten wir ein freies Teilchen in einem Inertialsystem, dessen Lagrangefunktion besteht nur aus dem kinetischen Anteil L = m ~r˙ 2 61 2 . (2.49) Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Wenn man nun ein Inertialsystem wählt, dass um einen konstanten Vektor ν ~n mit |~n| = 1, ν ∈ R verschoben ist (Translation) ~r 0 (t) = Tν ~r (t) = ~r (t) + ν ~n (2.50) dann lautet die Lagrangefunktion in dem neuen Koordinatensystem L0 = m ~r˙ 0 2 m ~r˙ = 2 2 2 = L. (2.51) Die Lagrangefunktionen L, L0 sind identisch, daher invariant unter der Transformation Tν und damit ändern sich natürlich auch nicht die Bewegungsgleichungen. Die Lagrangefunktion eines freien Teilchens ist auch rotationssymmetrisch, da diese nur vom Betrag der Geschwindigkeit abhängt; die Transformationsvorschrift ist in diesem Fall für kleine Winkeln ν, um die Drehachse ~n (ganz analog zu Abschnitt 1.13.2) ~r 0 = Tν ~r = ~r + ν ~n × ~r + O(ν 2 ) . (2.52) Ganz allgemein kann man einen Zusammenhang zwischen einer Invarianz der Lagrangefunktion unter einer Symmetrietransformation herstellen. Nehmen wir an wir haben eine solche Invarianzeigenschaft für die Lagrangefunktion L(q, q̇, t), also L(Tν q, d d (Tν q), t) = L(q, q, t) dt dt (2.53) unter einer kontinuierlichen Transformation q → Tν q; Tν=0 q = q. Nun diffe62 2.5. Erhaltungssätze und Symmetrien renzieren wir beide Seiten der obigen Gleichung nach ν, wir erhalten ¯ ¯ ∂ d L(Tν q, (Tν q), t)¯¯ = 0 ∂ν dt ν=0 ¯ ¯ ¯ ¯ ∂L ∂ ∂L ∂ d −→ (Tν q)¯¯ + (Tν q)¯¯ = 0 ∂q ∂ν ∂ q̇ ∂ν dt ν=0 ν=0 |{z} d ∂L dt ∂ q̇ =⇒ =⇒ ½ ¾¯ ¯ d ∂L ∂ = 0 (Tν q) ¯¯ dt ∂ q̇ ∂ν ν=0 ¯ ¯ ∂L ∂ = const (Tν q)¯¯ ∂ q̇ ∂ν ν=0 (2.54) Wenn wir mehrere verallgemeinerte Koordinaten haben, dann haben wir einfach die Summe über alle Freiheitsgrade zu nehmen. Kommen wir zu unserem ersten Beispiel, ein freies Teilchen unter räumlicher Translation, Gl. (2.50), zurück und wenden die obige Gleichung an (hier gilt ~q = ~r): ¯ ¯ ∂ (Tν ~q)¯¯ = ~n ∂ν ν=0 ∂L ni = m ~r˙ · ~n = m ~v · ~n = const . (2.55) =⇒ ∂ ẋi Da der Vektor ~n beliebig ist, folgt daraus, dass der Impuls m ~v zeitlich konstant ist. Damit haben wir aus der räumlichen Translationsinvarianz die Impulserhaltung (3 Parameter) hergeleitet! Somit haben wir das Noether–Theorem gefunden, das die Mathematikerin Amalie Emmy Noether (1882-1935) im Jahre 1918 (in allgemeinerer Form) gefunden hat: Aus der Invarianz von der Lagrangefunktion L unter einer kontinuierlichen Symmetrietransformation q → Tν q; Tν=0 q = q folgt =⇒ ¯ f X ¯ ∂L ∂ = const (Tν q)α ¯¯ ∂ q̇α ∂ν ν=0 α=1 (2.56) und damit aus L eine Erhaltungsgröße. Das tolle daran ist, dass dieses Theorem im Wesentlichen genauso in der Quantenmechanik, in der klassischen Feldtheorie und in der Quantenfeldtheorie (QFT) gilt (in der Quantentheorie gibt es zusätzlich noch diskrete Symmetrien). Dass eine Symmetrie mit einer Erhaltungsgröße verknüpft ist, ist eine grundlegende Erkenntnis der Theoretischen Physik! 63 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Außerdem ist es ein wesentliches Hilfsmittel bei der Formulierung der Lagrangefunktion der fundamentalen Wechselwirkungen! Betrachten wir als weiteres Beispiel, dass L invariant unter räumlichen Drehungen, Gl. (2.52), ist: ¯ ¯ ∂ = ~n × ~r (Tν q)¯¯ ∂ν ν=0 ∂L ~ = const . =⇒ (~n × ~r)i = p~ · (~n × ~r) = ~n · (~r × p~) = ~n · L ∂ ẋi (2.57) ~ in ~n–Richtung. Wir erhalten damit die Komponente des Drehimpulses, ~n · L, Da wieder ~n beliebig ist, folgt, dass der Drehimpuls zeitlich konstant ist. Damit folgt aus der Rotationsinvarianz die Drehimpulserhaltung (3 Parameter). Beim sphärischen Pendel hatten wir gesehen, dass die Koordinate φ nicht in L vorkommt, also eine zyklische Koordinate ist. Aus ihr folgt pφ konstant ist. Das sieht man, auch mit Hilfe des Noether–Theorems. Wählen wir ~n in Richtung der z–Achse und variieren φ, erkennt man das L, Gl. (2.34), invariant bleibt und das Noether–Theorem ergibt Lz konstant. Betrachten wir eine zeitliche Translation Tν q(t) = q(t + ν) (2.58) und nehmen wir den Fall an, dass L nicht explizit von der Zeit t abhängt, d.h. ∂L =0, ∂t (2.59) dann gilt ¯ ¯ ¯ ¯ ∂ ∂ ¯ = = q̇(t) (Tν q(t))¯ q(t + ν)¯¯ ∂ν ∂ν ν=0 ν=0 ∂L q̇ = const ∂ q̇ (2.60) und weiters ¯ X ∂L ¯ d ∂L ∂ = L(q(t + ν), q(t + ν))¯¯ q̇α + q̈α ∂ν dt ∂q ∂ q̇ α α ν=0 α = 64 d L(q(t), q̇(t)) = 0 , dt (2.61) 2.5. Erhaltungssätze und Symmetrien das nichts anderes bedeutet, als dass L(q(t), q̇(t)) konstant sein muss. Damit kann man die folgende Konstante E definieren X ∂L E = q̇α − L(q(t), q̇(t)) (2.62) ∂ q̇α α Welche physikalische Größe ist E? Wir können zunächst mal ein Beispiel betrachten. Die Lagrangefunktion von einem Teilchen in einem Potential U ist gegeben durch L= m ~r˙ 2 − U (|~r|) . 2 (2.63) Damit ergibt sich E zu m~r˙ 2 m~r˙ 2 + U (|~r|) = + U (|~r|) (2.64) 2 2 und damit nichts anderes als die Energie! Das war natürlich ein spezielles Beispiel. Um es allgemein zeigen zu können, betrachten wir die Ableitung nach der Zeit und nach einer kurzen Rechnung sieht man (UE) E := m~r˙ 2 − d ∂L E = − . (2.65) dt ∂t Damit haben wir gezeigt, dass falls die Lagrangefunktion nicht explizit von der Zeit t abhängt, die Energieerhaltung gilt! Wir werden diese Fragestellung noch mal im Abschnitt 2.7 aufwerfen. Jetzt haben wir fast alle Möglichkeiten der 10 verschiedenen Galileitransformationen verwendet. Es fehlt noch der Galileiboost. Dazu müss das Noethertheorem ein wenig verallgemeinert werden. Wir haben dies bereits für die Zeitranslationssymmetrie gemacht. Erweitertes Nöther–Theorem: Falls die Lagrangefunktion unter der Transformation sich durch eine totale Funktion der Zeit ändert, also: ¯ ¯ d ∂ d = L(Tν q(t), (Tν q(t)), t)¯¯ f (q(t), q̇(t), t) ,(2.66) ∂ν dt dt ν=0 dann gibt es die folgende Erhaltungsgröße: ¯ f X ¯ ∂L ∂ − f (q, q̇, t) = const. (Tν q)α ¯¯ ∂ q̇ ∂ν α ν=0 α=1 65 (2.67) Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Genau dieses haben wir bei der Zeitranslationssymmetrie benützt bzw. hergeleitet. Betrachten wir die folgende spezielle Galileitransformation Tν ~r = ~r + ν ~n t , (2.68) wobei ~n ein beliebiger Einheitsvektor ist und damit ~n t := ~v die Geschwindigkeit, mit der sich ein anderes Inertialsystem bewegt. Betrachten wir weiters N Teilchen unter dem Einfluss einer Kraft, die nur vom Abstand der Teilchen untereinander abhängt. Es gilt für den Ortsvektor des n-ten Teilchens Tν ~r (n) = ~r (n) + ν ~n t . (2.69) Die Lagrangefunktion L ändert sich bei dieser Transformation ³ ´2 N m(n) ~ r˙ (n) + ν ~n X 1X U (|~r (n) − ~r (m) |) L(. . . , Tν ~r (n) , . . . ) = − 2 2 n=1 n6=m | {z } unabhängig von ν (2.70) nur um eine totale Zeitableitung (es gilt also das erweiterte Nöther–Theorem): ¯ ¯ N N X X ¯ ∂L ¯¯ (n) ˙ (n) ¯ ⇒ = m (~r + ν ~n) · ~n¯ = m(n) ~r˙ (n) · ~n ∂ν ¯ν=0 ν=0 n=1 n=1 N X d ~n · m(n) ~r (n) . = dt n=1 Nun brauchen wir nur noch ¯ ¯ ∂ (n) ¯ Tν ~r ¯ = ~n t ∂ν ν=0 für alle n = 1, . . . , N (2.71) (2.72) zu berechnen und erhalten −→ N X n=1 p~ (n) · ~n t − ~n · N X ~ m(n) ~r (n) = ~n · (P~ t − M R(t)) = const, (2.73) n=1 ~ wie zuvor definiert haben, wobei wir die Massenmittelpunktskoordinate R also durch ~ R(t) = N 1 X (n) (n) m ~r (t) . M n=1 66 (2.74) 2.6. Welche Eigenschaften erleichtern das Erraten von L noch? Da ~n beliebig war, folgt, dass aus der Geschwindigkeitstransformation die Erhaltung des Massenmittelpunktsbewegung (3 Parameter) ~ ~ 0 + 1 P~ t R(t) = R M (2.75) führt. Bemerkung: Da die räumliche Translationsinvarianz der potentiellen Energie die Galileiinvarianz der potentiellen Energie impliziert, ist es nicht verwunderlich, dass die Massenmittelpunktsbewegung aus der Impulserhaltung folgt. Zusammenfassend haben wir gezeigt, dass für die Galileigruppe mit 10 unabhängigen Parametern durch das Nöther–Theorem 10 Erhaltungsgrößen folgen: Invarianz Erhaltungsgröße zeitliche Translation Energieerhaltung (1 Parameter) räumliche Translation Impulserhaltung (3 Parameter) Drehungen Drehimpulserhaltung (3 Parameter) Geschwindigkeittransformation Massenmittelpunktsbewegung (3 Parameter) 2.6 Welche Eigenschaften erleichtern das Erraten von L noch? Hier eine Zusammenfassung: • Wir haben bereits erkannt, damit eine Bewegungsgleichung resultiert, q̇α in L mindestens quadratisch vorkommen muss. • Multipliziert man L mit einer Konstanten, so ändert sich die Bewegungsgleichung nicht. Das kann man zum Skalieren verwenden. • Addiert man zu L eine Konstante, dann ändert sich die Bewegungsgleichung nicht. • Addiert man zu L ein totale Zeitableitung, so ändert sich die Bewegungsgleichung nicht (siehe UE): L −→ L0 = L(q, q̇, t) + 67 d F (q, q̇, t) . dt (2.76) Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik • Besteht ein System aus zwei Teilsystemen A und B, die jeweils abgeschlossen sind und damit in keiner Wechselwirkung stehen, dann setzt sich die Lagrangefunktion des Gesamtsystems additiv aus denen der Teilsystem zusammen: LA+B = LA + LB . • Hat man zwei Teilsystemen A und B, die miteinander wechselwirken, dann kann man folgenden Ansatz wählen: LA+B = LA (qA , q̇A , t) + LB (qB , q̇B , t) + LW (qA , qB , q̇A , q̇B , t) . (2.77) Damit muss man “nur” LW erraten. Oft kommt es vor, dass zwar System A von System B beeinflusst wird, dass aber die Rückwirkung von A auf B vernachlässigbar ist (Beispiel: Satellit/Erde). Aber Achtung, das bedeutet keinen Widerspruch zu actio = reactio; natürlich sind die entsprechenden Kräfte entgegengesetzt, aber die Massen der System können sich stark voneinander unterscheiden. Daher kann man als niedrigste Lösung die Bewegung in B durch Lösen von ∂LB ∂qB = d ∂LB dt ∂ q̇B (2.78) (0) erhalten und die Lösung qB = qB (t) in LA+B einsetzen. Zur Herleitung der Bewegungsgleichung von A kann man dann (0) (0) (0) LA+B = LA (qA , q̇A , t) + LW (qA , qB , q̇A , q̇B , t) , (2.79) da LB nicht mehr zur Bewegungsgleichung beiträgt. Das System A bewegt sich daher unter dem Einfluss der Kräfte, die B “von außen” (0) (d.h. bei vorgegebener Bewegung qB ) auf A ausübt. Man nennt diese Näherung eine “Bewegung im äußeren Feld”, wobei man hier schön erkennt, dass das Wort “Feld” sich auf das von B erzeugt Potential bzw. die zugehörigen Kräfte bezieht (siehe auch Abschnitt 1.4). • Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist natürlich jede Symmetrietransformation, bei der die Bewegungsgleichungen ihre Form behalten, eine Einschränkung an L und hilft beim “Erraten” der Funktion. 2.7 Der Lagrange– und Hamiltonformalismus Wie wir gesehen haben, sind die Lagrangegleichungen das Analogon zu den Newtongleichungen 2. Ordnung. Wir können uns also die Frage stellen, ob es auch ein Gegenstück zu den Newtonschen Gleichungen 1. Ordnung gibt? 68 2.7. Der Lagrange– und Hamiltonformalismus Dazu brauchen wir ein Gegenstück zu der generalisierten Koordinate qα , hier bietet sich der generalisierte Impuls an pα = ∂L . ∂ q̇α (2.80) Diese Größe nennt man auch kanonischen Impuls, die Variablen qα , pα heißen zueinander kanonisch konjugiert. Als nächsten Punkt beschäftigen wir uns nochmals mit der Frage, welcher Ausdruck im kanonischen Formalismus der Energie entspricht und unter welchen Umständen diese erhalten ist (vergleich auch mit Abschnitt 2.5). L selbst kommt als Energie sich nicht in Frage, für ein konservatives System ist sie ja L = Ekin − U und nicht L = Ekin + U , ist aber doch nahe an der Energie dran. Betrachten wir einmal die Zeitableitung von L µ ¶ dL ∂L X ∂L ∂L = + q̇α + q̈α dt ∂t ∂q ∂ q̇ α α α µ ¶ ∂L X ∂L + q̇α + pα q̈α = ∂t ∂q α α ∂L X + (ṗα q̇α + pα q̈α ) , (2.81) = ∂t α wobei wir bei letzten Gleichheitszeichen die Bewegungsgleichung genützt haben. Der P letzte Term ist nichts anderes als die Zeitableitung von α pα q̇α , d.h wir haben dL ∂L d X = + pα q̇α dt ∂t dt α =⇒ dH ∂L = − (2.82) dt ∂t X mit H(qα , pα , t) = pα q̇α − L(qα , q̇α , t) . α Die Größe H heißt Hamiltonian (wir haben sie bereits beim harmonischen Oszillator kennengelernt). Wir sehen hier auch sehr schön, dass Ergebnis aus Abschnitt 2.5, falls L nicht explizit von der Zeit abhängt, ist die rechte Seite gleich Null und damit H erhalten und natürlich umgekehrt, falls H zeitlich konstant ist, dann hängt L nicht explizit von der Zeit ab. 69 Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik Nun können wir auch die Bewegungsgleichungen 1. Ordnung anschreiben, die Hamiltonschen Gleichungen: ∂H ∂pα ∂H = − ∂qα q̇α = (2.83) ṗα (2.84) Die Hamiltonschen Gleichungen erfüllen wie L auch das Wirkungsprinzip. Man erkennt sofort die Symmetrie von q und p (bis auf ein Vorzeichen) in den Bewegungsgleichungen. Sie kann formal (und das kann man auch in der Quantenmechanik) soweit getrieben werden, dass es letztlich willkürlich erscheint, was man “Impuls” oder was man “Koordinate” nennt. Wie wir schon beim harmonischen Oszillator gesehen haben, kann man q und p in einem 2f –dimensionale Raum zusammenfassen, der so genannte Phasenraum des betrachteten Systems. Er ist zum Beispiel in der statistischen Mechanik ein gutes Konzept, wo der Limes von einem mikroskopischen System, das den Quantengesetzen gehorcht, zu einem System mit vielen Teilchen vollzogen werden soll. 70