Woyzeck 2.0 – Traumfalle Uraufführung der Neuen Oper Wien Eine Kammeroper in 13 Bildern, Musik & Libretto: Markus Lehmann-Horn Ein Tanz der Illusion vor dem Abgrund der Wirklichkeit Das Gefühl in den Abläufen und Strukturen seines Lebens gefangen zu sein… die Sehnsucht, aus den Routinen des Alltags auszubrechen, sein gewohntes Umfeld zu verlassen und den vorgegebenen Konventionen des gesellschaftlichen Reglements zu entfliehen… bloß um einmal wieder das Leben in vollen Zügen genießen zu können, um für einen Moment die Freiheit zu spüren, ganz allein über sein Schicksal entscheiden zu können, um neue Wege einzuschlagen, einmal etwas Anderes, vielleicht sogar etwas Verbotenes zu tun, ohne dabei an die Konsequenzen zu denken… Wem sind solche Gedanken nicht – zumindest ansatzweise – vertraut? Auch wenn derartige Wunschvorstellungen meist reine Hirngespinste und Gedankenkonstruktionen bleiben, die als Tagträume eine willkommene Abwechslung zum Alltagstrott bieten, so beinhalten sie doch den verborgenen Hoffnungsschimmer, in einer Phantasiewelt fernab der Realität das ersehnte Glück zu finden. Zweifellos bieten sich in unserer gegenwärtigen Zeit zahlreiche Möglichkeiten um diverse Ausstiegsszenarien durchzuspielen und verschiedenste Formen der Flucht aus der Realwelt zu erproben. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und der krisenhaften Zustände wird die Tendenz, Hoffnung in Illusion zu setzen und Auswege in Traumwelten zu erkennen noch verstärkt. Die Angst vor dem Verlust der Freiheit, vor Einsamkeit, vor dem Scheitern in Berufs- und Familienleben, sowie vor Konfliktbewältigung wird zur Triebfeder der Konstruktion von Phantasiewelten, die nur abgehoben von der Realität existieren. Fehlender Mut und Resignation lassen die Flucht in Illusionen leichter erscheinen, als das Verändern seiner tatsächlichen Situation. Denn in diesen Traum-Welten ist alles möglich, was im realen Leben so unerreichbar scheint. Dort ist man selbst seines Glückes Schmied und baut sich, frei nach seinen individuellen Idealbildern ein neues, besseres Leben auf. Dieser Schein bleibt solange bestehen, bis man einen "Abgleich" zwischen Realität und Phantasie wagt, bis man versucht, seine Traumwelt in die Wirklichkeit zu transportieren und sie mit anderen Menschen zu teilen. Darauf folgt die schlagartige Erkenntnis, dass man in seiner Illusion nur alleine existieren kann. Das Erwachen aus der Traumwelt wird zu einer bösen Überraschung, die Realität holt den Träumenden ein. Der glückliche Traum wird zum Alb-Traum, kommt er mit der Wirklichkeit in Berührung. Wie leicht diese Genzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen können wird in Markus Lehmann-Horns Kammeroper "Woyzeck 2.0 – Traumfalle" deutlich. Das Werk, in dessen Zentrum dieser schmale Grat zwischen Schein und Realität steht, wird zu einer sensiblen, ausdrucksstarken und gleichsam bedrückenden Studie menschlicher Gefühlszustände am Grenzgang zwischen realem und fiktivem Leben. Im Zentrum der rund 90-minütigen Oper stehen die Schauspielerin Klara, die im Theater gerade die Figur der Marie in Büchners "Woyzeck" verkörpert und der inhaftierte Mörder Georg Mühl. Mühl, der in der Zeitung von Klaras erfolgreicher Theateraufführung gelesen hat, bittet sie in einem Brief um die Zusendung des Librettos. Neugierig geworden kommt Klara diesem Wunsch nach und es entspinnt sich ein immer intensiver werdender Briefwechsel. Sukzessive verstricken sich die beiden Charaktere in der Konstruktion ihrer illusorischen Liebe und entfliehen – im Glauben nun endlich einen Hoffnungsschimmer in ihrem ausweglosen Leben gefunden zu haben – in eine ihnen fremde (Traum-) Welt. Zum ersten Mal fühlt sich Georg – ausdrucksstark verkörpert von Johann Leutgeb – nicht auf seine Schandtat reduziert. In Klara erkennt er eine Perspektive für sein Leben nach der Gefangenschaft, an die er sich hoffnungsvoll klammert. Aber auch Klara – in einer eindrucksvollen Darstellung von Jennifer Davison interpretiert – fühlt sich als Gefangene. Obgleich sie als Schauspielerin große Erfolge feiert, verkörpert sie zunächst die Opferrolle, die sich in der Enge und Oberflächlichkeit des Theaterbetriebs eingesperrt und unglücklich fühlt. Ihre Theaterrollen bestimmen ihr Leben, einsam und ausweglos erscheint ihr das wirkliche Dasein, in dem sie sich voll Selbstmitleid immer tiefer in eine Leidenschaftsspirale hineinsteigert. All ihre Wünsche und terz : Kritik Woyzeck 2.0 - Traumfalle Seite 2 von 5 Hoffnungen projiziert Klara nun in die Briefe und ihre Illusion der Person Georgs. Aus anfänglichem Mitleid entwickeln sich scheinbar echte Gefühle. Die Beiden verlieben sich in die Briefzeilen des Anderen und in die Wunschvorstellung eines gemeinsamen, endlich erfüllten Lebens. Als es schließlich zum ersehnten Treffen zwischen ihnen kommt – Klara inszeniert dafür das perfekte Dinner in ihrer luxuriösen Wohnung – wird die Phantasie zur Realität, Klaras Theaterrolle zur Wirklichkeit. Das Traumbild ihres Georgs entpuppt sich als Trug ihrer Illusion, die reale Person wird zur Verkörperung ihres schlimmsten Albtraums. Georg, tätowiert, unbeholfen grob und nicht gerade manierlich bekundet seiner Gastgeberin zwar immer wieder seine Dankbarkeit, jedoch ist er vor allem von ihrem teuren Geschirr, dem Plattenspieler und ihren Kochkünsten fasziniert – was nach acht Jahren Gefängnisküche bei ersten Ausflug in die Freiheit auch nicht verwunderlich ist. Für Klara jedoch bedeutet dieses Treffen mit einem Schlag das brutale Erwachen aus ihrer Traumwelt, die plötzliche Klarheit ihrem Trugbild gegenüberzustehen, lässt die "Traumfalle" zuschnappen. In größter Panik und mit der Situation vollkommen überfordert ergreift sie die Flucht, wirft Georg aus ihrer Wohnung und rettet sich zurück in die ihr bekannte Theaterwelt. Wie immer gratulieren die Kollegen ihr nach der gelungenen Aufführung des "Woyzeck" – "Klara spielt die Rolle nicht, sie ist sie". Den Ausgangspunkt für die 13 Szenen der Komposition Lehmann-Horns stellt die Novelle „Suchbild Woyzeck“ von Michael Schneider dar. Schon seit Längerem auf der Suche nach einem geeigneten Opernstoff, faszinierte Lehmann-Horn der Inhalt sofort. Er entsprach seinem Interesse, eine Oper mit konkreter Handlung zu entwerfen, wobei ihn vor allem die Beschäftigung mit der Vorlage Alban Bergs "Wozzeck" reizte. Zudem bot auch die außermusikalische Ebene der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kunst- und Kulturbetrieb, die in Form von Szenen aus Theaterproben zum Ausdruck kommt, einen spannenden Ansatzpunkt für Lehmann-Horn. "Woyzeck 2.0" sei keine Vertonung des Dramas von Georg Büchner, er habe lediglich einige Figuren des Dramenfragments entliehen, erklärt Lehmann-Horn seine Herangehensweise an diesen, keineswegs einfach zu behandelnden Stoff. Sein Versuch glückte jedoch und so schuf der Komponist aus dem Sujet eine überaus ausdrucksstarke, berührende Musik, die – ganz im Sinne der angestrebten Gleichberechtigung von Wort und Komposition – zum handlungstragenden- und treibenden Element wird und in welcher sich Text und Instrumentalspiel organisch miteinander verbinden. Hier kommt dem, erst 35-jährigen Lehmann-Horn wohl auch seine Erfahrung als Filmkomponist zugute, durch die er gewohnt ist, Musik passend zu den präzisen Zeitvorgaben einzelner Szenen oder Dialoge zu komponieren, eine Qualität, die seiner Musiksprache einen besonders unmittelbaren und reizvollen Ausdruck verleiht. Der mit "Explosion Wozzeck" überschriebene Beginn der Partitur lässt bereits in Zitaten Alban Berg anklingen: mehrere Themen werden dabei übereinander geschichtet, sodass die Hörer vom ersten Moment an in die dichten und spannungsgeladenen Klangwelten des Werkes eintauchen können. Die kontrastreiche Musik unterstreicht das Geschehen auf der Bühne und hilft mit die Phantasiewelt aufzubauen sowie der momentanen Gefühlswelt der Protagonisten Ausdruck zu verleihen. So changiert sie zwischen zarten, gefühlsvollen, leisen, sphärischen, aber auch pulsierenden, dissonanten, clusterhaften Klängen, die, sich immer mehr zuspitzend, die Ausweglosigkeit des bevorstehenden Erwachens aus der Traumwelt vorwegnehmen und damit die Angst vor dem Zerplatzen der "Traum-Blase" unterstreichen. Lehmann-Horn reizt die spieltechnischen Möglichkeiten des, mit 17 Instrumenten besetzten Kammerensembles weit aus. Besonders dem Schlagwerk weist er eine bedeutende Rolle zu, Akkordeon und Harfe unterstützen indes den Aufbau der sphärischen, sensibel-zarten Klangwelt der Oper. Durch das Klavier, das auf der Bühne positioniert ist, fließen auch jazzige Elemente ein. Das Amadeus Ensemble, das sich in den letzten Jahren insbesondere auf zeitgenössisches Musiktheater spezialisiert hat, beweist unter dem Dirigat seines langjährigen musikalischen terz : Kritik Woyzeck 2.0 - Traumfalle Seite 3 von 5 Leiters Walter Kobéra große Präzision und Perfektion in der Interpretation dieser Oper. Nicht nur verschiedene musikalische Anspielungen, sondern auch wörtliche Zitate, die sozusagen als Verweise "von Außen" fungieren, webt Lehmann-Horn geschickt in die Komposition ein und eröffnet damit eine weitere Dimension. So fließt neben dem primären Handlungsstrang, der sich zwischen Klara und Georg entwickelt, als zusätzliche thematische Ebene die Auseinandersetzung mit dem Theaterbetrieb ein. Das Spannungsgeflecht zwischen Realität und Fiktion entspinnt sich somit nicht nur in der illusionierten Beziehung der beiden Hauptakteure, sondern wird auch als ständig präsentes Thema auf den Bühnen des Theaters dargestellt. "Theater ist eine komprimierte Form der Wirklichkeit" – oder aber das komplette Gegenteil, nämlich reine Scheinwelt. Wie kaum ein anderer Schauplatz wird die Theaterbühne zum Austragungsort des Konflikts zwischen Realität und Illusion: Wo vollzieht sich die Grenze zwischen Theaterrolle und realem Leben? Wie schafft man es, sich zu „entrollen“ nachdem der Vorhang gefallen ist und keine Verantwortung mehr über seinen Theater-Charakter zu übernehmen? Wie viel Persönliches steckt in jeder glaubhaften Inszenierung? Welchen Facettenreichtum muss ein guter Schauspieler aufweisen, um erfolgreich zu sein? Im Falle Klaras wird die Theaterbühne zu ihrem einzigen Ausweg, zur gesicherten Fluchtmöglichkeit, die ihr dazu verhilft, eine immer größere Distanz zu ihrem realen Leben aufzubauen um schließlich nur mehr in ihren Rollen und nicht mehr als Individuum zu existieren. Für einen Moment glaubt sie, in Georg eine Perspektive in ihrem Leidensweg gefunden zu haben. Sie sieht sich schon in der langersehnten Freiheit, möchte ihr fixes Engagement am Staatstheater an den Nagel hängen und in der freien Theater-Szene ihr Glück finden. Durch diese Handlungsebene wird "Woyzeck 2.0" auch zu einer Parodie des modernen Regietheaters. Die durchaus realitätsnahen Szenen während der Theaterproben, in welchen die Schauspieler unter den unberechenbaren und aggressiven Anweisungen des herrschsüchtigen Regisseurs zu leiden haben, dessen vernichtendes Urteil sogar zum Selbstmord eines Schauspielkollegen führt, werden zur gelungenen Persiflage auf Probleme des aktuellen Theaterbetriebs. Auf durchaus humorvolle Weise werden Situationen des Theateralltags karikiert, durch welche die immer beklemmender werdende Atmosphäre zwischenzeitlich erfrischend aufgelockert wird. Als besonders gelungen hervorzuheben gilt es das Bühnenbild von Gilles Gubelmann, das aus rechteckigen, weißen, sich nach hinten verjüngenden und zunächst parallel angeordneten Rahmen konstruiert ist. Je weiter sich die Protagonisten in ihrer Traumwelt verstricken, je ferner sie von der Wirklichkeit abdriften, desto mehr geraten die Rahmen aus dem Gleichgewicht und verschieben sich gegeneinander. Sie lassen das Bühnengeschehen wie ein Zerrbild der Realität wirken, das während des Treffens von Klara und Georg schließlich vollends aus der Balance gerät. Symbolisch für Illusion und Wirklichkeit stehend wird zudem mit Vorder- und Hintergrundwirkung gearbeitet und der Bühnenraum für die Phantasiewelt Klaras geöffnet. Ein Plastikvorhang, der durch die Bühnenmitte gezogen wird, lässt die Wirkung des Geschehens verschwimmen und verweist auf die verschobenen Realitäten der Handelnden. Schlussendlich wird der Vorhang zu einer Plastikwand, auf welche Georg seine letzten Worte an Klara schreibt und die letztlich die endgültige Trennung zwischen Traumwelt und Realität definiert. terz : Kritik Woyzeck 2.0 - Traumfalle Seite 4 von 5 "AlbTraum & Wirklichkeit" – so lautet auch das Jahresmotto der Neuen Oper Wien. Erneuerungen und Veränderungen im Laufe des sogenannten "Wendejahrs 2012" werden dabei als Chancen für einen Neubeginn verstanden und entführen in spannende musiktheatralische Auseinandersetzungen. Im Zeichen der Ermöglichung von Neuem steht auch der, in Gedenken an den österreichischen Komponisten Gerhard Schedl 2009 ins Leben gerufene, internationale Musiktheater-Wettbewerb der Neuen Oper Wien. Aus den rund 60 anonymen Einsendungen ging Lehmann-Horns Oper "Woyzeck 2.0 – Traumfalle" als Siegerwerk hervor. Der Gewinn des "Gerhard Schedl Musiktheaterpreises" geht nicht nur mit der Uraufführung des Werkes durch die Neue Oper Wien einher, sondern führt auch zum Druck des Stückes beim Musikverlag Doblinger, eine willkommene Chance für junge Komponisten die Möglichkeit einer Wiederaufführung ihrer Werke gesichert zu wissen. Und so feierte "Woyzeck 2.0 – Eine Traumfalle" als Produktion der Neuen Oper Wien am 17. April 2012 in der Wiener Kammeroper unter der Regie von Alexander Medem seine erfolgreiche Uraufführung. Es bleibt zu hoffen, dass auch in Zukunft zahlreiche so interessante und gelungene Werke als Preisträger des "Gerhard Schedl Musiktheaterpreises" hervorgehen werden! Maria Tunner http://www.markuslehmannhorn.de/ http://www.neueoperwien.at/ terz : Kritik Woyzeck 2.0 - Traumfalle Seite 5 von 5