9. Vorlesung, Literatur 1800-1930 a) Büchner: 1) Komödie Leonce

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Prof. Dr. Dirk Oschmann, Uni Leipzig, WS 2011/12
9. Vorlesung, Literatur 1800-1930
a) Büchner: 1) Komödie Leonce und Lena, 2) Woyzeck
1) Leonce und Lena: entst. 1836, Erstrdruck 1838, Uraufführung 1895
- Text in Anschluß an Preisausschreiben verfaßt
- einziger Text Büchners, der nicht auf hist. Quellen basiert, sondern auf literarischen:
Brentano, Shakespeare, Alfred de Musset
- 3 Akte (klass. dramat. Form), Verletzung der Ständeklausel: Adel in der Komödie, aus
gattungstheoret. Sicht Mischung aus Idylle, Märchen und Spiel
- Plot: Heiratsgeschichte; Leonce (vom Reiche Popo) und Lena (vom Reiche Pipi), beide
fliehen vor der Heirat, um sich gerade dadurch zu finden; Schlußutopie des göttlichen
Müßiggangs (vgl. Schlegels Lucinde): zitieren S. 188-189
- Querverbindungen zu Dantons Tod und zu Lenz: Langeweile (als großes existentielles
Thema des 19. Jahrhunderts (Innewerden der Existenz; Nähe zu Kierkegaard); Erlösung durch
den Schmerz als Versicherung des In-der-Welt-Seins (Lenz); Kontrafaktur romantischer
Liebesrhetorik, des „Mechanismus der Liebe“ (186) (Dantons Tod): zitieren S. 165f.; Spielund Puppenhaftigkeit der Welt (Dantons Tod); Unterschied: in Dantons Tod wissen die
Figuren nicht, wer im Grunde der andere ist, hier wissen die Figuren nicht, wer sie selber
sind – Spiel mit Identitäten (Masken, Puppen, Automaten etc.)
- wichtiges Merkmal ist der Sprach- und Wortwitz des Textes; Selbstexposition des Redens:
Bildlichnehmen von Wörtern und Wörtlichnehmen von Sprachbildern (vgl. Kleist); schneller
Wechsel der Redeebenen, Schnitt-Technik / Konfrontation der Redeweisen, Widerspruch
zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation, zwischen Haupt- und Nebentext): als
Bsp. König Peter zitieren:
„PETER. (Während er angekleidet wird) Der Mensch muß denken und ich muß für meine
Untertanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das an sich,
das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer herum) Begriffen? An sich ist an sich, versteht
Ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien, wo ist
mein Hemd, meine Hose? – Halt, pfui! Der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die
Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es
sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes
System ist ruiniert.“
Banalität und Lächerlichkeit der Situation vs. verbale Aufrüstung durch Terminologie des
philosophischen Idealismus - komischer Effekt
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- 2 Forschungslager: Text als pol. Satire (Karikatur der dt. Kleinstaaterei) vs. Präfiguration
des absurden Theaters (Beckett, Ionesco) – Nihilismus
2) Woyzeck: entst. 1836/37, aufbauend auf hist. Quellen und medizinischen Gutachten,
erstmals 1879 durch Karl Emil Franzos publiziert: wirkungsmächtige Fassung, die aus den
überlieferten Szenen ein Stück hergerichtet hat, Titel: Wozzeck (vgl. Oper von Alban Berg,
1922); erst Anfang 1920 textkritische Auseinandersetzung: 4 Entwurfsstufen des Textes: H 1H 4 – Notwendigkeit der Herrichtung einer Lesefassung
- Wirkungsmächtigkeit des Stücks: Protagonist der Ärmste der Armen (geistig, körperlich,
materiell), Darstellung von Armut, Arbeit, Krankheit, Vorführung der erbärmlichen
Wirklichkeit; Sprache als Ausdruck gesellschaftlicher Schichtung (Abbau der Rhetorik,
Präfiguration des Naturalismus, der dann Büchner auch wiederentdeckt)
- Art des Dramas: Eifersuchtstragödie, soziales Drama, Medodrama (Plot kurz schildern:
Woyzeck, Marie (Weiblichkeit), Tambourmajor (Männlichkeit), Arzt (Wiss.), Hauptmann
(Militär) – „konzentrischer Angriff auf Woyzeck“ (Alfons Glück) im ges. Koordinatensystem;
Woyzeck unter permanenter Beobachtung, sein Gehetzt-Sein, als würde er verfolgt werden;
planmäßige Verstümmelung der Existenz
- Szenenfolge parataktisch, autonome Momentaufnahmen (US zu Dantons Tod: Held im
Zentrum)
- zentral im Text ist nicht mehr die Identitätsfrage, sondern die kantische Frage: Was ist der
Mensch? (vgl. S. 203, H 1) (Was kann ich wissen? – Was darf ich hoffen? – Was soll ich
tun?), vorgeführt wesentlich durch die Erkundung der Grenze zwischen Mensch und Tier
(Woyzeck vielfach zum Tier erniedrigt, als wissenschaftliches Versuchskaninchen
mißbraucht),
b) Hebbel (1813-1863): vor allem Lyriker und Dramatiker, wichtig auch die Tagebücher
entstanden 1835-1863, veröff. 1885-1887 (2 Bände); große Themen; historische, mythische
und biblische Stoffe, z.B.: Judith (1840), Herodes und Mariamne (1850), Gyges und sein
Ring (entstanden 1853/54, uraufgeführt 1889), Stoffe aus der germanischen Sagenwelt:
Tragödientrilogie Die Nibelungen (1860, Uraufführung 1861), Ästhetik der Erhabenheit (vgl.
dagegen Stifter!) – nichts „Biedermeierliches“; auch überzeugt von der eigenen Größe
- trotz der großen Themen das wichtigste Theaterstück aus den „Niederungen des Daseins“,
d.h. aus dem bürgerlichen Alltag – nichtsdestoweniger aufgeladen mit biblischen Titel:
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Maria Magdalena (1844, Uraufführung 1846) – Titel bezieht sich auf mittelalterliche
Legendengestalt, die auf das Lukas-Evangelium des Neuen Testaments zurückgeht, wo einer
Sünderin von Jesus verziehen wird; Titel verleiht dem Text eine überzeitliche
Tiefendimension jenseits historischer Kontingenz, auf die sich der Text dennoch einläßt –
Hebbel in Position zwischen Idealismus einerseits und Realismus als grundlegendem
Darstellungsprinzip andererseits; geschichtsphilosophisches Dramenkonzept: die Welt findet
erst in der Kunst zur Totalität, d.h. Kunst faßt die Welt zur Totalität zusammen, weiterhin
Kunst als „realisierte Idee“ / „realisierte Philosophie“, dem Darstellungsverfahren nach aber
bereits realistischen Prinzipien folgend (Mischung auch von Mythologie und Psychologie);
Drama vermittelt also „zwischen der Idee und dem Welt- und Menschenzustand“
- M.M.: Hebbels meistgespieltes Drama, gilt als Höhepunkt seines Schaffens – vor dem
Hintergrund einer sozialkritischen Bewertungsperspektive
- Text als Versuch, das bürgerl. Trauerspiel als reine dramatische Gattung neu zu
bestimmen und der hohen Tragödie gleichzustellen; Aufhebung der gattungstheoretischen
Standesklausel; Aufsuchen des Schicksalhaften / des Schicksals in der bürgerl. Welt –
Schicksal nicht den „Großen“ (etwa dem Adel) der Welt vorbehalten – Notwendigkeit des
Überführens der bgl. Problemkonstellation ins Allgemein-Menschliche (Aufhebung der
Kontingenz zugunsten der Idee); das bgl. Trauerspiel wird tragisch nicht durch Konfrontation
mit sozial höherer Sphäre (Vgl. Lessing: Emilia Galotti und Schiller: Kabale und Liebe),
sondern durch das starre Beharren dieser bgl. Welt auf den eigenen Ideen, insbesondere den
eigenen Ehrbegriffen: Vorwort zu Maria Magdalena zitieren: S. 103-105
- Plot des dreiaktigen Familiendramas kurz rekapitulieren, in dessen Zentrum es um die
verschränkten Begriffe von Ehre und Schande geht: Klara, Vater Tischlermeister Anton, die
Mutter, Karl, der Sohn; Leonhard (Heiratskandidat), Sekretär, Nebenfiguren;
Ausgangssituation: Meister Anton berühmt für seine Ehrlichkeit und Ehrbarkeit, im Konflikt
mit seinem Sohn, von dem er nichts Gutes erwartet; der Sohn als Dieb verdächtigt und
eingesperrt – die Mutter stirbt daraufhin (der Sohn als Muttermörder), der Vater entsetzt,
obwohl er nichts anderes erwartet hat, und läßt seine Tochter Klara schwören, daß sie ihm
keine Schande mache – zu dem Zeitpunkt ist sie bereits von Leonhard schwanger (was der,
der sie darum unbedingt heiraten soll; Leonhard, der zunächst ein Heiratsversprechen gegeben
hat, verweigert die Ehe aufgrund der vermeintlichen Verfehlung des Bruders, der Schande
über die Familie gebracht habe; Auftauchen des Sekretärs, des ehemaligen Bräutigams, der
sich bereiterklärt, Klara zu heiraten, doch zurückschreckt, als er von ihrer Schwangerschaft
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hört („Darüber kann kein Mann weg.“); Unschuld Karls erwiesen – Klara beschwört
Leonhard, sie zu heiraten, damit ihr Vater sich nicht das Leben nimmt, und verspricht, bald
danach zu sterben: zitieren S. 146-148; Entscheidung gegen die Vatermörderin, für die
Selbst- und Kindesmörderin: „Leonhard: Du kannst gottlob nicht Selbstmörderin werden,
ohne zugleich Kindesmörderin zu werden! Klara: Beides lieber als Vatermörderin!“; am
Ende: Sekretär erschießt Leonhard, Klara nimmt sich das Leben
- kleine Figurenkonstellation, kammerspielartige Struktur, enges Setting – innerlich und
äußerlich: wenige Schauplätze, geschlossene Räume (zeigen Begrenzung der Figuren und
Handlungsspielräume, entweder Zimmer beim Tischlermeister (1., 2. nd 3.Akt (ab 7. Szene))
oder Zimmer bei Leonhard (3. Akt, Szenen 1-6), tragische Lösung nur außerhalb der engen
Räume möglich – Klara stürzt sich draußen in den Brunnen
- die bgl. Ordnung wesentlich repräsentiert durch die Männer (Vater, Leonhard,
Sekretär), die auf je unterschiedliche Weise Ehrenmotive für ihre Entscheidung geltend
machen; stärkste Verkörperung durch den Vater – der mit unerbittlicher Härte
Lebensgrundsätze und starre Ehrbegriffe durchpeitscht und den anderen Familienmitgliedern
die Luft zum Leben nimmt – entsprechend verliert er alle: die Frau, die Tochter und den
Sohn, die Frau stirbt, der Sohn entzieht sich, die Tochter begeht Selbstmord – noch das nimmt
er ihr übel, weil es eine Magd gesehen hat, kein Umdenken im Angesicht des Unglücks!!!;
- Krise der Familie nicht von außen eingeleitet, sondern im inneren Kern der Familie
bereits angelegt (Grundidee des Stücks entsprechend dem Vorwort)
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