Justus-Liebig-Universität Gießen Fachbereich 03 - Sozial- und Kulturwissenschaften Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik Wintersemester 2008/2009 Modul: Propädeutik Musikpädagogik Seminar: Fachdidaktische Konzeptionen - Notation im Musikunterricht Dozent: Dr. Ulrike Wingenbach Musikalische Würfelspiele Abgabe: 11. März 2009 Student: Matrikelnummer: Fachsemester: Studienfach: Adresse: Lars Thielen 46066275 1 Musikpädagogik (BA) Braugasse 6 35390 Gießen [email protected] E-Mail: Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung S.3 2. Definition musikalisches Würfelspiel S.3 3. Geschichte und Hintergründe S.4 4. Würfelspiele heute S.7 5. Der didaktische Zugriff S.9 6. Abschlussbetrachtung S.13 7. Anhang S.14 8. Literaturverzeichnis S.15 2 1. Einleitung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit musikalischen Würfelspielen, einem beliebten Zeitvertreib in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Es soll geklärt werden, wie musikalische Würfelspiele zu definieren sind, wie sie in den historischen Kontext einzuordnen sind und warum sie entstanden sind. Außerdem werden musikalische Würfelspiele in Form von digitalen Medien aus heutiger Sicht betrachtet und es wird auf die Möglichkeit eingegangen, musikalische Würfelspiele in der pädagogischen Praxis zu nutzen. 2. Definition musikalisches Würfelspiel Bevor näher auf die Geschichte der musikalischen Würfelspiele eingegangen wird, muss geklärt werden, was musikalische Würfelspiele sind. Gerhard Haupenthal bringt dabei folgenden Definitionsversuch: „Von einer von einem Verfasser eines sogenannten musikalischen Würfelspiels bereitgestellten Menge mehr oder weniger ausformulierter musikalischer Strukturen werden nach spielspezifischen Zufallskriterien echte, nicht leere Teilmengen gebildet, deren Elemente jeweils in einer festgelegten Reihenfolge angeordnet werden, so daß Musikstücke entstehen, deren Form unabhängig von der Auswal der Elemente stets gleich ausfällt.“ (Haupenthal 1994, Bd1, 403) Es wird also ermöglicht, mithilfe von „Zufallskombinationen aus eigens dafür hergestellten Kompositionen scheinbar neue Musikstücke hervorgehen zu lassen“ (Steinbeck 1998). Zum Zweck und der zeitlichen Eingrenzung musikalischer Würfelspiele schreibt Haupenthal folgendes: „Die solchermaßen, vornehmlich von der zweiten Hälfte des 18. bis zum ersten Drittel des 19. Jhs. entstandenen Anleitungen, in denen der Vorgang des Komponierens mechanisiert wird, und die in erster Linie zum Zeitvertreib dilettierender Laien dienen, können alle unter dem Oberbegriff der Würfelmusik subsumiert werden.“ (Haupenthal 1994, Bd1, 403) Zu bemerken ist bei dem letzten Zitat der verwendete Begriff „Würfelmusik“, welcher mit dem Begriff „musikalisches Würfelspiel“ einhergeht und in allen für diese Arbeit verwendeten Quellen und somit auch in dieser Hausarbeit gleichbedeutend verwendet wird. 3 Schaut man sich die Liste aller musikalischen Würfelspiele nach Haupenthal (Anhang 1) an, so kann man eine genaue Datierung von 1757 bis 1839 feststellen. Allerdings ist es nicht sicher, dass es vor 1757 keine musikalischen Würfelspiele gegeben hat, es wurde bis dato nur noch kein früheres Werk aufgefunden. Zusätzlich fehlt in der Liste das Spiel „Kunst, Schottische Taenze zu componiren, ohne musikalisch zu sein“ von Gustav Gerlach, 1830 beim Schott Verlag erschienen (Reuter 2001), worüber Haupenthal jedoch nachträglich einen Vortrag gehalten hat1. Darüber hinaus lassen sich alle Würfelspiele in drei Gruppen einteilen: Spiele, die dem Spieler Einzeltakte (Spiele Kirnbergers, Stadlers oder Mozarts), Taktgruppen (Spiel Wiedeburgs) oder Einzeltöne/Tongruppen (Spiele Bachs, Delanges oder Catrufos) zur Verfügung stellen, mit denen er komponieren kann (Haupenthal 1994, Bd1, 383). 3. Geschichte und Hintergründe Das demnach erste Werk, das als musikalisches Würfelspiel definiert werden kann, stammt von Johann Philipp Kirnberger aus dem Jahr 1757 und trägt den Titel „Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettenkomponist“. Das Spiel besteht aus einer Zahlen- und Notentabelle und wird mit einem Würfel gespielt. Der Spieler geht so vor, dass er für jeden Takt (beim Menuettenteil insgesamt 16 Takte) 6 mögliche Variationen erwürfelt, also eine Augenzahl für einen bestimmten Takt in der Notentabelle steht. Jeder erwürfelte Takt wird anhand der Zahlentabelle in der Notentabelle ausgemacht und anschließend auf ein Notenblatt übertragen. Hat man alle Takte abgeschrieben, ist man im Besitz eines satzkorrekten Musikstücks, das aufgrund der hohen Anzahl an möglichen Variationen eine gewisse Einzigartigkeit besitzt. Musikalische Kenntnisse (außer der Fähigkeit, Noten zu lesen und ausreichende Beherrschung eines Instruments, sofern man die Komposition umsetzen möchte) hat man hierfür nicht gebraucht, weil das Komponieren selbst 1 siehe http://www.musikwissenschaft.uni-mainz.de/Musikinformatik/iak/index.php?show= vortraege/AbstractHaupenthal.html letzter Zugriff 10.03.2009 13:29 4 unter Einbeziehung des Zufalls mechanisiert wurde. Man hat also ein scheinbar neues Musikstück komponiert. Kirnberger ist aber nicht davon ausgegangen, durch diese Mechanisierung das Komponieren zu ersetzen, sondern hat es als Spiel für Liebhaber der Musik, interessierte Laien oder angehende Komponisten entworfen (Haupenthal 1994, Bd1, 408). Ausschlaggebend war das Unterhaltsame und Pädagogische solcher Spiele, die besonders bei gemütlicher Runde eine Alternative zu anderen Spielen boten, welche meistens mit Geldeinsatz gespielt wurden (wie z.B. Kartenspiele oder Spielautomaten). Demnach stand das Würfeln und Komponieren im Gegensatz zur Qualität des erwürfelten Stückes im Vordergrund (Haupenthal 1994, Bd1, 407ff). Neben vielen unbekannten Autoren musikalischer Würfelspiele gibt es auch namhafte Personen der Musikgeschichte, die Würfelmusik entworfen haben. So wurden unter Namen wie Carl Philipp Emanuel Bach („Einfall, einen doppelten Contrapunct in der Octave von sechs Tacten zu machen, ohne die Regeln davon zu wissen“), Wolfgang Amadeus Mozart („Anleitung, so viel Walzer man will mit Würfeln zu componiren, ohne musikalisch zu seyn oder Composition zu wissen“ und „Anleitung, Englische Contretänze mit zwei Würfeln zu componiren, so viele man will, ohne etwas von der Musik oder der Composition zu verstehen“) und Joseph Haydn („Gioco filarmonico“) Würfelspiele veröffentlicht. Allerdings ist anzumerken, dass das Spiel, welches unter Haydns Namen veröffentlicht wurde, lediglich eine Neuveröffentlichung von Maximiliam Stadlers „Tabelle, aus welcher man unzählige Menuetten und Trio für das Klavier herauswürfeln kann“ ist und Haydns Name wohl nur aus wirtschaftlichen Gründen benutzt wurde (Haupenthal 1994, Bd1, 162ff). Auch Mozart als Urheber kann nicht vollständig bewiesen werden, muss aber aus Ermangelung an Beweisen hingenommen werden (ebd, 321ff). Auffallend ist die große Anzahl an Polonaisen, Walzern, Märschen und Menuetten, also periodische, gleichförmig aufgebaute Stücke, die in musikalischen Würfelspielen Verwendung finden. Gründe für die Verwendung solcher Tänze sind im zeitgeschichtlichen Kontext des 18. Jahrhunderts zu finden. Dieses Jahrhundert vom Zeitalter der Aufklärung sowie dem Aufstieg des Bürgertums entscheidend geprägt worden, was einen Wandel der musikalischen Aufklärung in Form des 5 Spätbarocks bzw. Rokoko zur Folge hatte. So haben entscheidende Veränderungen der musikalischen Satzstruktur wie die Aufstellung symmetrischer Achttaktperiodik oder eine als einfach und natürlich empfundene, paarige Taktordnung ganz im Sinne des Rokoko eine Voraussetzung für musikalische Würfelspiele dargestellt (Steinbeck 1998). Doch auch die rationale Auffassung von Musik und die charakteristische Neigung der Zeit zur mathematischen Kombinatorik trugen zur Entstehung von Würfelmusik bei. Der Tanz ist daher aufgrund seines einfachen Grundschemas periodischer Anlage ideales „Objekt solcher Kombinationsspiele“ (ebd), Haupenthal schlussfolgert daraus, dass „die Geschichte der Würfelmusik quasi die Geschichte der Tanzmusik von der zweiten Hälfte des 18. Jhs. bis zum ersten Drittel des 19. Jhs. widerspiegelt“ (Haupenthal 1994, Bd1, 410). Musikalische Würfelspiele haben somit eine sehr einfache Möglichkeit geboten, neue und variierende Stücke zu kreieren, die sich sehr gut zur Tanzbegleitung eignen. Es stellt sich zudem die Frage, warum es mit musikalischen Würfelspielen möglich ist, so viele „unterschiedliche“ Stücke zu komponieren. Dabei haben die meisten Verfasser solcher Spiele eine Art „Trick“ angewandt, um das Spielerlebnis zu intensivieren. Grundsätzlich wird angenommen, dass am Beispiel Kirnbergers und Mozarts ein Stück komponiert wurde und dazu 5 (Kirnberger) oder 10 (Mozart) Varianten hinzukomponiert wurden, die harmonisch gleich aufgebaut sind. Lediglich Melodie und Rhytmus variieren leicht, was zur Folge hat, dass alle ausgewürfelten Stücke sich nur sehr gering voneinander unterscheiden (ebd, 407). Die Takte dieser vorgefertigten Stücke werden nun zufällig nummeriert und geordnet, so dass eine Zahlentabelle benötigt wird, um zu bestimmen, welche Takte die ersten Takte der Urkompositionen sind. Problematisch wird daher eine Wiederherstellung der „Ursonaten“, die nicht für jedes Spiel rekonstruiert werden können (Haupenthal 1994, Bd1, 346). Im Endeffekt dienen die „Zahlentabellen zu nichts anderem als zur Vertuschung dieses enfachen Baukastenprinzips“ (Steinbeck 1998) und sind ein „Trick“ der Verfasser, da man auch ohne Sie eine Komposition erwürfeln könnte, wären die Takte, die für die einzelnen Takte bestimmt sind, hintereinander geschrieben. 6 4. Würfelspiele heute In unserer Gegenwart kann man davon ausgehen, dass musikalische Würfelspiele kaum noch Beachtung finden. War das Interesse zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert groß, was die hohe Anzahl an produzierten Würfelspielen sowie deren Neuauflagen beweisen (Haupenthal 1994, Bd1, 389), haben heutzutage andere Beschäftigungen die Freizeitgestaltung ersetzt und erweitert. Die Technologisierung der Musik - die Möglichkeit, Musik aufzunehmen, zu bearbeiten und in Form von vielen Medien zu rezipieren - führte zu einem mittlerweile uneingeschränkten Zugriff auf Musik. So stellt gerade der Computer, genauer gesagt das Internet als jüngstes Medium eine sehr vielfältige Möglichkeit dar, Musik abzuspielen, zu bearbeiten, zu produzieren oder untereinander auszutauschen. Sich also mit Musik zu beschäftigen, egal auf welche Weise oder in welchem produktiven Ausmaß, fällt mittlerweile sehr leicht. Die Absicht von musikalischen Würfelspielen, „belanglose Unterhaltung an langen Winterabenden“ (ebd, 348) zu sein, haben mittlerweile unzählige andere Betätigungen für sich beansprucht. Ein weiterer Grund für das Verschwinden musikalischer Würfelspiele mag die musikalische Weiterentwicklung sein. Zwar haben sich die verwendeten Tanzmodelle in musikalischen Würfelspielen der Zeit angepasst (ebd, 409)2, konnten sich aber nicht weiterhin durchsetzen. Besonders mithilfe von Musikautomaten und nicht zuletzt mit der Erfindung des Grammophons Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich Musikliebhaber zeitgemäßer Musik zuwenden, auch wenn man mit diesen Geräten nicht die Möglichkeit hatte, eigene Stücke zu „komponieren“, wie es bei musikalischen Würfelspielen der Fall ist. Allerdings sind musikalische Würfelspiele nicht vollständig aus der Gegenwart verschwunden; lediglich die Art und Weise, wie man beim komponieren vorgeht, hat sich verändert. Der Computer macht es möglich, durch Randomisierungsprozesse Würfel zu simulieren und somit musikalische Würfelspiele erfahrbar zu machen. So gibt es ein Computerspiel namens "Musikalische Würfelspiele", programmiert von Christoph Reuter und erschienen beim Schott Musikverlag, welches insgesamt 2 Anfangs dominierte das Menuett als Strukturmodell, wurde später jedoch durch vielfältigere Tänze, wie z.B. Walzer, Märsche, Contretänze oder Anglaisen ersetzt, um sich dem Tanztrend anzupassen. 7 sechs Würfelspiele enthält. Ein Problem, das sich hierbei ergibt, ist die andere Art und Weise, wie man nun ein musikalisches Würfelspiel spielt. Es wird virtuell gewürfelt, die Takte werden automatisch aus der Tabelle übertragen und nach vollendetem „Würfeln“ kann das fertige Stück vom Computer abgespielt werden. Der Benutzer des Programms muss also weder Noten lesen können, noch die Komposition umsetzen, da der Computer alles selbst erledigt. Da jedoch das "Komponieren" bei einem musikalischen Würfelspiel mehr Bedeutung hat als die eigentliche "Komposition" (ebd, 407ff), ersetzt der Computer gerade das, was Beschäftigung und vor allem Unterhaltung hervorrufen soll. Der Zugriff auf musikalische Würfelspiele per Computer ist somit ein anderer als der, den die Autoren solcher Würfelspiele beabsichtigten. Weitere kostenlose rekonstruierte Würfelspiele, welche direkt im Internet oder durch Herunterladen von Programmen spielbar sind, weisen eine ähnliche „Spielstrukur“ auf3, worauf ich nun genauer eingehen werde. Bei der ersten Internetquelle wird das Mozart zugeschriebene Spiel „Anleitung, so viel Walzer man will mit Würfeln zu componiren, ohne musikalisch zu seyn oder Composition zu wissen“ verwendet. Hier kann man wahlweise selbst „würfeln“ oder den Computer würfeln lassen. Weder die Würfel- noch die Zahlentabelle ist einsichtbar, man kann also nicht nachvollziehen, woher der Computer die Takte nimmt. Automatisch werden die erwürfelten Takte hinzugefügt und können sofort abgespielt werden. Auch hier übernimmt der Computer den Kompositionsprozess. Internetquelle Nr.2 nutzt ebenfalls Mozarts „Anleitung“. Hier kann ebenfalls alles per Computer berechnet und abgespielt werden, ohne virtuell würfeln zu müssen. Als Zusatzfunktion kann man die Instrumentierung verändern, was zu einer klangfarblichen Variation führt. Außerdem ist es möglich, jede Würfelzahl selbst zu bestimmen, also nicht dem Zufall die Komposition überlassen, ohne jedoch zu wissen, was für ein Takt sich hinter der Würfelzahl verbirgt. Bei Internetquelle Nr.3 wird Johann Philipp Kirnbergers „Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist“ verwendet. Hier ist es möglich, alle Takte komplett mit einem Knopfdruck zu erwürfeln und direkt danach das Resultat abspielen zu lassen, ohne jedoch Sicht auf die Takttabellen zu erhalten. 3 Quellen zu den gefundenen Würfelspielen im Internet sind im Literaturverzeichnis einsehbar 8 Internetquelle Nr.4 ist ein herunterladbares Programm, welches sowohl Mozarts „Anleitung“ als auch Kirnbergers “Componist“ enthält. Allerdings werden hier ebenfalls weder Takttabellen noch Notentabellen aufgezeigt, das Programm verrechnet alle Informationen selbst. Ein einziger Knopf lässt die Komposition „erwürfeln“ und spielt sie direkt ab, was große Ähnlichkeit mit Internetquelle Nr. 4 aufweist. Man kann also zusammenfassen, dass übertragene musikalische Würfelspiele auf dem Computer eine andere Spielweise vorweisen und sich die Mechanik hier ins Extreme ausgeweitet hat. Zwar ist es nützlich, sich die erwürfelte Komposition direkt anhören zu können, doch ist ja gerade der Reiz von musikalischen Würfelspielen der, sich mit Noten spielerisch auseinanderzusetzen und dazu vielleicht noch etwas zu lernen. Um also der Beabsichtigung der Autoren nachzugehen, sollte man musikalische Würfelspiele so spielen, wie man sie früher gespielt hat: mit Bleistift, Notenpapier und einem oder mehreren Instrumenten. Gerade hier ist eine Möglichkeit enthalten, die sich die Pädagogik heute zu Nutze gemacht hat, und zwar der spielerische Umgang mit Noten. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. 5. Der pädagogische Zugriff In der von Haupenthal aufgestellten Liste musikalischer Würfelspiele (s. Anhang 1) befindet sich als letzter Eintrag das Würfelspiel namens „Musikal. Würfelspiel oder Kunst, durch Würfel Kindern (-und auch Großen!) leicht und auf angenehme Weise die Noten im Violin- und Baß-Schlüssel zu lehren“, welches 1839 in Altona erschienen ist und L. Fischer zugeschrieben wird. Leider konnte dieses Würfelspiel bislang nicht aufgefunden werden4, so dass der Inhalt des Spiels oder das verwendete Strukturmodell nicht bekannt ist. Doch der Titel verrät die Absicht, dass dieses Spiel für Kinder sowie Erwachsene konzipiert wurde und man mit dem 4 siehe Gerick 1934, 362ff und Haupenthal 1994, Bd1, 395. 9 Spiel jener Zielgruppe „leicht und auf angenehme Weise die Noten im Violin- und Baß-Schlüssel“ lehren könne. Ist der pädagogische Ansatz hier deutlich im Titel zu erkennen, haben andere Wüfelspiele ähnliche pädagogische Züge aufgewiesen. So lässt sich selbst im Vorwort Kirnbergers „allezeit fertige[m] Polonoisen- und Menuettencomponist “ die Absicht finden, dem Laien ein „Übungsstückchen“ (zit. nach Steinbeck 1998) an die Hand zu geben, um auf einem Instrument ein erwürfeltes Stück zu üben. Musikalische Würfelspiele können für den Schulunterricht oder den Instrumentalunterricht (bei entsprechendem Instrument) qualitativ genutzt werden, um musikalische Fähigkeiten auf spielerische Art und Weise zu vermitteln und zu verbessern. Ich beziehe mich bei folgendem Abschnitt auf Mozarts „Anleitung“ und Kirnbergers „fertige[n] Polonoisen- und Menuettencomponist“, da die Spielprinzipien einfach sowie einander sehr ähnlich sind und man die kompletten Takte und somit die Komposition schnell erwürfelt hat. Als Voraussetzung gilt weiterhin, Noten lesen zu können. Doch auch diese Fähigkeit kann durch Würfelmusik geübt werden, da man die erwürfelten Takte aus Takttabellen abschreiben muss, um sein Stück zu komponieren. Daher wird nicht nur das Erkennen und Lesen, sondern auch das Schreiben und Übertragen von Noten in ein leeres Notensystem geübt. Man trägt so zur Übung nicht wahllos irgendwelche Noten in ein Notensystem ein, die vielleicht den tonalen Regeln widersprechen würden und über dessen Sinnhaftigkeit auf Seiten der Schüler diskutiert werden könnte, da der Würfel, also der Zufall einen vorgeschriebenen Takt bestimmt hat, welchen es abzuschreiben gilt. Gerade der Aspekt, nicht auf tonale Regeln achten und sich mit jeder einzelnen Note grundlegend befassen zu müssen, kann als Vorteil gesehen werden, da der Schüler schnell eine „eigene“ Komposition fertig niedergeschrieben und somit gleich das Ergebnis seiner Arbeit vor sich liegen hat. Aufgrund der sehr hohen Anzahl an unterschiedlichen Kompositionsergebnissen fällt eine erwürfelte Komposition mit höchster Wahrscheinlichkeit immer anders aus, so ist es nur ein kleiner Schritt aus Sicht des Schülers, die erwürfelte Komposition sein Eigen zu nennen, auch wenn der Zufall und der Autor des Würfelspiels einen bedeutenden Teil dazu beigetragen haben. Ein Vergleich unter mehreren Schülern macht dies ebenso deutlich. 10 Außerdem wäre nun nach Fertigstellung interessant, was überhaupt zusammengewürfelt wurde und vor allem wie sich das anhört. Man kann sich also mit der Musiktheorie oder -praxis weiter nähern. Das Interessanteste dürfte zuerst wohl sein, wie sich das Stück nun anhört, da man vorher nicht wusste, was beim Würfeln eigentlich herauskommt. Hier könnte man besonders im Instrumentalunterricht ansetzen und versuchen das „eigene“ Stück zu spielen. Da in Mozarts und Kirnbergers Würfelspielen eine Zweistimmigkeit vorherrscht, kann mit mehreren Instrumenten zusammen oder alleine an dem Klavier geübt werden. Für den allgemeinen Musikunterricht könnte z.B. der Lehrer die Stücke der einzelnen Schüler spielen, auch wenn die Schüler dadurch ihre eigene Praxis nicht verbessern. Der Höreindruck vermittelt jedoch wichtige Informationen, die für die Musiktheorie und der Analyse des Stücks nützlich sein können. So kann man sich von einzelnen Noten bis hin zu Intervallen, Akkorden oder Kadenzen ein Bild machen und diese praxisnah besprechen oder analysieren. Leichte Ungereimtheiten in beiden musikalischen Würfelspielen sind zwar vorhanden (s. Haupenthal 1994, Bd1, 27ff und ebd, 321ff), könnten aber ebenfalls besprochen und sogar praktisch demonstriert werden. So kann das anfangs nicht vorausgesetzte Wissen von Regeln der Komposition gerade durch musikalische Würfelspiele später vereinfacht erklärt und verstanden werden. Geht der Schritt mit der Voraussetzung von Noten lesen zu weit oder möchte man pädagogisch mit kleineren Kindern arbeiten, kann man natürlich eigene musikalische Würfelspiele erfinden, die sich z.B. mehr mit dem sozialen Aspekt von Musik beschäftigen. Als Beispiel werde ich auf das Spiel „Würfel-Musik“ von Franziska Ruttmann (o. J.) eingehen. Bei diesem Spiel gibt es ein in sich geschlossenes Spielfeld mit 20 Feldern, eine Spielfigur und einen Würfel. Die beteiligten Kinder, welche sich um das Spielfeld befinden, haben je ein Instrument in der Hand, z.B. Trommeln, Rasseln, Becken, Klanghölzer, Glockenspiele, Holzblocktrommeln oder Triangeln. Auf dem Spielfeld gibt es fünf verschiedene Elemente (Kreis, Rechteck, Dreieck, Herz und Sonne), wobei vier der Elemente durch große und kleine Zeichen variieren (Kreis, Rechteck, Dreieck, Sonne) und ein leeres Feld, auf dem die Figur am Anfang steht. Jedes Element hat eine bestimmte Bedeutung, die den Kindern zunächst beigebracht wird: 11 - Leeres Feld: - Kreis: - Rechteck: - Dreieck: - Herz: - Sonne: Pause Instrumente mit Schellen und Glocken, Trommeln, Rasseln, Becken Klangbausteine, Klanghölzer, Glockenspiele, Holzblocktrommeln Triangeln Instrumente werden nach links weitergegeben alle Instrumente Große Symbole werden als „laut spielen“, kleine hingegen als „leise spielen“ definiert. Es befinden sich außerdem auf 10 der 20 Spielfelder 2 Symbole, die auf einmal zu spielen sind. Nun fängt ein Kind an zu würfeln und bewegt die Spielfigur im Uhrzeigersinn um die Anzahl der Augen auf dem Würfel. Kommt zum Beispiel die Spielfigur auf ein großes Rechteck, dürfen alle Kinder mit Klangbausteinen, Klanghölzern, Glockenspielen oder Holzblocktrommeln auf ihren Instrumenten laut spielen. Kommt die Spielfigur auf ein Spielfeld mit kleinem Dreieck und großem Kreis, dürfen alle Kinder mit Triangeln leise und alle Kinder mit Glocken, Trommeln, Rasseln oder Becken laut spielen. Nach erfolgreichem Spielzug ist jetzt ein anderes Kind an der Reihe und darf erneut würfeln. Man könnte das Spiel zusätzlich beliebig variieren, zum Beispiel nicht direkt die erwürfelten Zeichen praktisch umzusetzen, sondern diese zuerst zu notieren und danach umsetzen. So haben die Kinder auf einfache Art und Weise ebenfalls ein kleines Stück „komponiert“. Ein musikalisches Würfelspiel auf solcher Ebene hat natürlich nicht das Ziel, ästhetisch wertvoll zu sein, sondern dient eher dem pädagogischen Ziel, durch Praxis Kindern soziales Verhalten beizubringen. Doch auch Werte, die beim Gruppenmusizieren wichtig sind, werden hier vermittelt. Zum Einen lernen die Kinder den zeitlichen Einsatz ihrer Instrumente (wann sie spielen dürfen und wann nicht) und zum Anderen das eigentliche Beherrschen der Instrumente, genauer gesagt das Umgehen mit der Dynamik (bei großem Symbol laut, bei kleinem leise spielen). 12 6. Abschlussbetrachtung Zusammenfassend sind musikalische Würfelspiele populäre Erfindungen gewesen, die von der Mitte des 18. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhundert musikalischen Laien Unterhaltung boten. Besonders gut lassen sich diese Spiele in den gesellschaftlichen Kontext des Rokoko einordnen, nicht zuletzt durch eine von der Aufklärung und Kombinatorik geprägten Gesellschaft, die näher hinterleuchtet werden könnte. Es hat sich herausgestellt, dass die Aufarbeitung musikalischer Würfelspiele in digitalen Medien keine Verbesserung für das eigentliche Spielerlebnis darstellt und man sie in traditioneller Form spielen sollte. Dennoch ist Würfelmusik heutzutage besonders für den pädagogischen Sektor nützlich, um spielerisch mit Noten, Satzstrukturen und tonalen Regeln umzugehen und diese entweder theoretisch zu analysieren oder praktisch am Instrument umzusetzen. Die verwendeten Tanzmodelle geben dabei einen Einblick auf die Tanzkultur des Rokoko. Zu Bemängeln ist die geringe Beachtung, die der Würfelmusik in der Musikwissenschaft zukommt, was durch eine sehr geringe Anzahl an Quellen deutlich wird. So gibt es im größten englischsprachigen Musiklexikon „New Grove Dictionary of Music and Musicians “ keinen Eintrag über Musikalische Würfelspiele bzw. Würfelmusik und neben der Dissertation Haupenthals sowie dem Eintrag „Würfelmusik“ im deutschsprachigen Musiklexikon „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ kaum Literatur, die einen Überblick oder tiefgreifendere Forschungen, insbesondere für den pädagogischen Bereich, bietet. Haupenthals Aussage, dass „Sekundärliteratur zu dem Thema Würfelmusik bisher relativ spärlich ist“ (Haupenthal 1994, Bd1, 414), hat nach 15 Jahren weiterhin Gültigkeit. 13 7. Anhang 1.) Liste aller Würfelspiele nach Haupenthal, 1994 Nr 1 Erschienen 1757 Ort Berlin 2 ohne Ort 3 1757 oder später 1757 Titel Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist Der neue Menuetten- Trio - und Polonesen Compositor Einfall, einen doppelten Contrapunct in der Octave von sechs Tacten zu machen, ohne die Regeln davon zu wissen Anonymus Ludus Melodthedicus ou le Jeu de Dez Harmonique Maximilian Stadler Tabelle, aus welcher man unzählige Menuetten und Trio für das Klavier herauswürfeln kann Anonymus Cabala per Comporre Minuetti (Cabala per componendi minuetti) Tanzmodell Polonoisen / Menuette Polonoisen / Menuette Contrapuncte 4 ca. 1758 Paris 5 zw. 1759 und 1763 Wien 6 Ende 50erAnf. 60erJahre Ende 50erAnf. 60erJahre ohne Ort Kassel? Johann Kade Menuette 8 1762 Lüttich 9 10 ca. 1763 1764 London Como Herman-François Delange Piere Hogi Pasquale Ricci 11 ca. 1780 Wien 12 1788 Aurich 13 14 1793 1793 Neapel Berlin Maximiliam Stadler Mich. Joh. Fr. Wiedeburg Joseph Haydn W. A. Mozart (?) 15 ca. 1796 Bonn W. A. Mozart (?) 16 1798 Dresden 17 18 Wende 18. / 19. Jh. 1800 19 20 1801 1801 21 22 23 1811 1817 ca. 1819 / 1820 Paris Guiseppe Catrufo Hamburg Friedrich Kuhlau Mainz J.C. Graf 24 1839 Altona 7 Berlin Autor Johann Philipp Kirnberger Johann Philipp Kirnberger Carl Philipp Emanuel Bach Fried. Gottlob Hayn MagdeGeorg Gottl. burg Kallenbach Berlin Wilhelm Ferdinand Rong Venedig Antonio Calegari Hamburg C.H. Fiedler L. Fischer Ballett-Tabellen, nach denen auch diejenigen, welche keine MusicVerständigen sind, soviel Menuette als ihnen beliebt, selbst machen können Le Tôton Harmonique ou Nouveau Jeu de Hazard A Tabular System Au plus Hereux Jeux Harmoniques pour Composer des Minuets ou des Contredances au sort d'un dex Anleitung zur musikalischen Composition durch Würfelspiel Musikalisches Charten=Spiel ex g dur Gioco filarmonico (= Nummer 5) Anleitung, so viel Walzer man will mit Würfeln zu componiren, ohne musikalisch zu seyn oder Composition zu wissen Anleitung, Englische Contretänze mit zwei Würfeln zu componiren, so viele man will, ohne etwas von der Musik oder der Composition zu verstehen Anleitung, Angloisen mit Würfeln zu komponiren Jeu de dés musical pour apprendre à comp, des anglaises, des valses etc. Der Musicdirector; Kartenspiel; Dominospiel Gioco pitagorico Musikalisches Würfelspiel oder der unerschöpfliche Ecossaisen-Componist Barême musical Kaleidakustikon Musikspiel oder Tabelle, unzählige Märsche für Pianoforte oder andere Instreumente mittelst Würfel zu erfinden Musikal. Würfelspiel oder Kunst, durch Würfel Kindern (-und auch Großen!) leicht und auf angenehme Weise die Noten im Violin- und Baß-Schlüssel zu lehren Menuette Menuette Menuette Märsche Menuette Menuette / Contretänze ohne Benennung Präludien Menuette Walzer Contretänze Angloisen Anglaisen / Walzer ???; ???; ??? Arien / Duette Ecossaisen Walzer Walzer Märsche ??? Quelle: Haupenthal 1994, S. 405ff 14 8. Literaturverzeichnis Gerigk, Herbert (1934). Art. „Würfelmusik" In: Zeitschrift für Musikwissenschaft Nr. XVI. Leipzig, S. 359-363. Haupenthal, Gerhard (1994). Geschichte der Würfelmusik in Beispielen. Saarbrücken: Dissertation [2 Bände]. Ruttman, Franziska (o. J.) Würfel-Musik. http://vs-material.wegerer.at/musik /wuerfelmusikkarten.pdf , letzter Zugriff: 05.03.2009 19:15 Uhr. Steinbeck, Wolfram (1998). Art. „Würfelmusik“ In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Bd. 9 Hg. v. Ludwig Finscher. Kassel u.a.: Bärenreiter und Metzler (2. Aufl.), Sp. 2084 – 2089. Musikalische Würfelspiele auf CD-ROM Reuter, Christoph (2001). Musikalische Würfelspiele. von Mozart, Haydn und anderen großen Komponisten. CD-ROM. Schott-Verlag Demo-Version zu finden unter: 1) http://www.schott-music.com/dicegames/ (letzter Zugriff 09.03.2009, 17:10 Uhr) 2) http://www.chr-reuter.de/wuerfel/tabelle.htm (letzter Zugriff 09.03.2009, 17:23 Uhr) 15 Musikalische Würfelspiele im Internet W.A. Mozarts „ Anleitung, so viel Walzer man will mit Würfeln zu componiren, ohne musikalisch zu seyn oder Composition zu wissen“: 1) http://web.ard.de/radio/mozart/wuerfelspiel/index.php (letzter Zugriff 10.03.2009, 17:20 Uhr) 2) http://sunsite.univie.ac.at/Mozart/dice/#options (letzter Zugriff 10.03.2009, 17:27 Uhr) Johann Philipp Kirnbergers „Der allezeit fertige Polonoisen- und Menuettencomponist“: 3) http://134.93.242.10:5050/kirnberger_de.html (letzter Zugriff 10.03.2009, 17:30 Uhr) Sowohl Mozarts „Anleitung“ als auch Kirnbergers “Componist“: 4) http://www.combib.de/programme/musikalischewuerfelspiele.html#Programm (letzter Zugriff 10.03.2009, 17:10 Uhr) 16