Jahrbuch 2012/2013 | Zalfen, Sarah | Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens Emotional formations of musical experience Zalfen, Sarah Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Forscherinnen und Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersuchen kulturell, politisch und sozial bedingte Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens in unterschiedlichen historischen Kontexten. Die kulturw issenschaftliche Emotionsforschung betrachtet Musik als ein komplexes Phänomen: Nicht nur Mensch und Klang, sondern auch Räume und Artefakte, Körper und W issen, Geschmack und Gemeinschaften konstituieren das Verhältnis von Musik und Gefühlen. Summary Researchers at the Max Planck Institute for Human Development investigate the historical development of the emotions triggered by music in the 19th and 20th centuries. Focusing on emotions as a public form of communication, they aim to decipher the emotional structure of communities: W hat role did and does music play in the development and cohesion of communities? The focus is less on the physiological effects of music than on how they are appropriated by groups. Musik ist die Sprache der Gefühle – so zumindest lautet ein jahrhundertealter Gemeinplatz. Die Frage, w elche Emotionen das Produzieren und Hören von Musik unmittelbar auslöst, w ird durch den aktuellen Trend der Neurow issenschaften und ihre verheißungsvollen bildgebenden Verfahren beflügelt. Zw ischen traditionellem Topos und Magnetresonanztomografie spannt sich ein w eites Feld von Phänomenen: Praktiken des MusikSpielens und -Hörens, Körpererfahrungen, Gruppendynamiken, Geschmacksdiskurse und Gefühle der Erhabenheit, des Glücks, der Aggressivität oder der Langew eile. Die Max-Planck-Forschungsgruppe „Gefühlte Gemeinschaften – Emotionen im Musikleben Europas“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersucht seit zw ei Jahren, w ie sich Musikerfahrungen und Gefühlserlebnisse im Zuge der sozialen und stilistischen W andlungen der Musikgeschichte herausbildeten, zu w elchen Verhaltensformen und Handlungen sie führten und w ie sie sich immer w ieder veränderten. Was Musik ausmacht, lässt sich nicht ausschließlich im Labor nachweisen Erste Forschungsergebnisse w idersprechen nicht den Befunden psychologischer oder neurobiologischer Untersuchungen, denen zufolge auch einzelne Klänge, Akkorde und Melodien nachw eisbare vegetative, © 2013 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/4 Jahrbuch 2012/2013 | Zalfen, Sarah | Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens kognitive und emotionale Reaktionen hervorrufen können [1, 2]. Doch sie verdeutlichen, dass es notw endig ist, von einem komplexeren Musikverständnis auszugehen. Zur Musik und insbesondere zu ihrer emotionalen W irkung gehört ihr Kontext. Der besteht aus Aufführungsräumen und Artefakten vom Konzertsaal bis zum MP3-Player, aus Körperlichkeit, Bew egungen und Performance vom virtuosen Musiker bis zur abtanzenden Konzertbesucherin, aus erlernten musikalischen und außermusikalischen Erfahrungen und Geschmacksmustern und vor allem aus dem gemeinsamen Hören. Unter „Laborbedingungen“ sind diese komplexen Texturen, aus denen Musik eben auch besteht, nicht herzustellen, sie müssen aus vielfältigen Quellen – darunter Ton- und Bilddokumente, Musikkritiken und Fanzeitungen, Tagebücher und Briefe, Devotionalien und MerchandisingProdukte – rekonstruiert und interpretiert w erden. Die historische Emotionsforschung hat in den vergangenen Jahren vielfach dokumentiert, dass nicht nur die Ausdrucksformen bestimmter Empfindungen w ie Freude oder Trauer historischem W andel unterliegen, sondern auch die Empfindungen selbst [3, 4]. Aus dieser Perspektive ist das Verhältnis von Musik und Gefühl keine Universalie, sondern von historischen und soziokulturellen Faktoren abhängig. Die Untersuchungen zeigen, dass sich die emotionale Prägung von Musikproduktion und -rezeption im Laufe der Geschichte ebenso sehr verändert hat w ie die Musik selbst und die Art und W eise, sie aufzuführen. Im Zuge dieser Entw icklung sind spezifische Gefühlsordnungen musikalischen Ausdrucks und Erlebens entstanden, die Künstlerinnen und Publikum ermöglichten, vielfältige Emotionen in Musik zu legen und ihr gegenüber zu empfinden. Die Musikgeschichte vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, der sich die Studien der Forschungsgruppe w idmen, bietet eindrucksvolle Beispiele dafür, dass eben kein kausaler Nexus zw ischen einem bestimmten Musikstück und einer spezifischen emotionalen W irkung besteht. Die Untersuchung verschiedener Musikrichtungen und des unterschiedlichen „Gebrauchs“ von Musik veranschaulicht, dass sie w eder a priori bestimmbare Gefühle erzeugt noch eine spezifische Bedeutung hat. Beides entsteht erst in der Interaktion von Musik und Interpretation, von Text und Kontext. Verändert sich letzterer entsprechend der sozialen Prägung und historischen Situiertheit der empfindenden Subjekte und ihrer Körper, so verändern sich auch die Interaktionsformen und somit die Gefühlserlebnisse. Für die Einzelstudien der Forschungsgruppe ist es daher entscheidend, Musik als ein historisch bedingtes soziales und kulturelles Feld zu betrachten, in dem die vielfältigen Einflüsse, aus denen „musikalische Empfindungen“ entstehen, ineinandergreifen. Von ekstatischer Verzückung bis zum Erlebnis tiefer Innerlichkeit: Gefühlskonzepte der Musikrezeption Die Musikgeschichte ist voll von Verw eisen auf Gefühle, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Diversität die Frage nach den Ursachen ihres W andels aufw erfen: In den 1840er-Jahren riss sich das begeisterte Publikum des als Klavierw under gefeierten Franz Liszt w ortw örtlich um Taschentücher, mit denen sich der Pianist die Stirn trocken tupfte, und die Damen fielen angesichts seiner Musik vor Verzückung in Ohnmacht. Nur eine Musikergeneration später saß ein sozial ganz ähnlich zusammengesetztes Publikum still und schw eigend im Konzertsaal und empfand Musik als ein Erlebnis tiefer Innerlichkeit. Anhand von Virtuosenkonzerten aus dem 19. Jahrhundert und der Rezeptionspraxis, die Richard W agner seinem Publikum abforderte, lässt sich zeigen, w ie das konzentrierte (Zu-)Hören als emotionale Körpertechnik entw ickelt w urde, durch die bestimmte Gefühle w ie Ekstase, Hingabe oder Erhabenheit überhaupt erst aktiv entstehen. Gerade bei Franz Liszt, der die Frauen mit seinem Klavierspiel regelrecht um den Verstand brachte, oder im Fall des „nationalen Aufstiegs“ W agners w ird aber auch deutlich, w ie Gefühlskonzepte der Musikrezeption von anderen Ordnungsvorstellungen w ie Körper, Geschlecht und Nation abhängen. Die Veränderungen der Gefühle für bestimmte Musik können radikal sein. W as in der romantischen Gefühlsästhetik als vermeintlich „echter“ Ausdruck der Seele des Komponisten das Publikum bew egte, mochte © 2013 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/4 Jahrbuch 2012/2013 | Zalfen, Sarah | Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens einem nicht minder emotionalen Publikum hundert Jahre später im Vergleich zum rauen Ton des „echten Rock“ nur noch als konventionelles „Geklimper und Gefiedel“ erscheinen. W as als authentischer Ausdruck des Gefühls einer ganzen Generation oder Bew egung galt, diskreditierten die Anhänger der darauffolgenden Musikmode als „pseudo“ oder „kommerziell“ und negierten so jede legitime emotionale Bedeutung. Dieser musikalische Gefühlsw andel verläuft dabei keinesfalls historisch linear. Manche verzaubert und bew egt die Romantik auch im Zeitalter von Rock und Pop, andere begleitet der King of Rock ’n’ Roll von der W iege bis zur Bahre. Empfindungen gegenüber Musik oszillieren zw ischen nur zum Teil deckungsgleichen sozialen und emotionalen Zugehörigkeitsgefühlen. Beide bedienen sich aus einem reichen historisch formierten Fundus. Die Bildungsfunktion von Musik gibt vermeintlich „richtiges“ emotionales Erleben vor Der Zusammenhang zw ischen vermeintlich inneren, individuellen Gefühlen und sozialen Zugehörigkeiten bedingt auch die Bildungsfunktion, die Musik seit jeher eingenommen hat. Dass die „richtigen“ musikalischen Empfindungen etw as w aren, das es sich anzueignen galt, um auch am sozialen und politischen Leben zu partizipieren, gilt bereits im Zeitalter der Bürgerlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Massenpolitisierung im 19. Jahrhundert w ar vielfach eine Bildungspolitik, die versuchte, durch gemeinsames Singen die Körper und „Herzen“ der Menschen zu formen. Ihr musikalischer Kanon ist bis in die Gegenw art mit emotionalen Bezügen aufgeladen. Solche musikgebundenen Emotionen sind nicht nur affirmativ, sondern können auch Differenz und Abw eichung zum Ausdruck bringen. Doch auch diese sind an den jew eiligen Kontext gebunden. Eine Jugend, die sich von den Ordnungsvorgaben der Gesellschaft emanzipiert, konnte ihre Protestgefühle in einem bestimmten Kontext durch das Singen von W anderliedern formen, in einem anderen durch den rauschhaften Genuss von lauter, aggressiver Punkmusik und Alkohol. Spezifische Bedingungen des Musik-Erlebens prägten stets auch das Musikempfinden. Umgekehrt bestimmten geltende Annahmen über die Rolle der Musik für individuelle und intersubjektive Empfindungen auch die Rahmenbedingungen für deren Erleben. Stillsitzen und andächtiges Zuhören formte das emotionale Erleben von Musik anders als rhythmisches oder aggressives Tanzen oder marschierendes Singen. Musik bedingte die Herausbildung emotionaler Praktiken und w ar in ihrem stilistischen Wandel zugleich abhängig von ihnen [5]. Unterschiedliche Praktiken des Musik-Erlebens erschaffen mithin auch andere Emotionen. Der Kontext verändert die Bedeutung von Musik und mit ihr die Gefühle der Identifikation oder Ablehnung, w elche die Musik vermeintlich selbst hervorbringt oder auslöst. Literaturhinweise [1] Koelsch, S. Toward a neural basis of music perception - a review and updated model Frontiers in Psychology 2, 110 (2011) [2] Juslin, P. N.; Sloboda, J. A. (Eds.) Music and emotion: theory and research Oxford University Press, Oxford UK (2001) [3] Frevert, U. Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? [What has history got to do with emotions?] Geschichte und Gesellschaft 35, 183-208 (2009) © 2013 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/4 Jahrbuch 2012/2013 | Zalfen, Sarah | Gefühlsbildungen des Musik-Erlebens [4] Frevert, U.; Scheer, M.; Schmidt, A.; Eitler, P.; Hitzer, B.; Verheyen, N.; Gammerl, B.; Bailey, C.; Pernau, M. Gefühlswissen: Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne Campus, Frankfurt a. M. (2011) [5] Scheer, M. Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A bourdieuan approach to understanding emotion History and Theory 51, 193-220 (2012) © 2013 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/4