Fokus Menschenrechte Nr. 30 / Dezember 2015 Aufklären, therapieren, kriminalisieren Erfahrungen der LGBTI-Community in der Türkei Kaos (türkische LGBTI Organisation) Der Schutz der Rechte von Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) steht auf der politischen Agenda der Türkei nicht weit oben. Ganz im Gegenteil: Die Rechte von LGBTI werden auf systematische Weise ignoriert und verletzt. Seit 1990 organisieren sich Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle in der Türkei und seit 2000 berichten sie systematisch über Menschenrechtsverletzungen in ihrer Community. Zusammenfassung Von Ignoranz bis Verfolgung Die Rechte von LGBTI werden in der Türkei auf systematische Weise ignoriert und verletzt. Seit 1990 organisieren sich Lesben, Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle und seit 2000 berichten sie systematisch über Menschenrechtsverletzungen in ihrer Community. Zudem publizieren türkische LGBTI-Organisationen Berichte zu Fragen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identifikation. Allmählich rückt das Thema so ins allgemeine Bewusstsein der Türkei. Doch ist Diskriminierung weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen: immer noch kommt es zu hassmotivierten Verbrechen besonders gegen Trans-Frauen und homosexuelle Männer. Zudem gibt es Probleme beim Zugang zur Justiz, fehlende Bestrafung von Tätern, Folter und Misshandlung von transsexuellen Frauen durch die Polizei, Probleme beim Zugang zu Ausbildung, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt und sozialen Einrichtungen. Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle Organisationen werden vom Staat kritisch beäugt und mitunter verboten, weil sie gegen die „Türkische Familienstruktur“ und die allgemeine Moral verstoßen. Begriffe deren Unbestimmtheit eine willkürliche Interpretation ermöglicht. Weitere Begriffe wie „Obszönität“ oder „schamlose Akte“ werden dazu verwendet die Freiheiten von Homosexuellen einzuengen und sie zu bestrafen. Ein Beispiel ist der Fall Lambdaistanbul (eine LBGTI Organisation aus Istanbul) über die ein Gericht urteilte, dass sie ihre Arbeit nur fortsetzen könne, solange sie keine Homosexualität verbreite. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Gesetzgebung immer noch der Meinung ist, dass Homosexualität von einer Person auf die andere übertragbar sei. Es gibt einige, mitunter tragische Fälle, die in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen. Ahmet Yildiz wurde am 15. Juli 2008 ermordet. Nur ein Jahr zuvor Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Erfahrungen der LGBTI-Community in der Türkei | Nr. 30 - Dezember 2015 | 2 Morde aus Hass gegen LGBTI nach Jahr und Region. Grafik: Kaos hatte er Anzeige gegen seine Familie erstattet, weil diese gedroht hatte ihn umzubringen. Ahmet schrieb darüber auch in dem homosexuellen Magazin Beargi. Später schickte er denselben Artikel an Kaos GL, eine türkische LGBTI Organisation und Partnerorganisation der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul. Ahmet Yildizs Tod wird immer noch untersucht. Bislang wurde niemand für den Mord verhaftet oder angeklagt. Im Fall von Halil Ibrahim Dinçdağ geht es um Diskriminierung am Arbeitsplatz: dem Fußball-Schiedsrichter wurde die Ausübung seines Berufes verboten, nachdem herausgekommen war, dass er aufgrund eines medizinischen Berichts nicht bei der Armee war. Dieser Bericht besagt, dass er homosexuell ist. Wegen seiner sexuellen Orientierung galt er daraufhin nicht mehr als „geeignet“ für den Schiedsrichterberuf. Eine große Anzahl an Kampagnen im Zusammenhang mit Fällen wie denen von Yildiz und Dinçdağ haben die Aufmerksamkeit für die Rechte der Homosexuellen-, Bisexuellen- und Transgender- Gruppen erhöht. Die hohe Anzahl an Diskriminierungen gegen LGBTI zeigt aber auch, dass noch keine Gerechtigkeit herrscht. Am fehlenden Vertrauen der türkischen LGBTI-Gemeinde in das nationale Justizsystem und die Menschenrechtsmechanismen wird sich so nichts ändern. Die Bandbreite an Diskriminierung gegen LGBTI ist groß. Zum Beispiel haben sie viele Probleme bei der Wohnungssuche, da sie niemand als Mieter oder Nachbar haben will. Meist mit der Begründung, dass es sich um eine „anständige“ Gegend handele und die Nachbarschaft durch LGBTI-Bewohner in Verruf geraten könnte. Es ist sehr schwer für zwei homosexuelle Männer zusammen zu wohnen und ihre Beziehung offen auszuleben, besonders wenn sie aus dem Jugend- und Studentenalter raus sind. Lesbische Beziehungen werden als weniger „bedrohlich“ wahrgenommen als schwule. Eventuell auch weil sie Teil der sexuellen Phantasien heterosexueller Männer sind. Dennoch berichtet die Presse sehr negativ über lesbische Beziehungen und die Frauen sind Diskriminierungen ausgesetzt. Die Polizei und die Armee sind Homosexuellen offen feindlich gesinnt. Sie klassifizieren Homosexualität als eine „Psychisch-Sexuelle-Störung“. Polizisten und Soldaten, die sich als homosexuell outen oder „auffliegen“ werden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus dem Dienst entlassen. Auch in Gefängnissen haben Homosexuelle, Bisexuelle und Transsexuelle Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Erfahrungen der LGBTI-Community in der Türkei | Nr. 30 - Dezember 2015 einen schweren Stand. Transsexuelle werden auf Grundlage ihrer neuen Identität in Männeroder Frauen-Gefängnisse gesperrt. Als einziger biologischer Mann oder einzige biologische Frau dort fehlt ihnen der Zugang zu adäquater medizinischer und hygienischer Versorgung. Das türkische Justizministerium plant nun spezielle Gefängnisse nur für LGBTI. Das aber ist keine nachhaltige Lösung. Die Lösung sollte sein, dass LGBTI in allen Gefängnissen adäquat versorgt werden und nicht in extra „LGBTI-Gefängnissen“ isoliert werden. | 3 erhalten keine Studien- oder Ausbildungsplätze. Eine Ausbildung aber ist die Voraussetzung für ein Berufsleben. Ohne Schulabschluss bleibt vielen LGBTI nur die Möglichkeit im Sexgewerbe tätig zu werden. Selbst mit Ausbildung ist es eine große Herausforderung für LGBTI eine Ar- LGBTI im Lernumfeld Auch an Schulen und Universitäten gibt es viel Diskriminierung gegenüber LGBTI: das Schulsystem und die Curricula stellen heterosexuelle Beziehun- Protest gegen die Diskriminierung von LGBTI in der Türkei. gen als die Norm da, LehFoto: Kaos rer, Schulverwaltung und beitsstelle zu finden bzw. sie zu behalten wenn Pädagogen haben homophobe Einstellungen, sie sich outen. Deshalb wehren sich viele nicht es kommt zu Mobbing durch die Mitschüler, es gegen Diskriminierungen am Arbeitsplatz aus werden Disziplinarmaßnahmen gegen schwule Furcht ihre Stelle zu verlieren. Besonders transund lesbische Schüler angestrengt. Kinder die sexuelle Frauen landen oft im Sexgewerbe, nicht ins traditionelle Geschlechterbild passen, auch wegen der schlechten Ausbildung die sie werden als schwul kategorisiert und somit von in einem diskriminierenden Schulsystem erhalSchulen als Problem gesehen. Das Schulsysten haben. tem geht davon aus, dass alle heterosexuell sind, Homosexualität wird als unmoralisch bewertet. Somit gibt es keinerlei Vorkehrungen Ärzte wollen therapieren um LGBTI-Jugendliche vor Diskriminierung und Mobbing zu schützen. Der SexualkundeunterAuch im Gesundheitssektor sehen sich LGBTI richt lässt zu wünschen übrig oder fehlt ganz. mit Problemen konfrontiert. Ärzte gehen meist Die Curricula beinhalten häufig Worte wie „Modavon aus, dass ihre Patienten heterosexuell ral“, „Scham“, „Ehre“, „Sittsamkeit“ ohne diese sind. Sind sie dies nicht, wollen die Ärzte sie oft jedoch klar zu definieren. Dies öffnet homophobehandeln, da sie LGBTI als Krankheit sehen. ben Interpretationen Tor und Tür. Es gibt es immer mehr Ärzte, die sich auf „Therapien“ und Behandlungen“ für Homosexuelle LGBTI-Schüler finden sich in einem diskriminiesogar spezialisieren und so das Vorurteil Horenden Lernumfeld wieder, was negative Ausmosexualität sei „abnormal“ oder eine Krankheit wirkungen auf ihren Lernerfolg und ihre Ausverstärken. bildung hat. Junge Menschen, die sich zu ihrer Homosexualität oder Transsexualität bekennen, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte Erfahrungen der LGBTI-Community in der Türkei | Nr. 30 - Dezember 2015 Hinzu kommt, dass AIDS/HIV als „Krankheit der Homosexuellen“ gilt und auch nichtinfizierte LGBTI als ansteckend stigmatisiert werden. Auch das Klinikpersonal hat Angst vor einer AIDS/HIV-Infizierung was zu einer schlechteren medizinischen Versorgung der LGBTI führt. Gleichzeitig gibt es kaum ein Bewusstsein für Lesben und weibliche Transsexuelle, was zu Problemen bei Frauenarztbesuchen führt. Auch Sozialarbeiter behandeln LGBTI nicht immer fair. In Einrichtungen in denen Kinder, Jugendliche, Kranke und Alte wohnen, leben auch Homo- und Transsexuelle. Betreuer behandeln diese häufig wenig zuvorkommend, outen sie mitunter. Jugendliche, die ihre eigene Sexualität entdecken, gelten als suspekt und müssen mit | 4 disziplinarischen und juristischen Konsequenzen rechnen. Gesetze kriminalisieren Geschlechterangelegenheiten sind in Artikel 40 des türkischen Gesetzbuchs geregelt. Dieser besagt, dass sich nur unfruchtbare Menschen einer Geschlechtsumwandlung unterziehen dürfen. Alle anderen Geschlechtsumwandler können somit als rechtswidrig, gar kriminell abgestempelt werden. Die Liste der Herausforderungen ist lang. Umso wichtiger ist es, dass LGBTI und Menschenrechtsorganisationen sich für die Rechte von LGBTI einsetzen. ________________ 1 Es gibt eine Reihe von Abkürzungen, die hier gewählte LGBTI ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex also Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle. Es ist die Abkürzung, die in den Yogyakarta-Prinzipien verwendet wird. Die Yogyakarta-Prinzipien behandeln die Menschenrechte in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. Der Bericht wurde von der türkische LGBTI Organisation Kaos GL, einer Partnerorganisation der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul verfasst. http://www.kaosgldernegi.org/kaosgl_en.php Impressum Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Bereich Internationale Politik - Referat Asien und Menschenrechte Karl-Marx-Str. 2 14482 Potsdam [email protected] www.freiheit.org Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit | Fokus Menschenrechte