Die Reisetagebücher Schopenhauers

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Die Ausfahrt des Buddha?
Reisetagebücher
Schopenhauers
Die
Ludger Lütkehaus (Freiburg)
In seinem „Cholera-Buch" hält Schopenhauer 1832 die folgende autobiographische Reflexion fest:
In meinem 17ten Jahre[,] ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer
des Lebens so ergriffen, wieBuddha inseiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz
und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwandt
bald die auch mir eingeprägten Jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt
kein Werk eines allgültigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der
Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden: darauf
deuteten die Data, und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand. (HN IV,1, 96)
— das ist das zweite Jahr jener Reise, die Schopenhauer von
Das „17te Jahr"
Anfang Mai 1803 bis Ende August 1804 mit seinen Eltern durch Holland,
England, Frankreich, die Schweiz und Österreich unternommen hat. In seinem
„auf der Flucht vor der Cholera" geschriebenen Manuskriptbuch erinnert er sich
dieser fast dreißig Jahre zurückliegenden jugendlichen Ausfahrt, auf der er nach
seinem Bekenntnis so „vom Jammer des Lebens" ergriffen wurde, wie der
„Buddha", der noch keiner war, auf seinen legendären vier Ausfahrten von
„Krankheit, Alter, Schmerz und Tod". Wie bei diesem geht es um Erfahrung,
buchstäblich: um Lebens-Erfahrung, um existentielle Empirie. Erst von ihr, von
den „Data" aus, werden die „eingeprägten Jüdischen Dogmen", auf die sich hier
die christliche Tradition reduziert hat, besonders die Lehre von einem allgütigen
Schöpfer, revidiert und
gefolgert,
in der Umkehrung der Gottesbeweise
daß die Welt Teufelswerk sei. Erst von solcher Lebens-Erfahrung her erhält die
Betonung, daß keinerlei „gelehrte Schulbildung" beteiligt gewesen sei, ihren
Sinn. Und man mag hinzufügen, daß Schopenhauer mit der Berufung auf die
Ausfahrten des noch nicht „erwachten" Buddha implizit auch für sich in
Anspruch nimmt, was deren Sinn ist:daß es ein gesunder und junger „Prinz" ist,
der unvermittelt dem Leiden des Lebens begegnet; daß ihn also kein Vorurteil
und schon gar nicht das Ressentiment eines Zu-kurz-Gekommenen bei dieser
Erfahrung beeinflußt hat. Pointiert formuliert: Der „Buddha des Westens"
beschreibt seine Ausfahrt.
Allerdings gibt diese Deutung auch etliche Fragen auf. Nicht, daß man sich
an solcher Selbsteinschätzung stören müßte: Schopenhauers Lehre, nicht sein
Leben, war die eines Buddhas des Westens. Ebensowenig wird man die Tatsache,
daß bei den von Schopenhauer genannten vier Ausfahrten die Begegnung mit
dem Mönch zugunsten der mit dem Schmerz verdrängt worden ist, befremdlich
finden müssen. Denn die mönchische Perspektive taucht inden angeschlossenen
Überlegungen Schopenhauers über das Leiden als „Gnadenmittel", als Erlösung
vom Irrweg des Lebens unterschwellig wieder auf. Aber ist er denn wirklichin
seinem „17ten Jahre" vom „Jammer des Lebens" ergriffen worden? Welcher
Krankheit, welchem Schmerz, wessen Alter und Tod ist er denn begegnet? Oder
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hat er so, wie die buddhistische Lehre sich in die Buddha-Legende von den vier
Ausfahrten kleidet, nur a posteriori seinen Erkenntnis weg rekonstruiert? Und
wenn es schon um den Jammer des Lebens gehen soll
wie steht es dann mit
seiner Erfahrung vor dem „17ten Jahre"? Ist ihm der junge Schopenhauer bei
seiner Ausfahrt im dreizehnten Jahre (wie schon vorher im zehnten), die ihn
doch zum Teil in dieselben Lebensbereiche geführt hat, noch nicht begegnet?
Und schließlich: Beim Buddha beginnt mit den vier Ausfahrten der Auszug aus
der „Heimat" in die „Heimatlosigkeit". Inwiefern gilt das aber schon von dem
bürgerlichen „Prinzen", der
so ausdrücklich seine erste Notiz vom 3.Mai
1803
seinen Platz zwischen seinem Vater und seiner Mutter einnimmt? Fließt
deren „gelehrte" oder wie immer geartete Bildung nicht in seine Erfahrung ein,
so wie doch auch ihm die „Dogmen" der Tradition eingeprägt worden sind? Und
wenn ja: Was erfährt er von ihnen, zumal von der gebildeten und nicht nur
literarisch sensibilisierten Mutter?
Fragen genug also; sie werden im folgenden an die beiden Reisetagebücher
gestellt, die der junge Schopenhauer inden Jahren 1800 und 1803/04 geführt hat.
Fragen aber auch, die diesen Reisetagebüchern neben ihrem selbstverständlichen
autobiographischen und kulturgeschichtlichen Wert jenes existentielle und philosophische Gewicht geben, das ihnen zukommt. Denn noch einmal: Der Buddha
des Westens beschreibt seine Ausfahrt.
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Die Reise, die von der Familie Schopenhauer einschließlich der dreijährigen
Adele von Mitte Juli bis Mitte Oktober 1800 nach Carlsbad und Prag unternommen wurde, war eine Bäder-, Bildungs- und Vergnügungsreise. Die Reise von
1803/04 hingegen, bei der die Schwester zu Verwandten gegeben wurde,
— verfolgte weitaus deutlicher, obwohl nicht ausschließlich, Bildungszwecke
wie
schon die erste Reise, die der junge Arthur 1797 mit seinem Vater über Paris nach
Le Havre unternommen hatte. Und 1803 kam noch ein besonderer Anlaß hinzu:
Der Sohn und Erbe mit seiner Neigung zum brotlos-dürftigen Gelehrtendasein
(so der kaufmännische Realismus des Vaters) war vor die Wahl gestellt worden,
entweder aufs Gymnasium oder auf eine große europäische Tour zu gehen und
dabei seine „theuren Freunde" in Le Havre wiederzusehen, das allerdings mit
dem Versprechen, sich anschließend dem Kaufmannsstande zu ergeben: gewiß
eine gezielt beeinflußte Wahl, wenn man so will,eine Wahl mit Köder oder gar
Bestechung; auf jeden Fall, mit den Worten des 1809 bei der Universität Berlin
eingereichten Lebenslaufes, eine „Versuchung", der „das jugendliche Herz"
nicht widerstehen konnte; aber eben doch eine Wahl, bei der sich der sonst
überaus feste Wille des Vaters nicht über „die ihm angeborene Achtung vor der
Freiheit jedes Menschen" hinwegsetzte, wie der Sohn an derselben Stelle dankbar vermerkt hat.
Solcher Liberalität entsprechen denn auch die erzieherischen Modalitäten der
Reise: Der nach seinem zweijährigen Aufenthalt in Le Havre schon früh
selbständige Arthur kann sich miteinem beträchtlichen Maß an Unabhängigkeit
bewegen. Mit den Elementen einer „schwarzen" Pädagogik, die den Willen
brechen will,wird er nur inAbwesenheit seiner Eltern, während seines dreimonatigen Aufenthaltes im Haus des Reverend Lancaster in Wimbledon, im
bigotten „Exil"also, bekannt.
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Hinzu kommt: Der Sohn soll nicht in den Büchern, sondern im „Buche der
Welt" lesen lernen. Die damit einhergehende Verzögerung der Ausbildung inden
„klassischen Lehrfächern und Sprachen" ist von Schopenhauer zwar in dem
zitierten Lebenslauf bedauert worden; dennoch hat er auch dort in aller Deutlichkeit der Anschauung und Erfahrung der Dinge vor dem Erlernen der nur zu
oft leeren Worte und Meinungen den Vorzug gegeben.
ImReisetagebuch von 1803/04 stehen zwei pädagogische Exkursionen dafür.
Bei dem Besuch im Taubstummen-Institut des Abbé Sicard (108 ff.) beobachtet
man, welch einfacher und zweckmäßiger Gebrauch dort vom „gestikulirten
Wort" gemacht wird. Im Unterschied zu dem gesprochenen und geschriebenen
gilt es dem jungen Schopenhauer als Medium der natürlichsten und eben
deswegen allgemeinsten Rede. In ihr findet er die wahren sprachlichen Universalien, die zugleich die Kommunikation mit denen gestatten, die man sonst aus
dem Bereich der Vernunft und der menschlichen Gesellschaft exkommuniziert.
Das zweite Exempel bietet der Besuch im Institut des „berühmten Pestaluzzi" (213 ff.), der statt der Buchgelehrten den vorurteilslosen „gesunden
Menschenverstand" der „niedrem Volcksklassen" zum Lehrmeister seiner
„neuen Erziehungs-Methode" bestellt. Hier, unter normaleren, übertragbaren
Bedingungen, ist es noch deutlicher das Absehen von der gelehrsamen Gedächtnisbildung, die Konzentration auf die Sachen selbst und ihre „sinnliche Vorstellung", die trotz einiger Bedenken das besondere Interesse des jugendlichen
Beobachters findet. Und von ihm bis zum späten Schopenhauer herrscht eine
erstaunliche Kontinuität. Das 28. Kapitel der „Parerga und Paralipomena" wird
mit seiner scharfen Unterscheidung von anschauungsorientierter „natürlicher"
und begriffsorientierter „künstlicher Erziehung" die frühe pädagogische Erfahrung und Wertung erneuern. Und in Schopenhauers Philosophie der Lebensalter
räumt das Konzept einer „negativen" Erziehung, die das Kind vor „falschen
Begriffen" und philosophischen oder religiösen „Hirngespinsten" zu bewahren
sucht (PI,513 f.),noch schärfer mit aller „künstlichen Erziehung" auf. Diese „negative" Erziehung meint einerseits den pädagogischen und phänomenologischen
Imperativ: „Zu den Sachen selbst!", insofern etwas Positives In bezug auf die
einmal „eingeprägten Dogmen" der Tradition freilich fordert dieser Imperativ in
der Tat die „negative" Befreiung von ihnen. Denn das ist nach Schopenhauers
Philosophie der Lebensalter das „Erste, was die Erfahrung zu thun vorfindet".
Die Ausfahrt, die ,Lektüre' im „Buche der Welt", die Emanzipation von den
„Dogmen" und das Konzept einer „natürlichen" Erziehung stehen also in einem
schlüssigen inneren Zusammenhang. Was die Erziehung Schopenhauers selber
betrifft, stellt sich allerdings auch die Frage, wie sich denn in ihr der Imperativ
„Zu den Sachen selbst" und diebei aller aufgeklärten Liberalität des Elternhauses
auch ihm „eingeprägten Dogmen" miteinander vertragen haben.
Generell darf man die Selbständigkeit des jugendlichen Tagebuchautors
ohnehin nicht überschätzen. Der elterliche Einfluß spielt eine bedeutende Rolle,
zumal der der Mutter. Die vergleichende Lektüre der Reisebeschreibungen, die
sie auf der Grundlage der gleichzeitig mit dem Sohn geführten Tagebücher ein
Jahrzehnt später publiziert hat, relativiert seine Originalität ganz ohne Frage an
etlichen Punkten wenngleich gerade bei der gemeinsamen Begegnung mit dem
Jammer des Lebens auf die spezifische Differenz zu achten sein wird. Die von
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einer männlich präokkupierten Literaturgeschichtsschreibung verbreitete Mär,
daß die weltläufige Mutter, deren Schriftstellern auch heute noch respektabel ist,
die frühen Produkte ihres genialen Sohns schlicht ausgebeutet habe, kann man
sowieso getrost zu den Akten legen.
Ebensowenig darf man die Einschränkungen unterschätzen, die sich aus den
Rahmenbedingungen der gemeinsamen familiären Bildungsreise ergeben haben.
Um beurteilen zu können, was der Sohn schreibt und was er nicht schreibt und
schreiben kann, muß man sich vorweg klarmachen, daß er nicht nur in der
dauernden Kommunikation mit seinen Eltern geschrieben, sondern auch unter
ihren Augen geschrieben hat. Ungeachtet aller Freiheiten sind seine Reisetagebücher auch so etwas wie eine permanente Hausaufgabe, eine Schreibübung, nicht
zuletzt eine handschriftliche Übung gewesen. Und wenn die Mutter ihre Reisebeschreibungen literarisch stilisiert, so hat er seine Tagebücher zweifellos in
gewissem Umfang zensiert. Familiäre Beziehungen und Emotionen klingen
kaum an was freilich wiederum einschließt, daß er nicht zum Apportieren von
Gefühlen erpreßt worden ist:Die lapidare Nüchternheit, mit der er, durchaus im
Gegensatz zu der enthusiastischen Wiedersehensfreude in Le Havre, nach dem
dreimonatigen „Exil"in Wimbledon bei London die befreiende Rückkehr der
Eltern vermerkt; auch der Lakonismus, mit dem er die Zweisamkeit mit der
Mutter während der abenteuerlichen Exkursion nach Chamonix quittiert, sprechen für sich.
Und sonst: Leidenschaft, gar frühes Leid? Das Zusammensein des immerhin
der
in Pubertät befindlichen Tagebuchautors mit einer jungen Engländerin wird
nur knapp berührt. Die Begegnung mit jenem mörderischen Folterinstrument,
das auf den Namen „dieJungfer" getauft worden ist (239 f.), sagt dem Zwölfjährigen verständlicherweise überhaupt nichts. Aber auch der Fünfzehnjährige, der
keineswegs blind ist für die Schönheit oder Häßlichkeit der Altersgenossinnen;
der die Tänze „sehr zweydeutiger Damen" (57) sehr wohl registriert und
zumindest inden Alpen die noch unbestiegene Jungfrau gern „ganz entschleiert"
sieht (206 und 212), spricht explizit an keinem Punkt von dem, was er wenig
später in seinem ersten eigenen Gedicht seine „Wollust" und seine „Hölle"
nennt. Der scharfe Einschnitt, den Schopenhauer in seiner Philosophie der
Lebensalter zwischen der sexuell noch nicht getriebenen, ungetrübten Kindheit
und dem unruhigen und schwermütigen Jünglingsalter sieht, wird kaum spürbar; in diesem Sinn bleibt auch der Autor des zweiten Reisetagebuches, gewiß
nicht das sexuelle Wesen, das mit ihm in einer Haut zusammenlebt, noch Kind.
Kurz: Beide Tagebücher, entstanden in einem relativ freien, aber auch nüchternen familiären Milieu, sind alles andere als ein frühes „journal intime".
„Zu den Sachen selbst" also, noch einmal: auch im eingeschränkten, entsubjektivierten Sinn. Aber zu welchen „Sachen"? Die Werke der Kunst, die Denkmäler—der Geschichte, die Sehenswürdigkeiten der Natur, die Spektabilitäten der
Zeit alles scheint in der Beschreibung des jungen Schopenhauer unterschiedsund akzentlos ineinander überzugehen. In Weimar begegnet er zum Beispiel
ohne weiteren Kommentar einem Mann namens Schiller, nachdem er zuvor den
„höchstinteressanten Herrn Bertuch" kennengelernt hat. Im übrigen werden
Parks und Paläste, Straßen und Städte, Sitten und Kleider von dem jugendlichen
Richter, der sich noch einig mit den Fortschritten der „Jetztzeit" weiß, unnach-
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sichtig danach beurteilt, ob sie im altmodischen oder im modernen Geschmack
sind. Auf die gute Gesellschaft und den „bon ton" wird genau geachtet. Und
geht der Sohn mit seinen Eltern ins Theater, was er oft tut, dann sitzt er als
Kritiker so streng zu Gericht wie er als Weltmann die Wirtshäuser taxiert. Aber
auch, wo sich sein Geschmack spürbar entwickelt und die Distanz zur parvenühaften „Jetztzeit" zunimmt, spürt man immer noch eher die Altklugheit als ein
Klüger- und Alter-Werden. Und wenn der junge Schopenhauer beim Wiedersehen mit Le Havre alles kleiner und sich größer geworden sieht (95), so gilt für
das Tagebuch doch noch über weite Strecken, daß die Welt in dem Maße klein
bleibt, wie sein Autor noch unentwickelt ist.
Geht man gar auf die Suche nach den frühen Zeugnissen eines unverwechselbar „Schopenhauersehen" Geistes, so könnte man sich an etlichen signifikanten
Punkten so desillusioniert fühlen wie der anspruchsvolle Jüngling, der seine
Erwartungen immer wieder enttäuscht findet, ohne daß man das schon auf seine
spätere Lehre vonder Unstillbarkeit des Willens durch jegliche.Präsenz beziehen
müßte. Dem angeblich vomJammer des Lebens ergriffenen Buddha des Westens
gehen die Zucht- und Tollhäuser lange Zeit ebenso kommentarlos vorüber wie
mittelalterliche Folteranstalten, fürstliche Parforcejagden und andere Tierquälereien
auch im Gegensatz zu dem mitleidig geschärften Blick der Mutter
— jeneoder
Fabrikanstalten, in denen er später sehr wohl die Galeeren der Industrie
erkennt. Seine zunächst empört anmutende (schriftliche) Attacke auf einen
sadistischen Ordnungshüter schreibt er im weiteren seiner Langeweile zu (62),
wie öfters der blasierte Ennui oder ein touristischer Voyeurismus herrscht, den
er in anderem Zusammenhang selber geißelt. Wo sich aber der Witz oder gar die
Komik zu Wort meldet, wie etwa indem hinreißenden Selbstporträt des jugendlichen Königs Midas, dem die Ohren zu Eselsohren geschwollen sind (302 ff.),
da ist eine selbstironische Selbstpreisgabe bestimmend, die wiederum für den
später vorherrschenden Sarkasmus nichts weniger als typisch ist. So wird vor
allem das erste Reisetagebuch, passagenweise auch noch das zweite, zum Dokument eines gleichsam vorgeburtlichen Zustandes, indem kaum etwas auf einen
Philosophen namens Schopenhauer deutet.
Das scheint mehr noch für andere Aspekte des späteren Werkes und Lebens
zu gelten, etwa in bezug auf das Bilddes politischen Reaktionärs Schopenhauer,
das bei Apologeten wie Kritikern so massiv die Schopenhauer-Rezeption
bestimmt hat. Wird es durch die beiden Reisetagebücher gestützt?
Zweifellos fehlt es inihnen wie inden Reisetagebüchern der Mutter trotz der
anfänglichen Sympathie für die „grande révolution" nicht an harschen Angriffen
auf die Auswirkungen des „terreur", der sowohl die Kunst wie die künstlerisch
organisierte Natur wie die Gesellschaft zerstört und rebarbarisiert hat. Die
Begegnung mit den Spuren der in Lyon verübten „unerhörten Gräuel" zumal
(164) zeigt das, obwohl die Leidenswahrnehmung schon des jungen Schopenhauer hier wie auch sonst prinzipieller als die der Mutter ist.
Andererseits beobachtet bereits der Zwölfjährige, der sich in Potsdam noch
der preußischen Kriegsspiele erfreut, die „Armuth der Unterthanen", die im
berüchtigten Hessen herrscht; ihren Haß und die Tyrannei, die ihn zu bändigen
sucht (222). Was er hier vom Feudalismus bemerkt, sind die Relikte einer ganz
und gar unromantisch gesehenen Ritterzeit. Beim Übertritt indas ebenso häßlich
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und finster anmutende wie verarmte und ausgesogene Österreich in Braunau (!)
revoltiert der spätere Law-and-Order-Befürworter gegen die „cbicaneuseste,
aller chicaneusen Polizeien" (253) und ihren wichtigtuerischen Bürokratismus,
um wenig später das „ausgezeichnet dumme Gesicht" des Kaisers in Wien zu
würdigen (258). Nicht weniger bissig schüttet der frühe Satiriker seinen Hohn
über die „unaussprechlich kindischen und kleinen" Duodez-Kulturen aus (277/
278). Und ungeachtet aller Kritikan der Revolution wird inParis die Bastille als
„Schauplatz des ewigen Elends, der ungehörten Klagen, u. des hoffnungslosen
Jammers" erlebt (92), wenngleich die jugendliche Einbildungskraft auch hier
sogleich wieder die Wendung ins Prinzipielle nimmt. Man sieht: Dem Autor der
beiden Reisetagebücher kann man noch keine klare politische Prognose stellen.
Und wie steht es mit dem bekannten Misanthropen und Weltverneiner
Schopenhauer, der mit allem und allen ins Gericht geht, nur mit sich nicht?
In der Tat kommen etliche Nebenmenschen schon bei dem jugendlichen
Tagebuchautor nicht besonders gut weg: die traurigen westfälischen Barbaren
ebenso schlecht wie die groben und ausgezeichnet langsamen Schweizer oder die
bereits beschriebenen Österreicher. Es ist aber allemal kein nationales Ressentiment, was sich hier außen. Österreich zum Beispiel wird gerade deswegen zum
Skandal für ihn, weil es den Fremden keine Gerechtigkeit widerfahren läßt und
keine gleichen Rechte gewährt. Wo aber Ehrlichkeit und Gutmütigkeit anzutreffen sind, da wird das höchst anerkennend registriert. Und den Bewohnern des
Tales von Chamonix mit ihrer Gefälligkeit und Teilnahme, vor allem ihrem
Gemeinsinn, der nicht konkurrierend aus allem sein Geld schlägt, wird wie von
der Mutter ein geradezu enthusiastisches Denkmal gesetzt (190 f.).
Hier in Chamonix ist es auch, wo der junge Reisende wie dann später im
„göttlichen Thal" von Interlaken, auf dem Pilatus und auf der Schneekoppe
begeistert der „großen Natur" begegnet, genauer: sich in der „großen Natur"
bewegt; denn der jugendliche Bergbesteiger, ausgestattet mit einer beträchtlichen
Portion Mut, ist wie später der energische Frankfurter Fußwanderer und
Schwimmer das Gegenteil eines Sitzdenkers, eines Immobilitäts-Hypochonders
gewesen. Die Bergwelt des Berner Oberlandes und des Mont Blanc zumal, mit
dessen Beschreibung der Reisebericht der Mutter ihren End- und Höhepunkt
findet, wirdüber viele Seiten hinweg, mit einer Gefühlsintensität sondergleichen
gefeiert: als entsetzliches und furchterregendes Inbild des Ungeheuren der Natur
zwar, mehr noch aber einer feierlichen Stille und Schönheit, die allen Begriff
übersteigt.
Gerade hier jedoch scheint sich die Wahrnehmung des jungen Schopenhauer
auch am entschiedensten von der des reifen, des metaphysischen Pessimisten
abzuheben. Denn hat der nicht dem Mont Blanc als Bild der „dem Genie
beigegebenen Melancholie" ein durchaus anderes Denkmal gesetzt? Im zweiten
Band der „Welt als Wille und Vorstellung" heißt es im Anschluß an die
Erkenntnis, „daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich
beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt":
„Die so häufig bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild
am Montblanc, dessen Gipfel meistens bewölkt ist" (W 11, 438). „Meistens
bewölkt" und melancholisch hatte doch der junge Schopenhauer diesen Gipfel
keineswegs gefunden. Und hatte er nicht auch in den Bergen des Berner
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Oberlandes eine durchaus positive „creatio ex nihilo": eine „aus dem Nichts"
lachend hervorgehende Welt erblickt? Muß es also nicht bei der These bleiben,
daß es sich bei den beiden Reisetagebüchern um die Dokumente eines gleichsam
vorgeburtlichen Zustands handle? Und hat der vom Jammer des Lebens ergriffene, erwachte, das heißt verdüsterte Buddha des Westens nicht sein frühes
Gipfelerlebnis vollständig vergessen?
Indessen weiß auch der Autor der „Welt als Willeund Vorstellung" noch von
anderen Mont Blanc-Erfahrungen zu berichten: „aber wann bisweilen", fährt er
an der zitierten Stelle fort, „zumal früh Morgens, der Wolkenschleier reißt und
nun der Berg vom Sonnenlichte roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken,
auf Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei welchem Jedem das
Herz im tiefsten Grunde aufgeht. So zeigt auch das meistens melancholische
Genie zwischendurch die [. .] nur ihm mögliche, aus der vollkommensten
Objektivität des Geistes entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die wie ein
Lichtglanz auf seiner hohen Stime schwebt: in tristitia bilans, in hilaritate
tristis." Umgekehrt hatte schon der junge Naturenthusiast am Mont Blanc
plötzlich „das Unglück" erlebt, daß „alles [. .] weg" und „wie ein schöner
Traum" vergangen war (189ff.) so wie indie Begegnung mit den Bewohnern
des glücklichen Tals von Chamonix das Bild der buchstäblich wahnsinnig
fröhlichen Cretins und der unglückseligen Albinos eingesprengt war (188 ff.).
Der Akzent des Erlebnisses hat sich also wohl verändert; seine Elemente aber
schließen einander nicht aus.
Wichtiger: Schon der junge Schopenhauer kommt mit der interesselosen
Objektivität des älteren darin überein, daß der ruhige Blick „von oben" es ist,
der die „Dinge", die „unten", auf dem Boden der Sorgen, „Bemühungen u.
Entwürfe" groß scheinen, tröstlich weit entrückt (226). Und eben dieser distanzierte Blick, das Übergewicht des Anschauens und Erkennens über das Wollen,
des herrlichen „Sehns" über das schreckliche „Seyn", wird später als das tertium
comparationis von Genie und Kindheit bestimmt. Diese Kontinuität aber ist gar
nicht zu überschätzen. Denn sie besagt, daß bereits hier gleichsam das „klare
Weltauge" der Anschauung, die den Willen wendet, sich öffnet und daß das,
was das Reisetagebuch von 1804 mit dem überhaupt größten Enthusiasmus
beschreibt: die Begegnung mit der „großen Natur", auf dieses Erlebnis führt.
Allerdings läßt sich aller behaupteten Interesselosigkeit der reinen Anschauung zum Trotz auch schon hier der dynamische Zusammenhang zwischen
„Sehen" und „Seyn" erkennen. Denn wie auch immer es mit der vollkommenen
Objektivität des Genies stehen mag: Der jugendliche Beobachter weiß, daß der
Blick „von oben" in dem Maße tröstlicher und nötiger ist, wie unten die Dinge
größer und die Sorgen drückender sind.
Gleichzeitig gibt Schopenhauers spätere Philosophie des Genies und der
Lebensalter den hermeneutischen Schlüssel an die Hand, wie die wesentlichsten
Passagen seiner jugendlichen Reisetagebücher zu verstehen sind: Wenn in ihnen
gemäß der Maxime, im „Buche der Welt" zu lesen, die Anschauung der
Reflexion vorhergeht, so meint das aus der Sicht dieser Philosophie eine dem
Genie und der Kindheit gemeinsame platonische Anschauung, die ineinem Fall
alle Fälle auffaßt, wenn auch noch nicht oder „nicht stets mit deutlichem
.
—
.
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Bewußtseyn" (PI, 509). Dementsprechend sind die Tagebücher exemplarisch zu
lesen: als Zeugnisse einer vor- oder halbbewußt generalisierenden Wahrnehmung. Und wo diese Wahrnehmung auf Formen des Leidens trifft,wird sie so,
wie die beschriebene Begegnung mit der Geschichte sofort ins Prinzipielle geht,
nicht von diesem oder jenem, sondern dem Jammer des Lebens ergriffen werden.
Diese Art von Piatonismus hat freilich mit der Erkenntnis der Idee des Guten
nichts mehr gemein; sie läuft vielmehr auf einen negativen, von Schopenhauer
auf die Füße gestellten Piatonismus hinaus.
Was diese generalisierende Wahrnehmung des Jammers des Lebens histo—
risch, gesellschaftlich, psychologisch relativiert und woher sie sich rechtfertigt
dieses zentrale Problem der Philosophie Schopenhauers läßt sich auf der Basis
der Reisetagebücher nicht beantworten. Umgekehrt legitimiert aber die typisierende Anschauung das Erratische der aufgezeichneten Exempel; die Tatsache,
daß der jugendliche Autor öfter zusammenhanglos, manchmal geradezu gefühllos wieder zur Tagesordnung überzugehen scheint. Der Leser muß die eingesprengten Bilder und die Aussage der Brüche nur verstehen lernen. Und dann
sagen sie ihm in der Tat, daß der ausfahrende Buddha des Westens, wenn nicht
die Krankheit und das Alter, so doch den Schmerz und den Tod erfährt. Woher
aber läßt sich dabei, abgesehen von den Aufstiegen in der „großen Natur", der
Blick „von oben" gewinnen, der die Dinge zugleich überblickt und entrückt?
Die überhaupt erste Notiz des jugendlichen Tagebuchautors beginnt mit
einem Bild,das symbolischer, auch provokativer kaum vorgestellt werden kann:
Nach dem Übersetzen über die Elbe wenn man so will:der Stromüberschreibegegnet man einer „armen blinden Frau", deren Augen auf
tung des Mythos
dem Weg zur Taufe erfroren waren. Und Schopenhauer vermerkt: „Ich bedauerte die arme Frau, bewunderte aber die flegmatische Ruhe womit sie ihr Leid
erträgt; sie hatte das Vergnügen ein Christ zu seyn theuer erkaufen müssen!"
(211). Deutlich werden in dieser Notiz zentrale spätere Motive antizipiert: der
Zusammenhang von geistlich bedingter Erblindung und „flegmatisch" ergebener
Ruhe, von Leiden und Mit-Leiden. Und die ironische Schlußwendung, so sehr
man in ihr auch die Mutter mithören mag, verweist in ihrer Bitterkeit, die man
bei der Mutter vergeblich suchen wird, schon auf jenen ingrimmigen, existentiellen Sarkasmus, mit dem Schopenhauer später die Dogmen der religiösen Tradition und den Hurrahpatriotismus des Lebens quittieren wird.
Fromm kann man den Zwölfjährigen trotz dieser auch ihm eingeprägten
Dogmen ohnehin nicht mehr nennen, eher schon aufgeklärt. Die nachjosephinische Restauration von „Unwissenheit u. Aberglauben" statt der „Aufklärung"
zum Beispiel wird von ihm durchaus übel vermerkt. Und generell erhält bei aller
Neigung zur bildenden Kunst und besonders zur Chor-Musik, die für den
Kargheit gewöhnten Protestanten die Besuche der katholischen Kirchen zu
ästhetisch-kulinarischen Hochfesten macht, die „Bigotterie", gleich welcher
Konfession, ihr sarkastisch Teil. Die aufgesperrten frommen Mauler mit ihrem
gellenden Gesangsgeschrei; die Pikanterien des Reliquien-Wesens; die nach
gusto gesottenen, gerösteten oder gespickten Märtyrer; die dicken Pfaffengesichter; der schwunghafte Ablaßhandel; schwer erreichbare Kirchen, bei denen allein
die Kirchhöfe aussichtsreich sind sie alle kommen zu ihrem Recht. Mildernde
Umstände werden gewährt, wenn etwa in Bordeaux die nachrevolutionär wie-
—
—
—
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derbelebte Religiosität nicht mehr als eine höfliche Anpassungsgeste verlangt
(128). Verehrung findet allein der „göttliche Tempel der Natur" (239); das
einzige explizite religiöse Bekenntnis zum Gott der Tradition wird abgelegt, als
der junge Arthur den Pilatus besteigt, „um Gottes Wercke von oben zu betrachtraurigen Schauspiele des Lebens beiwohnt wie
ten" (224). Wo er aber einem der
— diesem
„empörendsten Anblick" menschlicher
einer englischen Hängeszene
Gewaltsamkeit, wie der spätere Beccaria-Anhänger Schopenhauer mit der nöti, da wird gerade das Fehlen der „Arm-Sündergen Schärfe konstatiert
Glocken, Sterbekleider u. dgl." als erleichternd empfunden (43 f.) Mehr noch: Es
ist ein „jämmerlicher", keineswegs ein bußträchtiger Anblick, „zu sehn mit
welcher Angst diese Menschen selbst den letzten Augenblick noch zum beten
benutzen wollten" und einer der Gehenkten, schon tot, „noch ein Paar Mal"
dieselbe Betbewegung macht: Das farcenhafte Bild erinnert an geschlachtete
Hühner, die noch eine Weile buchstäblich kopflos im Hühnerhof umherrennen.
Johanna Schopenhauer hat dergleichen nicht beschrieben. Der Autor der „Welt
als Wille und Vorstellung" hingegen wirdsich noch mit „tiefem Grausen" und
„herzzerreißendem Mitleid" an die entsetzliche Szene erinnern (W 11, 400).
Religion, das heißt in den Reisetagebüchern also positiv: die Werke der
Kunst und der Natur. Die fromme Todesangst aber pervertiert die realen Leiden
des hingerichteten Lebens zu einer finalen Groteske, die mit vier emphatischen
Gedankenstrichen gewaltsam beendet wird, um anschließend von dem nicht
weniger grotesken Bildeines Bauchredners verdrängt zu werden (44). Man muß
das menschenunwürdige Bild dieses noch posthum betenden Gehenkten mit
jenen Göttern des Olymps kontrastieren, denen der junge Reisende im Louvre
begegnet, urn seine Vorstellung eines auch der Menschen würdigeren Verhaltens
zu haben: „alle Götter dcs Olymps leben hier noch, stehn wie sic vor Jahrtausenden standen, v. sehn mit ruhigem Blick den Wechsel der Zeiten urn sich herum"
(87). Im Wechsel der Zeiten bleibt, dem Wechsel der Zeiten begegnet der „ruhige
Blick", während der gewaltsam induzierte Terror dcs Todes im religiösen Horror
seine Entsprechung, nicht seine Bewältigung findet.
Der Tod ist auch sonst eines der ostinaten, wenn nicht zentralen Themen der
beiden Reisetagebücher: der Tod in seinen gewaltsamen und in seinen natürlichen Formen, vor allem der Tod, der alles „unnütz" macht (27), als Exponent
der Macht der Zeit. Ihr gilt während des Wimbledon- Aufenthaltes die jugendliche Meisterübersetzung von Mutons „On Time"; der Besuch der WestminsterAbtei und die Begegnung mit Garricks transzendentem Auftritt,mit Shakespeares und Gays Vergänglichkeitslyrik, in der die noch kurz zuvor mit Pope
beschworene Kette der Wesen untergegangen war (49 ff.), hatten hier vorbereitend gewirkt. Mit der Erfahrung der Macht der Zeit aber wird auch die
Zeitlosigkeit, die Schopenhauer später in seiner Philosophie der Lebensalter der
Kindheit zuschreibt, zerstört: In diesem Sinn ist der Tagebuchautor, der sich
sonst als „inkarniertes" Wesen still und tot stellt, alles andere als ein Kind.
Gelegentlich wird man sich zwar fragen müssen, wie tief bei ihm das Todes- und
Zeiterlebnis reicht, zum Beispiel beim Besuch des Bremer Bleikellers, den der
Fünfzehnjährige mit ungerührter Sachlichkeit aufzeichnet, oder bei der
Beschreibung des Luzerner Totentanzes (221), bei dem er sich über die nekro-
—
623
Phile Wiederholung des „so einfachen Gedankens in so vielen Bildern" mokiert.
Noch in der geschmacklosen Inszenierung des Ruinösen entdeckt der junge
Schopenhauer aber die zerstörende Macht der Zeit (275). In der Pariser Augustinerkirche mißfällt ihm, daß man die Denkmäler der „Voraltern" aus ihrem
angestammten Zusammenhang „weggerissen", also selbst noch die Monumente
des Gedächtnisses in den Strom des Vergessens hineingerissen hat (105). Im
Amphitheater von Nîmes überkommt ihn, durchaus im Widerspruch zu der
optimistischeren Version der Mutter, der „Gedanke an die Tausende längst
verwester Menschen [. .], die in diesen mannigfaltigen Jahrhunderten an allen
ihren Tagen, so wie ich heute, über diese Ruinen hinwegschritten" (139). Mit
diesem „so wie ich heute" wird die touristische Impression existentiell; der
Gedanke an diejenigen, die über ihn hinwegschreiten werden, liegt nah. Und als
er in Lyonmit der Geschichte des revolutionären „terreur" konfrontiert wird, da
sind nicht so sehr die „unerhörten Gräuel merckwürdig", als vielmehr ihre
Spurenlosigkeit, die „kaltblütige" Erinnerung der Nachfahren und die unbegreifliche „Macht der Zeit". Das erste wird auch die Mutter feststellen, und zwar
noch schärfer. Nur bei dem jungen Schopenhauer aber wird aus den historisch
bedingten gewaltsamen Formen des Todes eine prinzipielle Einsicht abgeleitet,
die so, wie er nicht von diesem und jenem, sondern dem Jammer des Lebens
ergriffen wird, der Macht der Zeit gilt.
Was aber, wenn nicht der ruhige Blick der griechischen Götter, ist ihr
gewachsen? Die christliche Tradition, allerdings in positiverer Form als in der
Hängeszene, wird noch einmal aufgenommen, wenn der Tagebuchautor am
Schluß seines ersten Heftes nach dem Gasthofverzeichnis, präziser: quer dazu in
einem chaotischen Buchstaben- und Notengewirr notiert:
.
—
From all the evils, that befall us may,
The worst is death
& death must have its day!
In
Coelo
—
Shakespear.
K.Richard 11.
quies
tout
finit
icibas.
Der Tod also als das größte und zugleich gewisseste aller Übel, generalisiert
in dem Bewußtsein, daß hienieden alles endet, aufgehoben inder himmlischen
Ruhe. Dem entspricht beim Westminster-Besuch der „schöne Gedancke" über
die dort versammelten Dichter, Helden und Könige, „ob sie wohl Selbst jetzt
so beysammen sind, dort wo nicht Jahrhunderte, nicht Stände, nicht Raum u.
Zeit sie trennen: u. was wohl jeder von dem Glanz, von der Größe die ihn hier
umgab, hinüber nahm: die Könige ließen Krön u. Szepter hier zurück, die
Helden ihre Waffen, den Ruhm ließen die Dichter: doch die großen Geister
unter ihnen allen, deren Glanz aus ihnen selbst floß, die ihn nicht von äußerlichen Dingen erhielten, die nehmen ihre Größe mit hinüber, s ie nehmen alles
mit was sie hier hatten" (51f.).
Allerdings ist hier die hypothetische und fragende Form des „schönen
Gedanckens" zu beachten
ebenso in der Handschrift, daß nicht die himmlische Ruhe, sondern die irdische Katastrophe eine fallende Kadenz beschließt. Im
—
624
übrigen wirdim Sinn der antiken und klassischen Tradition ohnehin eher auf die
immanenten Formen der Dauer gesetzt. Allein „im Vergleich mit der Dauer
seiner Wercke" läßt „die Dauer des Menschen sich kurz nennen" (139f.). Die
baufälligen Hütten der Lebenden lehnen sich an die „ehrwürdigen Mauern" von
Ruinen, die der „zerstöhrenden Gewalt der Zeit auf eine wunderbare Art
widerstanden" haben (121): so die symbolische Verschränkung von Vergänglichkeit und (relativer) Unvergänglichkeit. Der Autor der „Parerga und Paralipomena" wird das Thema mit dem ebenso paradoxen wie brillanten Gedanken
weiter erörtern, daß, analog zu dem entrückenden Raum, gerade die entrükkende, vernichtende Zeit (P 11, 506) die Bedingung der Unsterblichkeit, des mit
dem Leben „inkompatiblen"—Ruhmes sei. Insofern es aber um die Erinnerung an
das Elend des Lebens geht was macht da der Lyoner Tagebuchschreiber, der
Besucher des Bastille-Platzes schließlich anderes, als daß er im Widerspruch
gegen die Vergeßlichkeit und die Fühllosigkeit der Menschen, gegen die
Begrenztheit der Einbildungskraft und eben die Macht der Zeit seinerseits den
„hoffnungslosen Jammer", das „ewige Elend" und die „ungehörten Klagen"
vergegenwärtigt: Schon seine frühe Philosophie ist das Gedächtnis der Leiden
der Menschheit.
Dabei freilich findet sie in Zeit und Tod nicht nur ihre Antipoden, sondern
gegebenenfalls auch den Grund ihres „ruhigen Blicks". Der Besuch im Bagno
von Toulon, bei dem der junge Schopenhauer am meisten vom Jammer des
Lebens ergriffen wird, steht dafür. Denn hier, angesichts einer Drei-KlassenGesellschaft von entmenschten, zu Last- und Arbeitstieren instrumentalisierten
Galeeren-Sklaven, die sich nur durch die Dauer ihrer Strafe und die Schwere
ihrer Fesselung unterscheiden, aber sich darin gleichen, daß sie in der Hölle und
füreinander die Hölle sind; angesichts einer Hoffnungslosigkeit und eines
Elends, das, schlimmer als in der englischen Hängeszene, das Leben nicht mit
dem gewaltsamen Tod, sondern mit der Fortdauer des Lebens bestraft, ist es der
Tod, der zur Erlösung vom Leiden des Lebens wird (154 ff.).
Mit der im ganzen sehr viel eingehenderen und auch literarisch eindrucksvolleren Beschreibung der Mutter trifft der Bericht des jungen Schopenhauer
hier zwar über weite Strecken überein. Er unterscheidet sich aber vonihr an zwei
entscheidenden Punkten: Sie läßt keine Gelegenheit vorübergehen, die Insassen
des Bagno zu dämonisieren; ja, sie spinnt ihren Besuch abschließend zu einer
Angstphantasie aus, in der die ausbrechenden Höllenbewohner herfallen über
die bürgerliche geordnete Welt. Andererseits, selbst angesichts des Infernos,
wird so, wie die Mutter jede ihrer Leidensbeschreibungen optimistisch austariert, das Leben von ihr weiterhin mit dem Hoffen identifiziert.
Er aber vergegenwärtigt, von mitleidendem Erschrecken getrieben, die vollständige Hoffnungslosigkeit.
Im Bagno von Toulon, in seinem „17"" Jahre", wird so der ausfahrende
Buddha des Westens in der Tat vom „Jammer des Lebens" ergriffen.
Als solcher hat er freilich auch der fallenden Kadenz des jugendlichen
Reisetagebuches die Fortsetzung geschrieben, die als Pendant zur vierten Ausfahrt des Buddhas des Ostens den Galeerensklaven des Lebens ihre Befreiung
gewährt: „Tout finit..." wenn alles endet, dann endet mit dem Leben und
—
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dem Willen zum Leben auch das schlimmste aller Übel, das seinen Tag haben
wird: Es ist der ganze Tod, der uns vom Sterben heilt. Und im Himmel, da ist
nicht die Ruhe, sondern der „Himmel" ist allein, wenn Ruhe ist: die Ausfahrt
des Buddha.
Anmerkungen
Die beiden Reisetagebücher werden zitiert nach der Ausgabe von Charlotte von
Gwinner, Leipzig 1922 (Journal einer Reise von Hamburg nach Carlsbad, und von dort
nach Prag; Rückreise nach Hamburg, in: Wilhelm von Gwinner: Arthur Schopenhauer aus
persönlichem Umgang dargestellt, kritisch durchgesehen und mit einem Anhang neu
herausgegeben von Ch. v.G.) bzw. Leipzig 1923 (Arthur Schopenhauer: Reisetagebücher
aus den Jahren 1803-1804). Zum 200. Geburtstag Schopenhauers wird als Supplement der
vom .Verf. im Haffmans. Verlag, Zürich,, herausgegebenen Werkausgabe nach den Fassum
gen letzter Hand eine Neuedition der beiden Reisetagebücher erscheinen. Alle übrigen
Schopenhauer-Zitate mit den üblichen Siglen.
Vor der Edition durch Charlotte von Gwinner hat schon Wilhelm von Gwinner in
seiner Schopenhauer-Biographie wie dann später alle weiteren Biographen Gebrauch vor
allem von dem zweiten Reisetagebuch gemacht.
Der Interpretationsspielraum, den beide Reisetagebücher eröffnen, wird einerseits
durch die Einleitung Charlotte von Gwinners, andererseits durch die Besprechung von
Hans Zint im 12. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft (1923-25), S. 235-241, markiert.Charlotte von Gwinner betont die Unterschiede in der Betrachtungsweise von Sohn
und Mutter (ihre Reisebeschreibungen in:Johanna Schopenhauer: Reise durch England
und Schottland, Bde. 1 u. 2. Leipzig21818.2 1818. Reise von Paris durch das südliche Frankreich
bis Chamony, Bd. 3, Leipzig 31824).3 1824). Der „Jüngling" habe, „sich
— selbst noch unbewußt,
schon die spätere Richtung seiner Weltanschauung" verraten. Hans Zinthingegen neigt
in seiner kurzen, aber gehaltvollen Besprechung dazu, den Wert der Tagebücher zu
relativieren. Es gehe um ein primär entwicklungsgeschichtlich bedeutsames, vorphilosophisches, unter der Schwelle der Reflexion bleibendes Material, von dem aus ohne
Vorwissen um den Autor —
nicht auf den späteren Denker und Menschen Schopenhauer
geschlossen werden könne obwohl der, wie auch Zint zugesteht, seinen Jugendeindrükken großen Wert beigemessen hat.
Der vorliegende Essay trifft sich mit den Beobachtungen und Thesen von Zint an
einigen Punkten. Der zwischen der Überschätzung und der Unterschätzung der Reisetagebücher beschrittene „mittlere Weg" soll aber zeigen, daß gerade das Vorphilosophische und
Vorbewußte dieser Texte mit ihren Materialmassen, in denen die Kernstellen spurenlos
unterzugehen scheinen, zur „Sache selbst" gehört, wie sie sich aus der Sicht von Schopenhauers Philosophie der Lebensalter und des Genies ergibt. Und „die Sache selbst" das ist
eben doch die (vierfache) Wurzel für das, wovon die Frage im Titel dieses Essays und die
Antwort an seinem Schluß spricht.
—
626
So zitieren wir Schopenhauer:
ImSchopenhauer-Jahrbuch (= Jahrb., bzw. Jb.) wird Schopenhauer, zumindest in deutschen Texten, nach den historisch-kritischen Ausgaben zitiert.Dabei
werden folgende Siglen verwendet:
[I.] Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hrsgg. von Arthur Hübscher. 7
Bände. Wiesbaden: F.A.Brockhaus 3. A. 1972 (= Werke)
= Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
G
Grunde (Werke Bd. I:Schriften zur Erkenntnislehre)
= Ueber das Sehn und die Farben (Werke Bd. I:Schriften
F
zur Erkenntnislehre)
= Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. I(Werke Bd. II)
WI
=
W II
Die Welt als Willeund Vorstellung Bd. II(Werke Bd. III)
= Ueber den Willen in der Natur (Werke Bd. IV [1])
\u039d
= Die beiden Grundprobleme der Ethik (I.Ueber die FreiE
heit des menschlichen Willens. 11. Ueber das Fundament
der Moral. Werke Bd. IV [2])
=
\u03a1 I
und Paralipomena Bd. I(Werke Bd. V)
Parerga
= Parerga und Paralipomena Bd. II(Werke Bd. VI)
\u03a1 II
Bd. VIIder Werkausgabe enthält die Urfassung der Dissertation von 1813, Gestrichene Stellen, Varianten früherer Auflagen, Nachweis der Zitate mit Übersetzungen der
fremdsprachigen Stellen und Namen- und Sachregister.
[ll.] Arthur Schopenhauer: Der Handschriftliche Nachlaß. Hrsgg. von
Arthur Hübscher.
5 Bände. Frankfurt am Main: Verlag Waldemar Kra—
mer 1966 1975 (=HN). Seitengetreuer Nachdruck Deutscher Taschenbuchverlag 1985.
= Bd. I:Die frühen Manuskripte 1804—1818
HNI
= Bd. II:Kritische Auseinandersetzungen 1809—1818
HNII
= Bd. III:Berliner Manuskripte 1818—1830
HN111
HNIV(1) = Bd. IV, 1: Die Manuskripte der Jahre 1830—1852
HNIV(2) = Bd. IV, 2: Letzte Manuskripte/Gracians Handorakel
= Bd. V: Arthur Schopenhauers Randschriften zu Büchern
HNV
[lII.] Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe. Hrsgg. von Arthur Hübscher. Bonn: Verlag Bouvier Herbert Grundmann
=
GBr
[IV.] Arthur Schopenhauer: Gespräche. Hrsgg. von Arthur Hübscher. 2. stark
erweiterte Auflage. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommarm Verlag
Günther Holzboog 1971
= Gespr(äche)
[V.] Schopenhauer-Bildnisse. Eine Ikonographie von Arthur Hübscher.
Frankfun am Main: Verlag Waldemar Kramer 1968
= Bildn(isse)
*
Die bei Diogenes erschienene lObändige Taschenbuchausgabe der Werke Schopenhauers (die sog. „Zürcher Ausgabe") ist ein textgetreuer Nachdruck der von
Arthur Hübscher edierten historisch-kritischen Ausgabe.
*
Für das Englische sind die von E.F.J. Payne besorgten Übersetzungen maß
geblich.
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