In: Religion - Staat

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Sonderdruck aus:
Religion · Staat
Gesellschaft
Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen
Journal for the Study of Beliefs and Worldviews
Herausgegeben von
Gerhard Besier und Hubert Seiwert
•
1. Jahrgang
2000
Heft 1
Duncker & Humblot ·Berlin
Inhalt
Einleitung/ Editorial
1
er)
Abhandlungen und Aufsätze
Massimo Introvigne: Freedom of Religion in Europe and the Question of New
Religious Movements ................................ · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·
5
James T. Richardson: Social Control of Minority Faiths and Heligious Freedom
in Israel .......................................... · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·
23
Richard Singelenberg: Stigmas and Stereotypes: Child Custody Decisions and
Jehovah's Witness' Parenthood .................... · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·.
41
James A. Beckford: Heligion, State and Prisons ................................... .
61
Jan-Peter Hartung: Gottesstaat versus Kemalismus. Eine islamische Reaktion
auf Muilarrafs Putsch in Pakistan ............................................... .
75
Bassam Tibi: Secularization and De-Secularization in Modem Islam ........... .
95
Hubert Seiwert: Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung als innenpolitischer Hauptfeind der chinesischen Regierung .................................. . 119
Gerhard Besier: Neuheidnische Religiosität und Protestantismus im NS-Staat:
Der Dom zu Quedlinburg als Kult- und Weihestätte der SS ................... . 145
Dokumentation/ Documcntation
Bernhard J. Trautner: Religion zwischen Gewalt und Versöhnung. Ein Symposion des Orient-Instituts der Deutschen Morgeriländischen Gesellschaft in Beirut vom 11. bis 13. September 1998 „ „ „ ...... „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ .... „ „ „ 189
Buchbesprechungcn/Book Reviews
199
Rückschau/Review und Vorschau/Preview
205
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Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
als innenpolitischer Hauptfeind
der chinesischen Regierung
Von Hubert Seiwert
Am 30. Oktober 1999 verabschiedete der ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses der Volksrepublik China einen Beschluss über heterodoxe Lehren (xiejiao), mit dem eine bereits seit Juli des Jahres laufende
massive Verfolgung von Mitgliedern der Falun-Gong-Bewegung nachträglich auf eine legale Basis gestellt wurde. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Falun Gong war bereits Mitte des Jahres ein Propagandafeldzug begonnen worden, dessen Ausmaß bei westlichen Beobachtern Erinnerungen an die Massenkampagnen der Kulturrevolution aufkommen
ließ. 1 Eine unbekannte, nach tausenden zählende Zahl von Anhängern der
Bewegung wurde verhaftet. In Anwendung des neuen Gesetzes wurden in
einem ersten Prozess über Weihnachten 1999 vier führende Mitglieder zu
Gefängnisstrafen zwischen sieben und 18 Jahren verurteilt. 2 Für Hunderte,
wenn nicht Tausende von Anhängern, droht die „Umerziehung" in Arbeitslagern.3
Das massive Vorgehen gegen eine Bewegung, die den meisten westlichen
Beobachtern zuvor kaum bekannt war, ist nur das augenfälligste Beispiel
für eine Verschärfung der chinesischen Religionspolitik im letzten Jahr. Betroffen davon sind neben Falun Gong zahlreiche andere „heterodoxe Lehren", aber auch die christlichen Untergrundkirchen. Es spricht einiges dafür, dass die Beunruhigung der chinesischen Führung über die Aktivitäten
der Falun-Gong-Bewegung der Auslöser für ein schärferes Vorgehen gegen
religiöse Gemeinschaften außerhalb der staatlich kontrollierten Religionsorganisationen ist. Jedoch zeichnet sich bereits seit einiger Zeit eine verstärkte Kontrolle und Repression religiöser Aktivitäten durch die chinesi1 Cf. Johnny Erling, „China setzt auf Mobilisierung der Massen", in: Die Welt online, 28. Juli 1999.
2 Cf. Kevin Platt, „China Fleetes authoritarian muscle: Four Falun Gong leaders
were tried over the weekend and sentenced to prison for up to 18 years", in: Christian
Science Monitor, December 28, 1999.
3 Cf. „ ,Re-education' to mark Zhongnanhai siege", in: South China Morning Post,
Internet Edition, January 4, 2000.
120
Hubert Seiwert
sehe Regierung ab."1 Hintergrund ist das seit dem Ende der Kulturrevolution
in der Bevölkerung zunehmende Interesse an religiösen und anderen „idealistischen" Lehren. Die sensationelle Demonstration von mehr als zehntausend Falun-Gong-Anhängern vor Zhongnanhai, dem Sitz der chinesischen
Partei- und Regierungsspitze, am 25. April 1999 scheint der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum überlaufen gebracht hat.
Ich werde mich im Folgenden mit einigen Aspekten der Falun-Gong-Bewegung befassen, soweit dies auf der Basis der gegenwärtig verfügbaren Informationen möglich ist. Ausgangspunkt ist die Frage, worin die Attraktivität einer Bewegung besteht, der es gelungen ist, innerhalb von acht Jahren
eine nach Millionen zählende Anhängerschaft zu gewinnen. Daran anschließend werde ich versuchen, einige Erklärungen für die an Märtyrertum
erinnernde Bereitschaft von Falun-Gong-Anhängern zu finden, sich öffentlich zu ihrer Lehre zu bekennen und dafür Verhaftung, Folter und sogar Tod
in Kauf zu nehmen. Im dritten Abschnitt werde ich die Reaktionen der chinesischen Regierung und die Motive für die Verfolgung analysieren und danach auf die Frage historischer Kontinuität und historischer Parallelen eingehen. Abschließend werde ich einige Aspekte der über China hinausgehenden internationalen Dimension der Falun-Gong-Bewegung behandeln.
Zunächst ist es notwendig, einige Bemerkungen zu den Quellen zu machen. Soweit mir bekannt ist, gibt es bisher keine wissenschaftliche Untersuchung der Falun-Gong-Bewegung. Insbesondere liegen keine empirischen
Forschungen zu Mitgliederstruktur, Organisation, Verbreitung und ritueller
Praxis vor. Wegen der gegenwärtigen Verfolgungsmaßnahmen in China ist
auch nicht zu erwarten, dass die Ergebnisse empirischer Untersuchungen in
absehbarer Zeit verfügbar sein werden. Alle Informationen über die Bewegung stammen deshalb entweder von der Falun-Gong-Bewegung selbst oder
von der chinesischen Regierung. Hinzu kommt eine Fülle von Berichten in
den Medien, die aber im Wesentlichen auf den gleichen Quellen basieren.
Die wichtigste Quelle zur Lehre sind zweifellos die Schriften und Vorträge
des Gründers der Bewegung Li Hongzhi, die in chinesischer Sprache publiziert wurden und teilweise auch ins Englische und Deutsche übersetzt vorliegen.5 Die zweite wichtige Quelle ist das Internet, wo Anhänger der Falun4 Cf. Human Rights Watch/ Asia (Hg.), China: State Control of Religion, New York
et al., 1997.
5 Mir liegen folgende Schriften von Li Hongzhi vor: Zhuan Falun [Das Gesetz~srad
drehen], Beijing: Verlag des Chinesischen Rundfunks und Fernsehens, 1994; dt. Ubersetzung: Zhuan Falun (Deutsche Version), Bad Pyrmont: Ost-West-Verlag, 1998;
Zhuan F'dlun Fajie [Zhuan Falun, Erläuterung des Gesetzes], Hang Kong: Falun Fofa
Verlag, 1997; F'dlun Dafa Yijie [Das Große Gesetz des Gesetzesrad~s, ~rlä:iterung der
Bedeutung], Hang Kong: Falun Fofa Verlag, 1997; F'dlun Fofa- Za1 Be1me1 shoujie fahuishang jiangfa [Das Buddha-Gesetz des Gesetzesrades - Vortrag auf der ersten F'dlun-Tagung in Nordamerika], Xining: Qinghai Volksverlag, 1999; Hang Yin [Gedichte
von Li Hongzhi], Hang Kong: Falun Fofa Verlag, 1999; Falun Fofa Da Yuanman F'd,
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Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
121
Gong-Bewegung zahlreiche Webseiten unterhalten. 6 Ebenfalls durch das
Internet ist die chinesische Regierungspropaganda zugänglich, teilweise
auch in englischer Übersetzung (http://ppflg.china.com.cn). Aus diesen
Quellen lassen sich zwar wichtige Informationen gewinnen, jedoch wird Falun Gong damit gewissermaßen zu einer virtuellen Wirklichkeit. Wir sind
weitgehend auf das interessengeleitete Bild verwiesen, das durch Anhänger
oder Gegner der Falun-Gong-Bewegung zu vermitteln versucht wird, ohne
auf eigene Beobachtungen rekurrieren zu können. Dass damit die Erkenntnismöglichkeiten erheblich begrenzt sind, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
1. Attraktivität der Falun-Gong-Bcwcgung
Durch die Protestdemonstration in Peking am 25. April 1999 und die dadurch ausgelöste Verfolgung der Falun-Gong-Bewegung wurde die westliche Öffentlichkeit zum ersten Mal auf eine Entwicklung in China aufmerksam, deren Anfänge rund zwanzig Jahre zurückliegen. Die nach dem Ende
der Kulturrevolution (1967 -1977) einsetzende Politik der Modernisierung
und Öffnung nach außen hatte bereits in den achtziger Jahren zu einem in
der Geschichte der Volksrepublik beispiellosen Aufschwung religiöser Aktivitäten aller Art geführt. Zeugnis dafür waren nicht nur die Erneuerung
zahlreicher, während der Kulturrevolution zerstörter Tempel und Kirchen,
sondern auch ein zunehmendes Interesse vieler Menschen an Religionen.
Neben dem Buddhismus verzeichneten insbesondere der Protestantismus,
7
in geringerem Maße auch der Katholizismus einen deutlichen Zuwachs.
Die chinesische Regierung stand dieser Entwicklung zwar nicht wohlwollend gegenüber, tolerierte jedoch, dass auch unter den Bedingungen des Sozialismus Religionen weiterhin bestehen und Gläubige sich innerhalb der
gesetzten Schranken religiös betätigen. 8 Allerdings beschränkte sich die religiöse Renaissance der Achtzigerjahre nicht auf die fünf offiziell anerkannten und durch die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit geschützten Religionen 9 , sondern schloss auch religiöse Aktivitäten ein, die nach
Hang Kong: Falun Fofa Verlag, 1998. Von dem letztgenannten Buch gibt es zwei deutsche Übersetzungen, von denen die zweite jedoch im Textteil über das chinesische
Original hinausgeht: Das große Vervollkommnungsgesetz des Falun-Buddha-Gebotes
(Falun Fofa Da Yuanman Fa}, Bad Pyrmont: Ost-Zhou-Verlag, 1998; Falun Gong Der Weg zur Vollendung, München: Delphi bei Droemer, 1998.
6 Die zentrale Webseite ist www.falundafa.org mit zahlreichen internationalen
Verknüpfungen.
7 Über religiöse Entwicklungen im gegenwärtigen China, insbesondere des Christentums informiert laufend die Zeitschrift „China Heute".
B Cf. Luo Zhufeng (Hg.), Religion under Socialism in China. Translated by Donald
E. Macinnis and Zheng Xi'an, Armonk-London, 1991.
122
Hubert Seiwert
chinesischem Recht als ungesetzlich gelten. Dazu gehören neben traditionellen volksreligiösen Praktiken wie dem Kult lokaler Gottheiten, Prozessio_nen, Divination, Heilungen und Exorzismen vor allem auch volksreligiöse Gemeinschaften, die gemeinhin als „Sekten" bezeichnet werden.
Volksreligiöse Gemeinschaften dieser Art spielten während der letzten 500
Jahre eine wichtige Rolle im religiösen Leben Chinas. In der chinesischen
Gesetzgebung gelten alle Formen der Volksreligion jedoch nicht als Religionen, sondern als „feudalistischer Aberglauben" und damit als illegal. Insbesondere organisierte Formen volksreligiösen Glaubens waren in den Anfangsjahren der Volksrepublik Gegenstand massiver staatlicher Verfolgungen.10 Aber trotz aller staatlicher Kontrolle und Repression waren bereits
Mitte der Achtzigerjahre zahlreiche volksreligiöse Sekten entweder wieder
belebt oder neu entstanden und beunruhigten die chinesischen Sicherheitsbehörden. 11
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Die Renaissance legaler wie illegaler Religionen wird in China treffend
als „Religionsfieber" bezeichnet. Gleichzeit erlebte die Volksrepublik aber
auch ein „Qigong-Fieber" (qigong re). „Qigong" ist eine moderne Sammelbezeichnung für verschiedene Arten von Körpertechniken, zu denen das im
Westen bekannte Taijiquan („chinesisches Schattenboxen") gehört, aber
auch Kampfsporttechniken und Meditationsübungen. Vor allem ältere Menschen betreiben in großer Zahl Qigong-Übungen zur Pflege der Gesundheit.
In den Parks chinesischer Städte kann man im frühen Morgengrauen überall Gruppen beobachten, die in tiefer Konzentration Qigong praktizieren.
Obwohl Qigong überwiegend aus gesundheitlichen Gründen ausgeübt wird,
ist es mehr als nur eine chinesische Form der Gymnastik. Die Praxis des Qigong ist eng verbunden mit traditionellen Theorien über die menschliche
Physiologie, die sich deutlich von den physiologischen Theorien der modernen (westlichen) Medizin unterscheiden. In der traditionellen chinesischen
Medizin, die sich heute wieder einer großen Beliebtheit und auch staatlicher
Förderung erfreut, gelten verschiedene Formen des Qigong als anerkannte
und bewährte Therapiemethoden. Theorie und Praxis des Qigong sind jedoch nicht nur Teil der traditionellen chinesischen Medizin, sondern auch
9 Neben Buddhismus, Protestantismus und Katholizismus zählen dazu noch
Daoismus und Islam.
1n zu Beginn der fünfziger J~hre. gab es in China. nach offizieller Dars.tellung mehr
als 300 illegale religiöse Orgamsatwnen und Ge~e11!1gesellschaften (huzdaomen) mit
mehr als 13 Millionen Mitgliedern. Die Orgamsationen wurden durch eine rücksichtslose Kampagne zerschlagen, die meisten Fü~rer v.;~rden hingerichtet. Cf. Long
Jingru, „Xin Zhongguo dui hmdaomen de douzh:ng [Das neue China ~nd der
Kampf gegen Sekten und Gch,e1mgesellschaften], m. Chen Hongxing und !=J.a1 Chenjing (Hg.), Falun Gong yu xie]!ao (Falun Gong und heterodoxe Sekten], Be1]1ng 1999,
212-215.
11 Dokumentation bei Robert Munro (Hg.), „Syncretic sects and secret societies in
the 1980s", in: Chinese Sociology and Anthropology, 21 (1989), Sonderheft.
f)
fl)
Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
123
mit der daoistischen Tradition verknüpft. 12 Damit sind zumindest latent religiöse Elemente gegeben, die freilich bei der rein medizinischen Anwendung von Qigong keine Rolle spielen. Gleichwohl konnte sich im Umfeld
der Qigong-Bewegung in manchen Kreisen ein Interesse an den damit verbundenen Theorien entwickeln, wodurch die Bewegung zu einem Medium
der Rezeption traditioneller chinesischer Vorstellungen wurde. Es wäre sicher falsch, diese traditionellen anthropologischen und kosmologischen
Vorstellungen einfach mit dem Daoismus gleichzusetzen und sie als religiös
zu bezeichnen. Es handelt sich vielmehr um Ansichten, die Teil des allgemeinen chinesischen Weltbildes waren, bevor sie durch westliche Naturwissenschaften und Medizin an den Rand gedrängt wurden .. Im gegenwärtigen
Prozess der Modernisierung und der zunehmenden Orientierung an der
Kultur des Westens ist Qigong Teil einer Strömung, in der der Wert der traditionellen chinesischen Kultur betont wird. Qigong ist ebenso wie chinesische Medizin und manche traditionellen Kunstformen in kulturellen Milieus verwurzelt, die traditionalistisch geprägt sind. Hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung sind diese Milieus durchaus heterogen. Intellektuelle
können ebenso dazu gehören wie Arbeiter oder auch Parteifunktionäre. ,
Es sind ohne Zweifel diese traditionalistischen Milieus, aus denen sich
ein Großteil der Falun-Gong-Anhänger rekrutiert. Der größte Teil der Demonstranten, die sich am 25. April vor dem Sitz der chinesischen Regierung
versammelten, waren ältere Männer und Frauen, und auch bei späteren Aktionen wird von einem überproportionalen Anteil älterer Menschen berichtet. Dies entspricht der bei einer Qigong-Gruppe zu erwartenden Klientel.
Allerdings scheint es auch einen beachtlichen Anteil jüngerer Mitglieder zu
geben, unter anderem an den Universitäten. Es sind vermutlich auch eher
junge Anhänger, die für die hohe Präsenz der Falun-Gong-Bewegung im Internet verantwortlich sind. 13 Genauere Angaben zur Altersstruktur sind gegenwärtig nicht möglich, insbesondere lässt sich nicht sagen, ob signifikante Unterschiede zu anderen Qigong Gruppen bestehen. Sicher ist jedoch, dass das Wachstum von F-,ilun Gong alle vergleichbaren Gruppen in
den Schatten stellt.
Li Hongzhi, der im Jahre 1992 mit der Verbreitung des Falun Gong begann, behauptet, dass seine Bewegung heute über 100 Millionen Anhänger
habe. 14 Es ist unklar, wie er zu dieser Zahl kommt, da er gleichzeitig fest12 Siehe z. B. Ute Engelhard, Die klassische Tradition der Qi-Übungen (Qigong).
Eine Darstellung anhand des Tang-zeitlichen Textes Fuqi Jingyi Lun von Sima
Chengzhen, Wiesbaden 1987; Livia Kohn (Hg.), Taoist meditation and longev1ty techniques, Ann Arbor 1989.
13 Nach dem Verbot der Bewegung in China sind nur noch die ausländischen Webseiten zugänglich, insbesondere in den USA und in Hong Kong. Bis Mitte 1999 gab es
jedoch auch in China mehrere fälun Gong Websites.
14 „Einige Gedanken von Li Hongzhi", in: China Heute 18, 314 (1999), 86.
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124
Hubert Seiwert
stellt, es gebe bei Falun Gong keine Mitgliederlisten, jeder könne gehen,
wenn er gehen möchte. 15 Die chinesische Regierung gibt die Zahl der Falun
Gong Anhänger mit 2 Millionen an 16 , nach Ansicht chinesischer Wissenschaftler dürfte sie bei etwa 10 Millionen liegen. 17 Gleichgültig, welche Zahl
man zu Grunde legt, das schnelle Wachstum zu einer nach Millionen zählenden Bewegung innerhalb von sieben Jahren ist außergewöhnlich, insbesondere wenn man die Wachstumsraten neuer religiöser Bewegungen im
Westen zum Vergleich heranzieht. 18 Natürlich ist es nicht möglich, eine sichere Erklärung für diese hohe Attraktivität von Falun Gong zu geben, solange nicht genauere empirische Daten vorliegen. Soviel aber lässt sich immerhin sagen: Offensichtlich bietet Falun Gong ein religiöses Angebot, das
weite Kreise der chinesischen Bevölkerung anspricht. Welche Faktoren auch
sonst noch zum Erfolg beigetragen haben mögen, die Attraktivität dieser
Bewegung beruht wesentlich auf der von Li Hongzhi verkündeten Lehre.
Dass es sich bei Falun Gong um mehr handelt als eine der üblichen Qigong-Gruppen, lässt sich an der großen Bedeutung der Schriften des Li
Hongzhi ersehen. Die Lektüre der Schriften des Meisters ist neben Meditation und Qigong-Übungen ein wesentlicher Teil der täglichen rituellen Praxis.19 Li Hongzhi selbst betont häufig, wie wichtig es für die Anhänger sei,
regelmäßig seine Schriften zu lesen. Darin wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Li Hongzhi keine Krankheiten heile und es insbesondere auch
20
Anhängern nicht erlaubt sei, Kranke zu heilen. Darin unterscheide sich
Falun Gong von anderen Qigong Lehren. Zugleich wird jedoch deutlich, dass
Gesundheit und Heilung durchaus Ergebnisse der Kultivierung von Falun
Gong sein können, gleichsam ein zu erwartender Nebeneffekt. Dass dieser
Nebeneffekt für viele Praktizierende ein wichtiger Faktor für die Attraktivität der Lehre ist, kann angenommen werden. Genauso wichtig dürfte jedoch
sein, dass Li Hongzhi ein umfassendes Lehrsystem anbietet, in dessen Kontext u. a. die Ursachen von Krankheit erklärt werden. Diese Lehre, die in
den Schriften nicht systematisch elaboriert, sondern in Einzelaspekten dargestellt wird, macht die eigentliche. Attraktivität und Besonderheit von Falun Gong aus, die sie von anderen Qigong-Bewegungen unterscheidet.
Op. cit„ 85.
China aktuell, Oktober 1999, 1009.
17 Mündliche Mitteilung.
1ß In China scheint Falun Gong zwar die größte Qigong-Bewegung (gewesen) zu
sein, jedoch haben auch andere Gruppen Hunderttausende oder gar Millionen von
Mitgliedern. Dies gilt zum Beispiel für Zhineng Gong, Dayan Gong, Xianggong, Guogong (cf. „Contra! an qi gang groups stepped up", in: South China Morning Post, Internet Edition, November 12, 1999; China aktuell, Oktober 1999, 1009; China aktuell,
November 1999, 1132).
19 Cf. Terry McCarthy, „Chasing Shadows", in: Time Asia, August 9, 1999, vol. 154
No. 5 (Internet Ausgabe).
'
2 0 Cf. z.B. Li Ilongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 2 (deutsche Version, 5).
15
16
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Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
125
Li Hongzhi bezeichnet Falun Gong als einen Weg der „Kultivierung" (xiulian). „Kultivierung" bedeutet Entwicklung auf ein Ziel hin. Im Buddhismus sei das Ziel die Kultivierung der eigenen Natur, die durch Meditation
erreicht werde, während im Daoismus das Ziel in der Kultivierung des Lebens, d. h. der Erlangung von Gesundheit und langem Leben, bestehe. Die
Besonderheit des Falun-Gong-Kultivierungsweges bestehe darin, dass so21
wohl die innere Natur als auch das Leben gleichzeitig entwickelt würden.
Es wird kein Zweifel gelassen, dass. der Vorrang dabei der Kultivierung der
inneren Natur (xinxing), d. h. der moralischen Selbstkultivierung, zukommt. Sie ist die Voraussetzung für den Erfolg der Qigong-Übungen,
durch die eine Kultivierung der Körpers und damit auch Gesundheit erreicht werden können. 22 Die körperlichen Übungen sind also der moralischen Kultivierung nach- und untergeordnet.
Die Bedeutung der moralischen Selbstvervollkommnung wird im Hahmen
einer kosmologischen Theorie begründet, die für westliche Ohren merkwürdig klingt, im Kontext chinesischer Vorstellungen aber vertraut ist. Es heißt,
dass der gesamte Kosmos nicht nur eine naturgesetzliche, sondern auch eine
moralische Ordnung darstelle. Die grundlegenden moralischen Prinzipien
des Kosmos sind Wahrhaftigkeit (Zhen), Güte (Shan) und Duldsamkeit
(Ren), die damit auch für die Menschen gelten. 23 Kultivierung der eigenen
Natur bedeutet deshalb die Entwicklung dieser drei Kardinaltugenden, was
unter anderem die Ausschaltung aller selbstsüchtigen Begierden erfordert.2~ Diese moralische Ordnung des Kosmos, die unwandelbar ist, wird jedoch in der Gegenwart von den meisten Menschen missachtet. Daraus ergibt sich für Li Hongzhi eine deutliche Sozialkritik: Anders noch als in den
fünfziger und sechziger Jahren, als in der chinesischen Gesellschaft Selbstlosigkeit als Ideal hoch gehalten wurde, sind die Menschen heute nur auf
Profit und ihren eigenen Vorteil aus, um dessen Willen sie auch nicht vor
Verbrechen zurückschrecken. Der moralische Standard wird immer niedriger.25 Dies ist die wahre Ursache für das Auftreten so vieler Krankheiten
und Naturkatastrophen in der heutigen Gesellschaft. 26 Bezogen auf den
21 Op. cit„ 33 f. (deutsche Version, 36).
22 Cf. Li Ilongzhi, Falun Fofa da Yuanman Fa (Anm. 5), 3. Deutsche Ü~ersetzung:
Das große Vervollkommnungsgesetz des Falun-Buddha-Gebotes (Anm. 5), 3.
23 Cf. Li Hongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 12 f. (deutsche Version, 16).
24 Die Theorie erinnert an neokonfuzianische Anschauungen über die Einheit der
menschlichen Natur mit den Prinzipien des Kosmos. So geht es beispielsweise. bei
Zhu Xi (1130-1200) um die Kultivierung der eigenen Natur (xing) durch E.ntw1ck~
Jung der den Prinzipien des Kosmos inhärenten Tugenden ren (Menschenltebe): yi
(Rechtschaffenheit) und !i (Sittlichkeit). Cf. Fung Yu-lan, A history of Chinese ph!losophy, Bd. 2, Princeton 1953, 558.
2s Cf. Li Hongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 13 (deutsche Version, 16).
26 Cf. Li Hongzhi, Falun Fofa- Zai Beimei shoujie fahuishang jiangfa (Anm. 5), 47.
126
Hubert Seiwert
einzelnen Menschen wird dieser Zusammenhang unter Rückgriff auf buddhistische Symbole erläutert. Handeln, das der moralischen Ordnung zuwiderläuft, führt zur Akkumulation von schlechtem Karma oder Yeli, das unter anderem Krankheit, aber auch anderes Unglück bewirken kann. Umgekehrt bewirkt die Kultivierung der Tugenden, insbesondere auch das Erdulden von Unrecht, die Akkumulation von gutem Karma, das bei Li Hongzhi
De genannt wird. Damit erschließt sich auch der Zusammenhang von moralischer Kultivierung und Gesundheit. Es geht darum, schlechtes Karma (Yeli) durch gutes Karma (De) zu ersetzen und auf diese Weise die Ursachen
von Krankheit zu beseitigen. 27
Diese der Struktur nach buddhistische Anthropologie ist eingebettet in
eine Kosmologie, in der sich traditionell chinesische Elemente mit Versatzstücken moderner Wissenschaft und wissenscha'ftlicher Esoterik vermischen. Li Hongzhi spricht von verschiedenen kosmischen Dimensionen und
anderen Welten, die jenseits der für normale Menschen wahrnehmbaren
Welt liegen, aber mit ihr in Verbindung stehen. Es würde zu weit führen,
diesen Teil der Lehre hier im einzelnen zu beschreiben. Die Hauptbotschaft
ist, dass die empirische Wirklichkeit, die den profanen Wissenschaften zugänglich ist, nur Wirklichkeit auf einer niedrigen Ebene ist. Daneben gibt
es noch zahllose andere Formen der Wirklichkeit, die nur von den Erleuchteten erkannt werden können. In diesen Dimensionen gelten nicht mehr die
Gesetze der Physik; wer zu ihnen Zugang hat, lässt die Begrenzungen der
normalen Menschen hinter sich und erlangt übernatürliche Fähigkeiten.
Außerordentliche Fähigkeiten sind auch das Ergebnis erfolgreicher Kultivierung, die dazu führt, dass der Kultivierende immer höhere Stufen der
Existenz erreicht, so dass der Körper schließlich aus Energiesubstanz zusammengesetzt ist, die aus anderen Welten stammt. 28
(
Dieser Teil der Lehre, der sich auf Welten in anderen Existenzformen und
übernatürliche Fähigkeiten bezieht, muss westlichen Lesern abstrus und
unverständlich erscheinen. Im chinesischen Kontext kann er jedoch als moderne Variante traditioneller Vorstellungen verstanden werden. Sie ähneln
daoistischen Vorstellungen über die Welten der Götter und Unsterblichen
(shenxian) 2 n, die von den Begrenzungen normaler Menschen befreit allerlei
Wundertaten vollbringen können. Vor diesem Hintergrund sind die Be27 Cf. Li Honghzi, Zhuan Falun (Anm. 5), 28 (deutsche Version, 30 f.). Die Terminologie entspricht nicht genau der buddhistischen. Ye bedeutet im Buddhismus allgemein karma, während bei Li Hongzhi damit nur schlechtes Karma gemeint ist. Gutes
Karma entspricht im Wesentlichen dem, was bei Li Hongzhi De heißt.
23 Op. cit., 64 ff. (deutsche Version, 66 ff.).
2 9 Bei der Beschreibung des Ergebnisse der Kultivierung wird auf die daoistische
Terminologie, „ein shenxian [zur Klasse der Götter und Unsterblichen gehörend]
sein" zurückgegriffen (Zhuan Falun, 63). Die deutsche Version übersetzt missverständlich „zum Gott werden" (66).
@1
Falun Gong- Eine neue religiöse Bewegung
127
schreibungen Li Hongzhis weit weniger unverständlich, als es einem westlichen Betrachter erscheinen mag. Im Abendprogramm des chinesischen
Fernsehens sind historische Serien beliebt, in denen Qigong-Meister und
Unsterbliche ganz selbstverständlich durch Wände gehen und durch die
Lüfte schweben. Der Glaube an die Möglichkeit übernatürlicher Fähigkeiten ist in China keineswegs auf die ungebildeten Schichten beschränkt, sondern wird auch von nicht wenigen Intellektuellen geteilt. Selbst Parteifunktionäre sind davon nicht frei. 30
Diese Skizze der Grundelemente der von Li Hongzhi verkündeten Lehre
macht deutlich, dass sich darin wenig findet, was im chinesischen Kontext
als wirklich neu zu bezeichnen wäre. Li Hongzhi greift Vorstellungen auf,
die in der chinesischen Gesellschaft in diffuser Form allgemein bekannt
sind. Das meiste klingt für chinesische Ohren durchaus vertraut, obwohl es
im Widerspruch zur offiziell verkündeten materialistischen Weltanschauung steht. Vorstellungen von Karma und Vergeltung, Selbstkultivierung
und übernatürlichen Fähigkeiten sind Teil der religiösen und kulturellen
Tradition. Freilich werden diese Traditionen bei Li Hongzhi gewissermaßen
in trivialisierter Form verarbeitet. Es gibt keine Hinweise auf profunde
Kenntnisse der buddhistischen, daoistischen oder auch konfuzianischen
Philosophie. Aus der Sicht klassischer chinesischer Bildung erscheint sein
Verständnis dieser Traditionen als oberflächlich und in vielen F'dllen
schlicht falsch. Es ist ein Eklektizismus, der gerade deshalb leicht verständlich ist, weil er traditionelle Vorstellungen auf dem Niveau verarbeitet, das
dem seiner Hörerschaft entspricht. Fünfzig Jahre antireligiöser Propaganda
und Abwertung traditioneller Bildung haben dazu geführt, dass fundierte
Kenntnisse der religiösen und philosophischen Traditionen nur noch bei einer Minderheit zu finden sind. Übrig geblieben ist das, was innerhalb der
Familie, in der Trivialliteratur31 und im Fernsehen über diese Traditionen
vermittelt wird. Es sind gewissermaßen frei schwebende Elemente traditioneller chinesischer Kosmologie, Philosophie, Religion und Folklore, die jeder kennt. Jeder kennt sie, obwohl sie nicht in den Schulen gelehrt, sondern
durch die Sozialisation alltäglicher Kommunikation vermittelt werden. Gerade deshalb besitzen sie ein hohes Maß an Plausibilität, bleiben aber diffus
und unbestimmt. Hier scheint einer der Gründe für die Attraktivität der
Lehre des Li Hongzhi zu liegen: Er greift diese freischwebenden Elemente
30 Ye Xiaowen betont, dass der „Aberglaube" keinesw.egs auf Leute mit D:iedriger
Bildung beschränkt sei sondern auch Anhänger bei mcht wemgen Parteikadern,
Technikern, Ärzten und' Lehrern habe („F'dlun Gong juyou xiejiao de xingzh1 .he tedian" [F.ilun Gong hat das Wesen und die Merkmale einer heterodoxen Lehre], m: F'dlun Gong yu xiejiao (Anm. 10).
31 In diesem Zusammenhang kann auf die große Popularität ~er Homane von Luis
Cha verwiesen werden, in denen Qigong-Meister die unglaublichsten Wundertaten
vollbringen. Cf. Shi Ming, „Richtig atmen gegen den Weltuntergang", m: Die Welt,
30. Juli 1999, 12.
128
Hubert Seiwert
der Tradition auf und bindet sie ein in ein System, in dem alles zusammen
paßt. Die einzelnen Elemente dieses Systems sind vertraut, aber Li Hongzhi
zeigt, worin ihre Bedeutung für das Verständnis der eigenen Probleme liegt,
er stellt einen sinnvollen Zusammenhang her.
Ein wichtiges Problem, mit dem viele Menschen im heutigen China konfrontiert sind, ist der beschleunigte soziale Wandel, die Einführung der „sozialistischen Marktwirtschaft", durch die die Lebenswelt sich radikal verändert. Die Ideale und Werte, mit denen der größte Teil der Bevölkerung
groß geworden ist, werden heute durch die soziale Praxis entwertet. Statt
sozialer und ökonomischer Gleichheit wird der Reichtum weniger erfahren,
statt Opferbereitschaft und Solidarität das Streben nach persönlichem Gewinn und dem schönen Leben. Den Profiteuren der neuen Wirtschaftsordnung stehen Massen von Verlierern gegenüber. Auch wenn der Marxismus
als Ideologie heute weniger Glaubwürdigkeit denn je genießt, so sind doch
die sozialen Werte, die über Jahrzehnte propagiert wurden, tief verwurzelt.
Ähnlich wie er freischwebende Elemente der traditionellen Kultur aufgreift
und in sein System einbindet, integriert Li Hongzhi auch diese heimatlos
gewordenen moralischen Werte des chinesischen Sozialismus. Selbstaufopferung - dafür stand in der staatlichen Propaganda der Mustersoldat Lei
Feng, der Generationen von Schülern als Vorbild vermittelt wurde. Wenn
heute jemand Lei Feng zum Vorbild nähme, „würde man ihn für verrückt
erklären", wie Li Hongzhi bemerkt. 32 Gleiches würde einem Mann geschehen, der einen Lotteriegewinn ablehnt und ihn stattdessen seiner Einheit
spendet. „In den fünfziger und sechziger Jahren wäre das doch nichts und
völlig normal gewesen. „:i 3 Man kann sich leicht vorstellen, dass solche Bemerkungen gerade bei älteren Menschen Zustimmung finden, die mit solchen Werten aufgewachsen sind. Falun Gong bietet für sie eine Lehre, die
bestätigt, dass diese Werte immer noch gelten, auch wenn die Mehrheit der
Menschen sie heute missachtet.
(
Ein wesentliches Moment bei der Attraktivität von Falun Gong dürfte die
Fähigkeit Li Hongzhis sein, latent vorhandene Vorstellungen und Werte aufzugreifen und zu bestätigen. Falun Gong bietet Erklärungen für die Erfahrungen der Gegenwart an, die im Kontext des Vorwissens der Hörer verständlich und deshalb überzeugend sind. Darüber hinaus aber bietet der
Kultivierungsweg auch die Möglichkeit, die Gesundheit zu fördern, was
nicht nur für ältere Menschen von Bedeutung ist. Ye Xiaowen, der Direktor
des staatlichen Amtes für Religionen und damit oberster Religionswächter
in China, betont, dass auch viele Kader, Parteimitglieder, Techniker, Ärzte
und Lehrer gerade wegen des Wunsches, die Gesundheit zu fördern und
32
33
Li Hongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 13 (deutsche Version, 16).
Op. cit„ 145 (deutsche Version, 149); cf. auch z. B. 107 (111).
@1
Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
129
Krankheiten zu heilen, Falun Gong praktizieren. Ye Xiaowen bestätigt sogar, dass Falun Gong einen positiven Einfluss auf die Gesundheit ausübt
und gibt dafür eine aufschlussreiche Erklärung: Nach der Definition der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) sei Gesundheit nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein Zustand vollständiger körperlicher,
geistiger und sozialer Gesundheit. Gegenwärtig sei es in der populären Kultur jedoch für viele schwierig, die körperliche Gesundheit hinreichend zu
fördern und die Bedürfnisse nach geistigem Ausgleich und sozialem Kontakt zu erfüllen. Genau in diese Lücke stoße Falun Gong. Das Religionsamt
habe im Rahmen empirischer Untersuchungen festgestellt, dass F"dlunGong-Anhänger normalerweise jeden Morgen in der Frühe ihre Übungen
praktizieren, dabei gleichzeitig aber auch in einem interessanten Freundeskreis von Gleichgesinnten nach Befriedigung ihrer geistigen Bedürfnisse
und sozialem Kontakt suchten. Unter diesen Bedingungen sei eine Verbesserung der Gesundheit kein Wunder, sondern eine objektiv eintretende Folge. Deshalb sei es ein Schwindel, wenn Falun Gong behaupte, die tatsächliche Verbesserung der Lebenssituation sei eine Wirkung der Übungen. 3 ·1
Vermutlich ist es den meisten falun-Gong-Anhängern eher gleichgültig,
mit welcher Theorie die Verbesserung ihrer Gesundheit erklärt wird, solange es ihnen nur besser geht. Aber die Bemerkungen Ye Xiaowens belegen
klar einen weiteren Aspekt der Attraktivität von Falun Gong: Es bestehen
offenbar gemeindeähnliche Strukturen, die den Praktizierenden Gelegenheit zu sozialem Kontakt und Gedankenaustausch und natürlich auch zur
gegenseitigen Bestätigung der von Li Hongzhi verkündeten Lehre bieten.
Die gemeinsame Lektüre ist Teil dieses Gemeindelebens. Der Direktor des
staatlichen Religionsamtes räumt ein, dass Falun Gong damit eine Lücke
ausfüllt, die in der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft besteht. Es besteht ein Bedarf nach sozialen Kontakten und geistiger Orientierung. In einem anderen Beitrag benennt er auch die Ursachen dieser Situation, nämlich der mit Entwicklung der Marktwirtschaft verbundene Verlust an Normen und innerem Gleichgewicht. Genau dies werde in Religionen gesucht
und gefunden. 35 Man wird dieser Analyse im wesentlichen zustimmen können, auch wenn der Verfasser im Anschluss daran F'alun Gong nicht als eine
Religion, sondern als eine heterodoxe Lehre (xiejiao) bezeichnet, die den
Bodensatz der Gesellschaft repräsentiere.
3·1 „F'alun Gong' juyou xiejiao de xingzhi he tedian", in: F'alung Gong yu xiejiao
(Anm.10), 2-30: 9 f.
35 Ye Xiaowen, „Xiejiao wenti de xianzhuang, chent,'Yin ji duice" [Die gegenwärtige Situation und Ursachen des Sektenproblems und die Gegenmaßnahmen], i.n: ,falun Gong' yu xiejiao (Anm. 10) 160-171. Der Verfasser fuhrt hier ausdruckllch die
englischen Begriffe church, de~omination, sect, cult ein und bezieht sich auf die
westliche Forschung über neue Religionen. Es ist bemerkenswert, dass dabei eingeräumt wird, dass traditionelle Religionen (Kirchen und Denominationen) eine positive Funktion bei der Lösung sozialer Probleme erfüllen (164 f.).
130
Hubert Seiwert
II. Falun Gong als Erlösungsreligion
Weder die chinesische Regierung noch Li Hongzhi bezeichnen Falun Gong
als eine Religion. Für Li Hongzhi ist es ein Kultivierungsweg, wenngleich er
immerhin einräumt, dass damit ähnliche Ziele verfolgt würden wie in den
Religionen, wenn auch auf höherem Niveau. Während die Frage, ob Falun
Gong als Religion zu bezeichnen sei oder nicht, im politischen Kontext erhebliches Gewicht besitzt, ist sie wissenschaftlich zweitrangig. Man kann
jedoch feststellen, dass die Bewegung eine ganze Reihe von Merkmalen aufweist, die es schwer machen, sie nicht als eine Religion anzusehen.
Eine der auffallendsten Besonderheiten der Entwicklung im Jahre 199 9
ist der ungewöhnliche Opfermut, mit dem Falun-Gong-Anhänger sich zu
ihrer Zugehörigkeit bekannten und dafür Verhaftung und Verfolgung in
Kauf nahmen. Zwar blieben die mehr als zehntausend Teilnehmer der Demonstration vom 25. April, die zum Auslöser der Verfolgungskampagne
wurde, zunächst unbehelligt, aber in den folgenden Monate wurden Demonstranten regelmäßig verhaftet. Allein am 6. Juni wurden in Peking etwa
70.000 Anhänger der Bewegung, die aus dem ganzen Land angereist waren,
festgenommen und vorübergehend in Sportstadien festgehalten. 36 Nach Informationen aus Hongkong sollen seit Juli 1999 mehr als 36.000 Mitglieder
der Bewegung verhaftet worden sein. Mindestens sechs Personen seien Während der Haft gestorben. 37 Doch obwohl ein hartes Durchgreifen der Polizei
vorhersehbar ist, kommt es immer wieder zu schweigenden Protestaktionen
So kamen Ende Oktober während der Sitzung des Ständigen Ausschusse ·
s
des Nationalen Volkskongresses zahlreiche Mitglieder der Bewegung aus
den umliegenden Provinzen nach Peking und demonstrierten auf dem Platz
des Himmlischen Friedens, indem sie ihre Meditationsübungen praktizierten oder sich auch nur auf dem Platz niedersetzten. Sie ließen sich ohne Widerstand abführen und viele erschienen nach ihrer Freilassung erneut auf
38
dem Platz. Auch an vielen anderen Orten kam es zu ähnlichen Protestaktiooffi.
Ein derartiges Verhalten, das Verhaftungen geradezu provoziert, ist in
China ohne Beispiel. Ziviler Ungehorsam ist nicht Bestandteil der politischen Kultur Chinas. Deshalb ist diese märtyrerhafte Bereitschaft, für den
eigenen Glauben einzustehen und Verfolgung hinzunehmen, erklärungsbe36
„Falun gang: Chronik der Ereignisse", China heute, 18 (1999), Nr. 3-4, 67.
„Falun Gong: Der Tumor ist entfernt, das Virus aber geblieben", China heute 18
(1999), Nr. 5-6, 133.
'
38
„Anhaltende Proteste nach Verschärfung des staatlichen Vorgehens gegen Falungong", in: China aktuell, Oktober 1999, 1008; Johnny Erling, „Peking verschärft
~amp~ ~egen verbotene Falun-Sekte. Neuer Beschluß stellt Mitgliedschaft unter
Strafe , m: Die Welt, 1. November 1999.
3
1
f)
1
Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
131
dürftig. Eine Ursache für das ungewöhnlich hohe Commitment dürfte in
der Erlösungslehre des Li Hongzhi zu suchen sein, die ich kurz darstellen
will.
Wie erwähnt, ist das Ziel des Kultivierungsweges die Entwicklung der inneren Natur des Menschen, d. h. die moralische Kultivierung. Diese ist der
Schlüssel zur Überwindung der Missstände der gegenwärtigen Gesellschaft,
die durch moralischen Verfall gekennzeichnet ist. Li Hongzhi greift hier die
buddhistische Vorstellung von der Endzeit des Dharma (mofa) auf. 39 Die
Endzeit des Dharma wird schon in mittelalterlichen Texten als Zeit des moralischen Verfalls beschrieben, während der Dämonen auftreten, um die
buddhistische Lehre zu zerstören. Li Hongzhi löst diese Vorstellung aus
dem spezifisch buddhistischen Kontext, greift jedoch das Bild der Dämonen
auf. In der Endperiode des Dharma treten Dämonen auf, die falsche Lehren
verkünden, wozu die meisten der in den letzten Jahrhunderten neu entstandenen Religionen gehören. 40 Aber auch die orthodoxen Religionen der Gegenwart, wie Buddhismus und Christentum, können die Menschen nicht zur
Vollkommenheit führen und erlösen. 41 Unter den Bedingungen der Gegenwart ist es allein Li Hongzhi, der alle Menschen erlösen (du suoyoude ren)
kann. 42 Li Hongzhi ist der Erlöser der Welt, der in menschlicher Gestalt erscheint und sein Erlösungswerk bereits begonnen hat. Aus diesem Grund
werden auch die in der Geschichte prophezeiten Ereignisse nicht eintreten.43
Was ist mit den „in der Geschichte prophezeiten Ereignissen" gemeint? Li
Hongzhi spielt hier auf die Erwartung kommender Katastrophen und des
Endes der Welt an. Bereits 1994, also in einer frühen Phase der Geschichte
der Bewegung, trat Li Hongzhi solchen Vorstellungen entgegen, die offensichtlich unter einem Teil der Anhänger verbreitet waren. In einem Vortrag
vor Funktionsträgern der Bewegung in Peking kritisiert er Leute, die sich
nicht mehr um die Belange des gesellschaftlichen Lebens kümmern, sondern nur noch warten, bis diese Katastrophe komme. Es bestehe jedoch kein
Grund dazu, denn wenn eine Katastrophe käme, würde dies nur die
schlechten Menschen betreffen, während die Guten verschont würden. Jedoch stellt er klar fest: Es wird keine Katastrophe geben. Möglich sei jedoch, dass eine große Zahl sehr schlechter Menschen ausgesondert würde,
39 Zu den mittelalterlichen buddhistischen Vorstellungen über die Endzeit des
Dharma cf. Jan Nattier, Once upon a future time. Studies _in_ a Buddhist prophecy of
decline, Berkeley, Calif. 1991 (Nanzan Studies in Asian He1Ig10ns; 1).
40 Cf. Li Hongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 87 f. (deutsche Version, 89 f.).
41 Cf. Li Flonghzi, Falun Fofa _ Zai Beimei shoujie fahuishang jiang fa (Anm. 5),
32 f.; 54.
42 Op. cit„ 30.
43 Op. cit„ 45 f.
132
Hubert Seiwert
beispielsweise durch eine schlimme Krankheit.'1·1 Es handele sich dann allenfalls um eine selektive Vernichtung derjenigen, die große Mengen
schlechtes Karma haben. So etwas sei schon oft geschehen, seit vielen tausend Jahren. 45
Li Hongzhi greift hier buddhistische Vorstellungen von einer zyklischen
Zerstörung der Welt auf, die er freilich in einen neuen Kontext einbindet
und mit modernen parawissenschaftlichen Ideen verbindet. Danach hat es
in der Vergangenheit bereits viele Zivilisationen gegeben, die schon seit Millionen von Jahren existierten. Insgesamt sei die Menschheit 81 Mal vernich16
tet worden, wobei immer nur ganz wenige errettet wurden: Es wird also
eine moderne Adaption der indischen lcalpa-Lehre vertreten, die durch den
Buddhismus auch in China bekannt ist. Für die Erlösungslehre ist diese
Vorstellung einer zyklischen Vernichtung der Menschheit jedoch sekundär.
Wichtiger und für das Verständnis zentral ist ein Motiv, dessen geistesgeschichtliche Wurzeln nicht im Buddhismus, sondern in den volksreligiösen
Erlösungsreligionen der Ming- und Qing-Zeit liegen. Der eigentliche Ursprung des Menschen liegt für Li Hongzhi nicht auf dieser Welt, sondern in
Raum des Kosmos. Der Kosmos aber ist vollständig gut, er besitzt die Merkmale Zhen, Shan, und Ren (Wahrhaftigkeit, Güte und Puldsamke!t): Da der
Mensch von gleicher Natur ist wie der Kosmos, besitzt er ebenfalls diese
moralischen Qualitäten. Jedoch wurden diese Qualitäten in der Entwicklung der Menschen zunehmend von selbstsüchtigen Begierden überlagert,
so dass sie ihre ursprüngliche Vollkommenheit verloren und auf immer tiefere Stufen herabsanken, bis sie schließlich auf der Ebene der heutigen Gesellschaft angelangt waren. Diese Stufe ist so verkommen, dass die eigentlich vernichtet werden sollte. Aber weil die „großen Erleuchteten" von
Barmherzigkeit und Mitleid erfüllt sind, wollen sie den Menschen noch eine
Gelegenheit zur Errettung geben, weshalb sie besondere Voraussetzungen
zur Erlösung schufen. Die Menschen müssen sich kultivieren und so zu ihrer
wahren Natur zurückkehren (fan ben gui zhen). Nur durch Selbstkultivierung und Rückkehr zur wahren Natur kann man der Stufe der weltlichen
Menschen entrinnen. 47
Vor diesem Hintergrund erhält der von Li Hongzhi verkündete Kultivierungsweg eine heilsgeschichtliche Dimension. Es ist in der Gegenwart der
einzige Weg, der den Menschen dazu verhilft, zu ihrer ursprünglichen Natur
zurückzukehren und damit der drohenden Vernichtung zu entgehen. Rückkehr zu der ursprünglichen Natur bedeutet die Kultivierung der Tugenden
44
Zai Beijing Falun Dafa fudaoyuan huiyishang de jianyi [Rede auf dem Treffen
der Falun-Dafa-Tutoren in Peking], in: Li Honghzi, Falun Dafa Yijie (Anm. 5), 134 f.
45
Cf. Li I:longhzi, Falun Fofa - Zai Beimei shoujie fahuishang jiangfa (Anm. 5), 48.
46
Cf. Li Hongzhi, Zhuan Falun (Anm. 5), 18 f. (deutsche Version, 20-22).
·!7 Op. cit., 3-5 (deutsche Version, 6 f.).
f
41
V
Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
133
Zhen, Shan und Ren. Aus diesem Grund ist die innere Kultivierung der eigenen Natur (xinxing) wichtiger als die Kultivierung des physischen Körpers durch die Qigong-Übungen. Die moralische Kultivierung der eigenen
Natur ist die Voraussetzung für die Befreiung von den Bindungen an diese
Welt und die eigene Vervollkommnung.
Leider haben wir keine Möglichkeit festzustellen, wie diese Lehre von
den Gläubigen aufgenommen wird. Es ist durchaus möglich, dass viele Anhänger dieser Kultivierungsmethode sich nicht oder nur wenig für die damit
verbundene Erlösungslehre interessieren, sondern in erster Linie für die
Heilung von Krankheiten und die Erlangung besonderer Fähigkeiten. Man
kann annehmen, dass bei diesem Teil der Anhängerschaft eine vergleichsweise geringe Bindung an die Bewegung besteht. Vermutlich wird man die
Mehrzahl derjenigen, die seit Beginn der staatlichen Verfolgungen der Bewegung den Rücken gekehrt haben, in diesen Kreisen suchen müssen. Für
diejenigen aber, die trotz Verfolgung weiterhin mit großen Opfermut sich zu
Falun Gong bekennen, ist es mehr als nur eine unter zahlreichen anderen
Qigong-Methoden. Für sie ist Falun Gong ein Erlösungsweg, der aus den
Bindungen an diese Welt befreit. Eine Anhängerin bemerkt dazu: „lt changes you into a totally different person. You let go of a lot of human desires
and become very peaceful, and then you don't fear anything. That's probably what the Chinese government is afraid of - that Falun Gong people are
not afraid. ""18
Das Verhalten vieler Gläubiger, die den Verlust des Arbeitsplatzes, öffentliche Demütigung, Verhaftungen und Misshandlungen in Kauf nehmen, bestätigt diese Aussage. Das Aushalten von Schikanen und Verfolgung ist Teil
der moralischen Selbstkultivierung. Dabei verwirklicht sich insbesondere
die dritte der Kardinaltugenden: Ren (Duldsamkeit). Die Ftihigkeit, Ungerechtigkeit und Angriffe zu erdulden, ist ein Indiz für den Stand der Kultivierung der inneren Natur. 49 Die Kultivierung der inneren Natur aber ist
die Voraussetzung sowohl für die Erlösung als auch für die Erlangung der
weltlichen Nebeneffekte wie Gesundheit. Da es für den einzelnen schwer
ist, den Stand der eigenen Kultivierung zu erkennen, bietet das Erdulden
von Schikanen eine Möglichkeit zur Erlangung der Heilsgewissheit. Das
Martyrium wird damit zum Zeichen der Erwähltheit, und wir können vermuten, dass es ähnlich wie im antiken Christentum innerhalb der Gemeinde
mit hohem Prestige versehen ist.
4B Zitiert bei Terry McCarthy, „Chasing Shadows", in: 'firne Asia, August 9, 1999
(Internet-Ausgabe).
49 Li Honghzi, Zhuan Falun (Anm. 5), 30 f. (Deutsche Version, 33 f.).
134
Hubert Seiwert
III. Staatliche Reaktionen
Die Anhänger von Falun Gong ebenso wie Li Hongzhi selbst betonen immer wieder, dass sie keine politischen Ziele verfolgten. Sie wollten einfach
nur gute Menschen sein. Gleichwohl hat die chinesische Regierung den
Kampf gegen diese Bewegung zu einer der vorrangigsten innenpolitischen
Aufgaben erklärt. Die massive Repression belegt, dass sie diese Aufgabe
sehr ernst nimmt. Worin besteht aus der Sicht von Regierung und Partei die
Gefährlichkeit von Falun Gong?
Fast alle Beobachter sind sich darin einig, dass der Auslöser für die Verfolgungswelle die friedliche Demonstration am 25. April 1999 vor den Toren
von Zhongnanhai war. Zhongnanhai ist gewissermaßen die Verbotene Stadt
der kommunistischen Führung, unweit der Verbotenen Stadt der chinesischen Kaiser im Zentrum von Peking. Gewiss gab es auch schon vorher Kritik an Falun Gong in staatlichen Medien - diese Kritik war der Anlass für
die Demonstration. Aber es war ganz offensichtlich die Fähigkeit dieser Organisation, unbemerkt von Polizei und Geheimdienst mehr als zehntausend
Menschen im Zentrum von Peking zu versammeln, die die politische Führung schockierte und entsprechend radikale Maßnahmen nach sich zog. Für
das Verständnis der chinesischen Regierung musste es eine ungeheure Provokation darstellen, dass eine staatlich nicht anerkannte und damit illegale
Organisation es wagte, durch öffentliche Demonstration Rechte einzufordern und eine Begegnung mit Partei- und Regierungsvertretern zu verlangen. Dass diese Begegnung überhaupt zustande kam, war schon ein Gesichtsverlust der Regierung; alarmierend musste es aber sein, dass dabei die
Vertreter von Falun Gong selbst Ministerialbeamte und Parteimitglieder
waren.
Jede Organisation, die die chinesische Regierung dermaßen in Verlegenheit gebracht hätte, hätte mit massiven Repressionen rechnen müssen. Es ist
schwer vorstellbar, dass die Organisatoren der Demonstration so naiv waren, eine andere Reaktion der Regierung zu erwarten, obwohl dies nicht völlig ausgeschlossen werden kann. 50 Aus der Sicht der chinesischen Führung
musste dieses Vorgehen jedenfalls als bewusste Provokation und Machtdemonstration erscheinen. Unabhängig von den Lehren und Praktiken, die
50 Es gibt Gerüchte, wonach die Falun-Gong-Bewegung auch Anhänger in höchsten Parteikreisen hatte bzw. im familiären Umfeld hoher Parteifunktionäre. Nicht
völlig auszuschließen ist, dass die Anhänger von Falun Gong tatsächlich überzeugt
waren, die Regierung werde den Wert dieser Bewegung erkennen, wenn sie nur richtig aufgeklärt werde. Es gibt ein historisches Beispiel für eine ähnliche Haltung in
dem Versuch, das Taiping Jing („Schrift über den höchsten Frieden") dem chinesischen Kaiser zu präsentieren, um eine Heform der Regierung zu erreichen. Der Versuch scheiterte, bildete aber das Vorspiel zum Aufstand der Gelben Turbane am Ende
der Han-Zeit.
Falun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
135
Falun Gong vertritt, ist dies ausreichend, um sie als eine politische Bewegung anzusehen, jedenfalls im K~ordinatensystem von Partei und Regierung. Vor dem Hintergrund des umfassenden Kontrollanspruchs der Regierung stellen Massenbewegungen, die sich der Kontrolle entziehen, zweifellos eine politische Bedrohung dar. Dies gilt erst recht, wenn wie im Fall von
Falun Gong die Bewegung offensichtlich über eine gut funktionierende interne Organisation und ein hohes Mobilisierungspotential verfügt. Hinzu
kommt, dass unter den Anhängern von Falun Gong zahlreiche Parteifunktionäre, Beamte, Armee- und Polizeiangehörige, Lehrer und Professoren
sind. Unter diesen Umständen und vor dem Hintergrund der politischen Sozialisation der kommunistischen Führer ist kaum eine andere Reaktion vorstellbar, als der Versuch, die als Bedrohung der eigenen Machtbasis wahrgenommene Bewegung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu zerschlagen.
Es ist in diesem Zusammenhang von nur geringer Bedeutung, ob die Versicherungen Li Hongzhis, keine politischen Ziele zu verfolgen, subjektiv
ehrlich sind oder nicht. Objektiv, und nicht nur in der Wahrnehmung von
Partei und Regierung, stellt Falun Gong eine Bedrohung für den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei dar. Denn spätestens seit der
Niederschlagung der Studentenbewegung am 4. Juni 1989 ist die Legitimität der kommunistischen Herrschaft brüchig. Es fehlt nicht nur jede demokratische Legitimation, sondern darüber hinaus ist auch der ideologische
Führungsanspruch fraglich geworden. Die über Jahrzehnte propagierten
sozialistischen Werte und Ideale haben unter den Bedingungen der beschleunigten Modernisierung weitgehend ihre Glaubwürdigkeit verloren.
Regierung und Partei haben guten Grund, an der Loyalität der Bevölkerung
zu zweifeln.
Das massive Vorgehen gegen Falun Gong ist deshalb in erster Linie bedingt durch strukturelle Probleme des chinesischen Regierungssystems, in
dem die Selbstorganisation sozialer Gruppen nur toleriert werden kann,
wenn sie unter der Kontrolle von Regierung und Partei steht. Soziale Stabilität ist gleichbedeutend mit politischer Kontrolle, jede unkontrollierte soziale Dynamik bedeutet eine Bedrohung der politischen Stabilität. Es kann
grundsätzlich keine politikfreien Bereiche gesellschaftlicher Aktivität geben. Das politische System ist deshalb mit immensen Kontrollaufgaben belastet. Ein Verzicht auf diese Kontrolle wäre gleichbedeutend mit der Aufgabe des Machtmonopols der Kommunistischen Partei, was politische Instabilität bedeuten würde. Da das politische System keine Verfahren vorsieht,
die es gestatten, Stabilität anders zu sichern als durch die Herrschaft der
Partei, sind die Spielräume der chinesischen Führung beim Umgang mit Bewegungen wie Falun Gong äußerst gering. Denn die Struktur des politischen Systems bietet keine Möglichkeit, Falun Gong als unpolitisch zu in-
136
Hubert Seiwert
terpretieren, weil es keine unpolitischen Bereiche der Gesellschaft gibt. Unter diesen Bedingungen produziert das Bedürfnis nach politischer Stabilität
gerade das Gegenteil, nämlich Instabilität.
Diese strukturellen Probleme des politischen Systems zeigen sich übrigens nicht nur beim Umgang mit Falun Gong, sondern auch in anderen Fällen. Jede Form unkontrollierter Organisation stellt eine Bedrohung der politischen Stabilität dar, unabhängige Gewerkschaften ebenso wie unabhängige Parteien. Es scheint jedoch, dass zumindest unter quantitativen Gesichtspunkten religiöse Organisationen im gegenwärtigen China als das
größte Problem wahrgenommen werden. Schon vor 1999 zeichnete sich eine
deutliche Verschärfung der chinesischen Religionspolitik ab. Nicht nur in
Tibet und Xinjiang, wo Buddhismus bzw. Islam als Kern der Opposition gegen die chinesische Herrschaft gelten, wird massiv gegen religiöse Gruppierungen vorgegangen, sondern auch in den chinesischen Kerngebieten. Hier
sind vor allem die katholische Untergrundkirche und protestantische Hausldrchen, die sich beide staatlicher Kontrolle verweigern, Gegenstand zunehmender Repression. Gleichzeitig werden aber auch volksreligiöse und neue
christliche Bewegungen ähnlich wie Falun Gong als „heterodoxe Lehren"
(xiejiao) verfolgt. 51
Ideologische Gesichtspunkte dürften für die gegenwärtige Religionspolitik eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die Propagierung von Atheismus
und Materialismus sind zwar Teil des ideologischen Repertoires beim
Kampf gegen illegale religiöse Organisationen, aber sie sind offensichtlich
nicht das Motiv. Denn andernfalls müsste in gleicher Weise gegen die staatlich kontrollierten Religionen vorgegangen werden, was jedoch nicht der
:F'all ist. Trotzdem stellt eine Bewegung wie Falun Gong auch eine ideologische Herausforderung für die Partei dar. In einem von Yue Yan gezeichneten
Artikel in der offiziellen Volkszeitung (Renmin Ribao) vom 27. Juli 1999
wird klar formuliert, worin die ideologische Bedrohung besteht. Die Lehre
Li Hongzhis besage, dass die Moral der Menschen und der Zustand der Gesellschaft sich in einem Prozess des Niedergangs befänden. Dies ziele darauf, die grundsätzlich fortschrittlichen Tendenzen in der menschlichen Geschichte zu verneinen und insbesondere die großen Erfolge zu leugnen, die
China während der vergangenen beiden Jahrzehnte der Reform erzielt habe.52 Damit wird die Basis der Legitimität der gegenwärtigen chinesischen
Regierung angesprochen. Denn in Ermangelung demokratischer Legitimation sind es vor allem die wirtschaftlichen Erfolge der Modernisierungspoli51 Cf. Human Rights Watch/ Asia, China: State control of religion, New York et al.,
1997; „Religionspolitik in der VR China: Deutliche Zäsur und andauernde Restriktionen", in: China heute 8 (1999), Nr. 5-6, 131 f.
52 Xinhua
Nachrichtenagentur vom 27. 7. 1999 (http:/1202.84.17 .11/en/htm/
99728837353.htm, besucht am 28. 7. 1999).
fP
Falun Gong- Eine neue religiöse Bewegung
137
tik, die der Regierung ein Mindestmaß an Zustimmung sichern. Gerade die
Begleiterscheinungen dieser Modernisierungspolitik bilden jedoch den Angriffspunkt für die Sozialkritik Li Hongzhis. Das Dilemma der Regierung
besteht darin, dass moralischer Verfall und soziale Missstände von ihr selbst
eingeräumt werden müssen. Der Autor Yue Yan weist ausdrücklich darauf
hin und kritisiert Profitsucht, soziale Kälte und Gleichgültigkeit, korrupte
Beamte, die ihre Macht missbrauchen und ein dekadentes Leben führen,
Drogenmissbrauch, Glücksspiel, Pornographie und Prostitution sowie Wirtschaftskriminalität. Die hier eingeräumten Fehlentwicklungen gehen weit
über die eher allgemein gehaltene Kritik am Verfall der Moral hinaus, die
Li Hongzhi in seinen Schriften formuliert. Insofern hat die Partei der Kritik
wenig entgegen zu setzen. Anders als Falun Gong tragen Partei und Regierung jedoch für die Missstände, die sie kritisieren, selbst die Verantwortung.
Die chinesische Führung kann deshalb auch aus ideologischen Gründen
nicht zulassen, dass eine Bewegung wie Falun Gong sich ungehindert entfaltet. Denn dies würde die Gefahr heraufbeschwören, dass die Kritik an
sozialen Missständen außer Kontrolle gerät und sich gegen die Verantwortlichen und damit gegen das politische System richtet. Die Eigendynamik religiöser Bewegungen ist den Regierenden wohl bekannt. Aus chinesischer
Sicht waren die Träger der politischen Opposition in Osteuropa, die letztlich zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme führte, vor allem religiöse Kreise. Dies ist einer der Gründe für die hohe Sensibilität gegenüber
unabhängigen religiösen Bewegungen. Hinzu kommt, dass die chinesische
Geschichte genügend Beispiele für Rebellionen kennt, an denen religiöse
Gruppen beteiligt waren. Die Verbindung volksreligiöser Bewegungen mit
Rebellionen ist seit fast zweitausend Jahren ein fester Topos des Geschichtsbildes chinesischer Eliten. 53
IV. Historische Parallelen und J{ontinuitäten
Rein terminologisch steht die Verfolgung von Falun Gong durch die gegenwärtige chinesische Regierung in der Kontinuität der Repression volksreligiöser Bewegungen während der Kaiserzeit. In beiden Fällen wird der
")5·1 b
Gegenstand der Unterdrückung als xiejiao („heterodoxe L eh ren
e53 Im Kontext der traditionellen chinesisch-marxistischen Historiographie werden
Rebellionen als „Bauernaufstände" (nongmin qiyi) klassifizi~rt ~ntl pri_nzipiell positiv als Form des Klassenkampfes gewertet. Damit entsteht em ideologisches Dilemma, weil im Zusammenhang mit der Falun-Gong-Bcwegung eine N~ubewertung von
religiösen Aufstandsbewegungen notwendig wird. Zur früheren Sicht lustons.cher
Rebellionen cf. James P. Harrison, The Communists antl Chinese Peasant Rebelhons.
A Study in the Rewriting of Chinese History, New York 1968.
138
Hubert Seiwert
zeichnet. Weniger klar ist, ob auch ein historischer Zusammenhang zwischen Falun Gong und diesen religiösen Bewegungen besteht. Denn diese
Traditionen verschwanden nicht mit dem Ende des Kaiserreichs, sondern
waren auch im zwanzigsten Jahrhundert weiter aktiv. Erst die massive Repression in den Anfangsjahren der Volksrepublik führte zu einer Zerschlagung der meisten Organisationen. Doch Verfolgungen gab es auch in den
vergangenen Jahrhunderten, ohne dass damit auf Dauer die Existenz „heterodoxer Lehren" unterbunden werden konnte. Wo liegen die historischen
Wurzeln von Falun Gong?
Auf den ersten Blick fällt auf, dass die von Li Hongzhi benutzte Begrifflichkeit stark durch buddhistische Terminologie beeinflusst ist. Der Ausdruck Falun ist die chinesische Übersetzung von dharmacakra, „Rad des
Dharma" oder „Rad der buddhistischen Lehre" 55 . Das Symbol des Rades
verweist im traditionellen Buddhismus auf die Verkündigung des dharma
durch den Buddha, der damit das Rad der Lehre in Bewegung setzte. Bei Li
Hongzhi wird falun jedoch in einem völlig anderen Sinne verstanden, nämlich als ein Had, das man im Zustand fortgeschrittener Kultivierung sehen
kann und dessen vielfarbige graphische Darstellung als Symbol der Bewegung am Anfang jedes seiner Bücher abgedruckt ist. Dieses „ Gebotsrad"
wird als ein geheimnisvoller Mechanismus von Li Hongzhi seinen Anhängern in den Unterbauch eingepflanzt, wo es sich unablässig dreht. Durch
die Drehung im Urzeigersinn wird kosmische Energie aufgenommen, durch
Drehung in der Gegenrichtung wird diese Energie an den Praktizierenden
und seine Umwelt abgegeben. Für diese Vorstellung gibt es keine Parallele
im traditionellen Buddhismus. Obwohl Li Hongzhi daneben noch eine Reihe
anderer buddhistischer Symbole benutzt und die Bewegung auch als Falun
Fofa (Dharmacakra Buddhadharma [Rad des Dharma und Dharma des
Buddha]) bezeichnet wird, sind die inhaltlichen Berührungspunkte mit dem
Buddhismus oberflächlich. Li Hongzhis eigene Stellungnahme zum Buddhismus ist ambivalent. Er betont nachdrücklich, dass Falun Gong weder
etwas mit dem ursprünglichen Buddhismus noch mit dem Buddhismus der
0
Endzeit zu tun habe. Es sei jedoch eine der 84.000 buddhistischen Schulen. 56 Man solle aber nicht gleichzeitig Laienbuddhist und Falun-Gong5·! Die Übersetzung von xiejiao ist nicht ganz leicht. Der Gegenbegriff zhengjiao
wird üblicherweise auf die anerkannten Religionen angewandt und häufig als „orthodoxe Heligionen" übersetzt. Insofern kann xiejiao als „heterodoxe. Heligion" übersetzt werden, was ich hier durchgängig tue. Eine andere mögliche Uber:"etzung von
xiejiao wäre „schlechte Lehre" oder „schlechte Religion". In offiziellen Ubersetzungen ins Englische wird xiejiao seit dem Kampf gegen fälun Gong mit cult übersetzt.
55.Fa hat im Chinesischen eine ganze Bandbreite von Bedeutungen. Di.e Grundbedeutung ist Gesetz. Davon abgeleitet ist der buddhistische Gebrau~h als Ubersetzung
von dharma, d. h. die von Buddha verkündete Lehre. In den Ubersetzungen der
Schriften Li Hongzhis wird/a in der Hegel mit Gebot oder Gesetz wiedergegeben, wodurch die buddhistischen Konnotationen verwischt werden.
Falun Gong- Eine neue religiöse Bewegung
0
139
Praktizierender sein. 57 Allerdings gibt es offensichtlich solche Fälle, wie
auch deutlich ist, dass sogar manche buddhistischen Mönche und Nonnen
Falun Gong praktizieren. 58 Dennoch wäre es völlig unangemessen, Fhlun
Gong als eine „buddhistische Sekte" zu bezeichnen. Li Hongzhi grenzt sich
selbst klar ab, er behauptet auch nicht, den „wahren" Buddhismus zu repräsentieren. Religiöse Formen, Tempel, die Verehrung von Buddhas und
Bodhisattvas und andere buddhistische Rituale kommen nicht vor, ebenso
wenig wie zentrale Inhalte der buddhistischen Lehre. Auch die Einflüsse
von Daoismus und Konfuzianismus sind ähnlich oberflächlich. Die Begriffe,
die von Li Hongzhi aufgegriffen werden, gehen nicht über das hinaus, was
man von einem Autodidakten auf dem Gebiet der chinesischen Religionsund Geistesgeschichte erwarten würde. Es sind diffuse Einflüsse, die nicht
auf eine intensive Beschäftigung mit diesen Traditionen hindeuten. Natürlich erhebt Li Hongzhi auch nicht diesen Anspruch, denn nach eigenem
Selbstverständnis handelt es sich bei Falun Gong um eine völlig neue Lehre,
die mit den bisherigen Lehren unvergleichbar ist. Li Hongzhi behauptet jedoch, zahlreiche Lehrer gehabt zu haben, die ihn seit dem Alter von vier
Jahren nacheinander in die Geheimnisse des Kosmos einwiesen. Darunter
seien buddhistische und daoistische Meister gewesen. Diese Biographie
trägt deutlich hagiographische Züge und besagt wenig über tatsächliche
historische Abhängigkeiten. 59 Jedoch wird in einer vom Ministerium für Offentliche Sicherheit veröffentlichten Biographie erwähnt, dass Li Hongzhi
seit 1988 von zwei Qigong-Meistern unterrichtet worden sei, darunter Yu
Guangsheng, der in der Methode „Jiugong Bagua Gong" (Neun Paläste und
Acht Trigramme) unterwies.60 Der Name verweist direkt auf eine derbedeutendsten volksreligiösen Traditionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die
Bagua Jiao („Lehre der Acht Trigramme"). Die Bagua Jiao weist eine Heihe
ähnlicher Merkmale wie Falun Gong auf, insbesondere die Betonung von
Techniken, die heute als Qigong bezeichnet werden, und die Deutung der
Gegenwart als Endzeit. 61 Dies reicht jedoch nicht aus, um eine direkte historische Abhängigkeit Li Hongzhis oder seines Lehrers von der Bagua Jiao
zu unterstellen, denn ähnliche Vorstellungen und Praktiken finden sich
56
Li Honghzi, Zhuan F'dlun (Anm. 5), 83 (deutsche Version, 85 f.)
Op. cit„ 88 (91).
58 Cf. „Chujia dize de yuanze" [Prinzipien für Schüler, die das Haus verlassen haben, d. h. Mönche und Nonnen], in: fälun Fofa - Jingjin yaozhi [F'dlun Fofa - Wesentliche Anweisungen zum geistigen Fortschritt], (Internet-Ausgabe, Vorwort datiert
2. 6. 1994), 77.
59 Die Biographie ist abgedruckt in der deutschen Version von Zhuan Falun
(Anm. 5), 345-357.
60 „Li Hongzhi qi ren qi shi" [Person und Aktivitäten des Li Hongzhi], in: Jingji
Cankao Bao, 23. 7. 1999.
61 Cf. Ma Xisha, Qingdai Bagua jiao [Die Bagua Jiao während der Qing-Zeit], Beijing 1989, bes. 136 ff.
57
140
Hubert Sei wert
auch bei anderen volksreligiösen Bewegungen. Wahrscheinlicher scheint
mir, dass der Name Jiugong Bagua aufgegriffen wurde, um die Methode mit
dem Prestige einer heute sagenumwobenen Bewegung auszustatten. 62
)
\~
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Soweit sich feststellen lässt, sind die Parallelen, die zwischen Falun
Gong und Bagua Jiao sowie anderen volksreligiösen Bewegungen der
Ming- und Qing-Zeit bestehen, eher struktureller als inhaltlicher Art. Es
fehlen bei Falun Gong wichtige Merkmale, insbesondere der Glaube an die
Urmutter (Wusheng Laomu) und die Erwartung des Buddha Maitreya. Sofern nicht eine bewusste Verschleierung dieser notorischen Merkmale heterodoxer Lehren vorliegt, worauf nichts hindeutet, ist eine direkte historische Kontinuität deshalb auszuschließen. Gleichwohl sind einige strukturelle Ähnlichkeiten bemerkenswert. So entspricht Li Hongzhis Lehre vom
Fall der Menschheit aus dem ursprünglichen Zustand der Vollkommenheit
und dem zunehmenden moralischen Niedergang in auffallender Weise traditionell volksreligiösen Vorstellungen. Auch die Rückführung der Auserwählten zur ursprünglichen Vollkommenheit durch vom Himmel gesandte
Erlöser hat ihre Entsprechung. Strukturell hat Li Hongzhi die gleiche
Funktion wie Maitreya, als dessen Inkarnation nicht wenige religiöse Führer angesehen wurden. Es würde zu weit führen, diese und andere Parallelen hier im einzelnen zu verfolgen. 63 Sie sind deutlich genug, um einen latenten Einfluss volksreligiöser Traditionen festzustellen, aber zu schwach,
um eine direkte Abhängigkeit zu vermuten. Freilich ist nicht auszuschließen, dass zukünftige Forschung in diesem Punkt neue Erkenntnisse bringen wird.
Die Geschichte v~lksreligiöser Bewegungen der letzten Jahrhunderte ist
auch im Hinblick auf die staatliche Politik und ihre Erfolgsaussichten aufschlussreich. Seit im 16. Jahrhundert zahlreiche neue religiöse Bewegungen
entstanden, waren diese Gegenstand staatlicher Repression. Die Intensität
der Verfolgung nahm dabei bis zum 19. Jahrhundert kontinuierlich zu. Für
die Anführer wurde die Todesstrafe zum Regelfall. 64 Diese Repressionspoli62
Nach meiner Kenntnis hat die Bagua Jiao im zwanzigsten Jahrhundert nicht
mehr als eigenständige Organisation bestanden. Allerdings war die Organisation bereits im 18. und 19. Jahrhundert in zahlreiche Zweige aufgespalten, die unter verschiedenen Namen in Erscheinung traten. Es kann deshalb nicht völlig ausgeschlossen werden, daß ein direkter historischer Zusammenhang zu einem der Spaltprodukte der Bagua Jiao besteht.
63 Cf. dazu Du Jingzhen und Kong Xiangtao, „Fdlun Gong': Yizhong xinxing de
xiejiao - ,Falun Gong' yu Ming Qing xiejiao de bijiao" [,Falun Gong': Eine heterodoxe
Lehre neuen fyps - ,Falun Gong' im Vergleich mit den heterod~xen Lehren der Mingtind Qing-Zeit], in: Falun Gong yu Xiejiao (Anm. 10}, 49-58. Die Autoren betonen die
Ahnlichkeiten zwischen Falun Gong und den traditionellen Sekten, weisen aber
gleichzeitig auf spezifische Unterschiede hin.
64 Zur staatlichen Repression während der Qing-Zeit siehe Dang Xiaohan und
Zhou Qiawen, „Ming Qing minjian zongjiao de jiben tedian jie zhengfu de chuzhi
cuoshi" [Über die Merkmale volksreligiöser Bewegungen während der Ming- und
9
Falun Gong- Eine neue religiöse Bewegung
141
tik war in gewisser Weise erfolgreich, weil es im 19. Jahrhundert gelang, die
meisten großen und landesweit aktiven Organisationen zu zerschlagen. Das
Ergebnis war jedoch nicht etwa die Eliminierung volksreligiöser Bewegung,
sondern ihre Aufsplitterung in kleinere Sekten, von denen viele das Ende
des Kaiserreichs überlebten. Eine weitere Folge der staatlichen Repression
war, dass volksreligiöse Gruppen mehr und mehr in den Untergrund gedrängt und politisiert wurden. Die Verschärfung der Verfolgung im 18. und
19. Jahrhundert geht Hand in Hand mit einer Zunahme von Rebellionen.
Die staatliche Politik der Verfolgungen produzierte genau das, was sie verhindern wollte. Die Anhänger vieler volksreligiöser Bewegungen nahmen
die Regierung nur noch als Repressionsorgan wahr und gerieten damit in
immer stärkere Opposition. Der auch aus anderen Gründen fortschreitende
Legitimationsverlust entzog der Mandschu-Regierung die Unterstützung
immer weiterer Kreise der Bevölkerung, was letztlich zum Sturz der Dynastie führte.
Wenn wir aufgrund der historischen Erfahrungen versuchen würden, ein
Szenario für die Zukunft zu entwerfen, dann müssten wir davon ausgehen,
dass das Problem der Kontrolle religiöser Bewegungen die chinesische Führung für viele Jahre beschäftigen wird, wenn auch mit wechselnder Intensität. Die Verhaftung der Führung von Falun Gong dürfte zwar zu einer vorübergehenden Zerschlagung der landesweiten Organisation führen, jedoch
kaum zu einer Eliminierung aller Gläubigen. Das Nachwachsen neuer Führer und deren Verhaftung werden sich vermutlich abwechseln. Dies gilt
nicht nur für Falun Gong, sondern auch für die anderen religiösen Gruppierungen, die im gleichen Zug verfolgt werden. Längerfristig dürfte zumindest
bei einigen Gruppen eine zunehmende Politisierung erfolgen, die durch Opposition zur Regierung geprägt ist. In Verbindung mit anderen Oppositionsströmungen und sozialen Unruhen könnte daraus leicht ein hochexplosives
Gemisch entstehen. Natürlich sind keine Prognosen möglich. Die chinesische Führung dürfte die Gefahr einer solchen Entwicklung jedoch ähnlich
sehen, weil das Szenario dem klassischen Muster vom Ende einer Dynastie
entspricht. Die Schärfe der gegen Falun Gong geführten Kampagne deutet
darauf hin, dass die chinesische Regierung das Problem als sehr ernst einschätzt und eine solche Entwicklung mit allen Mitteln zu verhindern sucht.
V. Internationale Aspekte der Falun-Gong-ßewegung
Es ist jetzt schon deutlich dass die chinesische Regierung sich bei der Bekämpfung von Falun Gong ~icht durch westliche Vorstellungen von ReligiQing-Zeit und die Strafmaßnahmen der Regierung], in: Falun Gong yu xiejiao
(Anm. 10), 216-222.
\
142
Hubert Seiwert
onsfreiheit und Menschenrechten behindern lässt. Wie bei der Bekämpfung
politischer Oppositionsgruppen kann die chinesische Führung auf das nach
ihrer Meinung höherrangige Ziel der Wahrung politischer Stabilität und
auf kulturspezifische Traditionen im Umgang mit heterodoxen Religionen
verweisen. Im Unterschied zur Verfolgung der politischen Opposition in
China stößt die Verfolgung von Falun-Gong-Mitgliedern auf keine erkennbare Kritik in den westlichen Medien, wenngleich über die Maßnahmen
häufig berichtet wird. Weder die westliche Öffentlichkeit noch westliche
Regierungen scheinen bisher beunruhigt darüber, dass Tausende von Menschen ihre Arbeitsstelle verloren haben, von Universitäten verwiesen wurden, ohne Prozess in Arbeitslager verbannt wurden und mehrere Menschen
während der Haft ums Leben gekommen sind. Nur der US-Kongress hat am
18. November 1999 eine Erklärung verabschiedet, in der auf Menschenrechtsverletzungen hingewiesen und die chinesische Regierung aufgefordert
wurde, den Falun-Gong-Praktizierenden zu gestatten, ihrem persönlichen
Glauben weiterhin in Übereinstimmung mit Artikel 36 der Verfassung der
Volksrepublik China nachzugehen und sich an das Internationale Abkommen für Bürgerrechte und politische Rechte und die allgemeine Menschenrechtserklärung zu halten.
Eine Erklärung dafür, dass europäische Medien und Öffentlichkeit in diesem Fall nicht das sonst übliche Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte zeigen, dürfte in der ambivalenten Einstellung zu neuen religiösen Bewegungen zu finden sein. Das chinesische Argument, bei Falun
Gong handele es sich nicht um eine Religion, sondern um einen gefährlichen
cult, lässt sich schwer kritisieren, wenn das gleiche Argument im eigenen
Land gegen religiöse Minderheiten vorgebracht wird. Die chinesische Regierung bezieht sich bei ihrer Argumentation ganz bewusst auf die westliche Diskussion über cults, d. h. Sekten im umgangssprachlichen Sinne. Dabei werden systematisch die Argumente der westlichen anti-cult movement
aufgegriffen. Es ist verständlich, dass in diesem Zusammenhang ausführlich auf die Fälle hingewiesen wird, in denen religiöse Gruppierungen in
Verbrechen verwickelt waren oder kollektiver Suizid begangen wurde. 65
Analog zu westlichen Argumentationen wird aus diesen Fällen pauschal die
Gefährlichkeit aller neuen Religionen abgeleitet. So gebe es gegenwärtig
weltweit etwa 20.000 Sekten (xiejiao), allein in Frankreich neben Scientology, Zeugen Jehovas und Sonnentemplern mehr als 170 Sekten mit fast
300.000 Mitgliedern. Als gemeinsame Merkmale der Sekten werden u. a. die
Verehrung des Sektenführers, Gehirnwäsche (xi'nao) und die Erwartung
des Weltendes angegeben. 66
65 Der Band Falun Gong yu xiejiao (Anm. 10) behandelt im letzten Teil in eigenen
Beiträgen folgende westliche „cults": Branch Davidians, Sonnentempel, People's
Temple, Kinder Gottes, Heaven's Gate sowie die japanische Aum Shinrikyo.
t!J
F'dlun Gong - Eine neue religiöse Bewegung
143
Auch sonst gebraucht die gegen Falun Gong geführte Propagandakampagne viele Argumente, die aus der westlichen Sektendiskussion vertraut
sind. Der explizite Bezug auf die westliche Sektendiskussion ist jedoch
nicht der einzige Grund, von einer internationalen Dimension der F".ilunGong-Bewegung zu sprechen. Die Auseinandersetzung zwischen Falun
Gong und chinesischer Regierung ist auch deshalb kein rein innenpolitisches Ereignis, weil sie weltweit im Internet geführt wird. Gegenwärtig soll
es außerhalb Chinas 30 Millionen Falun-Gong-Anhänger geben. Diese Zahl
dürfte zwar bei weitem zu hoch gegriffen sein, aber es steht außer Frage,
dass die Bewegung viele Anhänger in Nordamerika und auch in Europa und
Deutschland hat. Die meisten Bücher Li Hongzhis sind ins Englische übersetzt, einige auch ins Deutsche und in andere Sprachen. Es ist absehbar,
dass auch in westlichen Staaten Falun Gong zum Gegenstand öffentlichen
Interesses werden wird, und zwar im Kontext mit der allgemeinen Diskussion um neue religiöse Bewegungen. 67 Gegenwärtig scheint es, dass Falun
Gong in westlichen Ländern nahezu ausschließlich unter Personen chinesischer Herkunft verbreitet ist. Es ist offensichtlich schwierig, die Lehre an
Menschen, die in der europäischen Tradition verwurzelt sind, zu vermitteln,
68
obwohl es zumindest einige „weiße" Anhänger Li Hongzhis gibt. So wie
Li Hongzhi seine Lehre bisher präsentiert, richtet sie sich an chinesische
Hörer. Die Lehre knüpft in hohem Maße an kulturspezifisches Vorwissen an
und bezieht daraus ihre Plausibilität. Für Hörer ohne chinesische Sozialisation macht jedoch gerade dieser implizite Verweis auf traditionelle chinesische Vorstellungen die Lehre schwer nachvollziehbar. Dies schließt nicht
aus, dass die durch die Verfolgung in China gegebene große Bekanntheit
und der damit verbundene exotische Reiz von Falun Gong auch im Westen
verstärktes Interesse wecken werden. Die massive Repression in China und
die Emigration Li Hongzhis in die Vereinigten Staaten könnten das Zentrum von Falun Gong in den Westen verlagern. Es bleibt abzuwarten, ob
dies langfristig auch inhaltliche Anpassungen der Lehre nach sich ziehen
•
wird.
Abstract
Since the middle of 1999 the Chinese government is launching a massive
campaign against the Falun Gong movement. Thousands of Falun Gong fol66 Long Jingru, „Xifang guojia de xiejia~ ji qi zhili" [Die heterodoxen Sekten in
den westlichen Staaten und ihre Kontrolle], m: Falun Gong yu x1eiiao (Anm. 10).
67 Cf. Ulrich Dehn, „Falun Gong - eine neue Dimension unter den Ki-Bewegungen?", in: Materialdienst der EZW, 1I2000, 14-16.
68 Cf. Li Hongzhi, Falun Fofa- Zai Beimei shoujie fahuishang jiangfa (Anm. 5), 21,
52-56.
144
Hubert Seiwert
lowers have been detained in labour camps without trial or sentenced to
many years of imprisonment. This campaign has grown out to suppress religious groups not belonging to one of the state-controlled religious bodies.
So far, these measures have not brought the expected success. Falun Gong
members continue to protest in public against the persecutions without fearing arrests and ostracism. This shows a remarkable commitment to the movement, whose leader Li Hongzhi now lives in the United States. This article
analyses the background of the tremendous growth of Falun Gong during
the past years, its basic teachings and cultural roots. lt also deals with government perception of this movement and the political reasons for its persecution. Finally, some historical parallels and the international dimension
of Falun Gong are shortly described.
II
Autorenverzeichnis
Professor Dr. James A. Beckford, Department of Sociology, University of Warwick,
Coventry CV4 7AL, UK
Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier, Wissenschaftlich-Theologisches Seminar, Kisselgasse 1,
D-69117 Heidelberg
Jan-Peter Hartung, Universität Erfurt, c/o Lehrstuhl für Religionswissenschaft Islamwissenschaft, PF 307, 99006 Erfurt
Dr. Massimo Introvigne, CESNUR, Via Juvarra 20, I-10152 Torino, Italy
Dr. llans-Christof Kraus, Forschungsinstitut bei der Deutschen Hochschule, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, D-67346 Speyer
Prof. Dr. James T. Richardson, University of Nevada, Reno, Mail Stop 311, USA-Reno,
NV 89557
Prof. Dr. Hubert Seiwert, Religionswissenschaftliches Institut, Klostergasse 5,
D-04109 Leipzig
Dr. Richard Singelenberg, Voorstraat 92 B, NL-3512 AV Utrecht
Prof. Dr. Bassam Tibi, Institut für Politikwissenschaft, Georg-August-Universität zu
Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 3, D-37073 Göttingen
Dr. Bernhard J. Trautner, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an
der Universität Bremen, Linzer Str. 4, D-28359 Bremen
(http://www-user.uni-bremen.de/-bjtraut)
/
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