Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt 4.4 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt 4.4.1 Herausforderungen Geburten nehmen ab, Alterung und Wanderung nehmen zu. In den einzelnen Tiroler Landesteilen wird die Entwicklung höchst unterschiedlich verlaufen. Neue Formen des Zusammenlebens und -wohnens müssen ebenso entwickelt und kultiviert werden wie der respektvolle Umgang mit jedem Bürger, unabhängig von Herkunft, Muttersprache oder Religion. Demografische Entwicklungen bestimmen in hohem Maße die soziale, aber auch die ökologische (Ressourcenverbrauch!) und wirtschaftliche Dimension der Nachhaltigkeit. Der demografisch-gesellschaftliche Wandel ist geprägt durch a. Migration, also Wanderbewegungen (regional, national und international, auch selektiv nach Alter und Bildungsstand) b. Sinkende Geburtenzahlen c. Einen stark zunehmenden Anteil älterer Menschen d. Sich ändernde gesellschaftliche Strukturen und „Lebensmuster“ e. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (Erwerbsbeteiligung). Diese Trends werden weiterhin anhalten und sich teilweise noch verstärken.65 Zu a./b.) Geburtenrückgang und Wanderung Für Tirol werden beträchtliche Wanderungsgewinne aus der internationalen Wanderung prognostiziert.66 Bei der Binnenwanderung innerhalb Österreichs rechnet man hingegen mit einem leicht negativen Saldo. 65 Regionalprognosen 2010–2030. Modellrechnung bis 2050. ÖROK-Schriftenreihe Nr. 184 (2011). ÖROK. Statistik Austria. 66 Die Statistik Austria differenziert in der Prognose ihre Annahmen zur internationalen Wanderung nach sieben Gruppen von Staatsangehörigen: Im Ausland lebende ÖsterreicherInnen, die nach Österreich (zurück)kommen; Staatsangehörige der (weiteren) 14 „alten“ EU-Mitgliedsstaaten; Staatsangehörige der zehn im Jahr 2004 hinzu gekommenen EU-Mitglieder sowie der zwei im Jahr 2007 beigetretenen (Rumänien, Bulgarien), Staatsangehörige des ehem. Jugoslawien (ohne Slowenien), türkische StaatsbürgerInnen und Angehörige sonstiger Staaten. Details siehe zitierte Publikation. 80 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Tirols Bevölkerung wird weiter, jedoch weniger stark als in vergangenen Jahrzehnten wachsen. Überdurchschnittlichen Zuwächsen in den Bezirken Innsbruck-Land und Kufstein stehen prognostizierte Abnahmen in den Bezirken Landeck und Lienz gegenüber (siehe nachstehende Tabelle 1 und Abbildung 6). Tabelle 1 Bevölkerungsentwicklung Tirol gesamt Jahr 2009 2030 2050 Personen 704.500 759.600 788.800 Index (%) 100 108 112 Abbildung 6: Bevölkerungsveränderung 2009 bis 2030 nach Prognoseregionen in % Bestimmender Faktor für die Bevölkerungsentwicklung in den letzten Jahrzehnten waren die Geburtenüberschüsse (Geburten minus Sterbefälle). Künftig werden es in verstärktem Maße die Wanderungsbewegungen sein. 81 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Tabelle 2 Geburten und Wanderung: Bevölkerungsentwicklung Tirols 2009–2030 Bevölkerung 2009 704.500 Geburtenüberschuss +25.400 Internationaler Wanderungssaldo +36.300 Binnenwanderungssaldo –6.600 -----------------------------------------------------------------Bevölkerung 2030 759.600 Insgesamt ist die Wohnortmobilität der Menschen inzwischen sehr hoch: Bei einer Gesamtbevölkerung von rund 700.000 Menschen sind in den nächsten 20 Jahren in Summe rund 960.000 (!) Wanderungsbewegungen (Summe aller Zu- und Wegzüge) zu erwarten. Zu c.) Alterung Die „demografische Alterung“ schreitet voran. Die Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte geht mit massiven Veränderungen der Altersstruktur einher. Treffen die Prognosen ein, wird sich die Zahl der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren bis 2050 verdoppeln. Diese Altersgruppe wird dann 28% der Gesamtbevölkerung umfassen. Im Rahmen einer abgestimmten Gesundheits-, Altenbetreuungs- und Pflegestrategie67 muss die Betreuung und Pflege älterer Menschen trotz deren steigender Zahl sichergestellt werden. Der Ausbau mobiler Betreuungsstrukturen ist in diesem Zusammenhang zu forcieren. Im Lichte einer alternden Gesellschaft muss es den Menschen darüber hinaus noch stärker als bisher ermöglicht werden, die individuelle Verantwortung für ihren letzten Lebensabschnitt selbst zu übernehmen. Wo die Pflege von Angehörigen geleistet wird, braucht es künftig vermehrt Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige, insbesondere von demenzkranken Menschen. 67 Strukturplan Pflege 2012-2022. Planungsgrundlagen für die Versorgung pflegebedürftiger Personen in Tirol, Zusammenfassung und Conclusio. Amt der Tiroler Landesregierung, Abt. Soziales (2012). 82 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Tirol nach Altersgruppen (Index 2009 = 100) Jahr 2009 2030 2050 bis 19 Jahre 100,0 93,8 91,6 20–64 Jahre 100,0 100,0 96,8 über 65 Jahre 100,0 158,2 200,2 Tabelle 4 Veränderung der Altersstruktur in Tirol (Anteile der Altersgruppen in %) Jahr 2009 2030 2050 bis 19 Jahre 22,2 19,3 18,2 20–64 Jahre 62,0 57,5 53,6 über 65 Jahre 15,8 23,2 28,2 Zu d.) Geänderte Lebensmuster Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte wird künftig bei weitem stärker wachsen als die der Mehr-Personen-Haushalte. Tabelle 5 Modellrechnung der Haushaltsentwicklung Tirol (2009-2050) Jahr Haushalte gesamt Index Einpersonen Haushalte Index Mehrpersonen Haushalte Index 2009 288.200 100 94.800 100 193.400 100 2030 325.400 112,9 117.400 123,9 208.000 107,6 2050 346.700 120,3 132.600 140 214.100 110,7 Dies hat z. B. entsprechende Konsequenzen für den Wohnungsmarkt, aber auch für die Formen des Zusammenlebens und den Bedarf an sozialen Kontakten. In Zusammenhang mit der Alterung erhält auch das Thema „Vereinsamung“ dadurch erhöhte Bedeutung. Der gesellschaftliche Zusammenhalt benötigt daher eine weitere Stärkung. Intergenerationelles Zusammensein und -leben sollen bewusst gepflegt und kultiviert werden. Die Anstrengungen zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und zur Wahrung des Gemeinwohls müssen angesichts einer weiter fortschreitenden 83 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Individualisierung der Gesellschaft forciert werden, wobei auch auf die sich verändernden Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens Bedacht zu nehmen ist. Zu e.) Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (Erwerbsbeteiligung) Die Erwerbsbevölkerung entsteht nicht aus dem Bevölkerungswachstum, sondern aus der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren. Dazu braucht es entsprechende Maßnahmen. Hintergrund: Die Zahl der 20- bis 64-Jährigen soll in den nächsten zehn Jahren um knapp 4% steigen. Bis 2030 sinkt sie laut Prognose auf den heutigen Wert und nimmt in weiterer Folge kontinuierlich ab. Die Erwerbstätigenprognose wurde in zwei Varianten berechnet, einem Hauptszenario und einem Aktivierungsszenario. Bei ersterem werden außer den bereits gesetzten Maßnahmen zur Pensionsreform keine gezielten Maßnahmen zur Erhöhung der Erwerbsbeteiligung getroffen. Das Aktivierungsszenario geht hingegen davon aus, dass es zu Änderungen in den institutionellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen kommt, die den Anstieg der Erwerbsquote von Frauen und von Älteren beschleunigen. Es wäre in der Folge wesentlich, dass die Erwerbsquote von Frauen und Älteren erhöht wird. Ebenso die Vereinbarkeit von Kindererziehung sowie Angehörigenpflege und Beruf. Tabelle 6 Prognose der Erwerbspersonen in Tirol Jahr 2009 2030 2050 Hauptszenario Personen % der Bevölkerung 345.300 49,0 346.500 45,6 354.200 44,9 Aktivierungsszenario Personen % der Bevölkerung 345.300 49,0 360.500 47,5 372.800 47,3 Tirol braucht Zuwanderung damit der Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften weiterhin gedeckt werden kann. Ohne Zuwanderung würde die demografische Alterung noch dramatischer verlaufen. Zur Deckung dieses Bedarfs gilt es jedoch zunächst das heimische Potenzial an Arbeitskräften möglichst optimal auszuschöpfen. Die fortlaufend zu verstärkende Einbindung v. a. junger Tirolerinnen und Tiroler in den Arbeitsprozess, wie auch die Nutzung weitreichender Qualifikationen von Frauen und älteren Menschen für den Arbeitsmarkt haben absolute Priorität (siehe dazu Kap. 4.2 – Fakten, Ziele und 84 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Maßnahmen zu Geschlechtergleichstellung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Vermeidung von Jugendarbeitslosigkeit). Unabhängig davon will Tirol offen und gastfreundlich sein und seine Rolle als „Land mit Zuwanderung“ annehmen. Vielfalt wird als gesellschaftliche Bereicherung wahrgenommen und Integration als wechselseitiges Aufeinanderzugehen verstanden. Zugezogene – sofern auch diese sich aktiv um ihre Integration bemühen - sollen nicht nur als „Arbeitskräfte“ sondern als MitbürgerInnen wahr- und aufgenommen werden. Ein engagiert zu führender interreligiöser Dialog in Tirol, sowie eine offene Auseinandersetzung um allgemeingültige staatsbürgerliche Rechte und Pflichten kann zur Integration von Zugewanderten beitragen. Die in den Prognosen beschriebenen Entwicklungen ziehen vielfältige Auswirkungen und Herausforderungen nach sich, die alle institutionellen Ebenen betreffen. Unter Nachhaltigkeitsaspekten sind unter anderem zu nennen: • Die Finanzierbarkeit des Gesundheits-, Sozial- und Pensionssystems • Der Umgang mit der Zuwanderung und die Integration der Zugezogenen im Sinne eines wechselseitigen Prozesses • Die Konsequenzen der Abwanderung, insbesondere in Bezug auf die Ausdünnung ländlicher Räume • Die Auswirkungen der hohen Wohnortmobilität und der Zuwanderung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt • Die Vereinbarkeit von Kindererziehung, Angehörigenpflege und Beruf • Die Konsequenzen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt • Die verstärkte Gesundheitsvorsorge, damit die Menschen möglichst „gesund altern“ und so die Pflege-/Krankheitskosten im Rahmen bleiben • Die Sicherstellung der Betreuungs- und Pflegeerfordernisse für alte Menschen • Die Wertschätzung und Nutzung des Potenzials älterer Menschen in der Arbeitswelt und im Ehrenamt; das Erkennen ihrer besonderen Bedürfnisse auch als Nachfragefaktor • Zu ziehende Konsequenzen in der Stadtentwicklung und im Wohnbau • Konsequenzen für das Bildungs- und Weiterbildungssystem (siehe Kapitel 4.3) 85 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt 4.4.2 Ziele und Maßnahmen68 Zur Bewältigung dieser Herausforderungen müssen alle institutionellen Ebenen sowie jede/r Einzelne konstruktiv auf die Ziele hin- und zusammenarbeiten. Es gilt, nachhaltige Lebensmuster und -stile auf allen Ebenen verstärkt zu unterstützen. Ziel Weitere Förderung von Maßnahmen zur Stärkung benachteiligter Gruppen • Tirol will weiterhin offen und gastfreundlich sein und die Rolle als „Land mit Zuwanderung“ annehmen. Vielfalt wird als gesellschaftliche Bereicherung wahrgenommen und Integration als wechselseitiges aufeinander zu Gehen verstanden. Tirol sieht sich als besonders familienfreundliches Bundesland. Unabhängig von Herkunft, Muttersprache oder Religion stehen alle Kinder im Land für die Zukunft Tirols. Maßnahmen • Ausgleich des drohenden (Fach-)Arbeitermangels neben der verstärkten Integration von älteren Menschen und Frauen zudem über eine geregelte Zuwanderung; Umgekehrt leistet der Arbeitsmarkt neben dem Erwerb der Landessprache einen wertvollen Beitrag zur Integration von zugewanderten Menschen. Best-practiceBeispiele 68 • Gleichbehandlung in der Landesverwaltung • Innerbetriebliche Kinderbetreuung des Landes • Integrationskonzept • Sprachstartklassen • Internet für alle Der Umgang mit den Herausforderungen des demografischen Wandels ist ein Querschnittsthema, das in verschiedenen Handlungsfeldern berücksichtigt werden muss. Dieses Kapitel enthält daher vorerst lediglich einzelne, besonders wichtige Zielformulierungen. Ob die konkreten einschlägigen Ziele, Strategien und Maßnahmen in den anderen Fachkapiteln ausreichend abgebildet sind, oder ob sie hier explizit zu behandeln sind, wird im weiteren Bearbeitungsverlauf zu entscheiden sein. 86 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Ziel Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie • Weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Kindererziehung, Angehörigenpflege und Beruf, um insbesondere Frauen und pflegenden Personen Wahlfreiheit zu ermöglichen, ihnen den Zugang zum Erwerbsleben zu erleichtern und dadurch auch dem Trend sinkender Geburtenzahlen entgegenzuwirken Maßnahmen Best-practiceBeispiele Ziel • Sicherstellung der Vereinbarkeit von Kindererziehung, Angehörigenpflege und Beruf • Anstreben einer höheren Erwerbsquote von Frauen und Älteren • Innerbetriebliche Kinderbetreuung des Landes • Strukturplan Pflege 2012-2022 Stärkung von Gesundheitsmaßnahmen • Forcierung von gesundheitsfördernden Maßnahmen, die körperliche und psychische Erkrankungen. Insbesondere die Vermeidung von psychosozialen Beschwerden, derzeit einer der häufigsten Gründe für das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt, muss verstärkt in den Fokus genommen werden. • Die Wichtigkeit der persönlichen Mitverantwortung für den individuellen Arbeitsplatz jedes Arbeitnehmers bzw. jeder Arbeitnehmerin muss verstärkt bewusst gemacht werden. Maßnahmen • Lebenslange Vermittlung von Gesundheitsvorsorge für ein gutes Leben von der Schule über die Ausbildung bis zum Berufsleben (betriebliche Gesundheitsvorsorge) • Sicherstellung der Betreuung und Pflege älterer Menschen im Rahmen einer abgestimmten Gesundheits-, Altenbetreuungsund Pflegestrategie; der Ausbau mobiler Betreuungsstrukturen ist in diesem Zusammenhang zu forcieren. Best-practiceBeispiele • Skulpturenradweg • Lechweg – Wandern am Fluss des Lebens • Climbers Paradise 87 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Ziel Stärkung des sozialen Zusammenhalts • Engagierte Fortsetzung der Regionalpolitik – auch unter Inanspruchnahme der diesbezüglichen Förderprogramme der Europäischen Union; dies damit insbesondere die Bevölkerungsverluste in den Bezirken Landeck und Lienz nicht im prognostizierten Ausmaß eintreten. • Verstärkte Würdigung der Bedeutung des Wissens- und Erfahrungsschatzes älterer Menschen, um ihnen beruflich wie ehrenamtlich eine aktivere Rolle im gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen • Forcierung des generationsübergreifenden Dialogs; dadurch können ältere Menschen ihr Wissen und ihren Erfahrungsschatz an die Jugend weitergeben. • Maßnahmen Forcierung der Anstrengungen zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und zur Wahrung des Gemeinwohls angesichts einer weiter fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft; wobei auch auf die sich verändernden Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens Bedacht zu nehmen ist. • Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts; Pflege und Kultivierung intergenerationellen Zusammenseins und -lebens • Verstärkte Anerkennung, Aufwertung und Professionalisierung ehrenamtlichen Engagements • Information, Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen, vom Bildungsbereich über die NGOs bis hin zu den Entscheidungsträgern und der Landespolitik für die weitere Stärkung des sozialen Zusammenhalts; es gilt hier, eine Kultur des Miteinanders zu schaffen und einen offenen Austausch zu pflegen Best-practiceBeispiele • Tiroler Gemeindekatalog • Ideenkanal Tirol • Lebendes Mühlendorf im Gschnitztal 88 Demografischer Wandel und sozialer Zusammenhalt Ziel Verbesserung baulicher Maßnahmen • • Maßnahmen Sicherstellung barrierefreien Bauens in allen Bereichen Zur Stärkung von Nachbarschaften Schaffung entsprechender baulicher Voraussetzungen, z. B. in Form von SeniorenWohngemeinschaften; die bessere Durchmischung verschiedener Altersgruppen ist u. a. durch differenzierte Wohnformen zu unterstützen. Best-practiceBeispiele • Etappenplan für barrierefreie Landes- und Gemeindegebäude • Barrierefrei Allgäu & Außerfern 89