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19.11.2015
Gericht
BVwG
Entscheidungsdatum
19.11.2015
Geschäftszahl
W135 2003800-1
Spruch
W135 2003800-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC als Vorsitzende und die
Richterin Mag. Carmen LOIBNER-PERGER sowie den fachkundigen Laienrichter Prof. Dr. Gerd GRUBER als
Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und
Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 02.01.2014, betreffend die Abweisung des Antrages auf Gewährung
von Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG), zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 1 Abs. 1 VOG idgF als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin brachte am 09.08.2012 einen Antrag auf Hilfeleistungen nach dem
Verbrechensopfergesetz in Form des Verdienstentganges, der Heilfürsorge (psychotherapeutische
Krankenbehandlung) sowie der Orthopädischen Versorgung beim Bundesamt für Soziales und
Behindertenwesen, Landesstelle Wien (im Folgenden: belangte Behörde), ein. Im formularmäßigen Antrag gab
die Beschwerdeführerin an, das Verbrechen habe sich von 1982 bis 1990 ereignet. Die Täter seien das Ehepaar
M. S. und G. S. Die Beschwerdeführerin habe Anzeige erstattet, das Verfahren sei aber eingestellt worden. Als
Gesundheitsschädigungen, die die Beschwerdeführerin auf Grund der Tat erlitten habe, gab sie an "1.
Seitenbänder links und rechts nach Operation nicht richtig verheilt, Schmerzen; 2. Rechtes Knie nicht richtig
verarztet, Scheitelknien, Schmerzen, Schiefes Becken, rechter Vorderfuß gebrochen, Krampfschmerzen; 3.
Scheuermann, Wirbelsäule schief; 4. Borderline-Syndrom, instabile emotionale Persönlichkeit, Aggressionen,
Angst, Todeswunsch seit dem zehnten Lebensjahr; 5. Fett- und Nikotinsucht."
Im Rahmen der Antragstellung legte die Beschwerdeführerin folgende Unterlagen vor:
? Ärztliches Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt vom 06.07.2009 zum Antrag vom 29.04.2009 auf
Weitergewährung einer bis 31.07.2009 befristeten Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeldneubemessung, in
welchem als Hauptursache der Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Bipolare affektive Störung (ICD-10: F31.3)
und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F61) angeführt werden. Weiters werden Adipositas,
Zustand nach Magenbypass-Operation und Lumbalgie ohne radikuläre Symptomatik angeführt.
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? E-Mail an einen Rechtsanwalt, in welcher die Beschwerdeführerin ihre Kindheitserlebnisse ab 1982 schildert
? Anzeige vom 23.05.2011 an die Staatsanwaltschaft St. Pölten gegen das Ehepaar M. S. und G. S., bei welchen
die Beschwerdeführerin von 1982 bis 1990 in Pflege war
? Polizeiliche Zeugenvernehmung der Beschwerdeführerin als Opfer vom 14.07.2011
? Begründung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 194 Abs. 2 StPO der Staatsanwaltschaft St.
Pölten vom 23.12.2011, in welcher Folgendes festhalten wird (Anonymisierungen vom
Bundesverwaltungsgericht vorgenommen):
"Tatsächlich konnte ein AV der BH Amstetten vom 20. März 1984 belegen, dass Sie von ihren Eltern mit einem
Teppichklopfer derart geschlagen wurden, dass sie blaue Flecken am Gesäß und an den Füßen hatten. Im
September 1990 wendeten Sie sich an die Jugendwohlfahrt Amstetten, da sie es bei den Pflegeeltern nicht weiter
aushalte. Anschließend wurden Sie im Schülerinternat Schloss Judenau untergebracht. Im September 1991
schrieben Sie jedoch der BH Amstetten, dass sie es im Heim auch nicht mehr aushalte und dass ihre Kindheit ab
dem achten Lebensjahr schöner war und dass sie von der Pflegemutter sehr viel gelernt hätten. Bezüglich D. S.,
der jüngeren Schwester, welche ebenfalls bei den Pflegeeltern wohnhaft war, finden sich keine Problemberichte
in den Akten. D. S. gibt an, dass sie von den Pflegeeltern nicht geschlagen oder verletzt worden sei. Es stimme,
dass die Pflegekinder als Strafe scheiteiknien hätten müssen, jedoch hätte sich dies im "normalen" Rahmen der
Erziehung gehalten. Sie hätte weder gesehen, dass dem Bruder die Zungenspitze abgeschnitten worden sei, noch
könne sie bestätigen, dass diesem die Zungenspitze fehlt. Es sei richtig, dass sie im Stall und bei der Feldarbeit
mit- arbeiten mussten, im Gegensatz zu Ihnen hätte sie jedoch gerne geholfen. Sie hätte eine glückliche Kindheit
bei den Pflegeeltern verbracht und sei sich nicht benachteiligt vorgekommen. G. J. H., der Bruder, verweigerte
die Angaben.
I. S., das Jüngste der Kinder, wobei es sich bei I. ST. um das leibliche Kind handelt, gibt an, dass es ihr nicht
bekannt sei, dass ihre Pflegegeschwister körperlich arbeiten mussten und seien ihr auch keine körperlichen
Übergriffe durch die Eltern bekannt. Sie nimmt an, dass es Ihnen lediglich ums Geld gehe.
Die restlichen einvernommen Zeugen, H. S. (Direktor der von XXXX besuchten Volksschule), G. W.
(Klassenvorstand der Sie in der dritten und vierten Klasse Volks-schule), U. K. (Lehrerin der Hauptschule in
Neustadtl), A. S. (Nachbarin der S.s), R. S., A. R., M. R., F. L., R. L. (alle Nachbarn) und Dr. F. (Sies
praktischer Arzt in Neustadt!) konnten keine zweckdienlichen Angaben zum Sachverhalt machen, zumal sie sich
entweder nicht erinnern konnten oder weder Misshandlungen noch harte Arbeit bestätigen können.
Die Beschuldigten leugnen die Übergriffe und geben an, dass die Pflegekinder freiwillig in der Landwirtschaft
mitgearbeitet hätten. M. S. räumt ein, XXXX mit Scheitelknien bestraft zu haben, jedoch niemals in der von
XXXX angegebenen Dauer. Es stimme auch nicht, dass sie G. mit der Schere in die Zunge geschnitten hätte oder
habe es Misshandlungen mit einem Teppichklopfer oder einem Maßband gegeben. Aus einem AV vom 22. März
1984 ist ersichtlich, dass anlässlich der anonymen Anzeige betreffend des Teppichklopfens Elterngespräche und
Gespräche mit den Kindern und Lehrern erfolgten. Aus dem Bericht der KJB vom Juni 1984 ist ersichtlich, dass
aus Sicht des KJB eine Abnahme der Minderjährigen nicht dringlich ist, da sich diese gut eingelebt hätten. Im
April 1984 wurden die Pflegekinder im Rahmen eines Hausbesuches dem kinder- und jugendpsychologischen
Beratungsdienst vorgestellt. Es wurde diskutiert, dass eine Abnahme der Kinder im Wiederholungsfalle von
Misshandlungen in Erwägung gezogen werden müsste. Weiters finden sich im Akt weitere AVs von 1985,
wobei von Diebstählen der Sie die Rede ist und diskutiert wird, ob Sie in ein Heim zurückkehren soll. Die
Pflegemutter sprach sich dazumal jedoch für einen Weiterverbleib von Ihnen in der Familie aus und wollten
auch Sie in der Pflegefamilie bleiben. Im Sozialbericht vom März 1987 wird festgestellt, dass hinsichtlich des
zehnjährigen G. H. massive Erziehungsschwierigkeiten bestehen und wird dieser in weiterer Folge im
Schülerinternat Judenau untergebracht. Im September 1990 wendeten Sie sich an die Jugendwohlfahrt
Amstetten, da sie die Pflegemutter hinausschmeißen wollte, da sie einen angeblich 22-jährigen, verschuldeten,
geschiedenen Freund gehabt hätten. Somit wurden auch Sie im September 1990 im Schülerinternat Schloss
Judenau untergebracht.
Zusammenfassend ist auszuführen, dass das Verhältnis zwischen Pflegemutter und lhnen stets problembehaftet
war. Wie auch von Ihnen glaubhaft angeführt wurde, entsteht der Eindruck einer "Hassliebe". Teilweise wurde
das Jugendamt eingeschaltet, jedoch ergab sich zumeist kein Bedarf zu weiteren Handlungen. Zahlreiche AVs
beschreiben Probleme, jedoch werden konkrete Misshandlungen (von einer Ausnahme) in keinster Weise
dokumentiert.
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Als Tatzeitraum ergeben sich die Jahre 1982 bis 1990. Eine Strafbarkeit nach § 92 Abs 3 erster Fall StGB hätte
eine Verjährungsfrist von fünf Jahren zur Folge. Es ist daher bereits Verjährung eingetreten. Dasselbe gilt für die
Strafbarkeit von einzelnen Körperverletzungsdelikten. Lediglich eine Strafbarkeit des § 104 StGB (Sklaverei)
wäre noch nicht verjährt. Das wesentliche Merkmal der Sklaverei ist jedoch die Behandlung eines Menschen wie
eine im Eigentum befindliche Sache, über die man nach Belieben und Willkür verfügen kann. Eine solche kann
jedoch in keinster Weise nachgewiesen werden, nicht zuletzt, weil sämtliche Zeugen keine Zwangsarbeit
bestätigen können und D. S. als unmittelbare Tatzeugin beschreibt, dass sie sich in der Familie sehr wohl gefühlt
hätte. Das Verfahren war demnach einzustellen."
? Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 16.11.2011, mit welchem der Antrag der Beschwerdeführerin,
ihr Verfahrenshilfe im vollem Umfang zur Einbringung einer Klage gegen M. S. und G. S. sowie die
Jugendwohlfahrt Amstetten wegen Schmerzengeld und Schadenersatz zu gewähren, abgewiesen wurde.
? Antrag der Beschwerdeführerin auf Fortführung des Verfahrens gemäß § 195 StPO vom 12.01.2012
? Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 05.03.2012, mit welchem der Antrag auf Fortführung des
Verfahrens gegen M. S. und G. S. wegen §§ 92 Abs. 1 und Abs. 3, 104 Abs. 1 StGB aus formalen Gründen als
unzulässig zurückgewiesen wurde.
? Beschluss des Landesgerichtes St. Pölten vom 27.06.2012, mit welchem die Rechtssache gemäß § 44 JN an
das BG Amstetten überwiesen wurde, da aus dem Verfahrenshilfeantrag kein € 10.000,-- übersteigender Wert
und keine sonstige Zuständigkeit des LG begründenden Umstände hervorgehen.
? Rekurs der Beschwerdeführerin vom 24.07.2012 an das OLG Wien gegen den Beschluss des LG St. Pölten
vom 27.06.2012, in welchem die Beschwerdeführerin vorbringt, das LG hätte ein Verbesserungsverfahren
durchführen müssen, diesfalls die Beschwerdeführerin gegenüber dem LG bekanntgegeben hätte, dass sie
Schadenersatz in Höhe von € 600.000,-- von der Jugendwohlfahrt Amstetten und den Pflegeeltern verlange.
Die belangte Behörde ersuchte die Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, mit Schreiben
vom 27.11.2012 um Übermittlung des dortigen Aktes.
Die Pensionsversicherungsanstalt übermittelte neben dem bereits im Rahmen der Antragstellung vorgelegten
Ärztlichen Gutachten vom 06.09.2009 einen psychologischen Befund vom 17.12.2008 des Landesklinikum
Mostviertel XXXX , in welchem zusammenfassend festgehalten wird, dass sich im klinischen Bild der
Beschwerdeführerin eine erhöhte Impulsivität, eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber sozialen Normen und
Regeln sowie eine eher misstrauische Haltung zeige. Es seien sowohl depressive wie auch hypomane Züge
erkennbar, wobei die depressive Komponente überwiege. Es würden deutliche Hinweise auf einer BorderlinePersönlichkeitsstruktur, die sich vor allem in Entfremdungserlebnissen und Identitäts-Diffusion zeige, bestehen.
Mit Schreiben der belangten Behörde vom 06.02.2013 wurde der Beschwerdeführerin zu den
Ermittlungsergebnissen gemäß § 45 Abs. 3 AVG Parteiengehör gewährt und ihr nach Wiedergabe der
wesentlichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes mitgeteilt, dass Anhaltspunkte, inwieweit sich der
fiktive Berufsverlauf der Beschwerdeführerin ohne die während des Aufenthaltes bei den Pflegeeltern erlittenen
physischen und psychischen Misshandlungen anders gestaltet hätte, den vorgelegten Unterlagen nicht zu
entnehmen seien. Aus dem Versicherungsdatenauszug vom 25.10.2012 gehe hervor, dass die
Beschwerdeführerin ab 01.08.2003 eine Berufsunfähigkeitspension beziehe und sie davor als Arbeiterin bzw.
Angestellte beschäftigt gewesen sei. Das Ansuchen der Beschwerdeführerin auf Ersatz des Verdienstentganges
gemäß § 3 VOG werde nicht bewilligt werden können, weil das Vorliegen eines verbrechenskausalen
Verdienstentganges zum Zeitpunkt der Antragstellung (bzw. Antragsfolgemonat September 2012) in fiktivem
schadenfreien Verlauf nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne.
Nach den Bestimmungen des VOG müsse mit Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die durch die Misshandlungen
erlittenen physischen und psychischen Schädigungen den beruflichen Werdegang der Beschwerdeführerin
dermaßen beeinträchtigt hätten, dass sie heute nicht den Beruf ausüben könne, den sie bei Nichterleben der
Misshandlungen ausüben könnte und deshalb heute noch immer einen Verdienstentgang erleide. Die Annahme
eines - von den tatsächlichen Umständen abweichenden - fiktiven schadensfreien Verlaufes könnte nämlich nur
auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeit in dem Sinn erfolgen, dass erheblich mehr als gegen das Vorliegen
der Voraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 VOG spreche. Für eine derartige Annahme würden jedoch
ausreichende Anhaltspunkte fehlen. Das Ansuchen um Gewährung von Heilfürsorge in Form der Übernahme der
Kosten für psychotherapeutische Krankenbehandlung werde ebenfalls nicht bewilligt werden können, da nicht
mit der nach dem Verbrechensopfergesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass die
psychischen Gesundheitsschäden auf die Misshandlungen bei den Pflegeeltern in Amstetten/Niederösterreich
zurückzuführen seien. Betreffend die beantragte orthopädische Versorgung werde der Beschwerdeführerin zur
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Kenntnis gebracht, dass auch diese nicht bewilligt werden könne, da nicht mit der für das
Verbrechensopfergesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass ihre physischen
Gesundheitsschädigungen auf die Misshandlungserlebnisse bei den Pflegeeltern zurückzuführen seien. Eine
zusätzliche eingehende Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 VOG im Hinblick auf die
strafrechtliche Qualifikation und die anzuwendenden strafrechtlichen Bestimmungen sei auf Grund der
fehlenden Kausalitätsnachweise für einen Verdienstentgang, die beantragte Heilfürsorge und orthopädische
Versorgung entbehrlich. Von weiteren Erhebungen sei daher abzusehen gewesen. Die Beschwerdeführerin
werde eingeladen hierzu binnen zwei Wochen nach Zustellung eine Stellungnahme abzugeben bzw. Unterlagen
vorzulegen, die die Beeinträchtigung ihrer beruflichen Laufbahn durch die auf Grund der Misshandlungen
erlittenen physischen und psychischen Schädigungen belegen könnten.
Mit Schreiben vom 25.02.2013 gab der rechtsfreundliche Vertreter der Beschwerdeführerin eine Stellungnahme
zum Parteiengehör ab. Vorgebracht wird, dass die Beschwerdeführerin seit 01.08.2003 eine
Berufsunfähigkeitspension beziehe. Diese Berufsunfähigkeit beruhe auf den wiederholten physischen und
psychischen Misshandlungen, welche die Beschwerdeführerin in den Jahren 1982 bis 1990 im Rahmen ihrer
Unterbringung bei Pflegeeltern ausgesetzt gewesen sei. Verantwortlich für die Auswahl der völlig ungeeignet
gewesenen Pflegeeltern seien dieselben, namentlich genannten Mitarbeiter des Jugendamtes Amstetten gewesen,
die schon im "Fall Josef Fritzl" Entscheidungsträger gewesen seien und welche nach der Aufklärung des Falles
in "Frühpension geschickt wurden". Der Antrag nach § 3 VOG werde in eventu erweitert auf die §§ 2ff VOG,
somit auf alle denkbaren Hilfeleistungen. Hilfe sei nach § 1 Abs. 2 VOG auch dann zu leisten, wenn die
strafgerichtliche Verfolgung des Täters wegen Verjährung oder aus einem anderen Grund unzulässig sei. Dies
sei auch hier der Fall. Durch die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Pflegeeltern wegen Verjährung sei
gerade der vorliegende Fall unter leg. cit. zu subsumieren. Vorgelegt werde ein Konvolut an medizinischen
Befunden und es werde die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
Unter den vorgelegten Befunden findet sich unter anderem ein Bericht zur psychologischen Untersuchung der
Beschwerdeführerin vom 17.10.2012 einer Klinischen- und Gesundheitspsychologin, in welchem als
Vorstellungsgrund F 60.31 (Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ) angeführt wird. Zur
Lebensgeschichte der Beschwerdeführerin wird darin festgehalten, dass der Vater der Beschwerdeführerin
"Quartalstrinker" gewesen und bei der Mutter der Beschwerdeführerin eine schizoaffektive Psychose
diagnostiziert worden sei. Die ersten beiden Lebensjahre habe die Beschwerdeführerin relativ geordnet im
bäuerlichen Anwesen der Großeltern in einer Großfamilie verbracht. Als die Beschwerdeführerin zwei Jahre alt
gewesen sei, sei die Übersiedlung der Eltern und der Kinder nach Amstetten erfolgt. Im Alter von fünf Jahren sei
die Beschwerdeführerin für zwei Wochen einer Pflegefamilie übergeben worden. Anschließend habe die
Beschwerdeführerin bis zum achten Lebensjahr in einem Heim gelebt. Als die Beschwerdeführerin sieben Jahre
alt gewesen sei, sei der Vater verünglückt. Die Beschwerdeführerin sei mit acht Jahren einer Pflegefamilie
zugewiesen worden. Von ihrer Pflegemutter sei die Beschwerdeführerin schwer misshandelt und als gefühlskalt
bezeichnet worden. Das Jugendamt habe nicht eingegriffen. Mit 16 Jahren habe die Beschwerdeführerin endlich
den Mut gehabt sich ans Jugendamt zu wenden und habe danach bis zum 18. Lebensjahr wieder im Heim gelebt.
In der Volksschule habe die Beschwerdeführerin Lese-Rechenschwierigkeiten gehabt. Die erste Klasse
Hauptschule habe sie wiederholen müssen. Nach der Hauptschule habe sie mehrere Versuche einer Lehre
gestartet. Mit 17 Jahren habe sie eine Zahntechnikerlehre begonnen und dann als Zahnarztassistentin gearbeitet.
Ihr damaliger Chef sei mit ihr zufrieden gewesen. Mit 19 Jahren habe die Beschwerdeführerin das erste Mal
geheiratet, die kinderlose Ehe habe fünf Jahre gedauert. Vom 22. bis 25. Lebensjahr habe die
Beschwerdeführerin bei BIPA gearbeitet und sei Filialleiterin geworden. Mit 25 Jahren habe die
Beschwerdeführerin das zweite Mal geheiratet, aus dieser Ehe stamme ihr Sohn. Wegen der Überforderung
durch das hyperaktive Kind sei die Beschwerdeführerin stationär in XXXX aufgenommen worden. Ihr Sohn sei
in diesen fünf Wochen bei einer Tagesmutter untergebracht gewesen. Mit 30 Jahren habe sich die
Beschwerdeführerin scheiden lassen und sei danach in einer fünfjährigen Beziehung gewesen. Mit 35 habe sie
erneut geheiratet, aus dieser Ehe stamme ihre Tochter. Als Diagnose wird F 60.31, zum damaligen Zeitpunkt in
milder Ausprägung, gestellt.
Weiters wurde ein Befund eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 03.09.2012 vorgelegt, in
welchem ausgeführt wird, dass die Beschwerdeführerin berichtet habe, bisher bei zwei anderen Ärzten in
nervenärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Die Beschwerdeführerin lege - so im fachärztlichen Befund
weiter - unter anderem einen Befund des XXXX , wo sich die Beschwerdeführerin im Jahr 2002 wegen
Borderline-Störung in stationärer Behandlung befunden habe, vor. Bereits dort werde an lebensgeschichtlicher
Entwicklung eine schwierige familiäre Konstellation mit Vernachlässigung in der Ursprungsfamilie,
anschließenden Heimaufenthalten und schließlich die Unterbringung bei Pflegeltern, welche von der
Beschwerdeführerin als ablehnend und aggressiv geschildert würden, beschrieben. Er sei von der
Beschwerdeführerin nunmehr aufgesucht worden, weil sie für das Bundessozialamt eine Bestätigung brauche,
wonach ihre gesamten weiteren psychischen Probleme auf den Aufenthalt bei den Pflegeeltern zurückzuführen
seien. Als Diagnose wird eine anamnestisch bekannte Borderline-Störung gestellt. Eine medikamentöse Therapie
sei bei der Beschwerdeführerin nicht erforderlich. Die anamnestisch bekannte Borderline-Störung sei als
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multifaktorell anzusehen, wobei es durchaus vorstellbar sei, dass auch der Aufenthalt bei den Pflegeeltern für die
Beschwerdeführerin einen traumatisierenden Einfluss gehabt habe. Dies lasse sich jedoch nicht mit einer für ein
Gutachten erforderlichen Sicherheit feststellen und müsste gegebenenfalls durch gerichtliche Erhebungen weiter
erhärtet werden.
Die belangte Behörde gab beim dortigen Ärztlichen Dienst ein nervenfachärztliches und ein psychologisches
Sachverständigengutachten in Auftrag und ersuchte um Beantwortung folgender Fragen:
"1. Welche Gesundheitsschädigungen liegen bei der AW vor? [Im Schreiben von Dr. XXXX (Abl. 128) ist u.a.
Folgendes festgehalten:
"... schwierige familiäre Konstellation mit Vernachlässigung in der
Ursprungsfamilie ... Diagnose: anamnestisch bekannte
Borderline-Störung ... Die bekannte Borderline - Störung ist als
multifaktorell anzusehen, wobei es durchaus vorstellbar ist, dass auch der Aufenthalt bei den Pflegeeltern für die
Patientin einen traumatisierenden Einfluss hatte. Abl. 4]
2. Welche der bestehenden Gesundheitsschädigungen sind akausal [Im psycholo-gischen Befund vom
17.12.2008 (Abl. 86) wird festgehalten, dass die AW berichtet, dass ihre derzeit größten psychischen
Belastungen familiäre Konflikte und daraus resultierend eine depressive Stimmung, Durchschlafstörungen und
ein morgendliches Pessimum seien. In der Anamnese des Schreibens von Dr. XXXX (Abl.
125 - 127) steht u.a.: "Frau C. berichtet, dass sie insgesamt
viermal verheiratet gewesen sei. Ihr dreizehnjähriger Sohn sei
hyperaktiv und müsse Medikamente einnehmen. ... Sie habe eine 5
Monate alte Tochter und Schwierigkeiten mit ihrem jetzigen Ehemann,
der vermutlich ebenfalls an Borderline erkrankt sei. ... (Ihr) Vater
sei Quartalstrinker gewesen und bei ihrer Mutter sei jetzt endlich
eine schizoaffektive Psychose diagnostiziert worden. Wegen der
Überforderung durch das hyperaktive Kind sei sie schließlich
stationär in XXXX aufgenommen worden ... 5 Wochen ... Ihr Ehemann
leide an Gewaltausbrüchen und sie lebten derzeit quasi getrennt.]?
Falls die Gesundheitsschädigung (bzw. die Gesundheitsschädigungen) konstitutionell bedingt oder durch
umweit- und sozialisationsbedingte Faktoren entstanden ist (sind) und nicht als Folge einer späteren
Traumatisierung aufgrund der der Unterbringung bei den Pflegeeltern hervorgeru-fen wurde(n), wird um
Stellungnahme ersucht, in welchem Ausmaß diese Schädigungen) durch die Misshandlungserlebnisse verstärkt
oder chronifiziert wurde(n).
3. Welche der festgestellten Gesundheitsschädigungen sind aus medizinischer Sicht mit Wahrscheinlichkeit
(mehr oder weniger als 50 %) auf die behaupteten Missbrauchs- und Misshandlungserlebnisse während der
Heimaufenthalte von 1972 bis 1978 zurückzuführen?
4. Falls das/die Verbrechen nicht alleinige Ursache ist/sind, wird um Beurteilung er-sucht, ob das/die Verbrechen
als wesentliche Ursache zum derzeitigen Leidenszustand beigetragen hat/haben. Bei Bejahung der
vorhergehenden Frage wird um Stellungnahme ersucht, in welchem Ausmaß die Misshandlungen und der
Missbrauch während der Heimunterbringung als wesentliche Ursache zum derzeitigen Leidenszustand beitragen
haben (weniger oder mehr als 50 % bzw. zu einem geringeren oder höheren Anteil als die akausalen
Belastungsfaktoren?) und ausführlich darzulegen, was für den wesentlichen Einfluss des Verbrechens spricht
und was dagegen.
5. Falls die Kausalität verneint wird, wird um Stellungnahme ersucht, worauf der festgestellte Leidenszustand
zurückzuführen ist?
6. Falls die Kausalität bejaht wird, wird um Stellungnahme ersucht, ob das festgestellte verbrechenskausale
Leiden
a.) eine adäquate/angemessene Folge des Verbrechens ist?
b.) einer psychotherapeutischen Behandlung bedarf?
c.) den beruflichen Werdegang beeinflusst hat?
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Für eine Dauerleistung nach dem VOG (im Sinne eines lebenslangen Verdienstentganges) muss objektiviert
werden, inwieweit sich das gesamte Berufsleben der AW anders gestaltet hätte, wenn die schädigenden
Ereignisse während des Aufenthalts bei den Pflegeeltern nicht stattgefunden hätten. Es ist also aus medizinischer
Sicht zu beurteilen, inwieweit sich der Missbrauch und die Misshandlungen auf den Berufsverlauf ausgewirkt
haben und inwieweit noch heute ein verbrechenskausaler Verdienstentgang objektiviert werden kann. (Die AW
bezieht seit 1.8.2003 eine Berufsunfähigkeitspension.) Kann aus medizinischer Sicht gesagt werden, dass sich
ohne die Traumatisierungen während des Aufenthalts bei den Pflegeeltern ein Berufsverlauf der AW ergeben
hätte, der vom derzeitigen Zustand in der Weise abweicht, dass eine kontinuierliche Beschäftigung, und somit
auch ein aktueller Verdienstentgang, abgeleitet werden könnte?
Wenn eine diesbezügliche medizinische Beurteilung nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erfolgen kann,
wird um entsprechende Angabe gebeten."
Mit Begleitschreiben vom 08.04.2013 legte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin ein Konvolut an
medizinischen Befunden vor.
Unter den vorgelegten Unterlagen befindet sich ein Bericht vom 14.05.2002 der NÖ XXXX , wo die
Beschwerdeführerin vom 28.03.2002 bis 02.05.2002 stationär behandelt wurde. In diesem wird zur Anamnese
festgehalten, dass aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung der Beschwerdeführerin eine sehr schwierige
familiäre Konstellation mit instabilen Objektbeziehungen hervorgehe. Die Beschwerdeführerin sei von den
leiblichen Eltern wegen Vernachlässigung weggekommen, sei zunächst in einem Heim und schließlich bei
Pflegeeltern, welche sie als sehr ablehnend und aggressiv erlebt habe, aufgewachsen. Als Entlassungsdiagnosen
werden eine schwere depressive Episode und eine Borderline-Störung gestellt.
Weiters ist ein klinisch-psychologischer Kurzbericht vom 14.07.2013 darunter, in welchem zur Anamnese
ausgeführt wird, dass die Beschwerdeführerin berichtet habe, dass ihr Vater ebenfalls ein Heimkind und schwer
traumatisiert gewesen sei. Es habe keine sexuellen Übergriffe oder Gewalt gegen die Kinder gegeben, jedoch
erinnere sich die Beschwerdeführerin, dass ihr Vater sehr grob und aggressiv gegen die Mutter gewesen sei. Es
habe viel Streit gegeben und der Vater sei oft alkoholisiert gewesen. Die Mutter sei sehr zurückgezogen
gewesen, einschränkend und überfordert. Laut späteren Befunden habe die Mutter an einer Schizoaffektiven
Psychose gelitten. Die Abnahme der Beschwerdeführerin, ihrem Bruder und ihrer 14 Monate jüngeren Schwester
von den leiblichen Eltern sei nach einer Delogierung wegen Verwahrlosung und Unterernährung erfolgt. In der
Konklusion wird festgehalten, dass die Beschwerdeführerin durch die sexuellen Übergriffe im Heim, die Gewalt,
Willkür und Ablehnung durch die Pflegemutter und die harte Arbeit als Kind sowohl körperliche als auch
psychische Beeinträchtigungen erlitten habe, die sich auf das weitere Leben stark ausgewirkt hätten. Besonders
die frühe Invalidität, die Beziehungsunfähigkeit, die Probleme mit den eigenen Kindern, Kontaktprobleme mit
der Umgebung würden den Alltag schwer machen. Die Selbstverletzungstendenz, in diesem Zusammenhang
müsse auch die Fresssucht genannt werden, sei ebenfalls als Traumafolgestörung zu werten.
Im von der belangten Behörde veranlassten nervenfachärztlichen Sachverständigengutachten vom 14.06.2013
wird nach persönlicher Begutachtung der Beschwerdeführerin Folgendes ausgeführt:
"Frau C., 38 Jahre alte Frau, kommt am Freitag, dem 14.6.2013 um
10.10 alleine zur Untersuchung und weist sich mit Reisepass aus.
Aus der Anamnese:
Sie sei in Amstetten geboren. Vater sei Hilfsarbeiter, Mutter Hausfrau gewesen. Sie habe 2 Geschwister, sie sei
die älteste. 1 Schwester, 1 K Jahre jünger, 1 Bruder, 3 Jahre jünger. Sie sei 2 Jahre in Purgstall und 2 Jahre in
Neustadtl in die Volksschule gegangen. Dann 5 Jahre Hauptschule. Die erste Klasse habe sie wiederholt. Danach
habe sie 1 Jahr Koch/Kellner gelernt. Dann sei sie schon im Jugendheim Judenau gewesen. Nach 2 Monaten
Probezeit als Koch/Kellner habe sie 1 Jahr Konditor in Wien gelernt. Sei dann als Anlernling in einem
zahntechnischen Labor in Wien 1 Jahr tätig gewesen. Wegen Schmerzen habe sie aber dann in Krankenstand
gehen müssen. Sie habe dann in einer Notschlafstelle wohnen müssen. Es sei ihr noch gelungen 3 Jahre bei
BIPA zu arbeiten, zuerst in Teilzeit, danach habe sie es bis zur Filialleitung gebracht, aber seit vielen Jahren sei
es ihr nicht mehr gelungen, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Seit 1998 sei sie in Krankenstand gewesen,
unterbrochen durch Karenzzeit und Mutterschutz. Sie habe es immer wieder versucht, Arbeit zu finden und sei
gescheitert. Seit ca. 10 Jahren sei sie in Berufsunfähigkeitspension. Diese sei wegen ihrer psychischen
Beschwerden erfolgt. Mittlerweile sei aus der befristeten Pension eine unbefristete zugestanden worden.
Nach nicht unproblematischen Kleinkindjahren sei sie ab dem 8. Lebensjahr gemeinsam mit ihren Geschwistern
einer Pflegefamilie zugewiesen worden. Sie beschreibt (genaue Schilderung bitte dem umfangreichen Akt zu
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entnehmen) grobe Misshandlungen, Demütigungen, Schläge, Ausgenütztwerden, Vernachlässigung und
Lieblosigkeit seitens der Pflegeeltern. Mit 16 sei sie von der Pflegefamilie weggegangen und habe in einem
Lehrlingsheim in Judenau gelebt.
Ihre erste Beziehung habe sie mit 16 Jahren für ca. 1 Jahr gehabt. Mit 19 habe sie einen Tunesier geheiratet, mit
dem sie zuvor schon einige Jahre zusammengelebt habe. Scheidung erfolgte 1998. Kein Kind aus dieser Ehe.
Dann sei [sie] 5 Jahre mit einem Österreicher verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe stammt der Sohn, heute 14
Jahre alt, welcher schwierig, aggressiv und schwer zu Hause haltbar wäre. Seit 4 Wochen befinde sich dieser im
Heim Hinterbrühl. Eine dritte Ehe sei sie mit einem Türken eingegangen. 4 Jahre lang. Kein Kind. Ihr jetziger
Ehemann sei ihr 4., sie sei zwar noch mit ihm verheiratet, aber sie leben getrennt sei[t] ca. 1 Jahr. Der Ehemann
sei gewalttätig und leide mögliche[r]weise auch an einer borderline Persönlichkeitsstörung. Aus dieser Ehe
stammt eine Tochter, 1 Jahr alt, welche bei ihr zu Hause sei und die sie versorge. Das Jugendamt sei
eingeschaltet. Wegen ihrer psychischen Symptome mehrere stationäre Aufenthalte im Krankenhaus XXXX .
Sie habe ihre Pflegeeltern zu klagen versucht. Ihre Schwester und ihr Bruder würden aber ihre Angaben nicht
bestätigen und die Aussagen verweigern. Aus Angst, wie sie glaubt.
Daher sei es auch nicht zu einer Weiterverfolgung der Anschuldigungen gekommen.
Frühere Erkrankungen:
Sprunggelenksverletzungen beidseits ca. 1988. Beidseits Operation. 1998 nochmalige Operation rechtes
Fußgelenk. Osteosynthese.
AE mit 21 Jahren.
Magenring 2003 wegen Adipositas.
2008 Cholecystektomie wegen Steinen.
2009 Magenbypass-Operation.
2011 Bauchstraffungsoperation
2012 Sectio
Vegetativ: Größe: 165 cm. Gewicht: von ursprünglich 170 und 150 kg jetzt 80 kg. Nikotin: 60 pro Tag. Alkohol:
eher null, selten.
Drogen: selten Cannabis.
Medikation:
Derzeit keine Psychopharmaca. Früher eine Unzahl. Soweit erinnerlich: Seroquel, Truxal, Lithium, verschiedene
Antidepressia.
Früher Psychotherapie, ca. 34 Jahr. Jetzt nicht mehr. Finanziell nicht mehr leistbar. Neurologischer Status:
Regelrecht. Keine Halbseitenzeichen. Keine Pathologien. Sämtliche Steh- und Gehversuche regelrecht.
Psychischer Status:
Cognitiv keine Einbußen. Keine Denkstörungen. Keine produktive Symptomatik. Befindlichkeit schlecht,
antriebsgestört, affektlabil. Immer wieder Stimmungsschwankungen. Todeswünsche, ohne konkrete Suizidideen.
Vermindert affizierbar. Anamnestisch Hoch und Tiefs.
Beantwortung der gestellten Fragen:
1. Frau C. leidet an einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus.
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2. Diese wird nicht zum überwiegenden Teil als kausal angesehen, sondern als zum Teil konstitutionell, zum Teil
durch die Probleme in der Ursprungsfamilie verursacht. (Der leibliche Vater sei "Quartalstrinker" gewesen, bei
der leiblichen Mutter sei jetzt eine schizoaffe[k]tive Psychose diagnostiziert worden. Die ersten 2 Lebensjahre
habe sie in der bäuerlichen Großfamilie verbracht. Aber mit ihrem 2. Lebensjahr sei die Familie nach Amstetten
übersiedelt. In diese Zeit fällt auch ein erster Aufenthalt in einer Pflegefamilie für 2 Wochen. Danach habe sie
bis zum 8. Lebensjahr in einem Heim gelebt und sei danach bis zum 16. Lebensjahr bei einer Pflegefamilie
untergebracht gewesen. Der leibliche Vater sei tödlich verunglückt, als sie 7 Jahre alt gewesen sei.)
Zu einem nicht überwiegenden Teil wurde die borderline Persönlichkeitsstörung schon vor der Verbringung in
die Pflegefamilie angelegt und gefördert. Die Traumatisierungen durch den Aufenthalt in der Pflegefamilie
haben die Persönlichkeitsstörung sicher nicht gebessert, sondern verstärkt, aber nicht zu einem überwiegenden
Teil.
3. Die Persönlichkeitsstörung vom borderline Typus ist aus medizinischer Sicht nicht überwiegend auf den
Heimaufenthalt oder auf die Traumatisierungen in der Pflegefamilie zurückzuführen. Bis zum 5. [bis] 6.
Lebensjahr entwickelt sich die sogenannte "Kernpersönlichkeit", die gekoppelt ist an angeborene, genetische
Faktoren. Bis dahin war Frau C. noch in ihrem ursprungsfamiliären Umfeld und erst ab dem 8. Lebensjahr bei
den Pflegeeltern untergebracht.
4. Die Traumata, die durch den Aufenthalt bei der Pflegefamilie vom
8. [b]is zum 16. Lebensjahr zugefügt wurden, werden nicht als wesentliche Ursache zum derzeitigen
Leidenszustand angesehen. Weniger als 50 % jedenfalls. Dagegen sprechen die Erkenntnisse aus der
Entwicklungspsychologie, die die Persönlichkeitsentwicklung als ein multifaktorielles Geschehen
ansieht. Einerseits wird die Persönlichkeit als Summe aus Charakter, Verhalten und Temperament
angesehen und dies entsteht aus einer pränatalen, genetischen Disposition, aus der körperlichen
Entwicklung und aus der Beziehungserfahrung. Bis zum 8. Lebensjahr ist die PersönlichkeitsGrundstruktur schon weitgehend abgeschlossen und entwickelt sich dann nur noch weiter. Die
Grundzüge sind aber da schon angelegt.
5. Der festgestellte derzeitige Leidenszustand wird durch viele Faktoren hervorgerufen. Siehe auch unter Punkt
4. Zusätzlich bestehen bei Frau C. ja zahlreiche aktuelle Probleme, wie Schwierigkeiten mit ihrem
pubertierenden Sohn, mit dem gewalttätigen Noch-Ehemann, mit der Überforderung durch das kleine Baby und
auch finanzielle Engpässe.
6. Die alleinige Kausalität wird nicht bejaht."
Im psychologischen Sachverständigengutachten vom 23.07.2013 wird wie folgt festgehalten:
"AW erscheint mit Exmann und Tochter zur Untersuchung, die im Wartebereich warten.
AW ist verheiratet, jedoch getrennt lebend (da Mann Borderlinestörung). Von diesem eine 1- jährige Tochter.
Das 2. Kind (Sohn, 14 Jahre) lebt in einer WG in Hinterbrühl (freiwillig von Mutter).
AW lebt mit Vater des Sohnes in "WG".
AW seit ca. 2003 in BU-Pens. (psychische Gründe).
Vater der AW verstorben als die 7. Jahre alt war, Vater war ebenfalls Heimkind, war aber ein guter Vater (keine
Gewalt, geduldig), 2 jüngere Geschwister, Mutter hat die Kinder vernachlässigt (jetzt bei ihr schizoaffektive
Störung festgestellt).
AW und ihre Geschwister mit 5 Jahren für 2 Wochen zu Pflegeeltern gekommen, danach ins Heim für 3 Jahre.
Dort sex. Missbrauch durch andere Jugendliche, Erbrochenes essen müssen Schikanen an der Tagesordnung
(gutes Essen wurde portioniert, schlechtes musste sie das Doppelte essen ....).
Nach den ca. 3 Jahren Heim zu Pflegeeltern gekommen. Von Heimleiterin wurde zu den Pflegeeltern gesagt, daß
sie jeden Tag ihre "Pflichtwatschn" brauchen würde. Bei diesen Pflegeeltern 8 Jahre gelebt. AW "Diese 8 Jahre
waren die Hölle"-gequält (auf Holz Knien müssen, mit Kochlöffel geschlagen worden ...). Pflegemutter wollte
ihr ab ca. dem 15. LJ einen Nachbarn "einreden", zwang sie mit diesem wegzugehen. AW wurde nicht geschützt
als sie von Schulkollegen gequält und sexuell belästigt wurde (u.a. in Brust zwicken etc.)
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VS, HS, Lehre (Koch/Kellner, Konditor) nicht durchgehalten (wollte eigentlich weiter in die Schule gehen),
Pflegemutter wollte nicht, das die AW eine Lehre macht.
Ab dem 16. LJ im Schülerinternat Judenau gewohnt, für ca. 2 Jahre, danach Notschlafstelle in Wien, danach im
Lehrlingsheim gewohnt. Hat als Koch/Kellner, Konditor, zahnärztl. Assistentin, im Zahnlabor, als Verkäuferin
(zur Filialleiterin hochgearbeitet) etc. gearbeitet.
1. Ehe 19.-24. LJ, 1999 1. Kind (von 2. Ehemann), 3. Kind 2012 (von 4. Ehemann). Der 1.
Ehemann (Tunesier) war eigentlich o.K., der 2. Ehemann war ebenfalls ein Pflegekind (ängstlicher Typ), war
aber ein guter Kerl, 3. Ehemann (Türke) wahrscheinlich nur auf Papiere aus gewesen, 4. Ehemann (Kurde,
Borderline).
Mehrere SMV, 1. bereits im 11/12. LJ.
Seit ca. 2001 medik. Therapie.
Bereits mehrere stat. Aufenthalte in Psychiatrien, 1. war 2002, wollte ihren Sohn umbringen und wollte dann
nicht mehr mit ihm zusammen sein - Diagnose: Borderlinesyndrom;
Nachdem der Sohn nach Hinterbrühl gekommen ist, erlitt die AW eine Psychose. Ca. 2007/08 wieder
Psychiatrie.
Immer wieder wird betont, daß sie ein Problem damit habe über die 8 Jahre bei den Pflegeltern nicht reden zu
dürfen.
Derzeitige Beschwerden:
Hab' alles probiert (Alkohol, Hasch etc.) um mich "rüberzuretten", schaffe mein Leben alleine nicht.
Verwendetes Testverfahren:
SKID
Beantwortung der Fragestellungen:
1 .Die AW leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
2. Der weit überwiegende Anteil der Störung ist als akausal (konstitutionell-Mutter ebenfalls psychisch erkrankt
bzw. bereits durch die Probleme in der Ursprungsfamilie- Vater alkoholkrank, Tod des trotz allen geliebten
Vaters, vernachlässigende Mutter ....verursacht) anzusehen.
Sicherlich haben die Misshandlungserlebnisse die bereits vorhandene psychische Störung noch verstärkt, jedoch
nicht zum überwiegenden Teil.
3. Die festgestellte psychische Störung ist nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit weit
überwiegend auf die Erlebnisse während der Heimaufenthalte bzw. der Pflegefamilie zurückzuführen.
4. Nein, das Verbrechen hat nicht als wesentliche Ursache zum derzeitigen Leidenszustand beigetragen, vgl.
oben.
5. Wie bereits oben ausgeführt ist der überwiegende Anteil der Störung akausaler Genese.
6. entfällt, da Störung zwar durch Erlebnisse im Heim verstärkt, jedoch nicht überwiegend, d.h. Kausalität nicht
weit über 50% anzunehmen."
Mit Schreiben der belangten Behörde vom 26.08.2013 wurde der Beschwerdeführerin zu den Ergebnissen des
Ermittlungsverfahrens Parteiengehör gewährt und ihr die Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen
nach Zustellung des Schreibens gegeben.
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Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin nahm dazu mit Schreiben vom 03.09.2013 Stellung. Mit der
Stellungnahme wurde ein Schreiben des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung vom 31.07.2013
vorgelegt, in welchem der Beschwerdeführerin mitgeteilt wird, dass ihr die Inanspruchnahme einer
Psychotherapie vorerst im Ausmaß von 40 Stunden bewilligt werde. Weiters wurde ein orthopädischfachärztliches Gutachten vom 05.11.2013 vorgelegt.
Mit angefochtenem Bescheid vom 02.01.2014 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 09.08.2012 auf
Ersatz des Verdienstentganges, Heilfürsorge in Form der Kostenübernahme für psychotherapeutische
Krankenbehandlung und orthopädische Versorgung gemäß §§ Abs. 1 und Abs. 3, 3, 4 Abs. 5, 5 und 10 Abs. 1
VOG abgewiesen. Nach Zitierung der maßgeblichen Rechtsvorschriften, wird in der Begründung des Bescheides
im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
"Gemäß ihren Angaben waren Sie von 1982 bis 1990 bei Pflegeeltern in Amstetten/Niederösterreich
untergebracht und erfuhren bis zum Jahr 1989 sowohl psychische als auch physische Gewalt.
Zu den Misshandlungen gehörten nach Ihren Angaben u.a., dass Sie 1984 von Ihren Pflegeeltern mit einem
Teppichklopfer derart geschlagen wurden, dass Sie blaue Flecken am Gesäß und auf den Beinen hatten. Weiters
mussten Sie scheitelknien, erhielten Ohrfeigen und wurden mit einem Kochlöffel auf die Finger geschlagen.
Außerdem mussten Sie laut Ihren Angaben in derzeit zwischen 17:00 Uhr und 19:00 Uhr und vermehrt in den
Ferien nicht kindgerechte Arbeiten, auf dem Bauernhof Ihrer Pflegeeltern, verrichten. Sie gaben in Ihrer
Stellungnahme vom 3.9.2013 ergänzend an, dass Sie die Stallarbeiten auch im Krankheitsfall oder wenn Sie
verletzt waren, durchführen mussten.
Sie haben angegeben, dass Sie aufgrund der Vorfälle bei Ihren Pflegeeltern psychische und körperliche Schäden
erlitten haben. Unter anderem gaben Sie an, dass Sie seit Ihrer Kindheit in der Kirche nicht mehr knien können,
Rückenschmerzen und Depressionen haben und dass Sie aufgrund einer Abnutzung mehrmals an den
Sprunggelenken operiert werden mussten. Ein Bruch des rechten Mittelfußknochens sei nicht behandelt worden.
Anhaltspunkte, inwieweit sich ihr fiktiver Berufsverlauf ohne die während des Aufenthalts bei Ihren Pflegeeltern
erlittenen physischen und psychischen Misshandlungen anders gestaltet hätte, sind den vorgelegten Unterlagen
nicht zu entnehmen.
Aus dem Versicherungsdatenauszug vom 25.10.2012 geht hervor, dass Sie ab 1.8.2003 eine
Berufsunfähigkeitspension beziehen und Sie vorher als Arbeiterin bzw. Angestellte beschäftigt waren, davon
laut Ihren Angaben in den Jahren 1997 und 1998 als Filiaileiterin.
Im PVA-Gutachten aus 2009 sind als Ursachen der Erwerbs Unfähigkeit manisch- depressives Kranksein mit
leichter bzw. mittelgradiger Episode, kombinierte Persönlichkeitsstörung, Adipositas, Zustand nach
Magenbypass-Operation und Lumbalgie ohne radikuläre Symptomatik angeführt.
Laut nervenfachärztlichen und psychologischen Sachverständigengutachten, basierend auf den Untersuchungen
im Juni 2013, wurde bei Ihnen eine Borderline- Persönlichkeitsstörung festgestellt. Der weitaus überwiegende
Anteil der Störung ist sowohl aus psychologischer als auch aus medizinischer Sicht als akausal anzusehen und
nicht auf die Traumatisierungen während der Unterbringung bei der Pflegefamilie zurückzuführen, sondern zum
Teil konstitutionell bedingt, zum Teil durch die Probleme der Ursprungsfamilie verursacht. Die BorderlinePersönlichkeitsstörung wurde schon vor Verbringung in die Pflegefamilie angelegt und gefördert. Die
Traumatisierungen durch den Aufenthalt in der Pflegefamilie haben die Persönlichkeitsstörung zwar verstärkt,
jedoch nicht zu einem überwiegenden Teil. Auch hat das Verbrechen nicht als wesentliche Ursache zum
derzeitigen Leidenszustand beigetragen, was sich aus entwicklungspsychologischen Erkenntnissen ableiten lässt,
wonach sich die Persönlichkeitsentwicklung als multifaktorielles Geschehen darstellt und die Grundstruktur der
Persönlichkeit bis zum 8. Lebensjahr schon weitgehend abgeschlossen ist, die Unterbringung in der
Pflegefamilie aber erst danach erfolgte.
Der von Ihnen vorgelegte klinisch-psychologische Kurzbericht der klinischen Psychologin XXXX ist nicht
geeignet, die Schlüssigkeit der eingeholten nervenfachärztlichen und psychologischen Gutachten in Zweifel zu
ziehen. Es geht aus diesem Gutachten nicht hervor, dass mit der für das Verbrechensopfergesetz erforderlichen
Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass Ihr momentaner Lebenszustand eine Folge der in Ihrer
Kindheit und Jugend erlebten Geschehnisse ist.
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Ihr Ansuchen um Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 3 VOG wird nicht bewilligt werden können, weil das
Vorliegen eines verbrechenskausalen Verdienstentganges im fiktiven schadensfreien Verlauf zum Zeitpunkt der
Antragstellung (bzw. Antragsfolgemonat September 2012) somit nicht mit der für das Verbrechensopfergesetz
erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen des VOG muss mit Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die durch diese
Misshandlungen und den Missbrauch erlittenen Schädigungen Ihren beruflichen Werdegang dermaßen
beeinträchtigten, dass Sie heute nicht den Beruf ausüben, dem Sie bei Nicht-Erleben dieser Ereignisse nachgehen
könnten und deshalb heute (d.h. ab September 2012) noch immer einen Verdienstentgang erleiden. Die bloße
Möglichkeit der Verursachung reicht für eine Leistung nach den Bestimmungen des VOG jedoch nicht aus. Die
Annahme eines - von den tatsächlichen Umständen abweichenden - fiktiven schadensfreien Verlaufes könnte nur
auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeit in dem Sinne erfolgen, dass erheblich mehr für als gegen das
Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 und § 3 VOG spricht. Für eine derartige Annahme fehlen
jedoch ausreichende Anhaltspunkte. Die Annahme der Wahrscheinlichkeit bezieht sich dabei sowohl auf die
Voraussetzung der tatbildmäßigen Handlung als auch auf den ursächlichen Zusammenhang der
Gesundheitsschädigung bzw. Körperverletzung mit dieser Handlung (Ernst-Prakesch; Die Gewährung von
Hilfeleistungen an Opfer von Verbrechen, $.13, FN 8 zu § 1 VOG). Dass die Misshandlungen während der
Unterbringung bei der Pflegefamilie ihren beruflichen Werdegang maßgeblich beeinflusst haben, kann aus den
Sachverständigengutachten nicht abgeleitet werden, vielmehr ist ihre Berufs Unfähigkeit überwiegend auf
akausale Faktoren zurückzuführen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass ohne die traumatisierenden Erfahrungen in der Kindheit ihr beruflicher
Werdegang wesentlich anders verlaufen wäre.
Ihre im Rahmen des Parteiengehörs abgegebene Stellungnahme war nicht geeignet, eine abweichende
Beurteilung der Ermittlungsergebnisse zu ermöglichen. Die dem Bescheid zugrunde liegenden
Schlussfolgerungen erfolgten anhand der durchgeführten nervenfachärztlichen und psychologischen
Untersuchungen und der vorliegenden schlüssigen Gutachten. Ihre Argumentation, dass sich aus der Tatsache,
dass Sie mit 16 Jahren noch keine abgeschlossene Berufsausbildung hatten, ein verbrechenskausaler
Verdienstentgang ergäbe, ist nicht nachvollziehbar. Sie gaben selbst an, dass Ihnen bei Eignungstest zwischen
dem 16. und 26. Lebensjahr attestiert worden sein, mit Ausnahme eines Sozialberufes jeden Beruf erlernen und
auch eine schulische Ausbildung durchführen zu können.
Zu den Ermittlungsergebnissen wird angemerkt, dass nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung die Folgen
der objektiven Beweislosigkeit oder die Unmöglichkeit, entscheidungsrelevante Tatsachen festzustellen, - auch
bei amtswegiger Ermittlungspflicht - von dem zu tragen sind, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will.
Zusätzlich wird auf die neueste Judikatur des OGH zu den "Grenzen des Verdienstentganges" hingewiesen,
wonach selbst bei Bejahung der Kausalität und Adäquanz eines zugefügten Schadens (bzw. einer dadurch
herbeigeführten Gesundheitsschädigung) nicht zwangsläufig jede Änderung im Berufsverlauf zu einem
anzuerkennenden verbrechenskausalen Verdienstentgang führt, insbesondere wenn diese nicht zwangsläufig
durch das schädigende Ereignis oder die Schadensentwicklung ausgelöst bzw. bedingt wird.
Da das Verbrechen nach den Gutachten nicht als wesentliche Ursache zum derzeitigen Leidenszustand
beigetragen hat und nur eine Teilkausalität angenommen werden kann, kann der Antrag auf Übernahme der
Kosten für die psychotherapeutische Krankenbehandlung nicht bewilligt werden.
Die beantragte orthopädische Versorgung kann nicht bewilligt werden, da nicht mit der für das
Verbrechensopfergesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, dass ihre physischen
Gesundheitsschädigungen auf die Misshandlungserlebnisse bei ihren Pflegeeltern im Zuge einer Vorsatztat im
Sinne des § 1 Abs.1 VOG zurückzuführen sind.
Eine zusätzliche eingehende Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen gern. § 1 Abs.1 VOG im Hinblick auf die
strafrechtliche Qualifikation und die anzuwendenden strafrechtlichen Bestimmungen war - aufgrund der
fehlenden Kausalitätsnachweise für einen Verdienstentgang, die beantragte Heilfürsorge und die orthopädische
Versorgung - entbehrlich. Von weiteren Erhebungen war daher abzusehen."
Gegen den Bescheid vom 02.01.2014 erhob die rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführerin mit Schriftsatz
vom 17.0.2014 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Vorgebracht wird darin, dass sich der
angefochtene Bescheid im Wesentlichen darauf beziehe, dass die Kausalität nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit
hergestellt werden könne. Es würden auch andere Kausalursachen als möglich angegeben, ohne dass diese
jedoch mit entsprechendem Aufwand geprüft worden wären. Wenn die Kausalität durch die evidente
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Unterbringung bei der Pflegefamilie, die ja sogar zu einer Entschädigung durch die Opferschutzkommission
geführt, was die belangte Behörde zu Unrecht völlig außer Acht gelassen habe, abgelehnt werde, so müsse die
Kausalität durch die genannten anderen Faktoren genau geprüft werden, um eine höhere Wahrscheinlichkeit
darzustellen. Dies sei jedoch im Zuge eines wesentlichen Verfahrensmangels nicht erfolgt. Es gebe keine
Nachweise, weshalb die Störung "konstitutionell bedingt sein könnte", solche Nachweise müssten objektiv
nachprüfbar vorliegen, damit sie stärker wiegten als die Verletzungen in der Pflegefamilie, eine
Wahrscheinlichkeitsannahme zu Lasten der Beschwerdeführerin reiche nicht aus. Ebenso würden keine
nachvollziehbaren Nachweise vorliegen, wonach "Probleme in der Herkunftsfamilie" kausal gewesen sein
könnten. Auch hier müsse die Nachweisführung derart eindeutig sein, dass sie die Traumatisierungen in der
Pflegefamilie überwiegen würden. Wahrscheinlichkeitsannahmen reichen auch diesbezüglich nicht aus,
nachgewiesene Misshandlungen aufzuwiegen. So gebe es auch keine nachgewiesenen Indizien, wonach
Borderline-Störungen schon vor der Kindesabnahme zugrunde gelegt worden sein sollten. So eine ex-post
Diagnose sei in der psychiatrischen Wissenschaft gar nicht möglich, denn es gebe keine wissenschaftliche
Methodik, aus irgendwelchem kindlichen Verhalten die Wahrscheinlichkeit des späteren Auftretens
irgendwelcher Störungen oder Krankheiten vorauszusagen. Die psychologische Wissenschaft sei nur in der
Lage, im Nachhinein eventuell mögliche Ursachen festzustellen, eine Wahrscheinlichkeitsprognose, wonach bei
einem fünfjährigen Kind einmal eine Borderline-Störung auftreten könnte, sei wissenschaftlich absolut
ausgeschlossen. Auch entbehre die Ansicht, dass die Persönlichkeitsentwicklung mit dem achten Lebensjahr
abgeschlossen sei, völlig jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Wäre dem so, müssten Kinder nach dem
achten Lebensjahr therapeutisch wegen zu erwartender Zwecklosigkeit völlig aufgegeben werden. Da also in den
bisherigen Befunden und Gutachten keine Beweise für die Sicherheit anderer Ursachen in der Kausalitätskette
hätten erbracht werden können, müsse eigentlich zwingend darauf hingewiesen sein, dass die evidenten
Misshandlungen, die mit der erwiesenen Wahrscheinlichkeit zu den Gesundheitsstörungen und
Erwerbsbeeinträchtigungen geführt hätten, allein kausal gewesen seien. Denn bei den möglicherweise sonst noch
vermuteten Ursachen gebe es absolut keine Beweise und Unterlagen, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit
kausal sein sollten. Die belangte Behörde habe es auch unterlassen ausreichend nachzuprüfen, inwiefern sich ein
fiktiver Berufsverlauf ohne die von den Pflegeeltern erlittenen psychischen und physischen Misshandlungen
dargestellt hätte. Zusammengefasst sei die belangten Behörde schon allein auf Grund des Antragsvorbringens
und den vorgelegten Urkunden im Zuge der sie treffenden Manuduktionspflicht verhalten, ein umfassendes,
sämtliche anzudenkenden Aspekte berücksichtigendes psychiatrisches Gutachten einzuholen. Es werde
jedenfalls beantragt, ein solches einzuholen. Aus diesem werde sich ergeben, dass dem Antrag stattzugeben sei,
zumal sehr wohl wegen der gegenständlichen Misshandlungen die Beschwerdeführerin nicht in der Lage sei, den
erheblich einkommensträchtigeren Beruf auszuüben, den sie ohne dieselben ausüben hätte können. Immerhin
gelte die Beschwerdeführerin seit 01.08.2003 als berufsunfähig. Es werde beantragt zu dem ergänzend
einzuholenden Gutachten, "aber auch zum Zuspruch des Betrages von €
25.000,-- durch die Opferschutzkommission", die Beschwerdeführerin ergänzend einzuvernehmen. Aus all
diesen Gründen habe es die belangte Behörde auch zu Unrecht unterlassen, die Voraussetzungen gemäß § 1 Abs.
1 VOG, nämlich die strafrechtliche Qualifikation des Verhaltens der Pflegeeltern zu überprüfen.
Am 09.07.2014 langten weitere Unterlagen beim Bundesverwaltungsgericht ein, darunter ein
allgemeinmedizinisches Sachverständigengutachten vom 16.07.2013, welches vom Bundessozialamt
Niederösterreich in Auftrag gegeben wurde und in welchem der Gesamtgrad der Behinderung mit 80 v.H. auf
Grund des führenden Leidens "Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung" eingeschätzt wurde, ein Schreiben
der Österreichischen Landesregierung vom 11.12.2013, wonach der Beschwerdeführerin für ihre Erlebnisse bei
einer Einrichtung des Landes und einer Pflegefamilie in der der Vergangenheit auf Grund der glaubwürdig
geschilderten Vorkommnisse vor der Opferschutzkommission eine finanzielle Hilfestellung in Höhe von €
25.000,-- gewährt werde sowie ein Konvolut an medizinischen Unterlagen des Landesklinikums Mostviertel
Amstetten zu den dortigen Behandlungen der Beschwerdeführerin im Jahr 1988.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin ist österreichische Staatsbürgerin. Sie brachte am 10.09.2013 den gegenständlichen
Antrag auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz in Form des Verdienstentganges, der Heilfürsorge
und der Orthopädischen Versorgung beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien,
ein.
Die 1974 geborene Beschwerdeführerin verbrachte die ersten zwei Lebensjahre in relativ geordneten
Verhältnissen im bäuerlichen Anwesen der Großeltern in einer Großfamilie. Als die Beschwerdeführerin zwei
Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern und ihren zwei leiblichen Geschwistern nach Amstetten. Im Alter von fünf
Jahren wurde die Beschwerdeführerin erstmals für zwei Wochen einer Pflegefamilie übergeben. Die Abnahme
der Beschwerdeführerin und ihrer Geschwister von den leiblichen Eltern erfolgte wegen Verwahrlosung und
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Unterernährung. Anschließend lebte die Beschwerdeführerin bis zum achten Lebensjahr, ebenso wie ihre beiden
jüngeren Geschwister, im Landesjugendheim Schauboden. Die Beschwerdeführerin und ihre Geschwister kamen
1982 über Vermittlung des Jugendamtes zur Pflegefamilie M. und G. S., wo die Beschwerdeführerin bis 1990,
also bis zu ihrem 16. Lebensjahr lebte. Danach war die Beschwerdeführerin bis zu ihrem 18. Lebensjahr im
Schülerinternat in Schloss Judenau untergebracht.
Als die Beschwerdeführerin sieben Jahre alt war, ist ihr Vater, der den Angaben der Beschwerdeführerin zu
Folge "Quartalstrinker" war, bei einem Motorradunfall gestorben. Bei der Mutter der Beschwerdeführerin wurde
eine schizoaffektive Psychose attestiert.
Im Kinderheim erfuhr die Beschwerdeführerin sexuellen Missbrauch durch andere Heimkinder, musste
Erbrochenes essen und bekam Ohrfeigen wegen der Hausübungen und des Essens.
Während ihres Aufenthaltes bei den Pflegeltern im Zeitraum 1982 bis 1990 musste die Beschwerdeführerin auf
dem Bauernhof nicht kindergerechte Arbeiten verrichten. 1984 wurde die Beschwerdeführerin von ihren
Pflegeeltern mit einem Teppichklopfer geschlagen, so dass sie blaue Flecken am Gesäß und auf den Beinen
hatte. Die Beschwerdeführerin musste im Rahmen der Erziehung durch ihre Pflegeeltern "scheitelknien", erhielt
Ohrfeigen und wurde mit einem Kochlöffel auf die Finger geschlagen.
1988 zog sich die Beschwerdeführerin zwei Mal einen Bänderriss zu. Im Februar 1988 am linken Fuß, als sie
beim Laufen "umknöchelte" und im September 1988 am rechten Fuß, weil sie "in der Bäckerei über eine Stufe
gehüpft" ist. Nach beiden Vorfällen wurde die Beschwerdeführerin im Krankenhaus Amstetten medizinisch
behandelt und an den Sprunggelenken operiert. 1998 wurde die Beschwerdeführerin nochmals am rechten
Fußgelenk operiert. Die Beschwerdeführerin leidet derzeit an einer chronischen lateralen Seitenbandinstabilität
am rechten Sprunggelenk.
Die Beschwerdeführerin erstattete gegen die Pflegeltern M. und G. S. Anzeige wegen § 92 Abs. 1 und 3 StGB
und § 104 Abs. 1 StGB. Das diesbezügliche Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft St. Pölten
eingestellt.
Mit Schreiben der Österreichischen Landesregierung vom 11.12.2013 wurde der Beschwerdeführerin für ihre
Erlebnisse bei einer Einrichtung des Landes und einer Pflegefamilie in der Vergangenheit auf Grund der
glaubwürdig geschilderten Vorkommnisse vor der NÖ Opferschutzkommission eine finanzielle Hilfestellung in
Höhe von €
25.000,-- und eine Therapie im Ausmaß von 80 Stunden gewährt.
Die Beschwerdeführerin bezieht seit 01.08.2003 eine Berufsunfähigkeitspension.
Die Beschwerdeführerin leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, deren überwiegender Teil als akausal
anzusehen, teilweise konstitutionell bedingt und zum Teil durch die Probleme in der Ursprungsfamilie
verursacht ist. Die Erlebnisse im Rahmen des Aufenthaltes bei der Pflegefamilie im Zeitraum 1982 bis 1990
haben die bereits vor Unterbringung bei der Pflegefamilie vorgelegene Persönlichkeitsstörung zwar verstärkt,
aber nicht zu einem überwiegenden Teil.
Was die übrigen, von der Beschwerdeführerin im Rahmen der gegenständlichen Antragstellung angegebenen
Gesundheitsschädigungen betrifft, so kann nicht festgestellt werden, dass diese auf eine Vorsatztat der
Pflegeltern im Sinne des § 1 Abs. 1 VOG zurückzuführen sind.
2. Beweiswürdigung:
Das Datum der Einbringung des gegenständlichen Antrages auf Hilfeleistungen nach dem
Verbrechensopfergesetz basiert auf dem Akteninhalt. Die Feststellung zur Staatsangehörigkeit der
Beschwerdeführerin basiert auf den Angaben der Beschwerdeführerin und dem vom Bundesverwaltungsgericht
eingeholten Melderegisterauszug.
Die getroffenen Sachverhaltsfeststellungen basieren auf dem Akteninhalt, insbesondere auf den von der
Beschwerdeführerin vorgelegten medizinischen Unterlagen, den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin im
Rahmen der auf Grund der Anzeige gegen die Pflegeeltern erfolgten Zeugenvernehmung als Opfer am
14.07.2011 und der Begründung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft St. Pölten
vom 23.11.2011.
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Die Feststellung zum Bezug der Berufsunfähigkeitspension basiert auf dem von der Beschwerdeführerin
vorgelegten ärztlichen Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt, Landesstellte Niederösterreich, vom
06.07.2009 zum Antrag der Beschwerdeführerin zur Weitergewährung einer bis 31.07.2009 befristeten
Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeldneubemessung.
Die Feststellungen zu der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Borderline-Persönlichkeitsstörung basieren
auf den von der Beschwerdeführerin selbst vorgelegten medizinischen Befunden, insbesondere dem
Befundbericht der NÖ XXXX vom 14.05.2002, und den im Auftrag der belangten Behörde erstellten
nervenfachärztlichen
Sachverständigengutachten
vom
14.06.2013
und
dem
psychologischen
Sachverständigengutachten vom 14.06.2013.
Die Feststellung, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht überwiegend auf die Erlebnisse der
Beschwerdeführerin im Rahmen der Unterbringung bei der Pflegefamilie bzw. auf die zuvor erfolgte
Heimunterbringung zurückzuführen ist, basiert auf den nervenfachärztlichen und psychologischen
Amtssachverständigengutachten der belangten Behörde, in welchen die Sachverständigen übereinstimmend und
für das Bundesverwaltungsgericht vor dem Hintergrund des vorliegenden Akteninhaltes nachvollziehbar zum
Ergebnis gelangen, dass der weit überwiegende Anteil der Persönlichkeitsstörung als akausal anzusehen ist. Die
festgestellten Erlebnisse im Rahmen der Unterbringung bei der Pflegefamilie bzw. während der
Heimunterbringung haben den Sachverständigen zu Folge die psychische Störung der Beschwerdeführerin zwar
verstärkt, aber nicht überwiegend verursacht. Es ist für das Bundesverwaltungsgericht nicht als unschlüssig
anzusehen, wenn die Sachverständigen die Grundlage für die Borderline-Persönlichkeitsstörung zum Teil als
anlagebedingt und zum Teil durch die Probleme in der Ursprungsfamilie verursacht ansehen, zumal bereits im
Befundbericht der NÖ XXXX aus Mai 2002 festgehalten wird, dass aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung
der Beschwerdeführerin eine sehr schwierige familiäre Konstellation mit instabilen Objektbeziehungen
hervorgeht. Weiters gab die Beschwerdeführerin selbst an, ihr Vater sei alkoholkrank und aggressiv der Mutter
gegenüber gewesen und die Mutter der Beschwerdeführerin leide an einer schizoaffektiven Psychose. Im von der
Beschwerdeführerin vorgelegten klinisch-psychologischen Kurzbericht vom 14.07.2013 wird ausgeführt, dass
die Beschwerdeführerin berichtet habe, dass ihr Vater ebenfalls ein Heimkind und schwer traumatisiert gewesen
sei und erinnere sich die Beschwerdeführerin, dass ihr Vater sehr grob und aggressiv gegen die Mutter gewesen
sei. Es habe viel Streit gegeben und der Vater sei oft alkoholisiert gewesen. Die Mutter sei sehr zurückgezogen
gewesen, einschränkend und überfordert. Die Abnahme der Beschwerdeführerin, ihrem Bruder und ihrer 14
Monate jüngeren Schwester von den leiblichen Eltern sei nach einer Delogierung wegen Verwahrlosung und
Unterernährung erfolgt.
Die Amtssachverständigengutachten werden auch vom Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und
Neurologie vom 04.09.2012, welcher von der Beschwerdeführerin vorgelegt wurde, gestützt, in welchem
festgehalten wird, dass die bei der Beschwerdeführerin anamestisch bekannte Borderline-Störung als
multifaktorell anzusehen ist und sich nicht mit einer für ein Gutachten erforderlichen Sicherheit feststellen lasse,
dass der Aufenthalt bei den Pflegeltern für alle weiteren psychischen Probleme der Beschwerdeführerin
verantwortlich ist.
Die Ausführungen des Rechtsvertreters in der Beschwerde vermochten die Ausführungen und
Schlussfolgerungen in den von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten nicht zu
entkräften; sofern in der Beschwerde auf wissenschaftliche Methoden und wissenschaftliche Erkenntnisse Bezug
genommen wird, so ist nicht erkennbar, auf welchen Quellen diese fußen, zumal im Rahmen der Beschwerde
den vorliegenden Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten wurde und im
gesamten Verfahren keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, die im Widerspruch zu den vorliegenden
Sachverständigengutachten stehen.
Der im Rahmen der Beschwerde gestellte Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens konnte vor
dem Hintergrund des bereits von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachtens einer
Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie vom 14.06.2013, welchen wie bereits erwähnt nicht auf gleicher
fachlicher Ebene entgegengetreten wurde, und welches als schlüssig, vollständig und widerspruchsfrei
angesehen wird, unterbleiben.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes
(Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter,
sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
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Bundesverwaltungsgericht
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Gemäß § 9d Abs.1 Verbrechensopfergesetz (VOG) entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem
Bundesgesetz das Bundesverwaltungsgericht durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Es
liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über
Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit
Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in
Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 27 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, soweit nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der
Behörde gegeben ist, den angefochtenen Bescheid auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf
Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das
Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG
dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des
maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit
einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zu A)
Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes, BGBl. 288/1972 idF BGBl.
57/2015 (VOG), lauten (auszugsweise):
"Kreis der Anspruchsberechtigten
§ 1 (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist,
dass sie
1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte
rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben
oder
2. durch eine an einer anderen Person begangene Handlung im Sinne der Z 1 nach Maßgabe der bürgerlichrechtlichen Kriterien einen Schock mit psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert erlitten haben oder
3. als Unbeteiligte im Zusammenhang mit einer Handlung im Sinne der Z 1 eine Körperverletzung oder
Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit nicht hieraus Ansprüche nach dem Amtshaftungsgesetz, BGBl.
Nr. 20/1949, bestehen,
und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. ...
(3) Wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Hilfe nur zu leisten, wenn
1. dieser Zustand voraussichtlich mindestens sechs Monate dauern wird oder
2. durch die Handlung nach Abs. 1 eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB, BGBl. Nr. 60/1974)
bewirkt wird.
...
Hilfeleistungen
§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:
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Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;
2.
Heilfürsorge
a) ärztliche Hilfe,
b) Heilmittel,
c) Heilbehelfe,
d) Anstaltspflege,
e) Zahnbehandlung,
f) Maßnahmen zur Festigung der Gesundheit (§ 155 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes, BGBl. Nr.
189/1955);
...
3. orthopädische Versorgung
a) Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, deren Wiederherstellung und
Erneuerung,
b) Kostenersatz für Änderungen an Gebrauchsgegenständen sowie für die Installation behinderungsgerechter
Sanitärausstattung,
c) Zuschüsse zu den Kosten für die behinderungsgerechte Ausstattung von mehrspurigen Kraftfahrzeugen,
d) Beihilfen zur Anschaffung von mehrspurigen Kraftfahrzeugen,
e) notwendige Reise- und Transportkosten;
Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges
§ 3. (1) Hilfe nach § 2 Z 1 ist monatlich jeweils in Höhe des Betrages zu erbringen, der dem Opfer durch die
erlittene Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (§ 1 Abs. 3) als Verdienst oder den Hinterbliebenen
durch den Tod des Unterhaltspflichtigen als Unterhalt entgangen ist oder künftighin entgeht. Sie darf jedoch
zusammen mit dem Einkommen nach Abs. 2 den Betrag von monatlich 2 068,78 Euro nicht überschreiten. Diese
Grenze erhöht sich auf 2 963,23 Euro, sofern der Anspruchsberechtigte seinen Ehegatten überwiegend erhält.
Die Grenze erhöht sich weiters um 217,07 Euro für jedes Kind (§ 1 Abs. 5). Für Witwen (Witwer) bildet der
Betrag von 2 068,78 Euro die Einkommensgrenze. Die Grenze beträgt für Waisen bis zur Vollendung des 24.
Lebensjahres 772,37 Euro, falls beide Elternteile verstorben sind 1 160,51 Euro und nach Vollendung des 24.
Lebensjahres 1 372,14 Euro, falls beide Elternteile verstorben sind 2 068,78 Euro. Diese Beträge sind ab 1.
Jänner 2002 und in der Folge mit Wirkung vom 1. Jänner eines jeden Jahres mit dem für den Bereich des
Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes festgesetzten Anpassungsfaktor zu vervielfachen. Die vervielfachten
Beträge sind auf Beträge von vollen 10 Cent zu runden; hiebei sind Beträge unter 5 Cent zu vernachlässigen und
Beträge von 5 Cent an auf 10 Cent zu ergänzen. Übersteigt die Hilfe nach § 2 Z 1 zusammen mit dem
Einkommen nach Abs. 2 die Einkommensgrenze, so ist der Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges um
den die Einkommensgrenze übersteigenden Betrag zu kürzen.
...
Heilfürsorge
§ 4. (1) Hilfe nach § 2 Z 2 ist nur für Körperverletzungen und Gesundheitsschädigungen im Sinne des § 1 Abs. 1
zu leisten. Opfer, die infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 eine zumutbare Beschäftigung, die den
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krankenversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet, nicht mehr ausüben können, sowie Hinterbliebene (§ 1
Abs. 4) erhalten Heilfürsorge bei jeder Gesundheitsstörung.
...
Orthopädische Versorgung
§ 5. (1) Hilfe nach § 2 Z 3 ist nur für Körperverletzungen und Gesundheitsschädigungen im Sinne des § 1 Abs. 1
zu leisten. Opfer, die infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 eine zumutbare Beschäftigung, die den
krankenversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet, nicht mehr ausüben können, sowie Hinterbliebene (§ 1
Abs. 4) erhalten orthopädische Versorgung bei jedem Körperschaden.
..."
Im gegenständlichen Fall begehrte die Beschwerdeführerin, die österreichische Staatsbürgerin ist,
Hilfeleistungen nach dem VOG in Form des Verdienstentganges, der Heilfürsorge und der Orthopädischen
Versorgung. Bei der Beschwerdeführerin liegen als Gesundheitsschädigungen aktuell eine BorderlinePersönlichkeitsstörung, Lumbalgie und eine chronische Sprunggelenksinstabilität vor.
Im Fall der Beschwerdeführerin ist zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG,
wonach Anspruch auf Hilfe österreichische Staatsbürger haben, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist,
dass sie durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte
rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben
und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist, erfüllt sind.
Die Materialien zur Stammfassung des § 1 VOG, BGBl. 288/1972, GP XIII RV 40. S. 8, lauten
(auszugsweise):
" ...
Ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfeleistungen im Einzelfall gegeben sind, soll möglichst ohne
ein aufwendiges Beweisverfahren festgestellt werden. Der Entwurf bestimmt daher, daß sich das zur Gewährung
von Hilfeleistungen berufene Organ mit der Feststellung der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen
Voraussetzungen begnügen darf. Eine ähnliche Regelung befindet sich im § 4 das
Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, das ebenfalls die Versorgung von der Wahrscheinlichkeit des
ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Gesundheitsschädigung und dem schädigenden Ereignis abhängig
macht.
..."
Für die Auslegung des Begriffes "wahrscheinlich" ist der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend.
Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen-wissenschaftlichen Lehrmeinung erheblich
mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (VwGH 01.12.1988, 88/09/0135).
Was zunächst die Frage betrifft, ob die Gesundheitsschädigung Borderline-Persönlichkeitsstörung mit
Wahrscheinlichkeit auf eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe
bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung zurückzuführen ist, ist festzuhalten, dass den im Auftrag der
belangten Behörde erstellten Sachverständigengutachten, die vom Bundesverwaltungsgericht als schlüssig und
widerspruchsfrei angesehen werden, zu Folge, die Persönlichkeitsstörung der Beschwerdeführerin zum
überwiegenden Teil als akausal anzusehen ist. Es kann sohin nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden,
dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung auf die Erlebnisse bei der Pflegefamilie bzw. im Kinderheim
zurückgeführt werden kann, weshalb die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG bereits mangels dieser
Tatbestandsvoraussetzung nicht erfüllt sind. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist vielmehr zum Teil
anlagebedingt und teilweise auf die Situation in der Ursprungsfamilie zurückzuführen, wobei festzuhalten ist,
dass im Zusammenhang mit der Situation in der Ursprungsfamilie keine Vorfälle hervorgekommen sind, die im
Sinne des § 1 Abs. 1 VOG maßgeblich wären.
Vor diesem Hintergrund ist es der belangten Behörde - entgegen dem Vorbringen in der Beschwerde - auch nicht
vorzuwerfen, wenn sie im angefochtenen Bescheid die Frage der strafrechtlichen Qualifikation der Vorfälle im
Rahmen der Unterbringung bei der Pflegefamilie im Zeitraum 1982 bis 1990 bzw. im Rahmen des davor
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erfolgten Heimaufenthaltes im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG nicht behandelt und keine entsprechende
Subsumtion unter die im Fall der Beschwerdeführerin in Frage kommenden Straftatbestände vornimmt.
Was die übrigen Gesundheitsschädigungen Lumbalgie und chronische Sprunggelenksinstabilität betrifft, gab die
Beschwerdeführerin an, diese Gesundheitsschädigungen würden nicht vorliegen, wenn die Pflegeltern der
Beschwerdeführerin für eine entsprechende medizinische Versorgung gesorgt hätten. Eine Vorsatztat im Sinne
des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG seitens der Pflegeltern der Beschwerdeführerin kann jedoch auch vom
Bundesverwaltungsgericht nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Die Beschwerdeführerin legte
selbst medizinische Unterlagen vor, welchen entnommen werden kann, dass die Beschwerdeführerin im
Zusammenhang mit den angegebenen Fußverletzungen im Jahr 1988 - also während ihrer Unterbringung bei
ihren Pflegeltern - zwei Mal im Krankenhaus Amstetten behandelt und jeweils am rechten und am linken
Sprunggelenk operiert wurde. Was das Vorbringen der Beschwerdeführerin betrifft, sie habe mit etwa 13 Jahren
nach starker körperlicher Arbeit Rückenschmerzen verspürt, die ein Ausmaß erreicht hätten, dass sie sich
beinahe selbst nicht mehr Hose und Schuhe habe anziehen können und erst im Nachhinein bei späteren
Untersuchungen sich ergeben, dass sie einen "Morbus Scheuermann" durchgemacht habe, dessen jedenfalls
unterlassene Behandlung nunmehr zu Spätfolgen führe, so kann vor dem Hintergrund des Vorhergesagten und
mangels konkreter Anhaltspunkte, auch in diesem Zusammenhang nicht mit Wahrscheinlichkeit davon
ausgegangen werden, dass die Pflegeltern es vorsätzlich unterlassen hätten, für eine ausreichende medizinische
Behandlung der Beschwerdeführerin zu sorgen.
Da im Fall der Beschwerdeführerin somit insgesamt die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 VOG, an welchen die
von der Beschwerdeführerin jeweils beantragten Hilfeleistungen knüpfen, nicht erfüllt sind, war spruchgemäß zu
entscheiden.
Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von
Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn
1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde
zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene
Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und
Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder
2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist.
Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde
oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener,
zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein
Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen
werden.
Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das
Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen
lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem
Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl.
Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.
Unter dem Gesichtspunkt von Art. 6 EMRK (Art. 47 GRC) führte der Verwaltungsgerichtshof zur Frage der
Durchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung im Erkenntnis vom 16.12.2013, 2011/11/0180 (mit
Hinweis auf EGMR 13.10.2011, Fexler gg. Schweden, Beschw. Nr 36801/06), aus, dass eine solche unterbleiben
kann, wenn der Ausgang des Verfahrens vor allem vom Ergebnis der Gutachten medizinischer Sachverständiger
abhängt und der Beschwerdeführer auch nicht behauptet, dass er den von der Behörde eingeholten Gutachten
entgegentritt. Das Bundesverwaltungsgericht verweist in diesem Zusammenhang allgemein auf die
Rechtsprechung des EGMR, die im Bereich von Entscheidungen, die eher technischer Natur ("rather technical in
nature") sind und deren Ausgang von schriftlichen medizinischen Sachverständigengutachten abhängt ("the
outcome depended on the written medical opinions") unter Rücksichtnahme u.a. auf die genannten Umstände
von der Zulässigkeit des Absehens einer mündlichen Verhandlung ausgeht, dies nicht nur im Verfahren vor dem
jeweils zuständigen Höchstgericht, sondern auch in Verfahren vor dem als erste gerichtliche Tatsacheninstanz
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zuständigen (Verwaltungs)Gericht, dem die nachprüfende Kontrolle verwaltungsbehördlicher Entscheidungen
zukommt (vgl. zB EGMR [Unzulässigkeitsentscheidung] 22.05.2012, Osorio gg. Schweden, Beschw. Nr.
21660/09).
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ist vor dem Hintergrund der von der Beschwerdeführerin selbst im
Verfahren vorgelegten Unterlagen und ihrer eigenen Angaben geklärt. Die im Auftrag der belangten Behörde
erstellten Gutachten vermochten mit den Beschwerdeausführungen nicht entkräftet werden bzw. ist diesen im
Rahmen der Beschwerde nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten worden. Dies lässt die
Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ und
eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung im Beschwerdefall nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC
kompatibel ist, sondern auch im Sinne des Gesetzes (§ 24 Abs. 1 VwGVG) liegt, weil damit dem Grundsatz der
Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis (§ 39 Abs. 2a AVG) gedient ist, gleichzeitig aber
das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt wird.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses
auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer
Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung
von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung;
weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu
beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden
Rechtsfrage vor.
Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht
worden
noch
im
Verfahren
vor
dem
Bundesverwaltungsgericht
hervorgekommen.
Das
Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
European Case Law Identifier
ECLI:AT:BVWG:2015:W135.2003800.1.00
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