Kopftuch BVG-Urteil

Werbung
Bundesverfassungsgericht/ Urteil vom 24. Sep. 2003 (Kopftuchurteil)
5
10
15
20
25
30
35
40
Auf die Verfassungsbeschwerde der Lehrerin, die ihre Einstellung als Beamtin auf Probe in den
Schuldienst des Landes Baden-Württemberg anstrebt, hat der Zweite Senat festgestellt, dass die
entgegenstehenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und der zuständigen Behörden des
Landes Baden-Württemberg die Beschwerdeführerin (Bf) in ihren Rechten aus Art. 33 Abs. 2
i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 und mit Art. 33 Abs. 3 des Grundgesetzes verletzen. Das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts wurde aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen. Die
Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
Indem die Beschwerdeführerin durch das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht die
Freiheit in Anspruch nimmt, ihre Glaubensüberzeugung zu zeigen, wird die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler, nämlich kultischen Handlungen eines nicht geteilten
Glaubens fernzubleiben, berührt. In einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen gibt es allerdings kein Recht darauf, von Bekundungen, kultischen Handlungen und
religiösen Symbolen eines fremden Glaubens verschont zu bleiben.
Bringen Lehrkräfte religiöse oder weltanschauliche Bezüge in Schule und Unterricht ein, kann
dies den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Es ist
zumindest möglich, dass dadurch Schulkinder beeinflusst und Konflikte mit Eltern ausgelöst
werden, die den Schulfrieden stören und die Erfüllung des Erziehungsauftrags der Schule gefährden können. Auch die Bekleidung von Lehrern, die als religiös motiviert verstanden werden
kann, kann so wirken. Dies sind aber lediglich abstrakte Gefahren. Sollen bereits derartige bloße
Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts auf Grund des Auftretens der Lehrkraft
und nicht erst deren konkretes Verhalten als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als
Eignungsmangel bewertet werden, so ist eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage
erforderlich. Denn diese Bewertung geht mit einer Einschränkung des vorbehaltlos gewährten
Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einher. Der Senat führt hierzu im Einzelnen aus:
Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich
wahrgenommen. Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm
verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des
Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen das
Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Insoweit ist nicht belegt, dass die Beschwerdeführerin allein dadurch, dass sie ein Kopftuch
trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des
Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde. (...)
Es fehlt jedoch eine gesicherte empirische Grundlage für die Annahme, dass vom Tragen des
Kopftuchs bestimmende Einflüsse auf die religiöse Orientierung der Schulkinder ausgehen. Die
in der mündlichen Verhandlung dazu angehörten Sachverständigen konnten von keinen gesicherten Erkenntnissen über eine solche Beeinflussung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht berichten.
Aufgaben
1.) Weshalb hat sich das Bundesverfassungsgericht überhaupt mit dieser Sache beschäftigt?
2.) Welche rechtlichen Grundsätze werden berücksichtigt?
3.) Worauf gründen die fünf Richter ihr Urteil?
4.) Mit welcher Begründung könnte ein Richter die Sache auch anders sehen?
Die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff führen im Sondervotum aus:
5
10
15
20
25
30
Der von der Senatsmehrheit angenommene Gesetzesvorbehalt für die Begründung von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Beamten wurde bislang
weder in Rechtsprechung und Literatur noch von der Beschwerdeführerin selbst vertreten. Aufgrund
dieser Annahme bleibt die verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im
Bildungs- und Erziehungsraum der Schule unentschieden. Außerdem kommt es zu einer im Grundgesetz nicht angelegten Fehlgewichtung im System der Gewaltenteilung sowie im Verständnis der
Geltungskraft der Grundrechte beim Zugang zu öffentlichen Ämtern. Schließlich gibt die Senatsmehrheit dem Landesgesetzgeber keine Möglichkeit, sich auf die von ihr angenommene neue Verfassungsrechtslage einzustellen und versäumt es, Rechtsprechung und Verwaltung zu sagen, wie sie
bis zum Erlass eines Landesgesetzes verfahren sollen. Dazu heißt es in der abweichenden Meinung
im Einzelnen:
Der Grundrechtsschutz für Beamte ist funktionell begrenzt. Wer Beamter wird, stellt sich in freier
Willensentschließung auf die Seite des Staates. Beamtete Lehrer genießen bereits vom Ansatz her
nicht denselben Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Sie sind vielmehr an Grundrechte gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt. Die Dienstpflicht des Beamten ist
die Kehrseite der Freiheit desjenigen Bürgers, dem die öffentliche Gewalt in der Person des Beamten
gegenübertritt. Mit Dienstpflichten sichert der Staat in seiner Binnensphäre die gleichmäßige, gesetzes- und verfassungstreue Verwaltung. Die Rechtsstellung des Bewerbers, der keinen Einstellungsanspruch hat, darf nicht aus der Abwehrperspektive eines Grundrechtsträgers gegen den Staat gesehen werden. Mit dem freiwilligen Eintritt in das Beamtenverhältnis entscheidet sich der Bewerber in
Freiheit für die Bindung an das Gemeinwohl und die Treue zu einem Dienstherrn.
Die Geltung des Gesetzesvorbehalts im Schulrecht ist in der Vergangenheit nicht zum Schutze der
beamteten Lehrer, sondern um der Eltern und Schüler willen ausgeweitet worden. Wer im grundrechtsverpflichteten Lehrer primär den Grundrechtsträger sieht und seine Freiheitsansprüche damit
gegen Schüler und Eltern richtet, verkürzt deren Freiheit. Beamte sollen freiheitsbewusste Staatsbürger sein, sie sollen zugleich aber den grundsätzlichen Vorrang der Dienstpflichten und den darin
verkörperten Willen der demokratischen Organe achten. Das Beamtenverhältnis als besondere Nähebeziehung zwischen Bürger und Staat ist gerade keine vom Grundrechtsanspruch des Beamten
geprägte Rechtsbeziehung. Die hier zu beurteilende Eignungsbeurteilung darf nicht mit einem Eingriff in die Glaubensfreiheit verwechselt werden.
Die Neutralitätspflicht des Beamten ergibt sich aus der Verfassung selbst. Die Begründung der Senatsmehrheit ist deshalb mit grundlegenden Aussagen der Verfassung zum Verhältnis von Gesellschaft und Staat nicht vereinbar. (...)
Aufgaben
1.) Auch hier geht es um Grundsätze und deren unterschiedliche Bewertungen. Finde das Hauptargument
heraus, auf das diese drei Richter ihr Kontra-Votum aufbauen.
2.) Findest du diese Argumentation stichhaltig.
3.) Debattiert beide kontoversen Positionen Pro und Kontra!
Herunterladen