Mathias Rohe Das islamische Recht Geschichte und Gegenwart

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Mathias Rohe
Das islamische Recht
Geschichte und Gegenwart
624 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-406-57955-4
© Verlag C.H.Beck oHG, München
I. Zu diesem Buch
Einführung: Islam, «Scharia»
Zu diesem
und Recht
Buch
Auch islamisches Recht ist Recht. Diese eigentlich selbstverständliche
Aussage soll unterstreichen, dass es in Geschichte und Gegenwart über alle
Kulturgrenzen hinweg vergleichbare Funktionen von Rechtsordnungen
gibt, bei allen Unterschieden in Einzelheiten. Dies gilt unabhängig davon,
ob eine einschlägige rechtstheoretische Debatte geführt wird oder nicht.
Streben nach Gerechtigkeit ist Leitmotiv aller Rechtsordnungen. Sie verstehen sich zum einen als gesellschaftliches Leitbild. Die in ihnen enthaltenen
Gerechtigkeitsvorstellungen sollen Maßstäbe setzen. Insoweit gibt es Unterschiede zwischen religiös ausgerichteten und säkularen Rechtsordnungen;
erstere enthalten auch eine transzendente, jenseitsbezogene Dimension.
Zumindest ebenso bedeutsam ist aber die Funktion des Rechts als Mechanismus für die Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen, für Interessenausgleich (zum Beispiel im Vertragsrecht) und Schutz vor Übergriffen (zum Beispiel im Strafrecht und im zivilen Deliktsrecht; beides war
lange Zeit kaum getrennt). Hier werden Aspekte wie die einheitliche Anwendung von Rechtsregeln auf alle von ihnen erfassten Situationen und
allgemeiner die Durchsetzung einer Friedensordnung im zwischenmenschlichen Bereich wie auch in größeren politischen Einheiten bedeutsam. Solches kann nur gelingen, wenn die anzuwendenden Regeln einen
gewissen Abstraktionsgrad haben, also über die Anwendbarkeit auf einen
bestimmten Einzelfall hinausreichen. Das gilt unabhängig davon, ob eine
Rechtsordnung eher auf mehr oder weniger intensiv kodifizierten Regeln
basiert oder sich eher anhand von Präzedenzfällen fortentwickelt. Damit
aber wird es erforderlich, den Umgang mit den Begriffen zu erlernen, aus
denen die Regeln gebildet werden.1 Gerade hierin liegt die typische juristische Arbeit. Ohne sie kann eine Rechtsordnung nicht verständlich werden.
Auch wer vom islamischen Recht kaum etwas weiß, hat nicht selten präzise Vorstellungen davon. Handabhacken, Auspeitschen oder Steinigen von
Ehebrechern, Tötung Andersgläubiger und Benachteiligung von Frauen
sind einige der am weitesten verbreiteten Stereotype. Willkürliche «Kadijurisprudenz»2 gilt als Markenzeichen. Das islamische Recht fügt sich so in
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Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
das verbreitete Bild eines grausamen und rückständigen Orients. Entspricht
aber dieses Bild der Realität, oder sagt es mehr über den Betrachter aus?
Die Beschäftigung mit dem islamischen Recht außerhalb der islamischen
Welt wurde seit ihren Anfängen zur Domäne der Orient- bzw. Islamwissenschaften. Juristen, die auch einen sprachlichen Zugang zu den Primärquellen
haben, sind erst in den letzten Jahrzehnten stärker hervorgetreten. So ist ein
großer Teil der vorliegenden Literatur von einem sprach- und gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz gekennzeichnet. Eduard Sachau, der ein lange Zeit
maßgebliches Werk über schafiitisches Recht vorgelegt hat, betont im Vorwort, er glaube nicht, die Arbeit eines Juristen machen zu können. Er beschränke sich vielmehr auf die möglichst texttreue philologische Arbeit.3
Die moderne Rechtsentwicklung nimmt gegenüber der frühen und
klassischen Entwicklung einen vergleichsweise geringen Raum ein. Auch
unter Wissenschaftlern dominiert deshalb eine historisierende Sicht, die in
wichtigen Aspekten kaum zu einer Strukturierung nach den Ordnungsaufgaben des Rechts4 und ihrer jeweiligen Lösung gelangt. Problemlagen, welche sich eher aus der Conditio humana ergeben als aus räumlichen, zeitlichen oder kulturellen Besonderheiten (zum Beispiel das Zusammenleben
in Familien, Aspekte des Minderjährigenschutzes, Zuordnung von Rechtspositionen und Vermögenswerten zu Personen und deren Schutz gegen
Übergriffe, Bedürfnisse rechtlicher Bindung bei arbeitsteiligem Wirtschaften), werden nicht immer als solche gewürdigt.
Damit verschließt man sich der interessanten Erkenntnis, dass es eine
Fülle kulturkreisübergreifender Problemlagen gibt, die durch spezifisch
juristische Ansätze gelöst werden.5 Als Beleg hierfür seien die Ausführungen des bedeutenden hanafitischen Juristen al-Sarafsj6 (gest. 483/1090) zu
Tötungsdelikten genannt. Er stellt zunächst die hohe Schädlichkeit solcher
Taten unter Bezugnahme auf Aussagen des Korans und Muhammads
heraus. Dann unterstreicht er die Bedeutung der diesseitigen Bestrafung
der Täter: Wenn der Druck (auf mögliche Täter) sich auf jenseitige Bestrafung beschränken würde, dann würde sich nur ein sehr geringer Teil von
Menschen davon abhalten lassen. Zur wirksamen Abschreckung sei deshalb
das Regime der diesseitigen Strafe (}uquba) und entsprechender Vergeltungsmechanismen (qivav) eingeführt worden. Damit ist die rechtliche Ordnungsaufgabe – Sicherung des menschlichen Lebens durch wirksame Abschreckung – definiert.
Selbst in damit zusammenhängenden, unmittelbar religionsrelevanten
Fragen wie der nach rechtlicher Gleich- oder Ungleichbehandlung der Angehörigen unterschiedlicher Religionen finden sich differenzierende Äuße-
Zu diesem Buch
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rungen. Al-Sarafsj7 setzt sich etwa mit den unterschiedlichen Auffassungen
zu der Frage auseinander, ob für Muslime und geschützte Nicht-Muslime
(qimmis; vgl. unten IV.9.d) derselbe Betrag («Wergeld», arab. diya; hierzu noch
unten IV.7.c) für Tötung oder Verletzung zu entrichten ist. Diejenigen, die
eine Ungleichbehandlung zu Lasten der Nicht-Muslime fordern (zum Beispiel Reduzierung des Betrags auf die Hälfte oder ein Drittel), stützen sich
zentral auf koranische Aussagen, wonach es keine Gleichheit (musawat) zwischen Muslimen und Ungläubigen gibt (zum Beispiel Sure 59, 20), und
weitere Überlieferungen. Al-Sarafsj setzt solchen Aussagen andere Koranstellen und Überlieferungen entgegen, aber auch eine an Ordnungsaufgaben
orientierte inhaltliche Begründung: Die für die Ungleichheit sprechenden
Koranstellen beträfen jenseitige, nicht diesseitige Dinge. Der Inhalt des
Schutzvertrags mit den qimmis fordere deren Gleichbehandlung im Diesseits.
Zudem seien qimmis in gleicher Weise wie Muslime rechtlich fähig, Eigentum zu haben; dasselbe müsse für ihre körperliche Unversehrtheit (nafs) gelten. Ferner diene das Wergeld dem Zweck der Sicherheitswahrung (ihraz),
und dieser sei auf das diesseitige Territorium (dar) ausgerichtet, nicht auf die
Religion (djn), und für Muslime wie Nicht-Muslime bestehe im Hinblick
auf Leib und Eigentum dasselbe Sicherheitsbedürfnis.
Selbstverständlich ist Recht auch in einen sozialen Kontext eingebettet
und wird von ihm in erheblichem Maße geprägt. Eine Beschränkung auf
abstrakte Normentexte ohne Rücksicht auf vorrechtliche Voraussetzungen
oder Begleitumstände würde deshalb ein verzerrtes Bild einer jeden
Rechtsordnung abgeben. Andererseits prägt das Recht auch gesellschaftliches Leben durch seine Eigengesetzlichkeiten und Institutionen. Deshalb
wäre es ebenso verfehlt, Recht vorwiegend als soziale Erscheinung zu begreifen und ohne Kenntnis seiner spezifischen Instrumente und Argumentationsstrukturen erfassen zu wollen.
Aber gibt es so etwas wie «islamisches Recht» überhaupt? Schon eine
oberflächliche Erkundung führt zu der Erkenntnis, dass «das islamische
Recht» im Sinne eines übergreifenden, einigermaßen klaren Gesetzeswerks
mit kalkulierbaren Lösungen für Rechtsprobleme nirgends erkennbar wird.
So wenig, wie «das europäische Recht» von der Antike bis zur Gegenwart
einheitliche Lösungen anbieten kann, so wenig gilt dies für das islamische
Recht. Man muss sich also von dem Gedanken verabschieden, hierüber ein
lehrbuchartiges Werk zu verfassen, das alle Bereiche des Rechts ergebnissicher abhandeln könnte. Diejenigen einführenden Werke, welche einen
solchen Anspruch erheben, stützen sich meist nur auf Aussagen einer bestimmten Rechtsschule (unter mehreren) zu einer bestimmten Zeit. Zudem
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Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
beschäftigte sich die islamwissenschaftliche Literatur zum islamischen
Recht über lange Zeit ganz überwiegend mit der klassischen Rechtsentwicklung und behandelte moderne Tendenzen sowie das angewandte
Recht oft allenfalls am Rande. Recht ist aber nicht zuletzt «law in action»,
jedenfalls aus Sicht der Betroffenen.
Die langwährende Fixierung großer Teile der Wissenschaft auf die frühe
und klassische Zeit hat neben der inhaltlichen Verengung auch ein weit
über den Rechtsbereich hinausreichendes Vorverständnis mitgeschaffen, das
die frühe und klassische Entwicklung als «den Islam» schlechthin versteht,
während moderne Entwicklungen als nicht mehr dem «eigentlichen» Islam
entsprechend abgetan werden. Dies trifft zwar im Rechtsbereich für die
unter kolonialer Herrschaft zwangsweise durchgesetzten «westlichen» Gesetze zu. Es ist aber keineswegs selbstverständlich für die innermuslimische,
teils von europäischem Gedankengut inspirierte Reformdebatte, die sich
seit dem 19. Jahrhundert in großer Breite entfaltet hat. Dass die Auseinandersetzung mit Geistesgut aus nicht vom Islam geprägten Kulturen nicht
«unislamisch» sein muss, zeigt bereits die Entwicklung in Theologie und
Recht der ersten Jahrhunderte; eine Stütze hierfür findet sich in der häufig
zitierten Aussage Muhammads, wonach man Wissen suchen solle, auch
wenn man es in China fände.8
Sinnvoll lässt sich islamisches Recht nach alledem aber nur erfassen, wenn
es als Materie in steter Entwicklung begriffen wird. Sein System erschließt
sich weniger über inhaltliche Einzelregelungen als über seine Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehre (uvul al-fiqh). Bei allen Differenzen auch in
diesem Bereich finden sich hier einige grundlegende Gemeinsamkeiten, die
weitgehend unumstritten sind. So verweisen auch die meisten Verfassungsordnungen des vom Islam geprägten Kulturraums in der einen oder anderen
Form auf die Scharia als Ganzes (was immer das sein mag) oder doch auf
ihre (tragenden) Prinzipien als maßgebliche Rechtsgrundlage. Ebenso erfasst
die islam-rechtliche Literatur fast durchweg nicht irgendein islamisches Länderrecht, sondern das islamische Recht schlechthin. Trotz aller Unterschiede
finden sich in der Tat gemeinsame Grundprinzipien.9 Sie vor allem sollen
Gegenstand dieses Buches sein. Im Übrigen gilt die nicht nur für das islamische Recht typische Feststellung, wonach es zu jeder Frage auch innerhalb
der (Rechts-)Schulen mindestens zwei unterschiedliche Ansichten gibt.
Die Vielgestaltigkeit ist besonders groß, stellt man die kulturraumüberspannende Wirkung des islamischen Rechts in Rechnung. Was für den
Vorderen Orient gilt, muss nicht notwendig auf Malaysia, Indonesien,
Kasachstan, Nigeria oder Bosnien übertragbar sein. Diese zunächst triviale
Zu diesem Buch
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Erkenntnis bestimmt auch die innerislamische Diskussion. Norani Othman,
Mitglied der malaysischen «Sisters in Islam», weist auf die Notwendigkeit
hin, zwischen dem Kulturerbe der muslimischen Gesellschaften des Mittleren Ostens und dem zu unterscheiden, was der Islam eigentlich ist.10 Für
den Juristen ergibt sich aus alledem die zusätzliche Schwierigkeit, geographisch-kulturelle Besonderheiten und Quisquilien vom hier zu erörternden
Kernbereich des islamischen Rechts zu scheiden.
Das islamische Recht ist auch in seinem Kernbereich von sehr unterschiedlicher Regelungsdichte. Lücken oder gänzlich rudimentäre Regelungen, die mit übernommenen westlichen Rechtsnormen gefüllt oder ergänzt
werden, bleiben hier weitgehend ausgeklammert. Hierfür müssten Ländermonographien verfasst werden, die eine Einführung in die jeweilige nationale Rechtsordnung ungeachtet ihrer systematischen Provenienz geben. All
dies zeigt auch, was dieses Buch nicht leisten kann: Ein umfassendes Nachschlagewerk für die Beantwortung konkreter Rechtsfragen zu sein. Die
rechtliche Lage in den einzelnen Staaten der islamischen Welt ist so vielgestaltig, dass die Auseinandersetzung mit dem dort jeweils geltenden Recht
unerlässlich ist. Es muss bei dem Versuch bleiben, durch exemplarische Auswahl ein repräsentatives Bild zu vermitteln, das dann viel eher zum Holzschnitt als zur Radierung geraten wird. Eine umfassende Darstellung des
materiellen islamischen Rechts wäre aber auch deshalb kaum zu bewerkstelligen, weil mangels Kodifizierung vieler Bereiche ein vergleichsweise
hohes Maß an Unsicherheit schon über die geltenden Rechtsgrundlagen
herrscht. Für das islamische Recht mag einem also noch mehr als für viele
europäische Rechtsordnungen der Satz in den Sinn kommen, wonach man
vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand sei – ein muslimischer Jurist
wird sich an diesem Satz ohnehin nicht stoßen. Die rechtsphilosophische
Idee, es gebe nur eine einzige richtige Entscheidung, wird bei der Rechtsanwendung generell auch bei bestwilligem und höchst kompetentem Vorgehen der Realität nicht gerecht. Richterliche Erfahrung lehrt,11 dass es
wegen mangelnder Erkenntnismöglichkeiten im Tatsachenbereich und wegen vorhandener Interpretationsspielräume bei vielen Normen eine gewisse Bandbreite «richtiger» im Sinne gut vertretbarer Entscheidungen gibt.
Je geringer die Aufklärungsmöglichkeiten bei relevanten Tatsachen sind
und je unklarer die normative Lage ist, desto mehr vergrößert sich diese
Bandbreite.
Die Diversität des islamischen Rechts wird durch Berücksichtigung repräsentativer – in der muslimischen Literatur bevorzugt zitierter – Originalwerke (Primärquellen) der verschiedenen Rechtsschulen gespiegelt. Jedoch
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Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
können im Rahmen dieses Buches keine umfassenden Belege für alle angesprochenen Themen gegeben werden. Deshalb wird an vielen Stellen auch
auf verlässliche Sekundärliteratur in europäischen Sprachen verwiesen, die
sich mit den Primärquellen auseinandergesetzt hat. Dies soll den Leserinnen
und Lesern, die nicht oder nicht hinreichend des Arabischen mächtig sind,
den Zugang zur Materie erleichtern.
Insgesamt will dieses Buch dem islamischen Recht als lebendigem Recht
Rechnung tragen. Die Rechtslage in der islamischen Welt lässt sich einerseits nur im Blick auf die klassische Entwicklung des islamischen Rechts
verstehen. Andererseits weist sie so viele Besonderheiten und Neuentwicklungen auf, dass deren weitgehende Nichtbeachtung in manchen einführenden Darstellungen ein unzutreffendes, vielleicht sogar verzerrtes Bild der
Lage zeichnet. Vergangenheit und Gegenwart sollen deshalb hier einen
gleichwertigen Platz erhalten.
Dieses Buch gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil gibt einen
Überblick über die wesentlichen Grundlagen und Regelungen des klassischen islamischen Rechts, wie es in den ersten Jahrhunderten der islamischen Geschichte geformt und bis ins 18. Jahrhundert tradiert wurde. Im
zweiten Teil wird das «moderne» islamische Recht als Produkt der weitreichenden Reformbemühungen seit dem 19. Jahrhundert behandelt. Der
dritte Teil befasst sich exemplarisch mit islamischer Normativität in der
Diaspora. Diese Aufteilung ist notwendig sehr schematisch. An den Rändern – erste Formationsperiode bis ca. 750 und in der Zeit vom 14. bis zum
18. Jahrhundert – gab es durchaus «individuelle» Entwicklungen. Sie werden in der Darstellung berücksichtigt, wenngleich in der hier gebotenen
Kürze. Gerade in den hier weniger intensiv beleuchteten Randzonen ist
noch viel Reizvolles und wissenschaftlich Weiterführendes zu vermuten:
Dieses Buch steht also gewiss näher am Anfang als am Ende wissenschaftlicher Aufarbeitung des islamischen Rechts. Soweit einzelne Rechtsgebiete
detaillierter zu behandeln sind, sollen vorwiegend die Ansichten der sunnitisch-hanafitischen Rechtsschule als exemplarische Grundlage herangezogen werden. Diese Rechtsschule wurde im Laufe der Geschichte der
islamischen Welt am weitesten verbreitet;12 sie hat die meiste «Herrschaftserfahrung»13 gesammelt bis hin zum Osmanischen Reich und zum Moghulreich und hat daher oft die detailliertesten und praxisnächsten Haltungen entwickelt. Zudem dürfte sie – bereits 1912 in Österreich-Ungarn
offiziell anerkannt14 – den engsten Bezug zum Islam im neuzeitlichen Europa aufweisen.
II. «Scharia» und Recht
«Scharia» und Recht
Sehr häufig wird in der Literatur und in der öffentlichen Diskussion der Begriff der «Scharia» mit «islamischem Recht» gleichgesetzt. Der Begriff
«Scharia» ist jedoch vieldeutig. In einem untechnischen Sinne – auch in koranischer Terminologie (vgl. Sure 45, 18) – bedeutet er «der (von Gott) gebahnte Weg», «der Weg zur Tränke».1 Als Fachbegriff taucht er in einem
weiten und in einem engen Verständnis auf, wobei die Vermischung beider
Verständnismöglichkeiten häufig anzutreffen ist und für Verwirrung sorgt.
Das weite Verständnis der Scharia umfasst die Gesamtheit aller religiösen
und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam, also etwa der Vorschriften über Gebete, Fasten,
das Verbot bestimmter Speisen und Getränke wie Schweinefleisch und Alkoholisches und die Pilgerfahrt nach Mekka ebenso wie Vertrags-, Familien- und Erbrecht. Auch der korrespondierende Begriff der Regelung
(hukm, pl. ahkam) meint rechtliche Regelung und religiöse Verpflichtung
gleichermaßen.2 In diesem Sinne wäre die Übersetzung von «Scharia» mit
«islamisches Recht» stark verkürzt. Inhaltlich geradezu falsch wird sie, wenn
hierbei ungeprüft der üblich gewordene Rechtsbegriff angelegt wird. Das
«Recht» lebt maßgeblich von seiner weltlichen Befriedungsfunktion und
greift hierfür nötigenfalls auch auf Mittel (staatlicher) Gewalt zurück.3 Charakteristisch ist also die im Diesseits erzwingbare Durchsetzung. Dies betrifft die Beziehung von Menschen und anderen Rechtssubjekten untereinander und deren Verhältnis zu den Trägern der Rechtsordnung, heute vor
allem dem Staat und seinen Untergliederungen.
Religiöse Vorschriften zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass ihre
Achtung im Diesseits nicht rechtsförmig, sondern allenfalls durch sozialen
Druck erzwingbar ist und ihre Missachtung ansonsten in aller Regel nur
jenseitige Folgen hat. Dies ist nur dann anders, wenn auch religiöse Vorschriften aufgrund einer Entscheidung der jeweiligen Machthaber mit diesseitigen Sanktionen durchgesetzt werden. Der maßgebliche Unterschied
liegt also nicht in dem Anspruch auf Verbindlichkeit – sowohl religiöse wie
auch rechtliche Vorschriften verstehen sich als verbindlich –, sondern ist vor
allem im Sanktionssystem zu suchen.
10
Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
Diese Unterscheidung nach der Art der Sanktionen findet sich aber auch
in der Scharia. Sie weist neben den auch diesseitsbezogenen Bewertungen
menschlichen Verhaltens als «geboten» (wa+ib) bzw. «Pflicht» (fard), «erlaubt»
(mubah) und «verboten» (haram) auch jenseitsorientierte Bewertungen wie
«empfohlen» (mandub, mustahabb) und «missbilligt» (makruh) auf,4 die oft
keine diesseitigen Wirkungen entfalten (vgl. zu Beispielen aus dem Vertragsrecht unten IV.4).5 Gelegentlich findet sich für die Kategorie des Erwünschten/Lobenswerten auch die Bezeichnung «Sunna», türk. «sünnet».6
Von rechtlichem Interesse im engeren, nicht-transzendenten Sinne sind
vor allem die Grenzziehungen zwischen wa+ib und mandub/mustahabb einerseits sowie zwischen haram/batil und makruh andererseits. Fehlt ein als
wa+ib qualifizierter Tatbestand, so tritt die daran geknüpfte Rechtsfolge –
anders als beim Fehlen des nur Erwünschten – nicht ein. In vergleichbarer
Weise führen als haram qualifizierte Verstöße in aller Regel zur Rechtsfolge
der Unwirksamkeit; oft wird sogleich das dafür gebräuchliche Wort batil gebraucht. Nur Missbilligtes zieht dagegen meist keine diesseitigen Sanktionen nach sich. Was manche als «geboten» einstufen, betrachten andere als
nur «empfohlen».7
Zudem unterscheiden sich religiöse und rechtliche Vorschriften häufig
im Anknüpfungspunkt ihres Geltungsanspruchs. Das Recht gilt heute weitgehend territorial, also unabhängig von der Eigenart der Person, die sich auf
dem Territorium der rechtsetzenden Macht aufhält. Religion lässt sich hingegen nur personal verankern, also an die Glaubensüberzeugung und -praxis von Individuen. Auch eine «Staatsreligion» ändert hieran nichts, solange
sie nicht auch Individuen bestimmte religiöse Verhaltensweisen vorschreibt.
Eine solche Unterscheidung findet sich auch in der sunnitisch-hanafitischen Lehre, wo zwischen der religiösen Geltung der Norm (diyanatan) und
deren rechtlicher Wirkung (qada’an) unterschieden wird.8
Parallel hierzu unterscheidet sich die notwendig objektivierte und formalisierte Rechtsdurchsetzung im Diesseits von der jenseitsbezogenen
Prüfung innerer Überzeugungen und Haltungen. Hiermit haben sich
schon die großen Schulgründer befasst.9 So ist etwa die Frage, ob eine Person Muslim ist und deshalb spezifisch für Muslime geltenden Rechtsnormen unterliegt, aus Sicht des Rechts nach äußeren Faktoren zu bestimmen,
auch wenn diese Person innerlich tatsächlich dem Islam abgeschworen
hat.10 Der Meineidige, selbst in einer geringen Sache, wird nach einer Prophetenüberlieferung vom Paradies ausgeschlossen und im Höllenfeuer landen; die – diesseitige – Konsequenz des Meineids kann dann aber sehr
wohl die «Beschneidung des Rechts eines Muslims» sein.11 Vergleichbar
«Scharia» und Recht
11
soll der (weltliche) Richter nur zuständig für Angelegenheiten sein, für die
Verbots- oder Gebotsnormen existieren, hingegen nicht für solche (religiösen) Dinge, die mit den jenseitsorientierten Kategorien des Empfohlenen oder des Missbilligten versehen sind.12 Dies wirft ein Licht auf die
strukturell unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten. Das Verhältnis
zwischen Mensch und Gott betrifft zentral das Forum internum; in vielen
Fällen zählt nicht (nur) der äußere, sichtbare Akt, sondern die dahinterstehende Intention (njya). Die rechtliche Beurteilung menschlicher Interaktion ist hingegen maßgeblich auf das Forum externum angewiesen: In
die Herzen kann man nicht schauen. Damit ist für die Entscheidung rechtlicher Fragen ein eher formaler Weg vorgezeichnet; die getroffene Entscheidung kann keine vollständige materielle «Richtigkeitsgewähr» für sich
beanspruchen.
Der zeitgenössische muslimische Jurist Abdullahi al-Na}im, der in den
USA lehrt, lehnt die Durchsetzung der Scharia-Regeln durch Gesetzgebung schlechthin ab mit der Begründung: «Als muslimischer Jurist, speziell
als einer aus dem Sudan,13 kann ich nicht gut die tragischen Kosten der
nutzlosen Versuche ignorieren, die Scharia durch Gesetzgebung in irgendeiner islamischen Gesellschaft durchzusetzen.»14 Präzisierend führt er aus:
«Unter Scharia verstehe ich das religiöse Normensystem des Islam. Ich bevorzuge die Benutzung dieses Begriffs gegenüber dem des Islamischen
Rechts eben deshalb, weil (…) die Scharia nicht gesetzlich verordnet werden und zugleich ein religiös sanktioniertes Normensystem bleiben kann»15
sowie «Staatliche Durchsetzung ist die Negation der Gründe religiöser Bindungswirkung der Scharia»16. Mit dem Rückzug auf die «eigentlichen» religiösen Fragen wird der Herrschaftsanspruch über das Recht aufgegeben.17
In einem späteren Werk18 entwickelt al-Na}im sodann einen ausführlicheren Ansatz, weswegen Islam und Staat getrennt und letzterer neutral sein
müsse. Der Vortrag dieser Aussagen bei einer von den Universitäten Jos
(Nigeria) und Bayreuth im Jahre 2004 in Jos abgehaltenen Konferenz hat
allerdings zum Eklat unter den muslimischen Beteiligten geführt; rund 250
zum Teil hochrangige Vertreter verließen die Veranstaltung unter Protest.19
In seinem jüngsten Werk «Islam and the Secular State» führt al-Na}im20
diese Ideen weiter aus. In vorkolonialer Zeit habe nicht der vergleichsweise
schwache Staat, sondern die Gelehrten Scharia-Normen umgesetzt. Angesichts heutiger starker, intern pluraler und international eingebundener
Staaten sei eine Rückkehr zu dieser Praxis nicht möglich. Andererseits
würde der Reichtum der Scharia, ihr Pluralismus, aufgegeben, wenn der
Staat eine bestimmte Richtung/Auslegung verbindlich festsetze. Wann im-
12
Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
mer der Staat zur Durchsetzung der Scharia benutzt worden sei, habe dies
zu höchst selektiven Normen geführt, losgelöst von ihren legitimen methodologischen Quellen. So sei die Scharia ein Symbol für Gruppenidentität
und ein Spielfeld für Angriffe auf die politische Autorität geworden. Solche
Vereinnahmung der Scharia durch den Staat führe neben ihrer Manipulierbarkeit dazu, dass die Verfechter ihrer zwangsweisen Durchsetzung durch
staatliche Institutionen vor allem nach der Übernahme des Staates selbst
strebten. Damit werde die Scharia zum Symbol einer despotischen, autoritären Herrschaft, während ihre kreatives und befreiendes Potential verkümmere.
Auch traditioneller argumentierende Gelehrte unterscheiden zwischen
Scharia als dem von Gott und dem Propheten bereiteten Weg einerseits
und dem fiqh als menschliches Konstrukt. Insoweit wird zumindest die unmittelbare göttliche Herkunft der gefundenen rechtlichen Normen bzw.
ihrer Auslegung bestritten.21 Ibn Faldun22 (732–808/1332–1406) definiert
den fiqh wie folgt: «Der fiqh ist die Kenntis der Bestimmungen (ahkam) Gottes des Erhabenen zur Einordnung der Handlungen derjenigen, die diesen
Bestimmungen jeweils unterworfen sind (al-mukallafjn), als geboten, verboten, empfohlen, missbilligt und schlicht erlaubt, die aus dem Koran,
der Sunna und dem, was der Gesetzgeber (Gott) als weitere Quellen und
Instrumente (adilla) zu ihrer Erkenntnis bereitgestellt hat, entnommen werden, und wenn die Bestimmungen durch diese Quellen und Auslegungsinstrumente herausgefunden werden, so nennt man sie fiqh.» Im folgenden
Text stellt Ibn Faldun fest, dass im Hinblick auf diese Erkenntnisvorgänge
seit der Frühzeit des Islam Uneinigkeit herrschte. Diese Uneinigkeit bezeichnet er als geradezu unvermeidlich, sowohl aus Gründen sprachlicher
Mehrdeutigkeit als auch wegen unterschiedlicher Überlieferungen und
Methoden der Verifizierung von Normen. Die strukturelle Unsicherheit
bringt notwendig menschliche – regelgeleitete – Erkenntnisprozesse in den
Mittelpunkt der Materie.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was das spezifisch Rechtliche am Islam ist. Bei der Beantwortung der Frage hat man es zunächst mit
der im Abendland entwickelten Trennung zwischen Recht und Staat
einerseits und Religion andererseits zu tun.23 Ob es im Islam eine solche
Trennung gibt, ist nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von politischem Interesse und deshalb heftig umstritten.24 Dazu, ob der Islam
wirklich wesensnotwendig in gleicher Weise «Religion und Staat» (djn wa
daula) ist, soll später ausführlicher Stellung genommen werden (Kap. IV.8).
Jedenfalls wird auch in der islamischen Fachliteratur seit der Frühzeit zwi-
«Scharia» und Recht
13
schen Vorschriften, die das Verhältnis zwischen Mensch und Gott betreffen, und solchen, welche die Verhältnisse der Menschen untereinander regeln, unterschieden. Die einschlägigen Werke sind meist in zwei große
Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil werden im Wesentlichen Fragen des
religiösen Ritus behandelt, insbesondere die «Fünf Säulen» des Islam, das
Bekenntnis zum alleinigen Gott und seinem Propheten Muhammad
(šahada), die fünf täglichen rituellen Gebete (valat), das Almosengeben (zakat), das Fasten im Monat Ramadan (vaum) und die Pilgerfahrt nach Mekka
im Monat Du l-higga (hagg). Diese werden als }ibadat bezeichnet, ein vielschichtiger Begriff, in dem der «Gottesdienst» mitschwingt. Im zweiten
Teil geht es dann um Rechtsfragen wie Eheschließung und -auflösung,
einzelne Straftatbestände, Vertrags-, Gesellschafts-, Delikts-, Erb- und
Verfahrensrecht. Diese Materie wird mu}amalat genannt, Gegenstände
des (zwischenmenschlichen) «Umgangs».25 Ein moderner muslimischer
Autor26 greift hierfür auf die Trennung zwischen dem Diesseits als dem
Bereich, in dem der Mensch entscheiden kann (dar al-intiyar), und dem
Jenseits, in dem ihm das ihm Bestimmte zukommt (dar al-qarar), zurück.
Schon deshalb erscheint es gerechtfertigt, hier nur den Bereich der
mu}amalat aufzuarbeiten und die }ibadat nur dort einzubeziehen, wo in der
rechtlichen Argumentation Verbindungen hergestellt werden.
Parellel hierzu ist eine – erst allmählich entwickelte und nicht völlig
strikte27 – Unterscheidung auf personeller Ebene zwischen Religionsgelehrten/Theologen (}ulama{/ahl al-kalam) und Rechtsgelehrten (fuqaha{,
Sing. faqjh, im Zusammenhang mit dem Abstraktum fiqh, «Rechtswissenschaft»28) zu beobachten. Obgleich sowohl religiöse als auch rechtliche Fragen im Islam mit einem Rückbezug auf Gottes Offenbarung und die Sendung Muhammads angegangen werden, zeigen sich auch im theoretischen
Schrifttum deutliche Abgrenzungen. Einer der prominentesten sunnitischen «Theologen», Abu l-Hasan al-Aš}arj (wohl 260–324/873 od. 874–935
od. 936), unterscheidet sehr deutlich zwischen Aufgabenbereich und Arbeitsweise der Theologie einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits
(al-Aš}arj benennt hierfür Ehescheidung und koranische Strafvorschriften
als Beispiele): Letztere befasse sich mit der Beurteilung konkreter Einzelfragen (hawadix al-furu}), welche mit Hilfe der überlieferten Regeln der Scharia
zu lösen seien, während die universellen Grundsatzfragen (uvul) von jedem
verstandesbegabten Muslim mittels allgemein anerkannter Prinzipien anzugehen seien, die sich auf Vernunftüberlegungen, Empfindungen, Intuition
etc. stützen. Beide Sphären dürften nicht vermischt werden.29 Umgekehrt
hat nach dem wohl bedeutendsten islamischen Rechtstheoretiker al-Šafi}j30
14
Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
wie auch nach Auffassung des bedeutenden hanafitischen Juristen al-Sarafsj31 die Meinung der Vertreter der Theologie, des kalam, keine Bedeutung für die Feststellung eines Konsenses der (Rechts-)Gelehrten.
Beispielhaft für die unterschiedlichen Erörterungen sei das im Koran
(Sure 62, 9) festgelegte Verbot genannt, am Freitag zur Gebetszeit Kaufverträge abzuschließen. «Juristisch» interessierte Autoren befassen sich hierbei
mit der Frage, ob Verstöße gegen dieses Verbot zur Unwirksamkeit des geschlossenen Vetrags führen (vgl. hierzu noch unten IV.4.a). Eher «theologisch» ausgerichtete Autoren widmen sich Auslegungsfragen, welche Sachverhalte genau von dem Verbot erfasst werden, ohne aber die diesseitigen
Implikationen für solche Verträge anzusprechen.32 Nach solchem Verständnis betrifft der größte Teil der Scharia und insbesondere der Koran als
oberste Normenquelle das Recht nur in vergleichsweise geringem Umfang: Von den tausenden Koranversen haben nur wenige Dutzend rechtlichen Gehalt.33 Die Grenzen sind allerdings gelegentlich fließend (hierzu
noch unten IV.4.e).
Zudem sind innerhalb der islamischen Welt Tendenzen zu eindeutiger
Trennung erkennbar. Eine besondere Spielart ist die insgesamt sehr strikte
Trennung zwischen staatlicher Rechtsordnung und Religion in der Türkei.34 Auch in Staaten, in denen die Säkularisierung nicht diskutiert wird
und in denen ein verfassungsmäßiger Scharia-Vorbehalt für die Rechtsfindung verankert ist, finden sich Reihen von Entscheidungen oberster Gerichte, die mit den traditionellen Scharia-Regeln schwerlich in Übereinstimmung zu bringen sind.
Insgesamt lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht eine überraschend
weitgehende Trennung feststellen. Die hier erfolgte Beschränkung auf das
«Recht» als Gesamtheit von Regelungen des gesellschaftlichen Lebens, die
mit Hilfe formalisierter Ordnungs- und Sanktionsmechanismen durchgesetzt werden, gewinnt von daher auch Berechtigung aus der Entwicklung
des Islam selbst. Freilich bleiben die Übergänge zum Transzendenten
durchlässig: Auch das Recht wird in klassischer Zeit generell, in der Gegenwart noch verbreitet als Bestandteil des Islam schlechthin angesehen. So war
und ist es noch weithin ausgeschlossen, dass Muslime unter die Gerichtsbarkeit nicht-muslimischer Richter fallen. Selbst das Amt des Gerichtsschreibers soll nach der Aussage des bedeutenden hanafitischen Juristen al-Sarafsj35, gestützt auf eine Überlieferung vom zweiten Kalifen }Umar, nur
Muslimen vorbehalten sein. Zudem werden Rechtsvorschriften zum Beispiel über Eheschließung oder die Errichtung von Stiftungen von vielen bis
heute auch in einer religiösen Dimension gesehen.36
«Scharia» und Recht
15
Die kultischen Reinheitsvorschriften haben beispielsweise zur Folge, dass
noch heute in Saudi-Arabien trotz Wassermangels kaum Abwasser geklärt
und wiederverwendet wird. Ursache hierfür ist der Einspruch der }ulama{
gegen die Zumischung geklärten Wassers zu frischem Trinkwasser.37 Der
staatlichen Gestaltungsfreiheit sind also engere Grenzen gesetzt als in einer
säkularisierten Gesellschaft.
Das enge Verständnis von «Scharia» erfasst ohnehin nur deren rechtliche
Anteile. Oft werden darunter sogar nur die spezifisch ausgeprägten traditionellen Rechtsvorschriften aus den Bereichen des Familien- und Erbrechts,
des koranischen Strafrechts und zum Teil des Stiftungsrechts gefasst. Insbesondere unter türkischen Muslimen ist dieses Verständnis verbreitet; die
Rechtsreformen unter Atatürk richteten sich wesentlich gegen diese Vorschriften. Damit werden gerade die unter heutigen menschenrechtlichen
Aspekten problematischen Rechtsbereiche erfasst (Aspekte der Geschlechterdiskriminierung, der Benachteiligung von Nicht-Muslimen und der Verhängung harter Körperstrafen).38
Für Nicht-Muslime, aber auch für nicht wenige Muslime ist die Scharia
nicht erst seit dem 11. September 2001 undifferenziert zum Schreckensbegriff geworden. Die Ängste finden durchaus reale Anknüpfungspunkte. Das
zeigen nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen zum Beispiel in
Saudi-Arabien oder im Iran, sondern auch ein im Juli 2004 im Daily Express erschienener Artikel über die Website einer Organisation namens
«Supporters of Sharia» mit Verbindungen zu einem extremistischen Prediger in London.39 Dort wurden Bilder von Kindern gezeigt, welche die
Tötung eines Gefangenen durch Schwerthiebe nachspielen. Die Assoziation zu realen Ereignissen im Irak drängt sich auf. Vereinzelt kommt es
allerdings auch zu Fälschungen: So hat Sergej Moleveld, Vorsitzender der
niederländischen Liste Pim Fortuyn, laut Presseberichten gestanden, einen
vermeintlichen Drohbrief einer radikalen islamischen Gruppe gefälscht und
an sich selbst und einen anderen Abgeordneten geschickt zu haben.40 Genaues Hinsehen tut offenbar auch hier not.
Das breite Spektrum von Gebetsvorschriften – allenfalls im Arbeitsrecht
nicht islamisch geprägter Rechtsordnungen können sich hier Probleme ergeben41 – bis hin zu völlig unakzeptablen Körperstrafen wird oft nicht so
wahrgenommen. Für nicht wenige Muslime ist die weit verstandene Scharia hingegen ein grundsätzlich positiv bewertetes religiöses Erbe. Sehr viele
Muslime lehnen aber die eng verstandene Rechts-Scharia ab, insbesondere
in ihren menschenrechtlich anstößigen Ausprägungen. Bei den Aleviten,
einer in der Türkei nach Millionen und in Deutschland und Europa zumin-
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Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
dest nach Hunderttausenden zählenden Bevölkerungsgruppe, gilt die Scharia einschließlich wesentlicher religiöser Anteile ohnehin als aufgehoben.42
Wie kommt es zu derart divergierenden Haltungen?
Die Scharia ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern ein höchst komplexes
System von Normen und Regeln dafür, wie Normen aufgefunden und interpretiert werden können. Die einschlägige, über fast 1400 Jahre hinweg
formulierte Literatur ist so vielgestaltig wie die Geschichte und Kultur des
Islam selbst. Islamisches Recht sunnitischer und schiitischer Richtung, aber
auch der Umgang mit religiösen Normen beruht auf sekundärer Findung
durch Auslegung und Schlussfolgerung, also auf menschlicher Denkkunst.43
Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich Gelehrte seit der Frühzeit
nicht damit begnügen, Normen ihrem mehr oder weniger klaren Wortlaut
nach anzuwenden, sondern die Frage nach Sinn und Zweck dieser Normen
(arab. }illa) stellen.
Abu Ishaq al-Šatibj als prominentester und vielzitierter Vertreter dieser
Richtung stellt im 14. Jahrhundert explizit die Frage nach den Zwecken
(maqavid) der Scharia.44 Er findet solche Zwecke im Schutz von fünf allgemeinen, unter allen Völkern anerkannten Gütern («Notwendigkeiten»,
darurjyat): Religion, Leben, Nachwuchs, Eigentum und Verstand. Diese
Zwecke seien absolut und könnten nicht abrogiert, sondern nur in Einzelaspekten eben um der Wahrung des Zweckes willen verändert umgesetzt
werden.45 Die schariagemäßen Handlungen seien kein Selbstzweck: Wenn
die äußerlichen Umstände für eine Handlung gegeben seien, aber nicht
dem (bezweckten) Nutzen entsprächen, so sei ihre Ausführung verfehlt
und normwidrig, weil sie nur um eines bestimmten Zweckes willen vorgeschrieben seien.46 Wer behaupte, dass diese Zwecke nicht erfasst werden
könnten – was er der religionsphilosophischen Richtung der sogenannten
batinjya 47 vorwirft –, zerstöre damit die Scharia.48 Die Normen (arab. adilla,
«Zeichen») der Scharia könnten nicht dem Verstand widersprechen, weil ja
die verstandesmäßige Erfassung Voraussetzung für ihre Verbindlichkeit (im
Sinne konkreter Anwendbarkeit, arab. takljf ) sei.49 Nur rituelle Verpflichtungen (arab. }ibadat ) stünden über menschlich-verstandesmäßiger Durchdringung, während ihr alle anderen Normen zugänglich seien.50
Damit ist die von vielen Gelehrten formulierte Aussage, Gott allein
könne «Gesetzgeber» sein,51 letztlich ohne inhaltliche Aussagekraft. Schon
seit den Anfangszeiten des Islam waren es Menschen, welche die Auslegung
der nach ihrem Verständnis gottgegebenen Normen vorgenommen und die
Ausführungsbestimmungen entwickelt haben. Auch im Islam ist keine einzige Vorschrift ohne solche Auslegung anwendbar – zumindest im Hinblick
«Scharia» und Recht
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auf ihren zeitlichen, räumlichen und personalen Geltungsbereich. Auslegungen aber können sich wandeln wie die Menschen und ihre Lebensverhältnisse. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Meinungspluralismus unter Muslimen selbst.
Die große Mehrheit neuzeitlicher muslimischer Autoren unterscheidet
zwischen ewiggültigen Grundlagen der Scharia und Einzelregelungen, die
zeit- und ortsbezogen sind und deshalb auch dem Wandel der Zeiten und
Lebensverhältnisse unterliegen.52 Ansätze hierfür finden sich bereits in der
klassischen Literatur seit über tausend Jahren. Häufig werden nur solche Gebote, die auch nach westlichem Verständnis der Religion zuzurechnen sind,
als ewiggültig betrachtet (z. B. Gebets- und Speisevorschriften), während
Rechtsvorschriften zu einem erheblichen Teil oder gar insgesamt als zeitgebunden eingestuft werden.53 Die Scharia ist aber auch in ihren konfliktträchtigen rechtlichen Anteilen vielgestaltig und dynamisch handhabbar.
Der rechtstechnische Schlüssel hierzu ist das eigenständige Raisonnement
(Idschtihad; dazu unten II.1) bei der Quellenauslegung. Auf rechtstheoretischer Ebene wird Dynamik vor allem dann ermöglicht, wenn Normen nach
ihrem Sinn und Zweck interpretiert werden können und der allgemeine
Nutzen (mavlaha) eigenständiges Gewicht bei der Interpretation erhält.54
Auch «liberale» Haltungen – entgegen dem unter den Rechtsgelehrten
noch weithin herrschenden traditionalistischen Mainstream – lassen sich
also mit Hilfe des Instrumentariums der Scharia untermauern. Deshalb
kommt es maßgeblich auf die Interpreten selbst und ihre Herangehensweise
an die Intepretation an. Die Bandbreite an Interpretationen ist zwar nicht
beliebig, aber doch außerordentlich groß. So beschreibt der jordanische
Prinz al-Hasan ibn Talal die Scharia schlicht als einen Prozess, der nie zum
Ende komme.55
Hier nicht weiter behandelt werden Haltungen der Aleviten, die ihr Zentrum in der heutigen Türkei haben, aber auch in vielen Staaten der EU
leben. Sie haben eine eigenständige Theologie entwickelt, welche die Gebote der Scharia als für sie aufgehoben betrachtet. Gebote der Scharia sind
für sie nur äußerliche Zeichen des Glaubens, welche nicht mehr benötigt
werden, wenn der Mensch den Glauben (durch Zugehörigkeit zur alevitischen Gemeinschaft) verinnerlicht hat.56
Angesichts langwährender Unterdrückung durch die sunnitische Mehrheitsrichtung ist eine öffentlich wahrnehmbare Diskussion über die Grundlagen des Alevitentums erst in jüngster Zeit entstanden. Mit religiös orientierten Rechtsfragen, die den Gegenstand dieses Buches bilden, befasst sich
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Einführung: Islam, «Scharia» und Recht
die alevitische Tradition indes bis in unsere Tage nicht. Ausnahme sind
innergemeinschaftliche Sanktionen, die aber allenfalls zum Ausschluss aus
der Gemeinde führen können57 und damit keine Besonderheit gegenüber
anderen religiösen Binnenvorschriften aufweisen. Dasselbe gilt für die im
Iran des 19. Jahrhunderts entstandene synkretistische Religion der Baha{j.
Die Ahmadjya schließlich, die sich Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Pakistan entwickelt hat, folgt weitgehend dem islamischen
Recht, hat allerdings eine ablehnende Haltung zu den traditionellen Lehren
der Apostasie (vgl. unten IV.7.b)gg) oder des Dschihad (vgl. unten IV.9.c)
entwickelt und wird in diesem Zusammenhang behandelt.
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