MUSKULÄRE DYSBALANCEN BALANCE AKT Beim Radfahren werden nicht alle Muskeln gleich beansprucht – das kann zu muskulären Dysbalancen führen. TOUR gibt Tipps, wie Sie diese beseitigen oder gar nicht erst entstehen lassen TEXT: EVA STAMMBERGER FOTO: UWE GEISSLER R adsportler sind stolz. Stolz auf ihre rasierten, gebräunten und gestählten Beine, stolz auf ihre drahtige Gesamterscheinung, die manchmal fast asketisch wirkt, ja sogar stolz auf den charakteristischen Streifenlook – gebräunte Extremitäten, bleicher Torso. Warum? Weil sie dadurch sofort als Radfahrer identifizierbar sind. Leider lassen sich Radler auch aus einem ganz anderen Blickwinkel sofort identifizieren – vom geschulten Auge einer Physiotherapeutin: „Nach vorne eingesunkene Schultern, gebeugter Rücken, schwach ausgeprägter Oberkörper im Vergleich zu gut trainierten Beinen. Rennradler erkennt man auf den ersten Blick“, sagt Petra Kilian, Sportlehrerin am Münchner Therapiezentrum Krajak. Denn so gesund Radfahren für das Herzkreislaufsystem sein mag – durch einseitige Belastungen auf dem Rennrad kann es zu deutlichen Unausgewogenheiten in der Muskulatur, den so genannten muskulären Dysbalancen, kommen. S o l c h e D y s b a l a n c e n kö n n e n zwischen der rechten und der linken Körperseite entstehen, zwischen Oberund Unterkörper oder zwischen den Muskeln, die ein Gelenk umspannen. Muskulären Dysbalancen vorbeugen – die besten Tipps 1. Ein bis zweimal pro Woche zum Ausgleich schwimmen gehen 2. Regelmäßige Dehn- und Kräftigungsübungen schulen gezielt die beim Radtraining vernachlässigten Muskelgruppen 3. Die Sitzposition auf dem Rennrad nicht zu extrem wählen, um eine dauerhafte Überdehnung der Rückenmuskulatur zu vermeiden 4. Während des Radtrainings öfter Sitz- und Griffposition variieren, das entlastet die Rücken- und Schultergürtelmuskulatur 98 TOUR 11/ 2005 Letztere sind bei Radsportlern besonders häufig und bereiten oft Probleme. Um eine Bewegung auszuführen, müssen gegensätzlich wirkende Muskeln zusammenspielen. Der Agonist (Spieler) führt eine Bewegung aus, der Antagonist (Gegenspieler) leitet die Gegenbewegung ein. Damit das Muskelpaar flüssig zusammenarbeiten kann, sollte es ausgewogen ausgebildet sein. Je d e r M e n s c h n e i g t a l l e r d i n g s dazu, ein Ungleichgewicht zwischen den gelenkumspannenden Muskeln zu entwickeln. Das liegt daran, dass in unserem Bewegungsapparat zwei unterschiedliche quergestreifte Muskelarten vorkommen – tonische und phasische. Tonische Muskeln neigen zum Verkürzen; beim Radfahren sind besonders die Tiefe Rückenmuskulatur, Hüftbeuger, Zwillingswadenmuskel und der Große Brustmuskel betroffen. Die phasischen Muskeln neigen dazu, Masse abzubauen, wenn sie nicht trainiert werden. Bei Radlern sind die Geraden und Schrägen Bauchmuskeln, der Große Gesäßmuskel und der Schienbeinmuskel besonders betroffen. Muskuläre Dysbalancen entstehen im Radsport vor allem durch die einseitige Haltung auf dem Rennrad. Je sportlicher die Sitzposition – je größer die Sattel-Lenker-Überhöhung und je länger das Oberrohr –, desto mehr werden die Rückenmuskeln überlastet, die Bauchmuskeln geschwächt. Auch in den Beinen kommt es leicht zu muskulären Dysbalancen. Der Zwillingswadenmuskel ist meist gut ausgeprägt, neigt aber dazu, zu verkürzen. Sein Gegenspieler, der Vordere Schienbeinmuskel, wird bei der Tretbewegung vernachlässigt und ist oft zu schwach ausgebildet. Ähnlich verhält es sich mit der vorderen und der hinteren Oberschenkelmuskulatur. Der Hüftbeuger ist bei den meisten Radsportlern deutlich verkürzt, das Becken kippt nach vorne, ein runder Tritt wird praktisch unmöglich. Der Hüftstrecker Geschwächt oder verkürzt: Die gekennzeichneten Muskeln sind bei Radsportlern besonders anfällig für muskuläre Dysbalancen geschwächt verkürzt hingegen ist häufig zu schwach ausgebildet, um diese Fehlstellung zu korrigieren; die Muskeln gewöhnen sich an diese Position. Es können Schmerzen entstehen, die Bewegungen werden weniger effektiv, das Ungleichgewicht vergrößert sich, das Verletzungsrisiko steigt deutlich. Muskuläre Dysbalancen können in speziell ausgestatteten Therapiezentren oder Orthopädie-Praxen durch so genannte Muskelfunktionstests erkannt werden. Sie zeigen, welche Muskeln verkürzt, welche zu schwach sind. „Haben wir die Defizite im Kraftbereich und bei der Beweg- Kapuzenmuskel Tiefe Rückenmuskulatur Großer Brustmuskel Großer Gesäßmuskel (Hüftstrecker) Bizeps Hüftbeuger Trizeps Gerader Oberschenkelmuskel Zweiköpfiger Oberschenkelmuskel Zwillingswadenmuskel Gerade und schräge Bauchmuskulatur Vorderer Schienbeinmuskel lichkeit festgestellt, können wir mit die zu Hause oder im Studio gezielten Übungen an einem Ausgleich ausgeführt werden können. Die Zeit nach der Saison und vor der Dysbalancen arbeiten“, beschreibt Petra Kilian das weitere Vorgehen. der eigentlichen Vorbereitung hält die „Die verkürzte Muskulatur muss vor- Sporttherapeutin für ideal, um an den sichtig auf gedehnt, die geschwächte radsportspezifischen Defiziten zu arMuskulatur gezielt gekräftigt werden. beiten: „Die nächsten Monate sollte Die Übungen sind vor allem am An- man zwei- bis dreimal pro Woche ausfang anstrengend, aber es werden nicht gleichend trainieren; so stellt sich die nur die muskulären Defizite beseitigt. Muskulatur um, man kann ein MuskelAuch die Leistung auf dem Rad steigt korsett aufbauen, das den erhöhten wieder deutlich, der Tritt wird runder Umfängen im Frühjahrstrainingslager und flüssiger, die Rumpfmuskulatur gewachsen ist. Danach wäre es gut, sich ermüdet nicht so schnell.“ Am besten ein- bis zweimal pro Woche Zeit für eignen sich dafür isometrische Halte- die Übungen zu nehmen, um das Kraftübungen (online Fitness-Lexikon) und Beweglichkeitsniveau zu halten.“ Damit muskuläre Dysbalancen gar nicht entstehen, sollten Radler neben regelmäßigen Dehn- und Kräftigungsübungen auch während der Saison Ausgleichssport betreiben, der die beim Radfahren vernachlässigten Muskeln beansprucht. Schwimmen eignet sich hierfür hervorragend. „Auch wenn es zu Beginn Überwindung kostet und viele Radler lieber ein Radtraining mehr absolvieren als zum Ausgleich ins Schwimmbad zu gehen – die Überwindung zahlt sich aus,“ verspricht Petra Kilian. Und auf einen wohlgeformten Oberkörper kann man ja auch stolz sein – sogar als Radsportler. Q TOUR 11/ 2005 99