Ästhetik der Medialität

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Leseprobe aus:
Reiner Matzker
Ästhetik der Medialität
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Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Vorwort
In den Religionswissenschaften wird gelegentlich zwischen profaner und
sakraler, also weltlich-alltäglicher und heiliger Sphäre unterschieden.
Diese Unterscheidung ist übertragbar auf das Verhältnis des Publikums
zur Kunstsphäre, also zu jenem spezifischen Wirkungsfeld, das ähnlich
wie die sakrale Sphäre zwar mit dem Alltagsleben in Verbindung steht,
aber dennoch eigentümlich von ihm geschieden ist. Denn wenn Schauspielende oder Tanzende die Bühne betreten oder im Film agieren und
dort ihren Beitrag leisten, sind sie gewöhnlich aus ihren alltäglichen Zusammenhängen herausgetreten. Sie haben eine mediale Funktion übernommen, agieren im Rahmen einer Inszenierung, einer Aufführung, einer Gestaltung. Sie agieren im Bereich der Medialität.
Die Vermittlung von künstlerischen Welten vollzieht sich wie die
allgemeine Kommunikation zwischen Sendenden und Empfangenden.
Entsprechend wird das Mediale etymologisch als das in der Mitte Befindliche definiert, als das dem Wortsinn nach Mitgeteilte oder die Mitteilung. Mediales, auch wenn es die Begrifflichkeiten nahelegen, ist in
diesem Sinn nicht allein das durch Medien, also Zeitungen, Zeitschriften
oder Apparate Vermittelte. Es ist das ebenso in gewöhnlicher alltäglicher
Kommunikation, im Gespräch zwischen Menschen Mitgeteilte wie das
in künstlerischer Absicht, aus besonderen Impulsen der kommunikativen Bereicherung Vermittelte. Die Grenzen zwischen dem Künstlerischen und Gewöhnlichen, und das ist ein Untersuchungsgegenstand
ästhetischer Theorien, sind fließend. Ästhetische Theorien sind im weiteren Verständnis Wahrnehmungstheorien und im engeren Ansätze zur
sinnfälligen Kunstauffassung wie zu den Hervorbringungen der Künste
an sich. Die Vermittlung zwischen einer in der Antike gebildeten, seit
der Renaissance veränderten und spätestens im 18. Jahrhundert neubelebten Ästhetik und den ja immer auch als Teile der Wirklichkeit zu verstehenden künstlerischen Welten ist in ihrem historischen Prozess zu
verdeutlichen.
Das Mediale als das im Allgemeinen durch Bilder, Texte und Töne,
aber selbstverständlich auch durch Geräusche, Gefühle und Gerüche
Vermittelte ist in den ästhetischen Wahrnehmungs- und ErkenntnisVorwort
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theorien der eigentliche Gegenstand. Eine Ästhetik der Medialität oder
mediale Ästhetik ist orientiert an einer Unterscheidung zwischen «Medien» als den Instrumenten, Apparaten, Datenträgern oder sonstigen
Informationsmaterialien und dem, was diese Medien und eben nicht
nur diese Medien medial vermitteln. Dabei ist die Unterscheidung der
Bestimmungen, «womit» (Körper, Instrumente, Apparate), «wodurch»
(Bilder, Texte, Laute, Gestik) und «worüber» (Inhalte) ästhetische Kommunikation sich vollzieht, zwar erheblich; jedoch ist die Wechselwirkung dieser Bestimmungen im historischen Verlauf nicht zu übersehen.
Die das Mediale vermittelnden Instanzen sind nicht ohne Bedeutung
für die mediale Ästhetik. Aber durch sie ist längst nicht hinreichend die
ästhetische Dimension des Medialen erfasst. Die ästhetische Dimension
des Medialen liegt im Medialen selbst, in der Art, wie in der Bildenden
Kunst, in der Literatur, der Musik oder Darstellenden Kunst, im Film
oder in den Massenmedien Dinge oder Gefühle wahrnehmbar werden.
Das Mediale ist der im jeweiligen Medium und durch die jeweilige Darstellungsform vermittelte Inhalt: der Inhalt der Novelle, des gesungenen
und gespielten Liedes, der Theaterdarbietung etc. Medial ist das, was wir
«diesseits» der Darbietungen, der Bücher, Leinwände, Instrumente oder
Apparate wahrnehmen, was die Photographie zeigt, der Film schildert,
das Computerspiel ermöglicht, das, was im Bewusstsein «ankommt».
Diese Geschichte zur Vermittlung von künstlerischen Welten und
ästhetischen Theorien sammelt Eindrücke und Überlegungen, die sich
mit Fragen ästhetischer Erkenntnis, ästhetischer Kompetenz und ästhetischer Kritik befassen. Der historische Prozess einer Ideologisierung des
Medialen wird speziell für die vergangenen drei Jahrhunderte nachvollzogen und analog die Veränderung, die Transformation der politischen
und gesellschaftlichen Verhältnisse und des Medialitätsverständnisses
beschrieben.
Ich danke denjenigen, die mit ihrem Rat oder wichtigen Hinweisen zur
Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben, im Besonderen Ronja Wiechern, Ulrich Enderwitz und Burghard König.
Einleitung
Mittel des Medialen
In religiöser Kulthandlung werden Gesang, Sprechen, Tanz, Geste oder
Darstellung mitunter als «Kraftträger» verstanden. Sie übernehmen
die Funktion des Tragens oder Übertragens von «Kräften». Durch sie
werden «Kräfte» verstärkt oder freigesetzt. Sie dienen der Bekräftigung
von Erfahrungen. Doch nicht nur im Religiösen. Genauer betrachtet
übernehmen sie im Alltäglichen eine vergleichbare Aufgabe. Sie verstärken Mitteilungen. Der Tanz kann religiös als Gebet verstanden
werden, ekstatisch auch als Versuch der unmittelbaren Verbindung mit
der Gottheit oder dem kosmischen Geschehen. Er kann als Kriegstanz,
Liebestanz und Fruchtbarkeitstanz magischen Ansprüchen dienen. Als
Totentanz die andere Seite des Lebens berühren. Oder einfach nur dem
Vergnügen und der Unterhaltung dienen. Vergleichbar übernehmen Gesang, Geste oder theatralische Darstellung ebenso sakrale wie profane
Funktionen, in schamanischen oder anderen Ekstasen, in kriegerischer
oder beschwörender Absicht, im Requiem, der Totenmesse – und auch
im Lustspiel oder Liebeslied.
Das Sprechen ist Teil der Beziehung des Menschen zum Sakralen, als
Gebet, als Predigt, als Beichte. Die Sprüche Salomons vermitteln Weisheit. Die mythische Erzählung (Mythos: griech. «Rede») berichtet von
den Anfängen und der Sphäre des Heiligen oder der Götter. – Und das
Sprechen ist wesentlicher Teil des alltäglichen Miteinanders. Als «Kraftträger»? Wissenschaftler sprechen von den grundlegenden Kräften der
Sprache, nicht nur der natürlichen, gesprochenen, sondern auch der
künstlichen oder idiomorphen Sprache. Gesang, Tanz, Geste oder Darstellung sind ähnlich wie das Sprechen sprachliche Äußerungen. Sie
übermitteln «Kräfte». Der Mensch als symbolisches Wesen (Cassirer)
kommuniziert durch Zeichen. Sie bestimmen die Verständigung Einzelner, die Verständigung in Gruppen oder Gesellschaften und letztlich
die weltweite Verständigung.
In der Sprachwissenschaft wird das Zeichen definiert als sprachliche
Äußerung oder Teil einer sprachlichen Äußerung, die Sinn ergibt. Jedes
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sprachliche Zeichen habe ein Signifikat, das ist seine Bedeutung oder
sein Wert (André Martinet). Und es habe einen Signifikanten, das, was
seine Bedeutung bezeichnet. Das Zeichen ist ein so genanntes arbiträres
Gebilde, das sich aus dem Bezeichneten und Bezeichnenden zusammensetzt. Es ist in gewisser Weise als Zeichen in sich gebrochen, eine «doppelseitige Einheit» (Martinet): Es verweist auf etwas, das es selbst nicht
ist, aber medialisiert. Auch der Phänomenologe Edmund Husserl ist der
Ansicht, dass jedes Zeichen ein Zeichen für etwas sei; aber dass jedes Zeichen einen «Sinn», eine «Bedeutung» habe, bestreitet er. Dennoch ist die
Medialisierung die eigentliche Leistung des Zeichens: Es ist immer ein
Zeichen für etwas. Indem das Zeichen auf etwas verweist, das es nicht ist,
setzt es sich mit dem Bezeichneten in eine Beziehung. Die in kultischen
Tänzen den Boden bestampfenden tanzenden Füße leisten einen symbolischen Akt. Die Tänze verbinden sich als magisches Handeln mit dem
tatsächlichen Erwirken von Fruchtbarkeit. Der gesprochene Laut «ich»
steht für die eigene Person, die im Lied miteinander verbundenen Töne
für «Stimmungen». Im gesprochenen oder gesungenen Wort, in der getanzten Bewegung wird jeweils das Bezeichnete oder Gemeinte medialisiert. Das Bezeichnete oder Gemeinte erscheint medial oder – wer so
will – auch virtuell als das, was es ist.
Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen Zeichen, die hervorgebracht werden, und Zeichenfunktionen, welche vorhandenen Wesen
oder Gegenständen oder Handlungen zugeschrieben werden. Das Symbol ist wie das Zeichen arbiträr. Das griechische symbálein steht für das
Zusammenfügen (von zwei Hälften). Das, worauf es verweist, wird medialisiert. Es wird versinnbildlicht.
Die Medialisierungen oder Zeichengebungen erfolgen jedoch nicht
ausschließlich und direkt durch den menschlichen Körper oder vorhandene Gegebenheiten. Die Zeichen oder Zeichensysteme, die durch
Instrumente, Maschinen, Apparate oder Geräte hervorgerufen werden,
sind diesen Verständigungsformen hinzuzufügen. Medialisierungen
durch Instrumente gehen in die älteste Geschichte der Menschheit zurück. Höhlenmalereien, Hieroglyphen, Rauchzeichen oder Schwirrhölzer sind hier nur einige wenige Beispiele. Visuelles wird festgehalten
oder dient der Übermittlung. Schrift entsteht. Klänge und Töne erhalten
kultische und kommunikative Bedeutung. Menschen erweitern ihre
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Verständigungsmöglichkeiten durch Instrumente. Die Geschichte dieser
instrumentalen Erweiterung menschlicher Verständigung ist hinlänglich bekannt. Ihre systematische Erforschung ist durch die Verbindung
von Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorien vorbereitet, aber längst
nicht erschöpft. Das Problem der Zeichen, der Nachrichten oder der
Information und ihrer Medialität ist in seiner Differenzierung kaum
erfasst. Eine Grammatik des Medialen und ihr historischer Wandel ist
weitgehend unerforschtes Terrain.
Bild und Text sind in ihrer Medialität als visuelle Zeichenformationen zu betrachten. In seiner etymologischen Bedeutung zeigt sich der
Text mit dem Bild als «Gebilde» verwandt. Das lateinische texere bedeutet «weben, flechten, kunstvoll zusammenfügen». Es steht in etymologischer Beziehung mit dem griechischen tékton («Zimmermann, Baumeister») bzw. téchne für «Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit». Schreiben
bedeutet etymologisch nach lat. scribere «zeichnen», auch «einritzen»
oder «reißen» (vgl. engl. write). Text wie Bild dienten in ältesten Zeiten als «kunstvolle Gebilde» vorwiegend kultischen, in späteren, fortgeschrittenen aber auch meditativen oder pädagogischen Zwecken. Die
Bilderverehrung (Idolatrie) in magischer Annahme eines Wesensbezuges
zwischen Bild und Abgebildetem korreliert mit Bilderverbot und Bildersturm (Ikonoklasmus). In germanischer, persischer, jüdischer und islamischer Anschauung und auch im Shintoismus wird Bilderverehrung
abgelehnt. Im Alten Testament heißt es: «Du sollst dir kein Bildnis machen in irgendeiner Gestalt, weder von dem, was oben im Himmel, noch
von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser und unter
der Erde ist.» (5. Mose 5,8)
Das Verhältnis zum Bild charakterisiert den Unterschied der Kunstauffassungen von Platon und Aristoteles. Anders als Aristoteles, der das
darstellende Bild von der dargestellten Wirklichkeit trennt, betrachtet
Platon Kunst als Mimesis, als Nachahmung oder Darstellung bzw. vergängliche Nachbildung seiender Urbilder (Wirklichkeit): Durch Nachahmung wiederholt die Kunst den Schöpfungsvorgang der sinnlichen
Dinge aus ihren Urformen. Medialisierung bedeutet daher im platonischen Sinn das Nachschaffen einer Wirklichkeit, die bereits an sich
Bild respektive Urbild ist. Nach aristotelischer Auffassung bedeutet Medialisieren hingegen das Hinweisen auf Wirklichkeit an sich: WirklichEinleitung
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keit ist gegeben und vermittelbar. Die aristotelische Medialität des Bildes
ist Erinnern (Anamnese) an Wirklichkeit selbst. Bei Platon ist Medialität
ein metaphysisches «Erinnern» an die direkte, präexistente Schau der
Ideen ...
Die möglichst perfekte Nachahmung war allerdings über Jahrhunderte eine wesentliche Triebfeder künstlerischen Engagements. Es
wurden technische Hilfsmittel entwickelt, auch Apparate, um der Wiedergabe des Gegebenen höchste Perfektion zu verleihen. Leon Battista
Alberti erwähnt das «Velum», ein durchlässiges Gitter, das zwischen
Künstler und seinem Gegenstand eingesetzt wird, um den Bildausschnitt
zu fixieren und systematisch zu erschließen. Die Camera obscura oder
«Picture-box» ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt; sie wird im 18. Jahrhundert zur Camera lucida weiterentwickelt bis hin zur Entdeckung
der Photographie von Joseph-Nicéphore Niepce, Louis-Jacques Daguerre
und William Henry Fox Talbot. Die Erfahrungen der Künstler und die
Erkenntnisse der Wissenschaftler sind kaum voneinander zu trennen.
Die Perzeptionen der Künstler, ihre Wahrnehmungen am Gegebenen,
werden von optischen Einsichten der Wissenschaftler begleitet. Johannes Kepler veröffentlicht 1604 seine «Paralipomena» – oder Isaak
Newton 1704 seine «Optik». Das Auge produziert Bilder, die der Geist
empfängt, speichert und bewusst verarbeitet. Die Zusammenhänge von
Perzeption, Apperzeption (als bewusster Wahrnehmung) und Reflexion
beschäftigen die Theoretiker in den folgenden Jahrhunderten, zu denken
wäre an Berkeley, Hume oder Kant. Und die Künstler reagieren auf neuere Einsichten mit veränderter Produktion.
Erst die verstärkte ästhetische Betonung der Subjektivität relativiert
die Bedeutung der Mimesis. Persönliche Tagebücher, Autobiographien,
Bekenntnisse, Memoiren oder das Briefschreiben verdeutlichen den engeren Erfahrungszusammenhang von subjektivem Denken und künstlerischer Tätigkeit. Sie dienen der Vergegenwärtigung, der Dokumentation,
der Reflexion, der Aufklärung. In der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts nehmen sie neben zahlreichen Briefromanen eine besondere Stellung ein. Sie haben selbstverständlich eine bis in das Altertum reichende
Tradition, genannt seien Xenophon, Cäsar oder Augustinus. Sie erhalten
jedoch durch Rousseaus «Bekenntnisse» oder Goethes «Dichtung und
Wahrheit» eine neue Bestimmung. Rousseau will in einem beispiellosen
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Unternehmen einen Menschen in seiner «ganzen Naturwahrheit» zeigen. Goethe will die «inneren Regungen» und die «äußern Einflüsse» in
allen theoretischen und praktischen von ihm «betretenen Stufen» der
Reihe nach darstellen, den Menschen in seinen «Zeitverhältnissen» erfassen. Das Höchstpersönliche wird in den allgemeinen Erkenntnisprozess einbezogen.
Speziell die Medialität des Briefs ist weitgehend bestimmt durch die
Mischung aus schriftlich niedergelegten sachlichen und persönlichen
Informationen, aus möglichen Illustrationen und dem Wissen um die
Distanz, welches das Schreiben begleitet: Ein Bote, ein Mittler zwischen
den Bestimmungsorten, wird das Schreiben überbringen. Es wird eine
Distanz überwunden, wenn nicht aufgehoben im Moment des Lesens
selbst, das als antizipierende Vorstellung bereits den Schreibvorgang
des Absenders beeinflussen kann. Man schreibt und liest, was der andere lesen wird. Es wird erahnt, was der andere empfinden mag. Wenn
auch virtuell und nicht realiter, verflüchtigt sich beim Lesen wie beim
Schreiben von Briefen das Gefühl der Ferne. Der briefliche Verkehr sei
das Überbleibsel eines reizenden Vermögens, das man wie ein Geizhals
sorgfältig sich zu erhalten bemühe, schreibt Abbé Ferdinand Galiani, ein
wichtiger und amüsanter Denker der Aufklärung, im September 1773 an
Frau von Epinay: Für ihn beinhaltet der Briefwechsel eine Verlängerung
der Gespräche, die einst am Kamin geführt wurden. Interessante Briefe
gäbe es nur zwischen Personen, die sich vorher genau gekannt haben.
Das Persönliche des Briefschreibens wird gegen den rein rationalen Geist
der Aufklärung gewendet. «Die Briefe der Gelehrten», sagt Galiani, «die
einander schreiben, weil sie sich dem Rufe nach kennen, werden ihren
Geist zieren, aber nicht ihr Herz rühren.»
Der persönliche Stil charakterisiert einen Wechsel innerhalb der
künstlerischen und im Besonderen der Musiktradition Ende des 18. und
zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die persönliche Auseinandersetzung mit
der individuellen Konstitution und den gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnissen wird in das Werk einbezogen. Die Virtuosität des Einzelnen wird als mögliche Antwort auf psychische und soziale Bedingungen
ernst genommen. Das musikalische Kunstwerk wird als autonomes
Gebilde der Gedankenarbeit des Komponisten betrachtet. Dessen Interpretationen orientieren sich an einem durchgängig eigenen, unabhänEinleitung
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gigen Modell von musikalischer Wertsetzung und Wirklichkeit. Die
nicht zweckgerichtete und funktional festgelegte ästhetische Freiheit ist
Zielsetzung einer sich neu entwickelnden und auf den autonomen ästhetischen Genuss hinarbeitenden Form, die musikalisch beispielsweise
in den Werken von Mozart und Beethoven zur Vollendung gelangt. Die
Komponisten suchen das persönliche musikalische Gespräch mit ihren
Zuhörern. Die musikalische Gegenwelt, die sie formulieren, erwächst
aus der Dialogsituation. Sie kann auch als musikalische Antwort auf die
zeitgleich literarische Bedeutung der Briefwechsel und Briefromane verstanden werden. Die persönliche Form fordert geradezu die Begegnung
mit einer ebenso freien und persönlichen Form der Rezeption heraus.
Die Protagonisten öffnen sich, rücken das subjektive Verständnis der
Lebensverhältnisse ihrer Zeit in den Vordergrund.
Was das menschliche Gehör als Musik erreicht, ist eine Darstellungsform menschlichen Denkens. Ohne Frage schlägt sich in der Musik
Denken nieder, Reflexion, sei’s in spontaner, assoziativer Form, sei’s in
bewussten musikalischen Konstruktionen. Es wird von musikalischen
Phantasien gesprochen. Das Denken Mozarts, seine Einfälle, Ideen, seine
Variationen charakterisieren seine Musik. Authentisch hält er an seiner
besonderen, persönlichen Sprache fest. Seine Musik bleibt noch im
kleinsten Detail unverkennbar.
Die Musik ist mit ihrer «sukzessiven Struktur» auf einen nichtmimetischen Charakter festgelegt (de Man). Unmittelbarer als die visuellen
Künste erreicht die Musik den Menschen. Die Ohren schließen sich
nicht wie das Auge von selbst. Und nicht allein die Ohren «hören». Töne
und Klänge werden je nach Lautstärke und Empfindsamkeit mit dem
ganzen Körper wahrgenommen. Wo sie «anrühren» und «ergreifen»,
lassen sie die besondere ästhetische Qualität der Musik deutlich werden,
ihre Gefühlsnähe oder ihre Einladung zur Selbstvergessenheit. Musik
bedeutet kunstvolles Hervorrufen von Tönen und Klängen. Der vorhandene Raum und die vorhandene Zeit werden musikalisch durchwirkt.
Simultane Tongebilde, Tonfolgen, Tonfärbung, Rhythmus, Dauer und
Dynamik bestimmen das musikalische «Gebilde». Es erwächst ein in Zeit
und Raum unter besonderen Bedingungen vergängliches Phänomen. Die
Vergänglichkeit ist ein Charakteristikum der Musik. Das Verklingen und
Neuschaffen der Töne erklärt ihre Suggestivkraft. Gedankenbilder, Vor14
stellungen, Überlegungen werden erzeugt. Versuche, das festzuhalten,
was ohne Aufnahmegeräte nicht festzuhalten ist.
Die für die Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins bedeutsame Bestimmung der Musik hat der Philosoph Edmund Husserl in seinen Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein hervorgehoben. Das innere,
immanente Zeitbewusstsein des Menschen folgt nach Husserl nicht
der objektiv wirklichen Zeit. Es habe seine eigene Zeit, die Zeit der Erinnerung, und diese liege im «Wie ihres Erlebens» und im «Wie ihres Erscheinens». Die Zeit, in der Erlebnisse und Gewesenes erinnert werden,
unterscheidet sich ganz selbstverständlich von der Zeit, in der die Dinge
tatsächlich erlebt wurden. Die Erinnerungen oder Vergegenwärtigungen
haben ihre besondere Zeit, eben diese immanente Zeitbewusstseinszeit.
Und wie diese Erinnerungen oder Vergegenwärtigungen hat auch die
Musik ihre eigene Zeit. Diese ihr eigene objektive Zeit wird nach Husserl
von dem menschlichen Bewusstsein allerdings nicht wahrgenommen.
Das menschliche Bewusstsein reflektiert Musik in seiner Zeit, nicht in
ihrer objektiven Zeit. Wenn ein Ton erklinge, so könne die objektivierende Auffassung sich den Ton, welcher da dauert und verklingt, zum
Gegenstand machen, und doch nicht die Dauer des Tons oder den Ton in
seiner Dauer. Dieser als solcher sei ein Zeitobjekt. Die Tatsache, dass Zeit
vergeht, während der Ton zu hören ist, und der Ton zu jedem Zeitpunkt
in einer anderen Zeit gehört wird, verhindert nach Husserl das Hören
des ganzen Tons. Der ganze Ton in seiner Zeit könne nur durch Objektivierung im Bewusstsein rekonstruiert werden.
Das Mediale in der Musik ist gekennzeichnet durch die Art und Weise,
wie mit einzelnen Tönen verfahren wird. Der Naturlaut wird im Ton gewissermaßen kultiviert. Der Ton ist gegenüber dem Naturlaut normiert.
Er entspricht symbolischer Konvention, ist unabdingbares Element einer musikalischen Grammatik. Töne sind messbar, in Zahlen auszudrücken – oder in Noten. Die Unmittelbarkeit der Töne, jene irrationale Größe der Musikempfindung, ist mathematisch bestimmbar, errechenbar.
Die Normierung von Tönen und Tongebilden und die Notierung ganzer
Kompositionen entsprechen dem Versuch, die Wiederholung musikalischer Werke zu ermöglichen. Dennoch gleicht keine musikalische Darbietung einer anderen. Die Ästhetik der Musik entspricht der Ästhetik
des Spiels. Sie ist, wo sie nicht in reproduzierter Form wahrgenommen
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wird, gebunden an die Live-Darbietung, an die Räumlichkeiten, die
Akustik und die jeweilige Konstitution und Intention derjenigen, die sie
hervorbringen.
Auch das Kino ist ein Raum, in dem Musik, nun aber kombiniert mit
Bildeindrücken, Bedeutung annimmt. Die Medialität des Films ist wie
die des Theaters charakterisierbar durch ihre audiovisuelle Beschaffenheit. Dass der Film dennoch der Musik oder dem Roman näherstehe als
dem Theater, wird von verschiedenen Filmwissenschaftlern mit durchaus überzeugender Argumentation behauptet. Die Sukzession der filmischen Einstellungen, das Verhältnis von Nahaufnahmen, Halbtotalen
und Totalen, neben der Funktion der Musik im Tonfilm, unterscheiden
den Film deutlich vom Theater, das im Allgemeinen stets nur einen Blick
auf das Ganze liefert. Jean-Paul Sartre hat sich zu der vergleichbaren Sprache von Film und Roman in der Aufsatzsammlung «Mythos und Realität
des Theaters» geäußert. Er betont die in Film und Roman gleichermaßen
erwirkte Solidarität, ja Komplizenschaft mit gewissen Figuren. Es komme zur Übertragung von Bewusstseinsvorgängen. Zur Zweideutigkeit
der Medialität des Films erwähnt er die Bedeutung des Kameraauges, das
sich zwischen den Zuschauer und den gesehenen Gegenstand schiebe. Es
schaffe zugleich Distanz und Nähe. Man könne die agierenden Personen
sehen und im nächsten Augenblick in einer anderen Kameraeinstellung
direkt die Dinge aus der Sichtweise eines Agierenden selbst. Es komme
zu einem Hin und Her, und für einen Moment identifiziere man sich mit
der Person, die im Film sieht.
Der Roman beschreibt und erzeugt Vorstellungen, um deren Visualisierung sich der Film mit eigener Sprache bemüht. Siegfried Kracauer
hat dieses Sichtbarmachen von Vorstellungen, die «enthüllende Kraft»
als eine der wichtigsten Kapazitäten des Films hervorgehoben. Dem
«seelisch-geistigen Kontinuum» (Kracauer) des Romans kann sich der
Film jedoch nicht unmittelbar angleichen. Das Darstellungsmittel der
Literatur ist die geschriebene Sprache. Sie hat ihre eigenen Zeiten und
Stile. Transportiert werden Erfahrungen, Handlungen, Gedanken und
Gedankenwelten. Im Film waltet das «Kameraauge». Die Darstellungsmittel des Films sind zunächst die bewegten photographischen Bilder,
hinzu kommen Musik und gesprochene Sprache, manchmal auch Text.
In gewisser Weise ist der Film in der Lage, die Vorstellungen, die beim
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Lesen oder Schreiben erzeugt werden, zu realisieren. Die vielzitierte Kamera-Realität hat demnach weniger zu tun mit den äußeren als mehr mit
den inneren Gegebenheiten, den vom Text erzeugten Bildern oder den irgendwie das tatsächlich Erlebte oder Erfahrene nachlebenden, vergegenwärtigenden Vorstellungen. Jede Kameraeinstellung entspringt mehr
oder weniger bewussten gedanklichen Entscheidungen des Subjekts.
Wie die Literatur und die Musik hat auch der Film seine «eigene»,
von herkömmlicher Zeiterfahrung geschiedene Zeit. Auffällig ist die
selektive Form der Präsentation von Zeiten, die im Film, aber auch in
der Literatur an bestimmte Szenen und Ereignisse geknüpft sind. Szenen
können einander abwechseln, ohne tatsächlich zeitlich aufeinander
folgen zu müssen. Zeitsprünge erhalten im Film ein besonderes ästhetisches Gewicht. Sie bestimmen seinen Rhythmus. Aber sie schaffen auch
Vorstellungslücken, die der Rezipient «auffüllen» muss, um wesentliche
Handlungsstränge nicht außer Acht zu lassen. Dabei sind die Zeitunterschiede zwischen einzelnen Szenen manchmal beachtlich. Der Film erstellt eine Zeitcollage von vorgegebenen zeitlichen Abläufen und ist in
der Regel darum bemüht, diese Collage als in sich geschlossenes, kontinuierliches Ganzes vorzuführen. Ernst Iros in «Wesen und Dramaturgie des Films» fordert, dass ein «zeitliches Kontinuitätsgefühl» ausgelöst
werden müsse. Das heißt, die kollagierten Szenen sollten einer ihnen
eigenen Kausalität oder Kohärenz folgen. Die Handlung werde dadurch
mit Blick auf das Ganze dynamisch vorangetrieben. Das atmosphärische
Gefühl, das durch sie vermittelt wird, sei ein Bewegungsgefühl. Selbst
in langen Einstellungen ohne Bewegung könne das Medium dieses
Bewegungsgefühl bewirken, als ein Gefühl der Erwartung, der inneren
Spannung auf das, was kommt.
Filmkunst ist für Iros epische Kunst, deren Aufgabe es ganz im Sinne
Hegels sei, Geist und Seele in aller Deutlichkeit an der Oberfläche zur Erscheinung zu bringen. Was die Einfühlungslehren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ihrem theoretischen Gegenstand erklärt haben, die Virtualität des «einsamen Seelenlebens», soll offensichtlich filmtechnisch in
Bilder und Töne verwandelt werden. Das ist weniger ein impressionistischer denn ein expressionistischer Vorgang. Weniger die dokumentierende Wiedergabe des Gegebenen als Gegebenem ist in der Filmkunst
von Bedeutung. Vordringlich sind es Vorstellungen, Gedanken, Träume
Einleitung
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